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Bericht der

ständeräthlichen Kommission über eine Eingabe des Staatsraths von Tessin, betreffend Revision des Artikels 8 des Bundesgesetzes vom 19. Juli 1872 über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen im Sinne der "Wiedereinführung der offenen Abstimmung.

(Vom 22. Juli 1873.)

Tit.!

Die Bundesversammlung hat unterm 19. Juli 1872 ein Bundesgesetz über die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen erlassen, dessen Art. 8 dahin lautet: ,,Die Nationalrathswahlen und die Verfassungsabstimmungen ,,finden mittels schriftlicher geheimer Abstimmung statt. Die Wahl der Geschwornen kann in offener Abstimmung vorgenommen werden.

,,Stimmabgabe durch Stellvertretung ist untersagt."

Mittelst schriftlicher Petitionen vom April und Mai abhin gelangten nun 5 Schützengesellschaften des Kantons Tessin und der Munizipalitätsrath und der demokratische Verein von Bellinzona an den Großen Rath um Wiedereinführung der offenen Abstimmung bei den Nationalrathswahlen.

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Der Große Rath von Tessin faßte sodann unterm 7. Mai folgenden Beschluß : 1) Der Staatsrath ist eingeladen, sich Namens des Kantons bei den eidgenössischen Räthen dahin zu verwenden, daß das Bundesgesetz über die eidgenössischen Wahlen (Art. 8). in dem Sinne abgeändert werde, daß den Kantonen das Recht wieder eingeräumt werde, den Abstimmungsmodus in eidgenössischen Angelegenheiten selber festzusetzen.

2) BeijAnlaß der nächsten Volksabstimmung über eine Partialrévision (der Tessiner Verfassung) soll dem Volke gleichzeitig die Frage der Aufhebung der geheimen Abstimmung im Großen Rathe -- mit Ausnahme der Begnadigungsfälle -- zur Entscheidung vorgelegt werden.

In Ausführung des ersten Theils dieses Großrathsbeschlusses richtete der Staatsrath von Tessin unterm 5. Juni ein Memorial an den Bundesrath zu Händen der eidgenössischen Räthe, in welchem derselbe die großräthliche Schlußnahme und das ihr zu Grunde, liegende Begehren des Nähern zu rechtfertigen sucht.

Das Memorial weist darauf hin, daß Tessin schon vor Erlaß, des Bundesgesetzes für Beibehaltung seiner bisherigen offenen Abstimmung sich ausgesprochen, daß dieselbe im Jahr 1851/52 nach reiflicher Prüfung der tessinischen Zustände eingeführt worden sei und sich seither praktisch erwiesen habe; daß, möge auch die Theorie sich für die geheime Abstimmung entscheiden, solch' politische Fragen nicht theoretisch, sondern praktisch zu lösen seien. Sie beschuldigt dann die geheime Abstimmung aller bei den letzten Nationalrathswahlen vorgekommenen Mißbräuche und Ungesetzlichkeiten, indem dieselbe einzig die behaupteten Wahlumtriebe des.

Klerus und einer mit ihm in Verbindung stehenden politischen.

Partei begünstigt habe.

Das Schlußgesuch des Memorials geht dahin, daß den Kantonen das Recht wieder gegeben werden möchte, den Abstimmungsmodus in eidgenössischen Angelegenheiten selbst festzustellen.

Mittelst Botschaft von 25. Juni 1873 beantragt der Bundesrath die Abweisung dieses Gesuches als eine beinahe sich von selbst verständliche Sache; indem er darauf hinweist, daß die Frage der geheimen Abstimmung bei Anlaß der Gesetzesberathung reiflich diskutirt wurde, schon damals 5/e der Bevölkerung diesen Abstimmungsmodus hatte, für denselben die Wahl- und Stimmfreiheit des einzelnen, namentlich nach Vermögen und äußerer Stellung abhän.gigen Bürgers spreche, und der Wahlunfug im Kanton Tessin um so

749 weniger der geheimen Abstimmung zur Last geschrieben werden: dürfe, als solche Klagen aus keinem andern Kantone, wo dieses Verfahren ebenfalls neu eingeführt wurde, eingelangt sind, während ähnliche Beschwerden aus dem Kanton Tessin schon öfters unter der Herrschaft der offenen Abstimmung erhoben wurden.

