693 # S T #

3891

Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Zusatzakte zum Grerichtsstandsvertrage mit Frankreich.

(Vom 14, April 1936.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Der schweizerisch-französische Gerichtsstandsvertrag vom 15. Juni 1869 stellt in Art. l, Abs. l, den Grundsatz auf, dass in Streitigkeiten zwischen Schweizern und Franzosen über persönliche Ansprüche («en matière mobilière et personnelle») die Klage beim «natürlichen Richter» des Beklagten -- d. h.

beim Eichter des Wohnsitzes des Beklagten oder, wenn dieser in keinem von beiden Staaten Wohnsitz hat, boim Eichter seines Aufenthaltsortes -- anzubringen ist. So wertvoll diese Garantie des natürlichen Richters des Beklagten im allgemeinen ist, so hat sie doch bei Ansprüchen aus Automobilunfällen die unerwünschte Folge, dass in den Fällen, wo die eine Partei dem einen und die andere dem andern Vertragsstaat angehört, der Geschädigte seine Klage nicht im Lande des Unfallortes anbringen kann, sondern genötigt ist, im andern Staate zu klagen, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in letzterem Staate hat.

Gerade bei Ansprüchen aus Automobilunfällen kann der Eichter des Unfallortes in der Eegel den Tatbestand zuverlässiger, einfacher und rascher feststellen als ein Gericht des andern Staates; zudem bildet die Notwendigkeit, den Prozess im Auslande zu führen, der Umstände und Umtriebe willen für den Geschädigten einen schweren Nachteil. Infolge der gewaltigen Entwicklung des Automobilverkehrs machen sich diese Mängel in besonders starkem Masse fühlbar. Die Gesetzgebung beider Staaten lässt zwar den Gerichtsstand des Unfallortes zu (vgl. Art. 45 unseres Automobilgesetzes), in Streitigkeiten zwischen Schweizern und Franzosen wird jedoch dieser Gerichtsstand durch Art. l, Abs. l, des Vertrages von 1869 ausgeschlossen, sobald der Beklagte seinen natürlichen Richter nicht im Lande des Unfallortes, sondern im andern Vertragsstaate hat ; in diesem Falle bleiben nur die Adhäsionsklage gegen einen Angeklagten und die freiwillige Unterwerfung des Beklagten unter ein anderes Gericht vorbehalten.

694 Unter Hinweis auf die erwähnten Unzuträglichkeiten in Automobilunfallsachen hat die französische Regierung eine Abänderung von Art. l des Vertrages von 1869 im Sinne der Einführung des Gerichtsstandes des Begehungsortes für Delikts- und Quasideliktsklagen vorgeschlagen. Wir konnten dieser Anregung insoweit Folge geben, als sie sich auf solche Unfälle bezieht, die durch den Gebrauch von Strassenfahrzeugen verursacht werden. Zugleich benutzten wir den Anlass einer Teilrevision des Vertrages von 1869, um auch eine mit Art. 10 des schweizerisch-italienischen Vollstreckungsabkommens übereinstimmende Bestimmung über vorläufige und sichernde Massnahmen vorzuschlagen, da das Fohlen einer solchen Vorschrift im Vertrage von 1869 zu Schwierigkeiten und Unzukömmlichkeiten geführt hatte. Die französische Regierung stimmte unsern Vorschlägen zu, und am 4. Oktober 1985 wurde eine Zusatzakte zum Vertrag von 1869 unterzeichnet.

Art. l der Zusatzakte fügt dem Art. l des Vertrages von 1869 einen neuen Absatz bei, der bei Streitigkeiten über Ansprüche aus Unfällen, die durch den Verkehr mit Strassenfahrzeugen herbeigeführt werden, dem Kläger die Wahl zwischen dem Eichter des Unfallortes und dem natürlichen Eichter des Beklagten lässt. Es wird damit eine Ausnahme von Abs. l des Art, l des Vertrages geschaffen, indem für die im neuen Absatz genannten Streitigkeiten die Garantie des natürlichen Eichters durch die alternative Zulassung des Gerichtsstandes des Unfallortes eingeschränkt wird. Der ganze Art. l -- also auch sein neuer Absatz -- bezieht sich auf Streitigkeiten zwischen Schweizern und Franzosen, setzt somit voraus, dass eine Prozesspartei Schweizerbürger und die andere französischer Bürger sei. Hat z. B. ein in der Schweiz wohnender Angehöriger eines dritten Staates durch sein Automobil einen Unfall in Frankreich verursacht, so steht der Vertrag von 1869 dem ohnehin nicht entgegen, dass der Geschädigte (der z. B. Franzose ist) seine Klage bei den französischen Gerichten anbringe; wird in diesem Falle die Vollstreckung des französischen Urteils in der Schweiz nachgesucht, so glauben wir, dass der Beklagte sich nicht auf Art. 59 BV berufen kann, weil er nicht bessergestellt werden kann als ein Beklagter, der Schweizerbürger ist (ein solcher könnte sich wegen des neuen Absatzes von Art. l des Vertrages nicht
unter Berufung auf Art. 59 BV -- Art, 17, Ziff. l, des Vertrages -- der Vollstreckung widersetzen).

