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Bericht der

ständeräthlichen Kommission über den Rekurs von Rud.

Weber betreffend Ausweisschriften-Rükhaltung.

(Vom 9. März 1875.)

Tit.!

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Mittelst Eingabe vom 13. Februar d. J. führt Rud. Weber, Steinhauer, von Schmidrued, Kts. Aargau, z. Z. in Riesbach bei Zürich sich aufhaltend, Beschwerde gegen einen Bescheid des Bundesrathes vom 20., Januar d. J., durch welchen er mit einer Beschwerde gegen die Regierung des Kts. St. Gallen wegen Verweigerung der Herausgabe seiner beim Polizeiamt St. Gallen liegenden Ausweisschriften abgewiesen wurde. Er stellt das Gesuch, die eidg. Räthe möchten in Abänderung des bundesräthlichen Entscheides die geeigneten Anordnungen treffen, damit er in den Besitz der erwähnten Schriften gelange.

Der angefochtene bundesräthliche Entscheid lautet wie folgt: (Verlesung, siehe Bundesblatt von 1875, Bd. I, Seite 240).

Die Commission stimmt mit dem Bundesrathe darin überein, daß die von 1848 bis 1874 in Anwendung gewesene bundesrechtliche Praxis dahin ging, es sei der Bundesrath nicht compétent, zu interveniren, wenn ein Bürger einen civilrechtlichen Anspruch auf die. Ausweisschrift eines andern Bürgers erworben zu haben behauptete, und daß daher, da im Spezialfalle Schürpf wirklich behauptet,

668 einen civilrechtlichen Anspruch auf die Ausweisschriften des Beschwerdeführers zu besitzen, die bundesräthliche Abweisung der Beschwerde in Uebereinstimmung mit der bisherigen Praxis erfolgte.

Gleichwohl sieht sich die Mehrheit der Commission veranlaßt, bei Ihnen auf Abänderung des bundesräthlichen Entscheides anzutragen.

Die Mehrheit der Commission geht hiebei von folgenden Erwägungen aus: Ausweisschriften sind kein Vermögensobjekt; sie werden nicht zu dem Zwecke ausgestellt, um als Vermögensobjekte in den Verkehr zu gelangen, noch sind sie überhaupt geeignet, für diesen Zweck zu dienen. Sie sind wesentlich eine polizeiliche Einrichtung, geschaffen zu dem Zwecke, um dem Träger als Beweismittel für seine Staats- und Gemeindeangehörigkeit zu dienen und den Behörden, bei denen sie deponirt werden, die für die Staatsverwaltung nothwendigen und wünschbaren Aufschlüsse über die persönlichen Verhältnisse des Trägers zu geben. Ihrer ganzen Bestimmung nach sind sie eine res extra commercium; sie können als solche weder ein Executionsobjekt noch Gegenstand eines Rechtsgeschäftes bilden ; jede dem Civilrechte angehörende Disposition über Ausweisschriften, so lange sie den Charakter von solchen haben, ist null und nichtig. Lediglich wo eine Disposition über die Person des Trägers zuläßig ist, also namentlich im Strafprozesse, ist auch eine fremde Verfügung über die Ausweisschriften gestattet. Die Ausv/eissehriften bedingen das ungehemmte Fortkommen einer Person und jede dem Willen des Trägers der Ausweisschriften zuwiderlaufende Verfügung über dieselben von Seiten Dritter ist daher als ein Eingriff in die persönliche Freiheit anzusehen. Sie kommt im Effekte, wenn auch nicht einer förmlichen Verhaftung, so doch wenigstens einer Eingränzung des Schuldners in seine Heimathgemeinde oder in diejenige Gemeinde, wo die Schriften deponirt sind, in so weit gleich, als dem Träger die Wahl eines andern Domicils zur Unmöglichkeit gemacht wird. In allen Fällen, wo ein Eingriff in die persönliche Freiheit nicht gestattet ist, stellt sich daher auch eine fremde Disposition über die Ausweisschriften einer Person als eine flagrante Rechtsverletzung dar.

Im vorliegenden Falle kann es sich nach dem Gesagten lediglich noch um die Frage handeln, ob die dargelegte Rechtsverletzung eine solche sei, die zu einem Einschreiten
der Bundesbehörden berechtige oder verpflichte. Die Mehrheit der Commission nimmt keine Anstand, diese Frage zu bejahen. Die Commissionsrnehrheit hat diese Befugniß aus dem Art. 45 der Bundesverfassung ab.