Der Nationalrath ist auf den einstimmigen Antrag seiner Kommission den 16. dies über das vorliegende Begehren um Abänderung des Art. 8 des Bundesgesetzes vom 19. Juli 1872 zur Tagesordnung geschritten und Ihre Kommission beantragt Ihnen ebenfalls einstimmig, dem Beschlüsse des Nationalraths beizutreten.

Die Kommission will nicht in eine weitläufige Erörterung der Vorzüge der geheimen Abstimmung gegenüber der offenen eintreten, sie begnügt sich diesfalls mit einem Hinweis auf die bundesräthliche Botschaft und auf die Notorietät, daß die demokratische Strömung der neuern 55eit auf Erleichterung der Ausübung des Wahlrechts im Sinne der Freiheit des Wählers ausgeht und zu diesem Zwecke die geheime Abstimmungsweise als eines ihrer wesentlichen Postulate aufgestellt hat.

Dagegen erlaubt sich die Kommission, die Vorwürfe, welche der Staatsrath von Tessin von den letzten Wahlvorgängen her gegen die geheime Abstimmung in1 s Feld führt, in Kürze zu widerlegen und mit der nationalräthlichen Kommission darauf hinzuweisen, daß zur Abhilfe dieser Uebelstände dem Großen Rathe von Tessin hinreichende Kompetenzen zu Gebote stehen.

Während sich der Staatsrath nur in Beschwerden gegen klerikale Umtriebe, und Geldspenden - e i n e r Partei ergeht, weist der Bericht der eidgenössischen Kommissäre darauf hin, daß die Pfarrer durch das Gesetz von 30. November 1843 angehalten werden, am Sonntage vor der betreffenden Wahl das Volk über die Wichtigkeit derselben zu belehren ; während ein anderes Gesetz vom 29. März 1855 den Mißbrauch der Amtstellung mit Strafe bedroht. Das leztere zu handhaben und das Erstere aufzuheben, liegt in der Kompetenz des Kantons Tessin. Daß gegenüber Geldspenden, welche von den Kommissären nicht nur bei einer, sondern bei beiden Parteien konstatirfc wurden, die offene Abstimmung nicht hilft, ergibt sich aus der Notorietät derselben beiden mit offenem Mehr stattfindenden Großrathswahlen. Dagegen muß die geheime Stimmabgabe als das beste Mittel betrachtet werden, die Sicherheit über den
Erfolg der Bestechung und mit dieser auch die Bestechung selbst zu vereiteln. Die Kommission hält namentlich dafür, daß die großen Wahlkreise, welche dem Wähler einen Weg von bis auf 3 Stunden zumuthen und bei unbeendigter Wahl das Uebernachten im Wahl-

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orte in Aussicht stellen, sowie die Vertragung der Stimmkarten in die Häuser der Wähler vor der Wahlversammlung Geldspenden und Trinkgelage wesentlich begünstigen. Diesem Uebelstande könnte durch kleinere Wahlkreise und durch Austheilung der Stimmkarten erst bei der Wahl Verhandlung ebenfalls vom kantonalen Standpunkte aus abgeholfen werden.

Daß die weitern Kassationsbeschwerden, welche, -- wie der Nachdruck von 16,000 Stimmzettelformularen für beide Parteien mit Lettern und Papier der Staatsbuchdruckerei und die Zulassung außer ihrer Heimatgemeinde Wohnenden zur Stimmabgabe in ihrer Heimathgemeide, -- dem Staatsrathe, oder, -- wie die fehlerhafte Führung der Stimmregister und des Wahlmodus, -- den Wahlbüreaus vorgeworfen werden, der geheimen Abstimmung nicht zur Last geschrieben werden dürfen, versteht sich von selbst.

Die Kommission ist daher einstimmig zu der Ueberzeugung gelangt, daß auch in den angeblichen eigentümlichen Verhältnissen des Kantons Tessin kein Grund liege, das fragliche Bundesgesetz im Sinne des Gesuches des Großen Rathes des Kantons Tessin abzuändern, und stellt Ihnen deshalb den Antrag auf Beitritt zum nationalräthlichen Beschluß auf Tagesordnung.

Bern, den 22. Juli 1873.

Namens der ständeräthlichen Kommission, Der Berichterstatter: A. Herzog-Weber.

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20.09.1873

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