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Schweizerisches Bundesblatt.

XXVII. Jahrgang. IV.

Nr. 44.

9. Oktober 1875.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

E i n r ü k u n g s g e b ü h r per Zeile 15 Ep. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden Druk und Espedition der Stämpflischen Buchdrukerei in Bern.

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Bundesrathsbeschluss

Sachen des Joseph Delmonico in Sessa (Tessin), betreffend die Wahlen im Kreise Sessa.

(Vom 29. Juli 1875.)

Der schweizerische Bundesrath hat in Sachen des J o s e p h D e l m o n i c o , Stellvertreter des Friedensrichters von Sessa, Kantons Tessin, und G e n o s s e n , betreffend die Wahlen im Kreise Sessa; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben: I. Am 21. Februar 1875 fand im Kanton Tessin die Integralerneuerung des Großen Rathes statt, sowie die Wahl der Kandidaten für die Bezirksgerichte und der Mitglieder des Friedensrichteramtes.

Im Kreise S e s s a wurde die Wahl Verhandlung, in Folge Krankheit des Friedensrichters, von dein Stellvertreter desselben, Hrn.

Jos. Delmonico, geleitet. Man schritt zunächst zu den Wahlen in den Großen Rath. Am Abende unterzeichnete das Bureau ein Protokoll, wonach die Verhandlungen gegen 6 Uhr abgebrochen wurden, weil in dem Wahllokal ein Tumult entstanden sei. Die Lichter seien ausgelöscht worden, und man habe von allen Seiten Bunbesblatt. Jahrg. XXVII. Bd. IV.

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Lärm vernommen. Nachdem der Lärm et*a 20 Minuten gedauert, seien die Lichter zwar wieder angezündet worden und der Vorstand des Bureau habe versucht, die Ruhe herzustellen; allein es sei Alles vergeblich gewesen. Inzwischen habe sich ein Theil der Mitglieder des Bureau entfernt, worauf der Vorstand die Versammlung als aufgehoben erklärt habe. Ein Theil der Tumultuanten habe jedoch verlangt, daß die Verhandlungen noch am gleichen Abende, und andere, daß sie am folgenden Morgen fortgesezt werden. Herr Delmonico habe, um die amtlichen Papiere und seine Person zu sichern, einen bejahenden Bescheid gegeben. Nachdem aber die noch anwesenden Mitglieder des Bureau sich in Sicherheit gebracht, haben sie beschlossen , dem Regierungskommissär von diesen Vorgängen Bericht zu machen und den Gemeindepräsidenten des Kreises durch den Weibel amtlich zur Kenntniß zu bringen, daß die Wahlverhandlungen so lange nicht fortgesezt werden, als nicht die Regierung die Wiedereinberufung der Versammlung angeordnet haben werde.

II. Dieser Beschluß wurde noch am gleichen Abende vollzogen. Am folgenden Tage, den 22. Februar, erschien aber dennoch eine größere Zahl von Bürgern, welche am Tage vorher noch nicht gestimmt hatten, in dem Wahllokale, organisirte sich und begann die Fortsezung der Wahlverhandlungen.

Das leitende Bureau verfaßte einen neuen Ver'balprozeß, welcher auch auf die Vorgänge vom Vorabend sich ausdehnte und die Vorgänge wie folgt darstellte: Die -Verhandlungen am Abende des ersten Wahltages seien durch das Wahlbüreau und unter Zustimmung der anwesenden Bürger ,,in Anbetracht der vorgerükten Tageszeit" abgebrochen und auf den folgenden Tag, Vormittags 10 Uhr, verschoben worden.

Die Versammlung sei zwar zur festgesezten Zeit wieder zusammengetreten, aber weder der Stellvertreter des Friedensrichters, noch der Sekretär des Friedensrichteramtes haben sich eingefunden. Es habe deßhalb Herr Luigi Rossi, als ältester Gemeindspräsident, den Vorsiz übernommen. Man sei hierauf zur Fortsezung der Wahlen in den Großen Rath geschritten und nach Beendigung derselben seien, unter Zusammenrechnung der an beiden Tagen gemachten Stimmen, die Herren PKnius Demarchi, Luigi Rossi und Adv.

Brmenegild Rossi als gewählt erklärt worden. Im Weitern seien auch noch die Wahlen der Kandidaten für das Bezirksgericht, sowie der Mitglieder
in das Friedensrichteramt, bei einer Betheiligung von 250 Votanten, vorgenommen worden.

