161 Beilage zum Berichte der nationalräthlichen Kommission vom 11. Oktober 1886.

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Bericht über

die ökonomische Tragweite des Gesetzesentwurfes betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881.

Erstattet an die nationalräthliche Kommission zur Vorberathung desselben.

Um sich über die ökonomische Tragweite des Gesetzesentwurfes betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881 einigermaßen klar zu werden, wäre zunächst vonnöthen, zu wissen, wie."groß ist der Umfang der Gewerbebetriebe, welche dem Haftpflichtgesetz neu unterstellt werden. Die Beantwortung dieser Frage ist ohne Zweifel von der größten Bedeutung. Leider fehlt es uns hiefür gänzlich an sicheren Anhaltspunkten. Wir besitzen in der Eidgenossenschaft keine Gewerbestatistik. Die nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1880 bearbeitete Berufsstatistik gibt wohl an, wie sich die Bevölkerung nach Berufsgruppen und Berufsarten vertheilt sie gibt damit auch ein Bild vom Umfang und gegenseitigen Verhältniß der verschiedenen Berufsarten und -Gruppen, aber sie kann nicht zeigen, wie diese Berufsarten und -Gruppen sich nach wirtschaftlichen Einheiten, nach Gewerbebetrieben, gliedern. Die wirtschaftliche Gliederung der in der Berufsstatistik aufgeführten Unterabtheilungen sowohl nach der Stellung (ob selbständig oder unselbständig erwerbend) wie nach der verschiedenen Größe der Gewerbebetriebe, zu kennen, ist nicht minder wichtig zur Beurtheilu der volkswirtschaftlichen Verhältnisse, wie die Kenntniß des äußeren Umfanges der Berufsarten und -Gruppen.

162 Bei der Volkszählung von 1870 wurde wohl ein Versuch gemacht, zu erfragen, ob der Beruf selbständig oder im Lohn oder Dienst Anderer ausgeübt werde Trotz der Anführung von Beispielen, wie diese Frage zu beantworten sei, wurde dieselbe doch vielfach nicht verstanden. Bei der Bearbeitung zeigte es sich, daß die Antworten auf diese Frage zu lückenhaft und unzuverlässig waren, als daß man daraus eine auch nur irgendwie sichere Zusammenstellung machen konnte. Ebenso mißlang der Versuch, mit der Volkszählung eine Aufnahme der Fabriken zu verbinden ; die aus den eingegangenen Antworten bearbeiteten Zusammenstellungen zeigten so große Lücken, daß sie nicht einmal publizirt werden konnten. Trotzdem das Fragenschema der Volkszählung von 1880 in dieser Beziehung bedeutend verbessert war und ebenfalls eine ausführliche Anleitung zur Ausfüllung enthielt, war es auch dies Mal nicht möglich, die selbständigen Beruftreibenden auszuscheiden.

Im Kanton Zürich wurde zwar ein diesbezüglicher Versuch gemacht, dessen Resultate konnten aber nur mit allem Vorbehalt gegeben werden. Nur Basel-Stadt, wo nachträgliche Ergänzungen leicht erähltlich gemacht werden konnten, war im Stande, die Erwerbenden in den verschiedenen Berufsarten nach vier Kategorien: Selbständige Beruftreibende, angestellte Kommis, angestellte Berufsleute und untergeordnetes Hillfspersonal, geben zu können.

Wir kennen also, mit einziger Ausnahme von Basel-Stadt, nicht einmal die Zahl der selbständig Beruftreibenden und der Arbeiter in den verschiedenen Berufszweigen. Noch weniger aber kennen wir die verschiedene Größe der Gewerbebetriebe nach der Arbeiterzahl, oder wissen wir, wie die Gesammtzahl der Ervverbenden sich auf die Gewerbebetriebe nach deren Größe vertheilt. Für den vorliegenden Zweck wäre aber gerade die Hauptsache, zu wissen, wie viele Arbeiter in den vom Gesetzesentwurfe bezeichneten Gewerben und zwar in den Betrieben mit mehr als fünf Arbeitern beschäftigt seien.

Es ist freilich gewagt, diese uns durchaus unbekannte Größe auf dem Wege .der Interpolation zu suchen, und wenn dies nachstehend doch geschieht, so wallet dabei das Bestreben vor, durch diesen Versuch wenigstens ein ungefähres Bild zu geben, das in .großen Zügen die Tragweite des Gesetzesentwurfes zeigen kann.

