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Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räte sind am Montag, den 7. Dezember 1931, um 10'/a Uhr, zur ersten Tagung der 29. Legislaturperiode zusammengetreten.

Im N a t i o n a l r a t eröffnete Herr Dr. A. von S t r e n g , geboren 1852, von Sirnaoh, in Bernegg bei Emmishofen (Thurgau), als Alterspräsident die Tagung mit einer Ansprache. (Wortlaut siehe nachstehend.)

Nach Vereidigung des Rats wurde der bisherige Vizepräsident, Herr Dr. R o m a n A b t , von Bünzen (Aargau), zum P r ä s i d e n t e n gewählt.

Am 9. Dezember wurde Herr Dr. Ernest Perrier, von Chatel-St-Denis, in Freiburg, zum V i z e p r ä s i d e n t e n gewählt und zu S t i m m e n z ä h l e r n die Herren: Ernst Otto Graf, Jakob Meili, Otto Poster (Winterthur), Joseph Kuntschen, Henri Perret (Le Lode), Francesco Rusca, Johann Vonmoos, Karl von Weber.

Im S t ä n d e r a t eröffnete der abtretende Präsident, Herr Charmillot, die Tagung mit einer Ansprache. (Für den Wortlaut siehe in der französischen Ausgabe des Bundesblattes, 1931, Bd. II, S. 831.)

Nach Vereidigung der neuen Mitglieder bestellte der Rat sein Bureau wie folgt: P r ä s i d e n t : Herr Dr. J a k o b S i g r i s t , von Eachenbach und "Luzern, in Luzern, bisher Vizepräsident.

V i z e p r ä s i d e n t : Herr A n d r e a s L a e l y , von Davos und Chur, : in Chur.

S t i m m e n z ä h l e r : Herren Hugo Dietschi und Antonio Riva.

Ansprache des Herrn Dr. A. von Streng, Alterspräsident, im Nationalrat, bei Eröffnung der Tagung am 7. Dezember 1931.

Verehrte Herren Kollegen des Nationalrates!

Nach Massgabe des Art. 3 des Geschäftsreglementes des Nationalrates kommt mir die Ehre und die Pflicht zu, in der ersten auf die Integralerneuerung folgenden Sitzung unseres Eates den Vorsitz zu führen.

Indem ich mich dieser Pflicht unterziehe, geschieht es mit dem Bewusstsein, dass die damit verbundene Ehre eine lediglich durch das Schicksal bestimmte und von dem Willen meiner Herren Kollegen ganz unabhängige Fügung ist. Dieser Umstand gibt mir das Recht, wenn ich bei Eröffnung der

813 Sitzung einige Worte zu Ihnen spreche, nur meiner persönlichen Auffassung und Eingebung Ausdruck zu geben.

Meine Herren Kollegen dos Nationalrates! Die Integralerneuerung unseres Rates am 28. Oktober abbin ist unter dem revidierten Artikel 72 der Bundesverfassung erfolgt. Die Erhöhung der Vertretungszahl von 20,000 auf 22,000 hat eine automatische Reduktion der Mitglieder von 198 auf 187 zur Folge gehabt. Der neue Bat zählt 11 Mitglieder weniger als der alte. Aus dem alten "Rate sind 39 Mitglieder ausgeschieden. 21 zufolge freiwilligen Rücktrittes, 18 sind den Tücken der Proporzwahl unterlegen. Ave curia helvetica, morituri te salutant Wir aber wollen der ausgeschiedenen Kollegen heute freundlich gedenken, in dankbarer Anerkennung der Dienste, die sie, zum Teil im Laufe vieler Jahre, dem Lande geleistet haben. Die meisten von uns hatten gute Freunde unter ihnen, deren Fernbleiben wir empfinden.