Der neue Absatz des Art. l betrifft hauptsächlich Unfälle, die durch Motorfahrzeuge herbeigeführt werden. Die durch andere Strassenfahrzeuge verursachten Unfälle spielen praktisch in internationalen Verhältnissen eine minime Eolle.

Eine direkte Klage des durch den Unfall Geschädigten gegen den Versicherer des Haftpflichtigen fallt ebenfalls unter den neuen Absatz von Art. l des Vertrages.

Art. 2 der Zusatzakte füllt eine Lücke des Vertrages von 1869 aus, die in der Schweiz zu Unsicherheit geführt hatte, weil vielfach angenommen wurde, dass die Vertragsvorschriften über den Gerichtsstand für Klagen auch auf vorsorgliche und sichernde Massnahmen anzuwenden seien. Es besteht ein

695 praktisches Bedürfnis, dass die Behörden des einen Staates die von der dortigen Gesetzgebung vorgesehenen vorläufigen und sichernden Massnahmen anordnen können, auch wenn die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Sache selbst den Behörden des andern Staates vorbehalten ist. Diesem Bedürfnisse wird nun durch die Aufnahme eines neuen Artikels Eechnung getragen, der in den Vertrag von 1869 als Art. 2b'8 eingereiht wird. Selbstverständlich wird durch die in diesem Artikel vorgesehene Zuständigkeit für provisorische und sichernde Massnahmen die Zuständigkeit für die Beurteilung der Hauptsache selbst in keiner Weise berührt; jene Massnahmen können nicht dazu führen, für den Prozess über die Sache selbst den Beklagten dem staatsvertraglich vorgeschriebenen Gerichtsstände zu entziehen.

Art. 8 enthält den Katifikationsvorbehalt und bestimmt, dass die Zusatzakte einen Monat nach dem Austausch der Eatifikationsurkunden in Kraft treten soll. Vorschriften über die Kündigung erübrigten sich, weil die durch die Akte aufgenommenen Zusätze Bestandteile des Vertrages von 1869 werden, der in seinem Art. 22 Bestimmungen über die Kündigung enthält.

Zur Ausführung des neuen Art. 2bis des Vertrages erscheint in einem Punkt eine Vollziehungsbestimmung als erforderlich. Zu den unter diesen Artikel fallenden vorläufigen und sichernden Massnahmen gehört nämlich auch der Arrest (Art. 271--281 des Schuldbetreibungs- und Konkursgesetzes). Bis jetzt hat die bundesgerichtliche Praxis angenommen, dass in der Schweiz der Arrest zur Sicherung einer Forderung, die noch nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt ist, dann gegen den Vertrag von 1869 verstosse, wenn die Forderungsklage selbst gemäss diesem Vertrage in die Zuständigkeit der französischen Gerichte fällt. Nach dem neuen Art. 2bia kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Vertrag auch in diesen Fällen einem Arrest nicht entgegensteht. Ebenso steht aber auch ausser Zweifel, dass der Arrest nicht dazu führen kann, den Beklagten in bezug auf den Eechtsstreit über den Bestand der Forderung dem staatsvertraglich normierten Gerichtsstände zu entziehen.

Die Modalitäten der Arrestprosequierung müssen mit diesem Verbot in Einklang gebracht werden. Hatte der Gläubiger nicht schon vor der Bewilligung des Arrestes Klage oder Betreibung angehoben, so hat er laut
Art. 278, Abs. l, SchKG binnen 10 Tagen nach Zustellung der Arresturkunde die Betreibung am Arrestort anzuheben; erhebt der Schuldner Eechtsvorschlag, so hat der Gläubiger binnen 10 Tagen seit dessen Mitteilung die provisorische Eechtsöffnung zii verlangen oder die Klage auf Anerkennung seines Forderungsrechts anzustellen (Abs. 2 von Art. 278 SchKG); wird die provisorische Bechtsöffming erteilt, so kann der Betriebene gemäss Art. 83, Abs. 2, SchKG binnen 10 Tagen auf Aberkennung der Forderung klagen. Dient der Arrest zur Sicherung einer (noch nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellten) Forderung, die gemäsa dem Staatsvertrage bei den französischen Gerichten einzuklagen ist (-- nur mit diesen Fällen befassen sich die nachstehenden Ausführungen --), so ist es mit

696 dem Staatsvertrag unvereinbar, dass nach dem Eechtsvorschlag des Betriebenen der Gläubiger die provisorische Eechtsöffnung verlangen könne. Denn dadurch würde der Betriebene genötigt, die Aberkennungsklage zu erheben; da diese eine Klage über den Bestand der Forderung ist, würde in solchen Fällen durch -ihre Zulassung in der Schweiz der Betriebene dem staatsvertraghoh vorgesehenen Eichter entzogen. Deshalb kann in diesen Fällen nach dem Rechtsvorschlag des Betriebenen dem Gläubiger nur die Forderungsklage gestattet werden, die selbstverständlich beim staatsvertraglich vorgeschriebenen Eichter anzubringen ist. Erst wenn das Urteil dieses Richters rechtskräftig geworden ist, kann der Gläubiger die Eeehtsöffnung (und zwar die definitive) verlangen.