Urn ein solches Bild gewinnen zu können, mußten statistische
.Angaben aus einem Lande benutzt werden, das Erhebungen dieser Art in neuester Zeit gemacht hat und bei dem man annehmen kann, daß es Verhältnisse aufweise, von denen die in der Schweiz obwaltenden nicht sehr verschieden sein mögen. Das Deutsche Reich hat nun am 5. Juni 1882 eine Berufszählung durchgeführt,

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deren sehr interessante Ergebnisse zum größten Theile vorliegen und benutzt werden konnten. Die bezügliche Statistik gibt eine Ausscheidung der in den verschiedenen Berufen beschäftigten Personen für die Gewerbebetriebe mit mehr als fünf Gehülfen. Es wurde nun bei den hier in Betracht fallenden Gewerben die Zahl der in den Betrieben mit mehr als fünf Gehülfen beschäftigten Personen in's Verhältniß gesetzt zur Gesammtzahl der im betreffenden Beruf beschäftigten Personen, um zu erfahren, ein wie großer Prozentsatz der sämmtlichen Erwerbenden auf die Betriebe mit mehr als fünf Personen kommt. Sodann wurde unter der Annahme, daß jeder Betrieb einem Unternehmer gehöre, das Prozentverhältniß zwischen Unternehmern und Arbeitern berechnet. Nachdem nun diese Relativziffern gewonnen waren, nahm man die gleichen Verhältnisse als auch für die Schweiz geltend an und berechnete für die in Frage kommenden Berufe aus den Ergebnissen der Berufsstatistik die gesuchten Zahlen.

Die Annahme, daß das Verhältniß der größern zu den kleinern Gewerbebetrieben in der Schweiz das gleiche sei, wie in Deutschland, entbehrt zwar jeden Beweises; ein Beweis wäre aber erst durch eine Gewerbestatistik zu erbringen , und eine solche haben wir eben nicht. Dagegen wissen wir, daß infolge des gesteigerten Verkehrs, der in alle Landestheile vordringt, in der Veränderung der Gewerbebetriebe nach ihren Größenverhältnissen in neuester Zeit fast überall das gleiche Bewegungsgesetz zur Erscheinung gelangt, und daß dabei die Unterschiede zwischen den Verhältnissen der verschiedenen Länder sich mehr und mehr ausgleichen, zum Theil auch schon ausgeglichen haben. Es wäre freilich besser gewesen, verschiedene benachbarte Länder in Berechnung zu ziehen, um Mittelzahlen zu gewinnen; aber es stand leider kein geeignetes weiteres Material aus ungefähr dem gleichen Zeiträume zu Gebote.

Deßhalb blieb nichts Anderes übrig, als sieh an die Relativziffern nach der deutschen Berufszählung zu halten.

Die Ergebnisse der Berechnungen auf Grundlage dieser Relativziffern finden sich zusammengestellt in folgender Tabelle:

Bundesblatt. 38. Jahrg. Bd. III.

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Gewerbegruppen und Gewerbearten.

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Das gleiche Verhältniß f. d. Schweiz angenommen, wären nac'h der Be.rufsstat.

v. 1880 Betriebe mit über 5 Arbeitern

Nach der Fabrikstatistik standen im Es fielen demnach Mai 1882 davon unter die Ausdehunter dem eidg. nung der Haftpflicht Fabrikgesetz

Betriebe Arbeiter Betriebe Arbeiter Jetriebe Arbeiter

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Bergbau, Salinen, Steinbruch Kalk- u. Ziegelbrermerei, Cernentfabr.etc.

Steinhauer und Marmoristen Maurer u n d Gypser .

.

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Dachdecker .

.

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Kaminfeger .

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Zimmerleute .

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Schreiner und Parquetiers Glaser .

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Drechsler .

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Schlosser .

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Maler, Lackirer etc. .

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Tapezierer .

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.

Hafner und Ofenfabrikation Spengler .

.

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.

Straßen- und Wasserbau .

Fuhrhalterei .

.

.

.

.

Total

965 713 475 564 138 5 439 138 22 319 195 139 179 199

68 874 156 --

35 153 170 600 51 6 534 198 3 24 84 49 14 45 23 220 59 2268

4,117 3,241

11

75

--.

