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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Zollausschlussgebiet Samnaun (Vom 24. März 1976)

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Dem Postulat von Herrn Nationalrat Grolimund Folge leistend, unterbreiten wir Ihnen den vorliegenden Bericht über das Zollausschlussgebiet Samnaun.

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Entwicklung des Zollausschlussgebietes

Das Samnaun ist das unterste linke Seitental des Unterengadins mit den Gemeindefraktionen Compatsch, Laret, Plan, Ravaisch und Samnaun. Seine Gemeindegrenze umschliesst ein Gebiet von 5616ha und bildet zu mehr als der Hälfte zugleich die Landesgrenze. Bewohnt wird das Samnaun von rund 560 Einwohnern.

1892 hat der Bundesrat das Samnaun auf eigenes Begehren vom schweizerischen Zollgebiet ausgeschlossen. Begründet wurde der Ausschluss mit der Tatsache, dass das Samnaun wegen seiner geographischen Lage fast ausschliesslich auf wirtschaftliche Beziehungen zu Österreich angewiesen sei, und wegen schlechter Kommunikationen die Transportspesen für den Warenbezug aus der Schweiz zu hoch wären. Eine Eingliederung in das österreichische Zollgebiet fand nicht statt.

Diese Verhältnisse haben sich seither geändert: mit dem vom Bund unterstützten Bau einer Strasse von Martina nach Samnaun in den Jahren 1907-1912 erhielt das Tal über Schweizergebiet eine direkte und ganzjährige Verbindung mit dem Unterengadin, die allerdings zeitweise durch Rufen und Lawinen gefährdet wird. Das Samnaun ist seit 1912 nicht mehr von der Zufahrt aus Österreich abhängig. Daher hat sich bereits vor der Eröffnung der Strasse die Frage gestellt, ob der Zollausschluss weiterhin seine Berechtigung habe. Im Einvernehmen mit den betroffenen Gemeinden und dem Kleinen Rat des Kantons Graubünden beschloss indessen der Bundesrat am 3. März 1911, die Talschaft Samnaun sei

1242 auch fernerhin bis auf weiteres aus der schweizerischen Zollinie auszuschliessen und als schweizerisches Zollausland zu betrachten.

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Folgen des Zollausschlusses und Struktur der Bevölkerung

Als Folge dieser zollrechtlichen Situation können Waren aus der Schweiz und dem Ausland frei von Zöllen und ändern Abgaben ins Samnaun verbracht und dort um diese Fiskalabgaben billiger als anderswo verkauft werden. Dagegen unterliegen die aus dem Samnaun in die Schweiz eingeführten Waren den schweizerischen Einfuhrvorschriften. Sie sind grundsätzlich wie ausländische Waren zu verzollen.

Bis zum Bau der Strasse war das Tal vorwiegend landwirtschaftlich orientiert. Ein gewisser Viehverkehr wickelte sich mit Österreich ab. Als sich der Warenverkehr in Richtung Schweiz zu entwickeln begann, stiess der Verkehr mit landwirtschaftlichen Produkten infolge der schweizerischen Einfuhrzölle und Einfuhrmassnahmen auf Schwierigkeiten, so dass sich die Behörden veranlasst sahen, für diese Produkte Zollvergünstigungen einzuräumen. Die Verbilligung von Waren durch den Wegfall der Zollabgaben war anderseits so lange von geringer Bedeutung, als das Tal verkehrsmässig nicht erschlossen war. Dies änderte sich jedoch mit der Eröffnung der Strasse aus dem Unterengadin und hauptsächlich seit dem Aufkommen des Motorfahrzeugtourismus. Ausflugverkehr und Ferientourismus gab es 1892 bei der Schaffung des Zollausschlusses nicht. Die Zollfreiheit und die Strassenverbindung waren der eigentliche Antriebsmotor für beide.