669 Durch diesen Artikel ist dem Schweizerbürger das Recht gewahrt, sich innerhalb des schweizerischen Gebietes an jedem Orte niederzulassen. An der Ausübung dieses Rechtes kann der Schweizerbürger außer in den in der Bundesverfassung vorgesehenen Fällen durch Niemand und aus keiner Veranlaßung verhindert werden.

Eine solche Verhinderung liegt aber in der Vorenthaltung der Ausweisschriften, da die Verpflichtung einer Gemeinde, einem ihr nicht angehörenden Schweizerbürger die Niederlassung zu gewähren und alle mit einer solchen verbundenen politischen und bürgerlichen Rechte einzuräumen, speziell durch die Beibringung eines Heimathscheines bedingt ist. Jede widerrechtliche Vorenthaltung der Ausweisschriften gegenüber einem Schweizerbürger ist daher eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte und berechtigt und verpflichtet den Bund, den nachgesuchten Schutz gegen einen solchen Eingriff zu gewähren.

Ein widerrechtlicher Eingriff liegt aber auch da vor, wo jemand mit ausdrücklicher Einwilligung des Trägers von Answeisschriftea in deren Besitz gelangte, sobald die Einwilligung zur Fortsetzung des Besitzes zurückgezogen und gleichwohl die Rückgabe verwei3 O O o gert wird. Abgesehen von der schon oben erwähnten rechtlichen Natur von Ausweisschriften, die jede civilrechtliche Disposition über dieselben ausschließt, ist das in Art. 45 der Bundesverfassung dem Schweizerbiirger gewährte Recht der freien Niederlassung ein absolut unveräußerliches und jede Verpflichtung, welche darauf abzielt, die Ausübung dieses Rechtes direkte oder indirekte unmöglich zu machen, entbehrt jeder Rechtsbeständigkeit.

In unserem Falle hat aber der Beschwerdeführer nicht einmal seine Ausweisschriften verpfändet. Das angebliche Pfand ist nicht der Heimathschein, sondern lediglich die vom Polizciamt, St. Gallon ausgestellte Aufenthaltskarte. Das Polizeiamt St. Gallen ist also unzweifelhaft durch nichts verhindert, die Papiere, zu verabfolgen.

Wenn auch nicht bestritten werden will, daß es eine ganz zweckmäßige Einrichtung sein mag, einem Wegziehenden vor Ausfolgung seiner Ausweisschriften die Aufeuthaltskarte abzuverlangen, so gibt es doch keine zwingenden Gründe, die Ausfolgung der Schriften unbedingt von der Rückgabe dieser Karte abhängig zu machen ; denn als Empfangschein für die deponirten Schriften aufgefaßt, kann
die Karte durch eine Rückeinpfangsbescheinigung ersetzt werden, und gegen einen spätem unerlaubten Gebrauch der Karte schützen genügend eine amtlich publizirte Entkräftung derselben und die Bestimmungen des Strafgesetzes über den Gebrauch von falschen Ausweisschriften.

In einem frühern Falle hat der Bundesrath einem Kantone, der sich eines Kantonsbürgers annahm, welchem in einem anderà

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Kantone die Ausweisschriften zurückbehalten wurden, als einfaches Hülfsmittel die Ausstellung neuer Schriften empfohlen. Es ist dies unzweifelhaft ein ga-nz geeignetes Auskunftsmittel, aber es ist nicht abzusehen, warum nicht das viel einfachere Mittel des direkten Verbotes einer ungerechtfertigten Hinterhaltung der Legitimationspapiere gewählt werden könnte und sollte.

Ein dahin zielender Antrag war erst vor Kurzem Gegenstand der Berathung des Ständerathes. Die Geschäftsprüfungs-Commission hatte folgendes Postulat zum Geschäftsberichte .über das Jahr 1873 vorgeschlagen : ,,Der Bundesrath ist eingeladen, in Vollziehung der Art. 45 ,,und 59 der Bundesverfassung, nicht zu dulden, daß die Rückgabe von Ausweisschriften durch Polizeibehörden aus dem Grunde ,,verweigert werden könne, weil Dritte solche Papiere als Garantie ,,für Civilforderungen in Händen behalten."

Es wurde zwar dieses Postulat verworfen und dasjenige des Nationalrathes angenommen, welches lautete: ,,Der Bundesrath wird eingeladen, die Frage zu untersuchen ,,und darüber an die Bundesversammlung Bericht zu erstatten, ,,in wie weit die Rückhaltung von Ausweisschriften wegen For,,derungen mit den Art. 45 und 59 der Bundesverfassung ver,,einbar sei." -- (25. Juni 1874. Gesezsnmmlung n. F. I, 51).