IH. Gegen die Gültigkeit der Verhandlungen an diesem zweiten Wahltage erhoben 194 Bürger des Kreises Sessa am 10. März 1875

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eine Einsprache, welche am 12. März dem Großen Rathe vorlag.

Die Mehrheit der großräthlichen Kommission beantragte jedoch die Bestätigung der sämmtlichen Wahlen dieses Kreises, indem sie sich wesentlich auf folgende Gründe stüzte: Der Art. 36 des tessinischen Gesezes vom 30. November 1843 schreibe vor, daß , wenn an dem anberaumten Tage wegen vorgerükter Zeit oder wegen schlechter Witterung oder wegen andern zwingenden Umständen nicht alle Wahlen beendigt werden können, diese an den folgenden Tagen ohne Unterbruch fortgesezt werden sollen. Die Wahlverhandlungen in Sessa seien also am 22. Februar mit allem Recht fortgesezt worden. Die Gültigkeit derselben werde weder durch den von dem Stellvertreter des Friedensrichters am Tage vorher gegebenen Gegenbefehl, noch durch den Umstand geschwächt, daß an denselben kein Hitglied des Friedensrichteramtes anwesend gewesen sei ; denn einerseits könne ein Friedensrichter , oder wer in dessen Namen handle, den Fortgang einer einmal angeordneten Wahlverhandlung bloß unter dem Verwände, daß Unruhen entstehen könnten, nicht hemmen, und andererseits treten bei der Abwesenheit der Mitglieder des Friedensrichteramtes gemäß Art. 3 § 3 des Gesezes vom 11. Juni 1860 die Gemeindepräsidenten und die Mitglieder der Gemeinderäthe gültig an deren Stelle.

Der Verbalprozeß vom 21. Februar könne schon aus formellen Gründen nicht als eine beweiskräftige Urkunde anerkannt werden.

Er sei aber auch aus sachlichen Gründen ohne Bedeutung. Nach Inhalt des gesammten Aktenmateriales sei der Abbruch der Verhandlungen am Abende des ersten Tages nicht durch Thätlichkeiten oder durch tumultuarische Vorgänge von wirklich ernster Natur bestimmt worden. Aus dem Verbalprozeß vom 22. Februar, welcher einzig als beweiskräftiges Protokoll über die Wahlverhandlungen an beiden Tagen anerkannt werden müsse, ergebe es sich, daß die Verhandlungen vom 21. Februar nicht abgeschlossen, sondern bloß eingestellt und auf den folgenden Tag verschoben worden seien.

Es möge einiger Lärm und eine gewisse unruhige Bewegung arn 21. Februar stattgefunden haben, allein auch in diesem Falle haben die Verhandlungen am folgenden Tage fortgesezt werden müssen.

Diese Verhandlung sei a,ls eine ernste Fortsezung aufgefaßt worden, was durch die Thatsache bewiesen sei, daß jene Bürger von Sessa, welche am ersten Tage
noch nicht gestimmt, daran Theil genommen haben, und daß auch eine ziemlich bedeutende Zahl von Bürgern aus andern Gemeinden, wie der Verbalprozeß bezeuge, wenigstens für die Richterwahlen gestimmt habe.

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Endlich sei die erhobene Einsprache zu spät worden und daher nicht mehr zulässig.

eingereicht

IV. Die Minderheit der Kommission, bestehend aus Hrn.

Advokat Bolla, stellte dagegen den Antrag, daß die Verhandlungen vom zweiten Wahltage zu kassiren seien, weil laut dem Verbalprozesse vom 21. Februar, der als eine amtliche und beweiskräftige 'Urkunde anzuerkennen sei, sowie nach Inhalt der übrigen erhobenen Akten, am Abende des ersten Wahltages ernstliche Ruhestörungen stattgefunden haben, weßhalb nach frühern Entscheiden in ähnlichen Fällen die Versammlung habe aufgehoben werden können. Die Verhandlungen seien nicht bloß verschoben, sondern sie seien definitiv aufgehoben worden. Von einer Verspätung der Einsprache sei keine Rede, denn der Große Rath habe die Gültigkeit der Wahlen schon von Amtes wegen zu prüfen. Jedenfalls spreche die Billigkeit dafür, daß diejenigen Bürger, welche in Folge der Verfügung des Herrn Delmonico am zweiten Wahltage zu Hause geblieben seien, noch Gelegenheit erhalten, ihr Stimmrecht auszuüben.