Demnach ist eine Abweichung von Art. 278, Abs. 2, SchKG nötig, wöbe, auch eine Fristverlängerung als geboten erscheint. Dagegen ist eine Abweichung vom ersten Absatz des Art, 278 nicht erforderlich, sobald man anerkennt, dass die Betreibung keine Klage ist. -- Hatte der Gläubiger schon vor der Bei wiüigung des Arrestes seine Forderung gerichtlich eingeklagt, so ist er gehaltenbinnen 10 Tagen nach Mitteilung des rechtskräftigen Urteils die Betreibung anzuheben (Abs. 3 von Art. 278); für diesen Fall bedarf es, abgesehen von einer zweckmässigen Fristverlängerung, keiner abweichenden Verfahrensvorschrift.

Mit Rücksicht darauf, dass nach Art. 15, Abs. 2, SchKG das Bundesgericht die zur Vollziehung dieses Gesetzes erforderlichen Verordnungen und Eeglemente erlässt, erscheint es als gegeben, die infolge des Staatsvertrages erforderliche Anpassung der Modalitäten der Arrestprosequierung dem Bundesgericht zu überlassen. Der nachstehende Beschlussentwurf sieht dies in Art. 2, Abs. l, ausdrücklich vor.

Mit Bezug auf andere vorläufige und sichernde Massnahmen als den Arrest sind keine Ausführungsbestimmungen nötig.

* .

* Die Zusatzakte vom 4. Oktober 1935 bedeutet eine wesentliche Verbesserung des Vertrages von 1869, die den praktischen Bedürfnissen Rechnung trägt. Wir beantragen Ihnen daher die Genehmigung der Zusatzakte und die Annahme des nachstehenden Beschlussesentwurfes.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 14. April 1986.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Meyer.

Der Bundeskanzler: G. Boret.

_697 (Entwurf.)

lìumìesbeseliluss betreffend

die Zusatzakte zum Vertrage mit Frankreich über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 14. April 1986, beschliesst :

Art. 1.

Die Zusatzakte vom 4. Oktober 1935 zum Vertrage zwischen der Schweiz und Frankreich vom 15. Juni 1869 über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen wird genehmigt.

Art. 2.

Das Bundesgericht erlässt die zur Ausführung von Art. 2 der Zusatzakte vom 4. Oktober 1935 erforderlichen, von den Bestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs abweichenden Vorschriften.

Im übrigen wird der Bundesrat mit der Vollziehung dieses Beschlusses beauftragt.

Bundesblatt. 88. Jahrg. Bd. L

50

698

Übersetzung.

Zusatzakte zum Vertrage zwischen der Schweiz und Frankreich über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen.

Dei Schweizerische Bundesrat und der Präsident der Französischen Republik haben es für nützlich erachtet, den Vertrag vom 15. Juni 1869 über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen abzuändern und zu ergänzen, und haben beschlossen, eine Zusatzakte abzuschliessen, und an diesem Zwecke zu ihren Bevollmächtigten ernannt: Der Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Herrn Dunant, ausserordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Paris ; der Präsident der Französischen Republik : Herrn Pierre Laval, Eegierungspräsidenten, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ; die nach Mitteilung ihrer Vollmachten, die in guter und gehöriger Form befunden worden sind, folgende Bestimmungen vereinbart haben: Artikel 1.

Dem Artikel I des Vertrages vom 15. Juni 1869 wird, in Abweichung vom Absatz l, folgender Absatz beigefügt: «Die Streitigkeiten betreffend Schäden aus Unfällen, die durch den Verkehr mit Strassenfahrzeugen verursacht worden sind, können nach Wahl des Klägers entweder vor den Eichter des Ortes, wo der Schaden verursacht worden ist, oder vor den in Absatz l genannten Eichter gebracht werden.» Artikel 2.

Nach Artikel 2 des Vertrages vom 15. Juni 1869 wird folgender Artikel eingefügt : «Die in der Gesetzgebung eines der beiden Staaten vorgesehenen vorläufigen oder sichernden Massnahmen können bei den Behörden dieses Staates nachgesucht werden, welches immer auch die Gerichtszuständigkeit zur Entscheidung über die Sache selbst sei.»

699 Artikel 8.

Die gegenwärtige Zusatzakte soll ratifiziert werden. Die Batifikationsurkunden sollen sobald als möglich in Paris ausgetauscht werden.

Diese Akte tritt einen Monat nach dem Austausch der Batifikationsurkünden in Kraft.

So geschehen in Paria am 4. Oktober 1985.

(gez.) Dunant.

(gez.) Laval.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Zusatzakte zum Gerichtsstandsvertrage mit Frankreich. (Vom 14. April 1936.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1936

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

16

Cahier Numero Geschäftsnummer

3891

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

15.04.1936

Date Data Seite

693-699

Page Pagina Ref. No

10 032 923

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.