Heute kommen an gewissen Sommertagen bis 2000 Passanten nach dem Samnaun, tätigen dort ihre Einkäufe und fahren gleichentags wieder weg. Die Käufe bestehen in Produkten, die in der Regel in den einzelnen Ländern mit hohen Abgaben belegt sind, welche im Samnaun wegfallen : Spirituosen, Parfümeriewaren, Tabakwaren, Benzin, sowie vereinzelt auch andere Waren. Die Passanten sind in der Mehrzahl Ausländer (Bundesdeutsche und Österreicher: schätzungsweise 2 /3). Die Schweizer (rund 1A) können die im Samnaun zu billigen Preisen gekauften Waren selbstverständlich nur im Rahmen der für den Reisendenverkehr vorgesehenen Toleranzen abgabenfrei in das schweizerische Zollinland mitbringen. Das Gastgewerbe des Samnaun profitiert von den billigen Preisen, indem es seine Gäste günstiger verpflegen und beherbergen kann als anderswo. Es hat daher dank der Zollfreiheit einen grossen Aufschwung, der sich auch für Gewerbe und Landwirtschaft im Tal günstig auswirkt. So haben Ausflugsverkehr und Ferientourismus heute einen überragenden
Anteil am Wirtschaftsleben Samnauns.

Dies spiegelt sich auch in der Struktur der Bevölkerung wider: Von den Erwerbstätigen sind 41 Prozent im Sektor Dienstleistungsbetrieb und Gastgewerbe beschäftigt, 46 Prozent - ein überraschend hoher Teil - im Sektor Landund Forstwirtschaft und 13 Prozent im Sektor Handwerk und industriell-gewerbliche Betriebe (1970). Trotzdem sieht sich ein Teil der einheimischen Bevölkerung noch immer zur Abwanderung veranlasst.

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3 Finanzielle Aspekte Es wäre falsch, die nicht erhobenen Einfuhrabgaben als «Zollausfälle» zu Ungunsten der Schweiz bezeichnen zu wollen. Es sind gleichsam «unechte» Zollausfälle, weil mit Sicherheit davon ausgegangen werden darf, dass der Tourismus zurückginge, falls der Zollausschluss aufgehoben würde. Mit ihm gingen auch die Einfuhren zurück. Übrig bliebe im wesentlichen der Bedarf der einheimischen Bevölkerung, der die Zoll- und ändern Fiskaleinnahmen der Schweiz kaum merklich änderte. Wir haben von einer Berechnung abgesehen, da sie zu kompliziert wäre und, mit vielen Ungewissheiten belastet, nicht zu einem zuverlässigen Ergebnis führen würde. Es kann jedoch als sicher betrachtet werden, dass die Wiedereingliederung Samnauns ins schweizerische Zollgebiet zu keinen erheblichen Mehreinnahmen für die Bundeskasse führen würde, dies um so weniger als einerseits die Zolleinnahmen wegen der Freihandelsabkommen ohnehin zurückgehen, anderseits am österreichischen Zufahrtsweg ein Zollamt eingerichtet und die neue Zollgrenze gegen Österreich überwacht werden müsste.

Auch hatte der Kanton Graubünden von einem Zollanschluss des Samnaun fiskalische Nachteile zu erwarten. Die Gemeinde Samnaun erhebt nämlich seit 1973 auf Spirituosen und Benzin eine sog. Sondergewerbesteuer, deren Ertrag nach dem Gemeindegesetz zu mindestens zwei Dritteln für die Förderung des Fremdenverkehrs und den dazu dienenden Anlagen einzusetzen ist. 1974 hat diese Steuer rund 400000 Franken eingebracht. Dem «Bericht über die Prüfung der Jahresrechnung der Gemeinde Samnaun pro 1974» ist überdies zu entnehmen, dass Samnaun mit dem Pro-Kopf-Steuerbetrag auf Einkommen und Vermögen bald an den kantonalen Durchschnitt heranrückt. Das kantonale Gemeindeinspektorat führt dies in erster Linie auf erhöhte Gewinne der Verkaufsläden zurück, die ihrerseits wieder grössern Umsätzen aus dem Passantenverkehr zugeschrieben werden. Bei einem Einschluss m das schweizerische Zollgebiet fielen diese Steuerbeträge weit weniger günstig aus. Die finanziellen Folgen hätten Gemeinde und Kanton zu tragen. Die Gemeinde ist übrigens auch jetzt noch finanzausgleichberechtigt.