V. Der Große Rath des Kantons Tessin entschied in seiner Sizung vom 12. März 1875 mit 60 gegen. 39 Stimmen im* Sinne des Antrages der Mehrheit seiner Kommission, und bestätigte sowohl die Wahlen der Herren Plinius Demarchi, Luigi Rossi und Ermenegild Rossi in den Großen Rath, als auch diejenigen der Kandidaten für das Bezirksgericht, sowie der Mitglieder in das Friedensrichteramt.

VI. Mit Eingabe vom 15. März 1875 führten Hr. Delmonico, Präsident der Wahlversammlung vom 21. Februar, die beiden Stimmenzähler von diesem Tage, und einer der beiden Sekretäre, sowie Hr. Bernh. Gagliardi, Gemeinderath von Monteggio, welcher den Verbalprozeß vom 21. Februar für den zweiten Sekretär unterzeichnet hatte, "gegen diesen Beschluß bei dem Bundesrathe Beschwerde und stellten das Gesuch, derselbe möchte in Aufhebung des Beschlusses des Großen Rathes von Tessin die Verhandlungen vom 22. Februar als nichtig erklären und demgemäß den Staatsrath dieses Kantons 'einladen, für die Fortsezung der Verhandlung einen neuen Tag anzusezen.

In dieser Eingabe werden die Angaben im Verbalprozesse vom 21. Februar erweitert. Namentlich wird bemerkt, daß in dem entstandenen Tumulte einige der aufgeregtesten Personen die amtlichen Papiere fortzuschaffen versucht haben. Nachdem Herr Delmonico die Versammlung als aufgehoben erklärt, seien einige Wähler auf ihn eingestürmt und haben versucht, ihm die Stimm-

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listen zu entreißen. Zugleich haben sie seine Person bedroht, für den Fall,l daß die VersammlungO nicht fortgesezt werde. In dieser o Lage habe' er allerdings geantwortet, daß er die Abhandlungen am folgenden Tage fortsezen werde. Er habe jedoch voraussehen müssen, daß Ruhestörungen und vielleicht Unglüksfälle unvermeidlich seien, und daher brieflich den Gemeindepräsidenten seine ursprüngliche Verfügung bestätigt.

Die Versammlung vom 22. Februar sei von einigen Wahlkandidaten veranstaltet worden. An derselben haben weder die Verbalprozesse vom vorhergehenden Tage, noch die Stimmlisten der Gemeinden, noch das Verzeichniß derjenigen vorgelegen, welche bereits gestimmt gehabt. Man habe ohne ordentlichen Namensaufruf diejenigen stimmen lassen, Welche den Führern dieser Versammlung genehm gewesen, und es seien sogar Namen solcher Personen, als Votanten, eingetragen worden, die gar nie existirt haben. Durch diese Versammlung seien jedenfalls bei 200 Bürger, die in guten Treuen haben glauben müssen, daß die Wahlverhandlungen nicht fortgesezt werden, in ihrem Stimmrechte verkürzt worden. Einzig aus der Gemeinde Sessa haben 145 Bürger nicht gestimmt. Viele derselben seien bereit,J zu erklären,j daß sie einzigO D deßhalb nicht in das Wahllokal sich begeben haben, \veil ihnen amtlich die Mittheilung gemacht worden, daß die Wahlversammlung aufgehoben sei. Außer diesen Bürgern von Sessa wären auch noch diejenigen Bürger aus den andern Gemeinden des Kreises, welche am ersten Tag noch nicht gestimmt, zu stimmen berechtigt gewesen, und zwar bis zum Schlüsse der Wahlversammlung. Auch von diesen wären am zweiten Tage noch viele nach Sessa gekommen, wenn sie nicht durch die erhaltene Weisung davon abgehalten worden wären. Die Bestätigung der Wahlen enthalte also eine Verlezung der vei'fassungsmäßigen Rechte der Bürger.

Zudem hätten die Wahlen, wenn jene 200 Bürger noch hätten Theil nehmen können, möglicherweise ein anderes Resultat ergeben.

Man habe also keine Garantie, daß diese Wahlen im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung 'ö ausgefallen seien.