2,613 11,410 -- 473 -- 39 -- 7,368 2,570 Ì94 30 --4 526 970 18 515 -- 174 -- 531 -- 230 4 7,087 -- 822

42,716

-- 206

78 170 600 51 6

3,815 844 2,613 11,410 473 39

638

7,576

74 -- --

3 20 66 49 14 45 19 220 59

30 443 432 515 174 531 156 7,087 822

5756

2062

36,960

302 2397 -- -- -- -- 2362 -- 83 538 -- -- -- ·

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165 In dieser Uebersicht sind nicht Inbegriffen die Arbeiter in Gewerben, in welchen explodirbare Stoße erzeugt oder verwendet werden. Die Berufsstatistik gibt 473 in der Pulver-, Dynamit- und Patronenfabrikation beschäftigte Personen an; nach der Fabrikstatistik von 1882 unterstanden dem Gesetze 8 Fabriken von Explosivstoffen mit 476 Arbeitern; es finden sich nun nirgends Anhaltspunkte, um zu berechnen, wie groß die Zahl der Betriebe und Arbeiter sein möchte, die noch unter den Schutz der Haftpflicht zu stellen wären. Ferner fehlen in dieser Uebersicht auch die Arbeiter, die beim Eisenbahn- und Tunnelbau, sowie mit der Erstellung von Telephon- und Telegraphenleitungen beschäftigt sind.

Die Zahl der letztem wird auf amtlichem Wege nicht schwer zu ermitteln sein, diejenige der erstem ist sehr großen Schwankungen unterworfen. Abgesehen davon , daß die Berufsstatistik von 1880 eine Ausscheidung des Personals, welches nur beim Bau beschäftigt war, nicht geben konnte, so würde eine mit Hülfe der Eisenbahnstatistik berechnete Zahl von 11,788 Personen doch nur filidie damalige Zeit gelten können, in welcher der Bau der Gotthardbahn, der aargauischen Südbahn, der Monte-Cenere-Bahn etc.

ein außerordentlieh großes Kontingent von Arbeitern erforderte, das man jedenfalls nicht für eine Durchschnittszahl annehmen darf.

Es läßt sich eine solche überhaupt nicht schätzen und hätte auch keinen Sinn. Endlich finden sich unter den Baugewerben auch nicht die Brunnenmacher und Arbeiter an Wasserleitungen; deren Zahl ist aber noch bedeutend kleiner, als die der Kaminfeger, und dürfte die nicht zu ermittelnde Zahl derselben in Betrieben mit mehr als fünf Arbeitern eine äußerst niedrige sein.

Was nun die Zahlen der obigen Tabelle betrifft, so ist zu sagen, daß, wenn auch für keine derselben eine Verantwortung zu übernehmen ist, doch auch keine als unwahrscheinlich bezeichnet werden kann. Im großen Ganzen würden also nach dem Gesetaesentwurf aus den in der Tabelle aufgeführten Gewerben 2000--2200 Betriebe mit 34,000--38,000 Arbeitern der Haftpflicht unterworfen, die es vorher noch nicht waren. Nach einer Schätzung gemäß unsern Verhältnissen darf man annehmen, daß wahrscheinlich zu jetziger Zeit die Zahl der vom Gesetzesentwurfe berührten Betriebe etwas höher, die Zahl der Arbeiter aber eher etwas niedriger sein dürfte,
als obige Berechnung zeigt.

In die höchste GefuhrkJasse sind zu rechnen die Arbeiter im Bergbau und Steinbrueh, die auch bei uns überwiegend im Großbetriebe arbeiten ; doch dürfte es in der Schweiz schwerlich solche Betriebe geben, von denen eine coulante Versicherungsgesellschaft einen Versicherungsantrag nicht annehmen würde. Ferner ist noch