4 Hängige Probleme Der Gemeindevorstand ist sich bewusst, dass das Fortbestehen der Vorteile, die der Zollausschluss gegenwärtig Samnaun verschafft, nicht allein vom Willen der schweizerischen Behörden abhangt, diesen Zustand beizubehalten. Entscheidend wird vielmehr die Entwicklung sein, welche die europäische Integration und, damit im Zusammenhang, die Erhebung von Abgaben auf Waren an der Grenze nimmt.

Mit Blick auf diese Ungewisse Zukunft haben die Samnauner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am 13. Juli 1975 einer Ortsplanung zugestimmt, die zum Ziel hat, die natürlichen Gegebenheiten der Talschaft für ein vielfältiges sportliches Angebot voll auszunützen, das Kurortsangebot zu verbessern und einen

1244 existenzsichernden Zweisaisonkurort aufzubauen. Von der Entwicklung einer Wintersaison werden neue Arbeitsplätze erwartet, die der landwirtschaftlichen Bevölkerung die unerlässlichen Erwerbszuschüsse bringen sollen. Damit soll Samnaun mit der Zeit weniger abhängig von den heute vorhandenen Vorteilen des Zollausschlusses werden, ja sich schliesslich auch ohne solche weiterentwickeln können. Die bereits erwähnte Sondersteuer soll die als erforderlich erachteten Erschliessungsprojekte mitfinanzieren. Dies setzt aber voraus, dass die Waren, auf denen die Sondersteuer erhoben wird, auch fernerhin vom Zollausschluss profitieren.

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Schlussfolgerungen

Verschiedene Kommissionen der eidgenössischen Räte haben sich in den letzten Jahren an Ort und Stelle über die Probleme orientieren lassen, die das Samnaun dem Bund bzw. der Zollverwaltung und dem Kanton Graubünden aufgibt. Die Folgerungen, zu denen die Mitglieder dieser Kommissionen gelangten, lauteten immer dahin, dass sich der Zollausschluss - trotz gewisser unerwünschter Nebenerscheinungen - für die Talschaft im allgemeinen durchaus positiv auswirkt und seine Aufhebung nicht angezeigt erscheint.

Nicht unerwähnt sei in diesem Zusammenhang das vom italienischen Zollgebiet ausgeschlossene Livigno, das ebenfalls keinem ändern Zollgebiet angeschlossen ist und wo somit ähnliche Verhältnisse bestehen wie im Samnaun. Der Sonderstatus von Livigno ist übrigens von den Staaten der EWG ausdrücklich anerkannt worden. Eine Aufhebung des Sonderstatus für das Samnaun hätte unzweifelhaft zur Folge, dass sich der Touristenverkehr in das distanzmässig nicht sehr weit entfernte Livigno verlagern würde. Unser Land hat keinen Grund, die Stellung Samnauns zu schwächen und dadurch die Interessen eines ausländischen Fremdenortes an unserer Grenze zu begünstigen.

Auf Grund dieser Darlegungen nimmt der Bundesrat abschliessend zu den vom Postulanten aufgeworfenen Fragen wie folgt Stellung: 1. Bei den wegen des Zollausschlusses nicht erhobenen Zöllen handelt es sich um «unechte» Zollausfälle.

2. Eine Eingliederung des Samnaun in das schweizerische Zollgebiet würde zu keinen erheblichen Mehreinnahmen für die Bundeskasse führen. Die Waren im Samnaun werden wegen ihres billigen Preises gekauft. Fällt dieser Anreiz dahin, so ist sicher, dass die Zahl der Passanten - und damit der Käufer zurückgehen würde. Als Folge davon hätten die Gemeinde Samnaun und der Kanton Graubünden erhebliche finanzielle Nachteile zu tragen. Der Touristenverkehr würde sich ins nahe Livigno verlagern, dessen Sonderstatus bestehen bliebe.

3. Der Zollausschluss ist heute noch gerechtfertigt und sollte nicht aufgehoben werden, bevor die touristische Entwicklung die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Talschaft gewährleistet.

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Anträge

Der Bundesrat beantragt Ihnen deshalb, zustimmend vom vorliegenden Bericht Kenntnis zu nehmen und das Postulat 1975 P 75.410 Zollausschlussgebiet Samnaun (N 17. 6. 75, Grolimund) abzuschreiben.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

Bern, den 24. März 1976 Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Gnägi

Der Bundeskanzler : Huber

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21.04.1976

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