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VII. Dieser Eingabe schlössen sich 206 Bürger aus den sämmtlichen sechs Gemeinden des Wahlkreises Sessa, unter Berufung auf Art. 32, § 3 und 4 der Verfassung des Kantons Tessin, und auf Art. 5 der Bundesverfassung, an, indem sie geltend machten, daß sie nicht geglaubt haben, am 22. Februar nach dem Wahlorte (al circolo) sich begeben zu müssen, und daß in Folge dessen Viele von ihnen an den Wahlen in den Großen Rath, jedenfalls aber Alle an den Richterwahlen nicht haben Theil nehmen können.

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VIII. Der Staatsrath des Kanton Tessin erstattete mit Schreiben vom 27. März und vom 6. April 1875 folgenden Bericht: Am Abende des 21. Februar sei ihm die Mittheilung zugekommen, daß die Wahlversammlung in Sessa wegen tumultunrischen Vorgängen eingestellt worden sei. Diese Nachricht habe ihre Bestätigung gefunden in einem Berichte des Präsidenten der Versammlung, datin vom gleichen 21. Februar, worin der Regierungskommissär ersucht worden sei, der Regierung von den Vorfällen Kenntniß zu geben und inzwischen zu verfügen, daß die VerO O J Sammlung nicht fortgesezt werden dürfe, bis die kompetente Oberbehörde eine entsprechende Verfügung getroffen haben werde.

Nachdem aber auch der Verbalprozeß vom 22. Februar eingelangt sei, habe der Staatsrath f ü r ' d a s Beste gehalten, von sich aus in dieser Sache keine Verfügung zu treffen.

In rechtlicher Beziehung sei auch er der Ansicht, daß die Wahlverhandlungen vom 22. Februar ungesezlich seien, und daß dei- Beschluß des Großen Rathes mit der Verfassung im Widersprüche stehe. Wenn den Hrn. Delmonico eine Schuld treffen sollte, so dürfte hieraus den Rechten der Bürger keinenfalls ein Nachtheil erwachsen. Es sei gerecht und billig, daß die am 21. Februar abgebrochenen Wahl Verhandlungen an einem neuen Tage fortgesezt werden.

IX. Auf den besondern Wunsch des Großen Rathes von Tessin wurde auch diesem Gelegenheit zu Gegenbemerkungen gegeben.

In seiner Antwort vom 27. Mai 1875 erhob er zunächst die Einrede, daß die Bundesbehörden nicht kompetent seien, über kantonale Wahlen zu entscheiden ; es stehe dies lediglich den kantonalen Behörden zu. Ein Rekurs an die Bundesbehörden sei nur dann statthaft, wenn die Berufung an die kantonalen Behörden verweigert oder durch den Entscheid dieser leztern Rechte verlezt worden, die durch die Bundesverfassung gewährleistet seien. (Ullmer, Bd. I, Nr. 580). Diese Bedingung treffe aber hier nicht zu, indem durch die Bestätigung der Wahlen in Sessa ein konstitutionelles Recht der Bürger nicht verlezt worden sei.

In der Hauptsache stüzte sich der Große Rath im Wesentlichen auf die Gesichtspunkte der Mehrheit seiner Kommission. Erschloß mit dem Antrage, daß die Einsprüche gegen seinen Beschluß vom 12. März 1875 abgewiesen werden möchten.

X. Hr. Delmonico machte unterm 11. Juni a. c. eine neue Eingabe an den Bundesrath, worin er auf das ihm mitgetheilte Mémoire des Bureau des Großen Rathes antwortete. Er machte

435 zunächst aufmerksam, daß dieses Bureau sich Entstellungen zu Schulden kommen lasse, und Voraussezungen als Thatsachen annehme,l die erst durch eine nähere Untersuchungo als solche hätten festgestellt werden können und sollen. Der Entscheid des Großen Rathes sei aus politischer Leidenschaft hervorgegangen. Derselbe Große Rath habe in der gleichen Sizung die liberalen Wahlen des Kreises Breno kassirt, weil einige Bürger verhindert gewesen seien zu stimmen (perché alcuni cittadini sono stati impediti di votare).