Neu in den Bat eingetreten sind 28 Mitglieder. Frisches Blut, neue Arbeitskräfte, geschwellte Hoffnungen ! Die Römer nannten den neu auftretenden Politiker einen homo novus. Hier sind aber unter den neuen zumeist solche Herren, die im öffentlichen Leben schon länger gewirkt haben; vier davon waren schon früher Mitglieder der eidgenössischen Bäte. T essin schickt den Benjamin des Rates. Wir begrüssen sie alle und wünschen ihnen guten Einstand.

Wir stehen heute am Anfang der 29. Legislaturperiode des Nationalrates, einer Periode, die nun auf vier Jahre festgesetzt ist. Ich darf daran erinnern, dass die Verlängerung um ein Jahr hauptsächlich erfolgt ist, um dem Bäte eine ruhigere, weniger häufig durch die rasch wiederkehrenden Wahljahre gestörte Arbeitszeit zu sichern. Der neue Bat wird es sich angelegen sein lassen, dieser Voraussetzung gerecht zu werden und die Beden zum Fenster hinaus möglichst auf den Schluss des 4. Amtsjahres zu verschieben. Dies vorausgeschickt wird die verlängerte Arbeitszeit dem Lande nützlich sein, andernfalls wäre lediglich das Volk in seinem bisherigen Wahlrechte verkürzt worden.

Meine Herr.en Nationalräte! Die diesmaligen Erneuerungswahlen waren aussergewöhnlich lebhafter Art. ungeachtet einiger lokaler taktischer Abweichungen standen sich zwei Fronten gegenüber, deren ausgesprochenes Kampfspiel die Aufrechterhaltung oder die grundsätzliche Änderung der bisherigen staatliehen
und wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung waren. Dieser Kampf ist nicht neu, und er wird auch ausserhalb unseres Landes geführt.

Bürgerlicher Staat oder sozialistischer Staat -- das war die Schlussfrage, vor die die Wählermassen gestellt worden sind. Der mit Aufbietung aller Kräfte geführte Kampf hat den Parteien annähernd den alten Besitzstand eingebracht. Unter diesem Gesichtspunkt beurteilt, gibt es keine Sieger und keine Besiegten, wohl aber ist der Ansturm auf den bürgerlichen Staat abgewiesen worden. Es wäre aber töricht, daraus den Schluss zu ziehen, dass nun ein Dauerzustand geschaffen worden sei. Die Kralle dei: beiden Fronten werden sich weiter messen und der Kampf wird weiter geführt werden. Privatwirtschaft Bundesblatt. 83. Jahrg. Bd. II.

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814 Auf. der einen Seite, und Planwirtschaft tiuf der andern Seite, so distinguierten die Sozialpolitiker die Programme. Heute, nach Schiusa des Wahlkampfes, wird man sich wieder daran erinnern, dass die wirtschaftlichen Bedürfnisse sich nicht in starre doktrinäre Formeln einengen lassen. Die realen Auswirkungen der Wirtschaft verlangen nach einer Bewegungsfreiheit, die zwar nicht den Grundsatz aufhebt, aber das Lebensnotwendige ermöglicht. Ein Vergleich mit dem politischen Föderalismus gestattet folgende Gegenüberstellung: was die Kantone selber besorgen können, darein soll sich der Bund nicht mischen -- und was in der Wirtschaft die privaten Organisationen ohne Schädigung der Allgemeinheit selber meistern können, das soll der Staat nicht in seine Hand nehmen. Unsere politische Geschichte bestätigt es, dass auf die Abgrenzung dieser beidseitigen Zuständigkeiten die Entwicklung der Verhältnisse einen bestimmenden Einfluss ausübt. Was früher nützlich schien, kann heute den Staat gefährden. Ein laisser faire, laisser aller in der Wirtschaft findet heute keine Vertreter mehr. Die durch den Industrialismus herbeigeführte soziale Umschichtung hat uns schon längst gelehrt, insbesondere den sozialen Fragen eine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, und wir sind damit noch keineswegs am Ende. Auf diesem Gebiete müssen wir uns weiterfinden und die Hände reichen, von der Linken bis zur Rechten.