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in die höchste Gefahrklasse zu rechnen eine Kategorie von Arbeitern bei Wasserbauten, die aber ihrer Zahl nach nicht stark ins Gewicht fallen kann, denn schon die Arbeiter an Brückeribauten, Baggerungen und Quaiarbeiten werden gewöhnlich in keine höhere, zu einem großen Theile sogar in eine niedrigere Gefahrklasse gerechnet, wie die Maurer und Zimmerleute. Noch mehr gilt dies von den Arbeitern bei Straßenbauten. Höher in der Grefahrklassifi zirung rangiren sich allerdings die Dachdecker ein, aber der bei weitem größte Theil derselben ist im Kleinbetriebe beschäftigt und, sofern das in Deutschland konstatirte Verhältniß auch bei uns zutrifft, würde nach dem Gesetzesentwurfe nur etwas mehr als der siebente Theil der Dachdecker des Haftpflichtschutees theilhaftig werden. Zu den höheren Gefahrklassen gehört endlich noch die Fuhrhalterei, doch würde auch hievon nur ein kleiner Theil der in diesem Zweige beschäftigten Personen unter den Schutz des Gesetzes fallen, da das Fuhrwesen jedeüfalls auch bei uns weitaus zum größten Theile Gegenstand des Kleinbetriebes ist.

Die Kalk- und Ziegelbrenner, Cementbereiter, Thonwaarenverfertiger, Steinhauer, Schreiner, Parquetiers, Glaser, Drechsler, Schlosser, Maler, Tapezierer, Hafner, Ofenbauer und Spengler werden in die mittleren Gefahrklassen gerechnet, für die im Durchschnitt eine mittlere Versicherungsprämie von l Fr. 10 Kp. per 100 Fr.

Arbeitslohn angenommen werden kann.

Legt man sich nun die Frage vor: Kann die Auflage der Haftpflicht von den in Frage kommenden Gewerbebetrieben getragen werden?

-- so läßt sich dieselbe an Hand statistischer Daten leider nicht lösen, denn es mangelt eben auch hier wieder eine Gewerbestatistik und eine Lohnstatistik, die über die Höhe der Belastung, die allgemeine Stellung der Gewerbebetriebe und ihre Tragkraft Aufschluss oder wenigstens Anhaltspunkte geben würde. Man kann also auch diese Frage nur mit Annahmen beantworten.

Nun darf als eine Thatsache bezeichnet werden, dass die konzessionirten Transport-Anstalten seit 10 Jahren eine Haftpflicht tragen, die viel weiter gehend ist, als die des Fabrik-Haftpflichtgesetzes, und daß die so sehr unter ausländischer Konkurrenz stehenden Maschinenfabriken und Papierfabriken, die auch schon in die höheren Gefahrklassen einzurechnen sind, die Haftpflicht tragen und eine Abschaffung
derselben von keiner Seite verlangt wird. Aus dieser Thatsache darf man wohl die Annahme ableiten, ' daß die Unternehmungen in Bergbau und Steinbruch, die meistens viel weniger unter dem Drucke ausländischer Konkurrenz stehen, die Haftpflicht auch zu tragen vermögen. Das Gleiche läßt sich ohne Weiteres annehmen von den Unternehmern von Bisenbahn-, Tunnel-,

167 Straßen-, Brücken- und Wasserbauten. Solche Unternehmungen, namentlich soweit eine höhere Gefahrklasse in Betracht kommt und es sich nicht bloß um Erstellung kleinerer Slraßenstreuken handelt, können ja doch nur von Solchen übernommen werden, denen größere Mittel zur Verfügung stehen, die schon für die Ausführung der Arbeit Garantien zu leisten im Stande sind und die also auch fähig sein müssen, die Haftpflicht gegen die von ihnen beschäftigten Arbeiter zu tragen. Auch die Fuhvhalterei, soweit deren größere Betriebe unter das Gesetz, fallen, darf als fähig erachtet werden, die vom Gesetzesentwurf ihr auferlegte Pflicht zu tragen. Es darf im Weiteren angenommen werden, daß die genannten Kategorien von Unternehmern, auch wenn sie die Versicherung ihrer Arbeiter für haftpflichtige Unfälle unterließen, bei vorkommenden Fällen in der Regel für Erfüllung der Haftpflicht habhaft gemacht werden konnten, da alle diese Unternehmungen einen größern Fond eigenen Kapitals voraussetzen lassen.