Im Kreise Sessa dagegen sei ein großer Theil der Bärger verhindert gewesen, an der Abstimmung Theil zu nehmen ; der Große Rath habe aber die Wahlen dennoch anerkannt, obschon sie von einem ungesezlichen und verfassungswidrigen Bureau geleitet worden, seien. Es sei auch unrichtig, was das Bureau des Großen Rathes sage, daß alle Bürger gestimmt haben. Carl Jermoli sei durch Tumult am Stimmen verhindert worden, und von Sessa allein haben 109 Bürger nicht stimmen können, was durch den Verbalprozeß bewiesen sei. Das improvisirte Bureau vom 22. Februar habe die Bürger nicht nach den Gemeihderegistern zum Stimmen aufrufen können, da er, Delmonico, sie besessen habe. Man habe daher ein imaginäres Verzeichniß aufgestellt, wie schon der Umstand beweise, daß drei Bürger in dasselbe eingeschrieben woi'den, welche in Sessa nicht existiren. Der Präsident einer Wahlversammlung im Kanton Tessin sei gesezlich vollkommen befugt, eine Wahlversammlung zu suspendiren, wenn die Bürger durch höhere Gewalt verhindert seien, an der Abstimmung Theil zu nehmen. Die Herren Rossi und Maricelli haben keine Befugniß gehabt, das vorgebliche Bnreau vom 22. Februar zu bilden, da sie nicht die ältesten Gemeindspräsidenten (sindaci) seien ; ihr Auftreten sei um so skandalöser, als sie selbst gleichzeitig Kandidaten gewesen seien und sich dann auch als gewählt erklärt haben.

XL Auf besonderes Verlangen wurde dem Bureau des Großen Rathes des Kantons Tessin Gelegenheit zu einer Duplik gegeben.

In diesem vom 11. Juli 1875 datirten Aktenstük hält das Bureau des Großen Rathes zunächst an der Einrede der Inkompetenz des Bundesrathes fest, da keine Grundsäze der Bundesverfassung verlezt seien (Ullmer Nr. 1134), und Art. 59, Ziff. 9 des Bundesgesezes über die Organisation der Bundesrechtspflege, dem Art. 102, /iff. 2 der
Bundesverfassung keinen Abbruch thun könne. Die Rekurrcnten Delmonico und Bordonzotti müssen auch darum abgewiesen werden, weil sie ihre Beschwerde nicht dem Großen Rath des Kantons Tessin eingereicht haben. Die Kommission des Großen Rathes habe gefunden, diese beiden Herren hätten verdient, nach Maßgabe des Gesezes vom 11. Juni 1860 bestraft zu werden, zumal

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sie am 22. Februar böswillig weggeblieben seien, um nicht Wahlen publiziren zu müssen, die ihnen unangenehm seien.

Die Behauptung, daß im Kreise Sessa eine große Zahl Stimmfähiger ihres Stimmrechtes verlustig gemacht worden sei, entbehre jeden Grundes. Es habe Jedermann stimmen können, der seine Stimme habe abgeben wollen. Manche können absichtlich des Stimmens sich enthalten haben, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, welche mit dem im Kanton Tessin noch üblichen System der offenen Wahlen verbunden seien. Nach dem Gesez von 1843 komme eine Gemeinde nach der andern zum Votiren in einer durch das Loos festgestellten Reihenfolge. Von den sechs Gemeinden, welche den Kreis Sessa bilden, haben fünfeinhalb am ersten Tage die Abstimmung vollständig beendigt gehabt; wer es· unterlassen habe, seine Stimme abzugeben, habe kein Recht, zu verlangen, am zweiten Tage nochmals dazu aufgerufen zu werden. Die Unterzeichner der dem Rekurs beigelegten Erklärung von Bürgern, die nicht gestimmt haben, gehören jenen fünf Gemeinden an, deren Abstimmung am ersten Tage in regelmäßiger Weise abgeschlossen worden. Da sie aber freiwillig sich enthalten haben, so können sie sich nicht mehr beklagen. Andere 15 Bürger, die nicht gestimmt haben, seien Krämer und Wirthe, die am Wahltage es vorgezogen, ihre Privatinteressen zu fördern; sie haben dadurch ebenfalls ihr Stimmrecht verwirkt. Von der sechsten Gemeinde, Sessa, haben am ersten Tage 45 Bürger gestimmt und am zweiten Tage 69, zusammen 114, also eine größere Zahl, als jemals bei einer andern Wahl. Man könne daher auch von dieser Gemeinde nicht sagen, daß Jemand am Stimmen verhindert worden sei.