Ich darf dem neuen Herrn Batspräsidenten, der alsbald diesen Platz einnehmen wird, die Würdigung des Ergebnisses der gestrigen Volksabstimmung nicht vorwegnehmen, aber im Anschluss an das Gesagte auch meinerseits das Bedauern aussprechen, dass die Versicherungsvorlage, trotz der Zusammenarbeit der groasen politischen Parteien, die Mehrheit des Schweizervolkes nicht gefunden hat. Die Vorlage ist verworfen, und auch die Mittel für die Versicherung sind mit knapper Mehrheit abgelehnt worden; aber nicht verworfen ist der Versichertmgsgedanke. Einstweilen hat das Volk gesprochen und die Volksvertretung hat »ich dem Spruche zu fügen. -- Das ist schweizerische Demokratie.

Die aus dein Weltkriege, dem Misstrauen und der Eigensucht der Völker geborene Weltkrise wirft ihre Schatten auch über unser kleines Land. Während des Krieges eine Friedensinsel mitten im sturmgepeitschten Meere, ist es heute von Zollmauern umgeben, die unsere
Industrien, eine nach der andern, in Bedrängnis versetzen. Der Export kommt ins Stocken, die Produktion nxuss eingeschränkt werden, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Handel, Gewerbe und Landwirtschaft empfinden schmerzlich den Eückgang der Kaufkraft der Konsumenten. Die Gelder der Banken liegen in grosse» Beträgen zins- und werbelos in den Kassen. Wir stehen vor einem harten Winter, und wer kann voraussagen, was in unserer Nachbarschaft geschieht! Male ich zu schwarz? Möchte es so sein und verlieren wir das Selbstvertrauen nicht. Unser Land ist klein und zwischen grossen Staaten eingeschlossen, Wie es unverletzt durch den Weltkrieg gekommen, mutet uns wie ein Wunder an, und nicht umsonst ist dio Dei providentia in der Geschichte der Schweiz y^uui Sprichwoile geworden. Bewahren wir unser Selbstvertrauen, ohne Selbstüberhebung dürfen wir darauf

815 bauen. Die Demokratie der Schweiz, die älteste in Europa, ist auch heute noch eine gesunde. Gesund sind die durch den Bund vereinigten souveränen Kantone, die nach Sprache, Eeligion und Kultur verschieden, in ihrer Eigenart lehen und sich auswirken und so die Einheit und den Frieden des Landes garantieren. Gesund und stark ist der Bund und seine Landesregierung.

Gesund sind seine Institutionen und Finanzen. Ein Parlamentarismus, der sich 11,11 Stelle der Begierung setzt und eine zielbewusste innere und äussere Politik gefährdet, steht boi une nooh in weiter Ferne. Die Kontinuität in unserer obersten Landesregierung ist in der heutigen republikanischen Welt ein Unikum, um die uns die Staatsmänner des Auslandes beneiden. "Unser Volk ist damit einverstanden und hält nur Gegenrecht mit seinem Eeferendumsrecht. Und gesund ist auch unser Schweizervolk. Es ist aus Vererbung und Tradition seiner politischen Bechte bewusst. überlegend, nüchtern, gegen Neuerungen zurückhaltend, ordnungsliebend und staatserhaltend. Wenn es seine Volksrechte ausübt, ist es eigenwillig, aber nicht nachtragend. Es hütet seine eigenen Bechte und achtet zugleich die starke Hand seiner Begierung.

Gewiss leben wir in einer schweren Zeit, wie der Bund der Eidgenossen als Bundesstaat eine solche noch nicht gesehen hat, und drückende Sorgen belasten Volk, Parlament und Begierung. Aber je grösser die Not ist, um so unentwegter muss unser Mut sein. Im Vertrauen auf unsere Demokratie, die jeder legalen Entwicklung den Weg offen läset ; im Vertrauen auf unser Volk, dem die oberste Souveränität im Lande zusteht; und im Vertrauen auf Gott den Allmächtigen, in dessen Machtschutz wir uns und das ganze Land empfehlen, treten wir in die neue Legislaturperiode ein.