Schwieriger stellt sich die Frage bei den Baugewerben. Allerdings umfaßt der Gesetzesentwurf nur diejenigen Betriebe, welche in der Regel mehr als fünf Arbeiter beschäftigen, und es würden demnach kleinere Betriebe, wenn sie nur vorübergehend, zur Ausführung dringlicher Arbeiten, mehr als fünf Arbeiter beschäftigten, nicht unter die Haftpflicht fallen. Ein Baugewerbebetrieb nber, der regelmäßig mehr als fünf Arbeiter beschäftigen kann, darf allerdings schon zu den konsolidirten, die eine gewisse Verantwortlichkeit übernehmen können, gezählt werden. Aber es mögen sich doch auch eine Anzahl darunter befinden, deren Unternehmer, wenn sie es unterlassen, ihre Arbeiter zu versichern, vorkornmendenfalls für Erfüllung der Haftpflicht nicht habhaft gemacht werden können.

Freilich haben die kleineren unter den Betrieben mit mehr als fünf Arbeitern den V ortheil, daß sie unter direkter Leitung und Aufsicht des Unternehmers stehen, was bei den größeren Betrieben nicht im gleichen Maße der Fall sein kann. Insofern sich Unfälle durch gute Leitung und Aufsicht verhindern lassen, wäre also die Stellung der kleineren Betriebe eine günstigere, vorausgesetzt, daß der Unternehmer auch wirklich auf dem Platze, ist. Dagegen ermangeln die kleineren Betriebe oft der besseren und kostspieligeren Einrichtungen, Geräthe und Hülfsmaterialien,
die größere Betriebe haben, und durch welche ebenfalls Unfällen vorgebeugt werden kann.

Es dürfen also hier Bedenken auftauchen, deren größeres oder geringeres Gewicht schwer bemessen werden kann, weil es uns an jeder exakten zahlenmäßigen Kenntniß der Verhältnisse fehlt, und wir deßhalb nicht einmal wissen, wie weit unter den vom Gesetzes-

168 entwurf erwähnten Gewerben solche kleinere Betriebe in Betracht kommen. Allerdings wären alle Bedenken sofort gehoben, sobald die Versicherung aller vom Gesetzesentwurfe betroffenen Gewerbe für die Folgen der Haftpflicht Platz greift. Es ist auch gar nicht anzunehmen, es sei diese Versicherung den betreffenden Gewerben nicht möglich, oder schädige dieselben. Ist doch,heute schon, ohne gesetzliche Haftpflicht, ein Theil dieser Gewerbebetriebe bei den bestehenden Gesellschaften gegen Unfälle versichert und befinden sich dabei doch sogar kleinere Betriebe, als sie im Gesetzesentwurf in Aussicht genommen sind. Die Frage des Versicherungs z w a n g e s und einer umfassenden Unfallversicherung läßt sich aber im gegenwärtigen Stadium der Haftpflichtgesetzgebung noch nicht auf exakte Weise lösen.

Aber die Bedenken gegen die Unterstellung einer unbekannten Anzahl von Gewerbebetrieben unter die Haftpflicht, die im Nichtversicherungsfalle dieselbe vielleicht nicht zu tragen vermöchten, müssen denn doch zurücktreten vor der Thatsache, daß durch den vorliegenden Gesetzesentwurf ja nur ein kleiner Theil der in den Baugewerben beschäftigten Personen des Schutzes der Haftpflicht theilhaftig wird, während als allgemein anerkannt erachtet werden darf und auch in der Botschaft des Bundesrathes als gerecht und logisch anerkannt wird, daß alle Arbeiter dieser Gewerbe eines Schutzes genießen sollten gegen die Folgen der ihnen bei ihrer Arbeit zustoßenden Unfälle. Nur bei den Maurern träfe es nach obigen Berechnungen mehr als die Hälfte, außer dem Schütze stünden aber noch bei Steinhauern und Zimmerleuten mehr als die Hälfte, bei den Drechslern mehr als zwei Drittheile, bei den Schlossern, Hafnern, Ofenbauern etc. über vier Fünftel und bei den übrigen Baugewerben ein noch größerer Theil der Arbeiter. Bin Haftpflichtschütz für diese Großzahl von Arbeitern in den kleinen Baugewerbebetrieben wäre freilich nicht minder nöthig, als für die der größeren Betriebe, aber eben hier finden, sich jene Kategorien von Unternehmern, die ohne die Einrichtung einer umfassenden Unfallversicherung nicht unter die Haftpflicht gestellt werden können, weil die Versicherung gegenwärtig für einen großen Theil derselben zu drückend wäre. Die Unterstellung aller übrigen Baugewerbebetriebe unter und mit fünf Arbeitern unter die Haftpflicht
muß also als undurchführbar betrachtet werden, so lange die Versicherungseinrichtungen noch nicht geschaffen sind, welche dieselbe ermöglichen.