Es liegen hier nicht die gleichen Gründe vor, welche zur Kassation der Wahlen des Kreises Breno geführt haben. In Breno seien die Bürger der Gemeinde Vezio gewaltsam und in brutaler Weise aus dem Wahllokal weggejagt worden, weil sie die Absicht gezeigt haben, für einen einzigen Kandidaten in den Großen Rath zu stimmen. Auch haben in Breno die Redaktion des Verbalprozesses, sowie die Proklamation der Wahlen in einem kleinen Lokal im Hause des Friedensrichters stattgefunden, und endlich seien der Verbalprozoß und die Stimmlisten gefälscht worden. In Sessa aber habe von. Allem diesem nichts stattgefunden, außer daß der Verbalprozeß fälschlich (faussement) außer der Versammlung redigirt
worden sei und daß Hr. Delmonico und Hr. Bordonzotti durch ihre strafbare Abwesenheit bei der Versammlung vom 22. Februar den regelmäßigen Verlauf der Verhandlung zu trüben gesucht haben.

Daß an der Abstimmung betreffend die richterlichen Beamten nur 250 Bürger Theil genommen, anstatt der 615, welche bei den

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Wahlen der Mitglieder in den Großen Ratli gestimmt haben, erkläre sich daraus, daß jenen Wahlen weniger Wichtigkeit beigelegt werde, und daß in jenen Tagen schlechtes Wetter gewesen.

Wenn auch bewiesen wäre, was aber keineswegs der Fall sei, daß Bürger nicht zur Versammlung vom 22. Februar gegangen seien, weil sie von dem verbreiteten Gerüchte gehört haben, daß die Abstimmung definitiv suspendirt worden, so könnten deßwegen die Wahlen der Gerichtspersonen doch nicht angefochten werden, da durch 73 der glaubwürdigsten Bürger des Kreises Sessa bewiesen sei, daß Hr. Delmonico und die andern Mitglieder des Bureau die Bürger avertirt haben, daß die Abstimmung am folgenden Tag um 10 Uhr Morgens werde fortgesezt werden. Diese Thatsache sei auch bewiesen durch die Billets, welche Delmonico an einige Maires geschrieben habe, um die Fortsezung der Abstimmung am 22. Febr.

zu contremandiren, und durch dem Umstand, daß am folgenden Tag 250 Bürger im Wahllokal sich eingefunden haben, sowie auch durch den Verbalprozeß vom zweiten Tag. Der Friedensrichter habe aber durchaus keine Macht, außer der Versammlung eine Wahl zu suspendiren.

Im Uebrigen weise das Bureau des Großen Käthes den Vorwurf, daß es sich Entstellungen habe zu Schulden kommen lassen, als eine grobe Beschimpfung zurük. Es habe in seiner Antwort auf den Rekurs nur die Wahrheit dargestellt. Hr. Delmonico dagegen habe in verschiedener Weise sich des Gegentheiles schuldig gemacht. So habe er behauptet, daß am 22. Februar das Bürgerregister der .Gemeinde Sessa nicht vorgelegen habe, während der Sekretär dieser Gemeinde schriftlich das Gegentheil bezeuge. Ferner habe er geltend gemacht, daß einzig in der Gemeinde Sessa 169 Bürger am Stimmen verhindert gewesen seien, während er diese Zahl später auf 109 und zulezt auf 15 reduzirt habe. Ebenso sei es Thatsache, daß Hr. Rossi nicht bloß der älteste Maire des Kreises Sessa, sondern auch der am längsten im Amt stehende Maire sei. Der Umstand, daß er selbst Kandidat gewesen, ändere nichts. Hr. Rossi habe das Recht und die Pflicht gehabt, die Versammlung zu eröffnen und zu leiten.

In E r w ä g u n g : I.

B e t r e f f e n d die K o m p e t e n z f r a g e :

Durch die Artikel 85, Ziff. 8 und 102, Ziff. 3 der Bundesverfassung sind die Bundesbehörden beauftragt, über die Gewährleistung der Kantons Verfassungen zu wachen ;