Die Ablehnung des Commissionalvorschlages erfolgte aber wesentlich aus dem Grunde, weil es als constitutionell nicht zuläßig erschien, dem Bundesrathe durch bloßen Bundesbeschluß Weisung zu ertheilen, wie er in solchen Fällen zu entscheiden habe.. Eine solche für den Bundesrath verbindliche Weisung ist nur auf dem Wege der Gesetzgebung möglich. Wenn nun auch der verlangte Bericht noch nicht vorliegt, so hindert dies die Räthe nicht, im Spezialfalle im Wege des Rekursalentscheides diejenigen bundesrechtlichen Grundsätze zur Anwendung zu bringen, die sich nach ihrer Ueberzeuguug mit Nothvvendigkeit aus dem Wortlaute und noch mehr aus dem Sinn und Geiste der Bundesverfassung ergeben.

Gleichgültig ist irn Spezialfalle, ob der Beschwerdeführer Niedergelassener oder Aufenthalter ist, da es sich hier nicht um Rechte, die aus der Niederlassung oder aus dem Aufenthalte resultiren, handelt, sondern lediglich um das Recht jedes Schweizerbürgers, überall seine Niederlassung zu nehmen. Zur Ausübung dieses Rechtes muß er die Ausweisschriften haben. Er hat
also ein unveräußerliches Recht auf seine Ausweisschriften, ohne daß man ihn auch nur fragen dürfte, was er mit diesen Schriften anfangen wolle, nämlich, ob er damit irgendwo die Niederlassung oder blos die Aufenthaltsbewilligung zu erwerben gedenke.

671 Die Mehrheit der Commission empfiehlt Ihnen daher folgenden .Beschlussesantrag zur Annahme: Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht der Rekursbeschwerde des Rudolf Weber, Steinhauer, von Schmidrued, Cts. Aargau, z. Z. in Riesbach wohnhaft, vom 13. Februar 1874, gegen den Beschluß des Bundesrathes vom 20. Januar 1874, betreffend Verweigerung der Herausgabe von Ausweisschriften ; in Betracht: daß die Zurückbehaltung von Ausweisschriften wegen Schulden eine Verletzung der durch Art. 45 der Bundesverfassung dem Schweizerbürger gewährten Rechte enthält, beschließt: 1) Der Beschluß aufgehoben.

2) Die Regierung schwerdeführer amt St. Gallen

des Bundesrathes vom 20. Januar d. J. ist des Cts. -St Gallen ist einzuladen, den Bein den Besitz der von demselben beim Polizeiniedergelegten Ausweisschriften zu setzen.

B e r n , den 9. März 1875.

Der Berichterstatter der ständeräthlichen Commission: Ed. Russenberger.

N o t e . Der Nationalrath hat am 18. und der Ständerath am 19. März 1875 den Rekurs Weber für begründet erklärt. Zuerst hatte der Ständerath, am 10. März, beschlossen: Nichteintreten im Sinne vorheriger Erledigung des betreffenden Postulates.

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Bericht des

schweizerischen Konsuls in Cincinnati (Hrn. Jakob Ritschie aus Zürich) über das Jahr 1874.

(Eingegangen 17. März 1875.)

An den hohen Schweiz. Bundesrath.

Tit.!

Wie bereits bekannt, verursachte im Jahre 1873 das Falliment der Herren Jaq. Cook und Komp., die ein Bank- und Wechselgeschäft , und außerdem großartige Eisenbahnspekulationen betrieben, eine große Calamität im ganzen Lande, indem in Folge leichtsinniger Spekulationen die im Bau begriffenen, nach Millionen gewertheten Eisenbahnlinien im Stich gelassen werden mußten, wodurch ganze Corporationen, sowie reiche Private, wesentlich geschädigt und eine allgemeine Panik hervorgerufen wurde. Es wirkte diese Katastrophe natürlich auch lähmend auf den Wohlstand des Staates Ohio und seiner westlichen Nachbarstaaten, und viele projektirte Bauten von Eisenbahnen, öffentlichen Gebäuden, Korrektion, von Kanälen behufs billigeren Transportes von Getreide u. s. w.

unterblieben. So ist zum Beispiel erst vor kurzer Zeit das ,,Central Ohio Hospital" für Wahnsinnige fertig und unter Dach gebracht worden, während es ohne das Eintreten besagter Katastrophe längst erstellt worden wäre. Die Krisis wirkte nicht allein lähmend auf das ganze Staatswesen, sondern auch auf Kapitalisten, Fabri-

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Bericht der ständeräthlichen Kommission über den Rekurs von Rud. Weber betreffend Ausweisschriften-Rükhaltung. (Vom 9. März 1875.)

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Jahr

1875

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21

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15.05.1875

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667-672

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