Läßt sich nun nicht bestreiten, daß die Durchführung solcher Einrichtungen, ja sogar schon die Vorarbeit zu denselben eine längere Zeit in Anspruch nehmen wird, so daß darüber einige Jahre

169 vergehen können, bis dieselben in Wirksamkeit treten könnten, -- so bleibt einzig noch die Frage übrig: Soll die Ausdehnung der Haftpflicht auf eine Anzahl von Gewerbebetrieben, die zum Theil Unfällen stärker unterworfen sind, als ein großer Theil der Fabrikbetriebe, noch auf so lange verschoben werden, bis eine umfassende Unfallversicherung eingerichtet ist? Rechtfertigt es sich, die Maßregeln, welche, wie die bundesräthliche Botschaft sagt, stufenweise und in Anlehnung an die obwaltenden Verhältnisse jenes Mißverhältniß zu beseitigen suchen, jetzt nicht zu ergreifen? Sind die in dem Gesetzesentwurfe enthaltenen Maßregeln nicht wohl gar nothwendige Vorstufen, ohne welche das weitere Ziel nicht gut erreicht werden kann, und gibt es keine Mittel, durch welche die Durchführung dieser Maßregeln, da wo sie heute noch zweifelhaft erscheint, auch ohne gesetzlichen Versicherungszwang gesichert werden kann?

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst noch einmal darauf aufmerksam zu machen, daß von den im Gesetzesentwurfe erwähnten Gewerben -- abgesehen von denjenigen mit explodirbaren Stoffen, dem Eisenbahn- und Tunnelbau, der Erstellung von Telephon- und Telegraphenleitungen, für die wir keine Zahlen in Rechnung zu bringen vermochten -- die Betriebe im Bergbau und Steinbruch, in der Kalk- und Ziegelbrennerei etc., im Straßen- und Wasserbau und in der Fuhrhalterei, soweit es sich dabei um solche mit über fünf Arbeitern handelt, eine Zahl von über 12,500 Arbeitern repräsentiren. Für diese Gewerbebetriebe läßt sich durchgehend annehmen, daß sie die Unterstellung unter die Haftpflicht tragen können und daß deren Unternehmer auch im Nichtversicherungsfalle für haftpflichtige Unfälle, sofern dieselben nicht einen außerordentlichen Umfang annehmen, habhaft zu machen wären.

Bezüglich der Baugewerbe läßt sich dasselbe, wenn auch nicht für die Hälfte der Betriebe, so doch sicher mindestens für die Hälfte der Arbeiter annehmen.

Es würde demnach die Möglichkeit vorliegen, für etwa 25,000 Arbeiter, abgesehen von den obgenannten Kategorien, die eine zwar noch unbekannte, aber unter Umständen bedeutende Zahl von Arbeitern repräsentiren, einen Haftpflichtschutz zu schaffen, dessen Durchführung als ganz sicher angenommen werden kann. Gegen die Unterstellung dieser Arbeiter unter den Schutz der Haftpflicht könnte,
nachdem die Fabriken, und darunter auch solche mit gefährlichem Betrieb und kleinerem Umfang, derselben unterworfen werden, kaum ein ernstlicher Einwand erhoben werden. Dem gegenüber blieben noch 10--12,000 Arbeiter in Betrieben, die bei Unterlassung der Versicherung möglicherweise für die Erfüllung der Haftpflicht nicht habhaft gemacht werden könnten. Die Zahl

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der letzteren Kategorie ist absichtlich hoch gegriffen, höher als sie in Wirklichkeit sein dürfte, um nicht dem Verdacht ausgesetzt zu sein, bei dem Mangel exakter Zahlen die Sachlage zu sanguinisch zu beurtheilen.