438 Insbesondere ist im Art. 5 der gleichen Verfassung bestimmt, daß der Bund die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gewährleiste ; Unter diesen Rechten sind die politischen Rechte, wie sie in der Verfassung eines jeden Kantons aufgezählt werden, als im ersten Range stehend, zu betrachten; Im Spezialfalle beschweren sich nun die Rekurrenten über eine Verlezung von Art. 34 der Tessiner Verfassung, deren sich der Große Rath des Kantons Tessin durch die Bestätigung der am 22. Februar 1875 im Kreise Sessa stattgehabten Wahlverhandlungen schuldig gemacht habe; Insbesondere wird von den Rekurrenten behauptet, daß durch die W ahi Verhandlungen vom 22. Februar eine gewisse Anzahl von ihnen an der Ausübung ihrer politischen Rechte verhindert worden sei ; Wenn auch im Allgemeinen, wie die Bundesversammlung in ihrem Beschlüsse vom 17. Juli 1855 (Off. S. V, 135) anerkannt hat, der Entscheid über die Gültigkeit von kantonalen Wahlen und die Handhabung der Polizei bei diesen Wahlen den kantonalen Behörden zusteht, so ist dieses dennoch nicht mehr der Fall, sobald in einem Rekurse die Verlezung von verfassungsmäßig garantirteli Rechten der Bürger in Frage liegt; Zum Entscheide dieser leztern Frage sind unbestreitbar die Bundesbehörden kompetent, und zwar sind gemäß Art. 59, Ziff. 9 des Bundesgesezes vom 27. Juni 1874 über die Organisation' der Buudesrechtspflege Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen, als Administrativstreitigkeiten im Sinne von Art. 113 der Bundesverfassung, dem Bundesrathe, und in lezter Instanz der Bundesversammlung -zur Erledigung zugewiesen; In Folge dessen sind die politischen Behörden des Bundes, und zwar zunächst der Bundesrath, berufen uod kompetent, auf den Rekurs der Herren Delmonico und Genossen materiell einzutreten.

II. Betreffend die Hauptsache: Es kommt zunächst in Frage, ob bei den Wahlverhandlungen im Kreise Sessa vom 21. und 22. Februar und durch die Handlungsweise derjenigen, welche diese Verhandlungen geleitet haben, Bürger an der Ausübung ihrer politischen Rechte verhindert worden seien ; Nun ergibt sich aus den vorliegenden Akten, sowie aus den Erklärungen der beiden Parteien, daß die am 21. Februar begonnenen Verhandlungen an diesem Tage nicht beendigt worden

439 sind, sondern daß bis zum Abend dieses ersten Wahltages von den 1093 Bürgern, welche auf den Stirnmregistern eingetragen waren, bloß die Hälfte, nämlich 546, für die Wahlen in den Großen Rath ihre Stimmen abgegeben haben, während für die Richterwahlen noch gar Niemand zum Stimmen gekommen war ; Der Bundesrath hat allerdings nicht zu prüfen, ob der Beamte, welcher bei den Wahlverhandlungen vom 21. Februar den Vorsiz führte, berechtigt gewesen sei, die Fortsezung zu verschieben bis zu einem neuen Einberufungsdekret des Staatsrathes, oder ob er gemäß Art. 36 des tessinischen Wahlgesezes vom 30. November 1843 verpflichtet gewesen wäre, die Verhandlungen jedenfalls am folgenden Tage, den 22. Februar, fortsezen zu lassen ; da diese Frage lediglich die Interpretation und Anwendung eines kantonalen Gesezes betrifft, so liegt sie in der Kompetenz des Großen Rathes von Tessin ; Indeß ergibt es sich aus den mit dem Rekurs vorgelegten Aktenstüken, namentlich aus dem Verbalprozeß über die Wahlverhandlungen vom 21. Februar 1875 und aus den Schreiben, welche der Vorstand des Wahlbureau vom 21. Februar an eine gewisse Zahl von Gemeindepräsidenten des Kreises Sessa gerichtet hat, daß noch bevor die Wahlverhandlungen am Montag, den 22. Februar, wieder aufgenommen wurden, das Wahlbureau vom vorhergehenden Tage, sei es nun mit Recht oder Unrecht, die Verschiebung der Wahl auf unbestimmte Zeit beschlossen-und den Gemeindebehörden, sowie durch diese den Bürgern davon Mittheilung gemacht hat; Dieser Beschluß, über dessen Gesezmäßigkeit der Bundesrath sich nicht auszusprechen hat, mußte nothwendig die Folge haben, und hat auch in der That die Folge gehabt, eine gewisse Anzahl der Bürger von der Theilnahme an den Verhandlungen vom 22. Februar abzuhalten, was aus der Thatsache sich ergibt, daß am 22. Februar von 547 eingeschriebenen Wählern, welche am 21. noch nicht gestimmt hatten, bloß 69 an den Großrathswahlen sich betheiligten; Insbesondere folgt aus einer von 68 Wählern des Kreises Sessa unterschriebenen Erklärung vom 19. März 1875, daß sie an der Abstimmung darum nicht Theil genommen, weil sie geglaubt haben, daß die Fortsezung der Wahlverhandlungen verschoben sei, und daß sie, wenn sie zum Stimmen gekommen wären, für zwei derjenigen Kandidaten gestimmt hätten, die nicht gewählt worden sind ; Es hat aber bei den
Großrathswahlen im Kreise Sessa keiner der Kandidaten die absolute Stimmenmehrheit der sämmtlichen eingeschriebenen Wähler erhalten, und es bestand zwischen dem lezten der Kandidaten, welcher von dem Großen Rathe noch als