Die erste Sitzung des neugewählten Nationalstes ist eröffnet.

Antrittsrede des Herrn Dr. Abt, Präsident des Nationalrates.

Unser verehrter Alterspräsident, Herr Dr. v. Streng, hat mir in seiner trefflichen Bede die Aufgabe überbunden, das gestrige Abstimmungsresultat zu würdigen. Das wird mir schwer. Denn die wuchtige Verwerfung der Altersund Hinterlassenenversicherung kann den Patrioten nur mit Schmerz erfüllen.

Sie ist einer Jahrhunderte alten, auî der Volkssolidarität aufgebauten Demokratie nicht würdig. Und wir dürfen angesichts der vielfach materialistischen Beweggründe die Verwerfung -- es haben auch ehrenwerte idealpolitische mitgespielt -- wohl wieder einmal mehr die Frage des Bernerdichters Albrecht von Haller wiederholen, die im Beinhäus zu Murten stand und heute gilt, wie sie damals hat gegolten: «Sag an, Helvetien, du Heldenvalerland, wie ist dein jetzig Volk dem einstigen verwandt?» Das betrübliche KeBultat kann uns aber nicht abhalten von der Bezeugung aufrichtigen Dankes an den hochverdienten und verehrten Schöpfer des Ge-

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setzes, Herrn Bundesrat. Schulthess, und seine trefflichen Mitarbeiter. Mag ihnen die. gestrige Niederlage den Glauben nicht nehmen an die idealen Werte der "Demokratie und nicht die Hoffnung auf einen neuen, erfolgreichen Appell an eine besser beratene Volksmehrheit.

Denn es ist klar, dass mit dieser ersten Niederwerfung der Alters- und Hinterlassenenversicherung die Pflicht des Schweizervolkes, für seine Witwen und Waisen und für seine Greise und Greisinnen zu sorgen, nicht hinfällig geworden ist. Sie ist nicht nur verfassungsmassig verankert, sondern besteht auch moralisch unvermindert weiter und muss erfüllt werden.

Wir wollen darum sobald die nötige Karenzzeit, die der Respekt vor dem Volksverdikt gebietet, abgelaufen ist, mit frischem Mut von neuem an die Arbeit gehen, um vielleicht auf veränderter Grundlage dieselben Ziele zu erreichen. Möge der Geist der Volkssolidarität, der bei der Beratung der verworfenen Vorlage in unserm Parlament in schönster Weise zum Ausdruck kam, auch in der neuen Legislaturperiode als Leitstern über unsern Verhandlunge» leuchten. Der Gedanke der Sozialversicherung und insbesondere der AltersLind Hinterlassenenversicherung " kann in einem aufgeklärten, freien Volke nicht untergehen! Darum sage ich: die Alters- und Hinterlassenenversicherung ist tot, es lebe die Alters- und Hinterlassenenversicherung

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Aus den Verhandlungen des Bundesrates.

(Vom 11. Dezember 1931.)

Die Amtsbefugnis des Herrn Albert von Arx, schweizerischen Konauls in Leopoldville, ist durch Bundesratsbeschluss vom 25. August 1931 über Französisch-Zentralafrika und das unter französischer Herrschaft stehende Territorium von Kamerun ausgedehnt worden. Der Präsident der französischen Eepublik hat Herrn von Arx das Exequatur für diese Gebiete erteilt.

Departement des Innern. Die Herren Florian Enderlin, Kantonsforstinspektor in Chur, und Robert Schürch, Kreisoberförster in Sursee, werden für eine neue, fünfjährige Amtsdauer als Mitglieder der Aufsichtskommission der eidgenössischen Zentralanstalt für das forstliche Versuchswesen bestätigt; als weiteres Mitglied dieser Kommission wird an Stelle des zurückgetretenen Herrn Dr. Henri Biolley gewählt: Herr Edouard Lozern, Kantonsforstinspektor in- Neuenburg.

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16.12.1931

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