Da nun, nachdem die Praxis in der Handhabung des Fabrikgesetzes auch eine Zahl von über fünf Arbeitern als Kriterium annimmt, eine anderweitige Begrenzung durch die Arbeiterzahl nicht wohl thunlich erscheint, die Arbeiterzahl aber, bei der großen Verschiedenheit der Gewerbebetriebe, auch ohnehin -keinen absoluten Rückschluß auf die Habhaftigkeit des Unternehmens erlaubt, würde ein anderweitiges Mittel doch wohl über die Bedenken hinweghelfen. Es käme ja schließlich nur noch darauf an, in Ermangelung eines Versicherungszwanges, denjenigen Unternehmern, welche im Falle der Nichtversicherung ihrer Haftpflicht nicht genügen könnten, einen Ansporn zur Versicherung zu geben, wie das in Art. l b i s der vorläufigen Beschlußergebaisse des Nationalrathes bereits angelegt ist. Die Hauptsache hiebei ist die Anregung und Organisation genossenschaftlicher oder vereinsweiser Kollektiv-Versicherung, in der ja an und für sich schon eine Erleichterung der Versicherung liegt. Die Ausführung dieses Gedankens ist nicht- so schwierig, als es scheinen möchte. Nachdem der vorliegende Entwurf in Gesetzeskraft erwachsen und die unter denselben fallenden Gewerbebetriebe ermittelt und festgestellt sind, wäre den Unternehmern die Frage vorzulegen, ob sie ihre .Arbeiter gegen die Folgen haftpflichtiger Unfälle versichert haben, oder zu versichern gedenken, etc. Die eingehenden Antworten würden bald ein klares Bild geben, wie weit genossenschaftliche oder vereinsweise KollektivVersicherung anzuregen und zu organisiren ist.

Es ist hiebei gar nicht eine finanzielle Unterstützung an die Prämien der Unternehmer in Aussicht zu nehmen. Die Prämien, zu welchen coulante Gesellschaften versichern, sind nicht so hoch, daß sie nicht von den Unternehmern getragen werden könnten.

Sofern, wie dies jetzt meist geschieht, nicht bloß gegen Haftpflicht, sondern auch gegen sonstige Unfälle versichert wird, könnten auch die Arbeiter zu einer etwelchen Betheiligung an der Prämienzahlung herbeigezogen werden, da der durch die ganze Versicherung ihnen gewährte Schutz weitergehend ist, als der durch die Haftpflicht gewährte. Seitens der
Aufsichtsbehörden wäre aber darauf zu achten, daß nicht den Arbeitern eine unverhältnismäßig große Beitragsleistung zugeschoben wird und die Unternehmer sich derart ihrer Haftpflichterfüllung zum Theil entledigen.

Die Anregung resp. Organisation und Förderung von Genossenschaften oder Vereinen behufs kollektiver Versicherung kann aber

171 auch zu einer billigeren Versicherung, d. h. zur Herabsetzung der Aufnahmegelder und Prämien führen. Es ist dies leicht erklärlich.

Um Klienten zu gewinnen, müssen die Versicherungsgesellschaften ganz bedeutende Ausgaben machen und an ihre .Agenten Provisionen zahlen. Eine Gruppe von Baugewerben, wie die erwähnten, mit 10--12,000 Arbeitern bei einem durchschnittlichen Jahreslohne von 1000 Franken würde schon eine Versicherungssumme von 10 --12 Millionen an Jahreslöhnen repräsentiren. Einem KollektivVersicherungsantrage von dieser Höhe würden die Versicherungsgesellschaften gewiß gern zu billigen Bedingungen entsprechen.

Sie könnten das aber auchj denn eine solche Kollektiv-Versicherung bietet vielmehr die Aussicht auf dauernde regelmäßige Einnahmen, als die Versicherung der einzelnen Unternehmer, und das Risiko ist dabei für die Gesellschaft doch kein höheres, es kann sogar zu einem Theil wieder rückversichert werden.

Solche Gruppenversicherungen bestehen iihrigens heute schon und genießen nicht unbeträchtliche Vergünstigungen. So sind bei der Unfallversicherungs-Gesellschaft ,,Zürich" in vereinsweiser Kollektiv-Versicherung : Der Verein Schweiz. Geschäftsreisender, der Verein der Bierbrauer, der Verein Schweiz. Buchdrucker und der Schweizer Alpen-Club für die Bergführer. Uebrigens soll mit dieser Anregung resp. Organisation und Förderung genossenschaftlicher oder vereinsweiser Kollektiv-Versicherung keineswegs für die in Aussicht stehende allgemeine Unfallversicherung das Prinzip der Berufsgenossenschafteu, welches in Deutschland angenommen wurde, präjudizirt werden. Ob dasselbe überhaupt für unsere Verhältnisse paßt, das ist zweifelhaft und wäre erst noch mit der ganzen Frage zu untersuchen. Einstweilen könnte es sich nur darum handeln, in Ermangelung eines V e r s i c h e r u n g s z w a n g e s den in Frage kommenden Gewerbebetrieben die Versicherung möglichst zugänglich und wohlfeil zu machen und dadurch auch die Durchführung der Haftpflichterfüllung, soweit es möglich ist, zu sichern.