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gewählt erklärt wurde, und dem nächstfolgenden, der nicht mehr als gewählt erscheint, bloß ein Unterschied von 49 Stimmen; Es kann also, selbst was die Wahlen in den Großen Rath betrifft, in Folge des Umstandes, daß eine gewisse Anzahl von Bürgern in guter Treue an den Bestand einer Verfügung des Bureau geglaubt hat, wornach die Fortsezung der Verhandlungen verschoben worden, bezüglich dieser Wahlen im Kreise Sessa ein anderes Resultat herbeigeführt worden sein ; Es kann dieses mit noch stärkerm Grunde angenommen werden bezüglich der Richterwahlen im gleichen Kreise; In jedem Falle ist in Folge von Verumständigungen, für welche die betreffenden Wähler nicht verantwortlich sind, sondern die entweder dem Bureau vom 21. Februar oder demjenigen, welches am folgenden Tage funktionirte, zur Last fallen, eine gewisse Anzahl von Bürgern des Kreises Sessa offenbar an der Ausübung eines Rechtes verhindert worden, das ihnen verfassungsgemäß gewährleistet ist; In Anwendung von Art. 102 und 5 der Bundesverfassung und von Art. 34 der Verfassung des Kantons Tessin, beschlossen: 1. Der Rekurs des Hrn. Delmonico und Genossen wird als begründet und demgemäß werden die Wahlverhandlungen im Kreise Sessa vom 22. Februar 1875 für die Ernennung der Abgeordneten zum Großen Rath und der Gerichtsbeamten dieses Kreises für ungültig erklärt.

2. Die Regierung des Kantons Tessin wird eingeladen, die nöthigen Anordnungen zu treffen, damit jene Wahlen an einem von ihr zu bestimmenden Tage da wieder aufgenommen werden, wo sie am 21. Februar 1875 Abends abgebrochen worden sind.

3. Dieser Beschluß ist dem Rekurrenten Delmonico für sich und Genossen, und dem Staatsrath des Kantons Tessin für sich, sowie zuhanden des Großen Rathes mitzutheilen.

B e r n , den 29. Juli 1875.

T1^. ' Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, , Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Scherer.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft : Schiess.

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Bundesrathsbeschluss in

Sachen des Rekurses des Martin Martinoni, von Minusio (Tessin), betreffend die Wahlen im K r e i s e N a v e g n a .

(Vom 29. Juli 1875.)

Der schweizerische Bundesrath hat in Sachen des M a r t i n M a r t i n o n i von Minusio, Kts. Tessin, betreffend die Wahlen im Kreise N a v e g n a ; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten, woraus sich ergeben : I. Am 21. Februar 1875 fand die Integralerneuerung des Großen Rathes und der richterlichen Beamten des Kantons Tessin statt. Im Kreise N a v e g n a konnten die Wahlen am ersten Tage nient vollkommen beendigt werden, weßhalb die-Fortsezung auf den folgenden Tag verschoben wurde. Nach dem Verbalprozeß, welcher von dem Präsidenten der Wahlversammlung dieses Kreses über beide Tage an den Staatsrath eingesandt wurde, nahm die Abstimmung am zweiten Tage ihren regelmäßigen Verlauf, bis gegen l Uhr Nachmittags in der Versammlung selbst eine außergewöhnliche Bewegung entstanden sei, welche einen bösen Ausgang habe befürchten lassen, weßhalb das Bureau, durch drohende Ausdrüke in die Besorgniß versezt, daß es seinen Pflichten nicht mehr genügen könnte, die Versammlung geschlossen habe.

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Bundesrathsbeschluss Sachen des Joseph Delmonico in Sessa (Tessin), betreffend die Wahlen im Kreise Sessa. (Vom 29. Juli 1875.)

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09.10.1875

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