Die geeignetsten Mittel, mit denen das bewerkstelligt werden kann, lassen sich nicht wohl vorher genauer angeben ; sie werden aber für die eidgenössischen und kantonalen Aufsichtsbehörden leicht zu finden sein, sobald nur erst der Umfang des zu behandelnden Gebietes bekannt und umschrieben ist, d. h. sobald
die für die Durchführung des Gesetzes nöthigen Erhebungen gemacht sind.

Von großer Wichtigkeit aber ist die Erwägung, daß mit einer Ausdehnung der Haftpflicht, wie sie in den Ausführungen des Gesetzesentwurfes liegt, die erste und wichtigste Vorarheit zur Einrichtung einer umfassenden Unfallversicherung gethan wird. Mit der Durchführung eines solchen Gesetzes erhalten wir erst die An-

172

fange einer Gewerbestatistik und kommen zu genaueren Anhaltspunkten über ein Gebiet, von dem uns heute noch jede Uebersicht abgeht. Damit werden auch erst die Grundlagen gegeben, auf denen man sich wirklich über die Form, unter der bei uns eine umfassende Unfallversicherung sich gestalten läßt, klar werden kann, während man bis dahin auf Annahmen angewiesen ist, die nur zu leicht dem Irrtliume unterworfen sind.

Leider konnte dieser Bericht zum größten Theile sich auch nur a.uf Annahmen und Erwägungen stützen, aber doch darf aus ihm der Schluß gezogen werden, daß der vorliegende Gesetzesentwurf betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht erklärt werden darf : als eine durchführbare und nothwendige Vorstufe zur Erreichung einer sozialpolitischen Gesetzgebung, deren Ziel ist, allen unter Gefahren ihren Beruf ausübenden Arbeitern einen Schutz zu verleihen, ohne damit den Unternehmern Verpflichtungen aufzulegen, die sie nicht tragen können. Bei dieser gesetzgeberischen Arbeit handelt es sich zudem ja nicht blos darum, Vorsorge zu treffen, daß von Unfällen betroffene Arbeiter nicht hiilflos seien, sondern mehr noch darum, solche Unfälle auf das möglichst niedrige Maß zu beschränken und dadurch die Werthschätzung des menschlichen Lebens zu heben, -- den mächtigsten Hebel der Kultur, den wir kennen.

Z ü r i c h , den 14. August

1886.

Hermann Greulich, Chef des zürch. statistischen Bureau.

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Transport- & Unfall-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft JIM".

Brief- & Telegramm-Adresse : Gesellschaft ,,Zürich".

Z ü r i c h , den 25. August 1886.

Herrn Nationalrath Brunner, Präsident der nationalräthlichen Kommission betreffs Ausdehnung der Haftpflicht, Hier.

Hochgeehrter Herr!

Unter Bezugnahme auf unsere heutige Unterredung beehre ich mich hiemit, Ihnen wunschgemäß zu bestätigen, daß Bauunternehmungen gewöhnlicher Art (Häuserbauten u. dergl. zu einem Prämiensatze von 25--30 bei der Gesellschaft ,,Zürich"1 Deckung gegen Unfallsgefahr im vollen Umfange der gegenwärtigen schweizerischen Haftpflichtgesetzgebung finden können. Besagte Prämie rechnet sich auf der Summe der jeweilig ausgegebenen Jahreslöhne.

Indem ich mich für allfällig weiters wünschbare Informationen sehr gerne auch ferner zu Ihrer Verfügung halte, zeichne ich mit vollkommener Hochachtung !

H. Müller, Direktor der Unfall-Versicherungsgesellschaft ,,Zürich".

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1886

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43

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Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

16.10.1886

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161-173

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