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Schweizerisches Bundesblatt.

XXVII. Jahrgang. IV.

Nr. 51.

17. November

1875.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

Ei nr ü k u n g s g e b ü hr per Zeile 15 Rp. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden, Druk und Expedition der Stani pfuschen Buchdrukerei in Bern.

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Bericht des

eidg. Kommissärs Hrn. Hold über die Unruhen in Göschenen am 27. und 28. Juli 1875.

(Vom 16. Oktober 1875.)

Der Unterzeichnete beehrt sich anmit, über seine Mission als eidgenössischer Kommissär zur Untersuchung der vom 27/28. Juli 1875 zu G ö s c h e n e n stattgefundenen Ereignisse Ihrer hohen Behörde mit Nachstehendem einläßlichen Bericht zu erstatten: Am 23. September begab ich mich in Begleit des Herrn Al. Balletta, Hauptmann im eidg. Justizstabe, von Brigels, als Sekretär, und des Hrn. Landweibel Jost Zgraggen, von Alldorf, nach Göschenen, nachdem ich die vom Tit. Verhörrichteramt des Kantons Uri in Sachen gepflogene Untersuchung einer genauen Prüfung unterzogen, sowie auch von den seitens der Tit. Direktion der Gotthardbahn dem hohen Bundesrathe eingereichten Berichten und übrigen sachbezüglichen Aktenstüken Kenntniß genommen hatte.

Die Tit.. Kantonsregierung von Uri hatte mir zu allfälliger Vervollständigung der gerichtlichen Untersuchung den Hrn. Verhörrichter Gisler zur Disposition gestellt, sowie auch mit verdankenswerther Bereitwilligkeit alle Aktenstüke übergeben, welche ich zur Erlangung möglichster Klarheit über Entstehung und Ursachen der beklagenswerten Ereignisse für erforderlich bezeichnete.

Bundesblatt. Jahrg. XXVII. Bd. IV.

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622 Die zufolge der Vorfälle vom 28. Juli in Untersuchungshaft befindlichen 10 Arbeiter waren mit Einwilligung des Kommissärs schon am 15. September vorläufig auf freien Fuß gestellt worden.

Der Beantwortung der mir zufolge Ihrer Instruktion gestellten Fragen erlaube ich mir einen a l l g e m e i n e n g e s c h i c h t l i c h e n U e b e r b l i k voranzuschiken, wie solcher aus den Akten, den von mir selbst aufgenommenen Verhören und Informationen an Ort und Stelle sich ergeben hat.

Am Nachmittag des 27. Juli weigerten sich einige Arbeiter des im Tunnel an der seitlichen Erweiterung mit Handbohrung beschäftigten Postens Betassa nach Entladung der weiter nach vorn gebohrten Minen ihre Arbeit wieder aufzunehmen, unter Vorgabe, der Hauch sei ihnen zu lästig. Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Arbeiterführer ertönt plözlich der Ruf: ,,gare la mina -- via tutti !" worauf sich der ganze. Posten, circa 90 Mann dem Ausgang zustürzt, alle weiter vorn Arbeitenden mitreißend, die, wie auch die Ingenieure, nichts anderes glaubten, als daß eine Dynamitkiste in Brand gerathen sei und eine furchtbare Explosion jeden Augenblik bevorstehe.

Eine große Anzahl der so allarmirten Arbeiter kehrte jedoch bald wieder zurük, während sich circa 10 Mann, die gleichen, welche den ganzen Allarm in Scene gesezt hatten, direkt zu Herrn Stokalper, Oberingenieur der Unternehmung Favre, verfugten, und demselben erklärten, bei so starkem Rauche nicht mehr arbeiten zu wollen. Herr Stokalper entgegnete ihnen, daß sie Niemand dazu zwinge, und es ihnen frei stehe, am folgenden Morgen -- die Kasse war an diesem Abend bereits geschlossen -- ihre Auslöhnung in Empfang zu nehmen. Hierauf entfernten sie sich ohne weitere Bemerkungen und gingen dem Dorfe zu. Bei der Einmündung des Weges aus dem Tunnel in die Poststraße, gegenüber dem Posthause, wurde, laut Aussage eines sehr zuverläßigen Zeugen, des Hrn. Posthalter C. Arnold, den bereits zahlreich dort versammelten Arbeitern die Weisung ertheilt, Abends 8 Uhr sich wieder an diesem Plaze einzufinden.

Wirklich erschienen um diese Stunde eine Bienge Arbeiter und sperrten sofort alle Zugänge zum Tunnel ab, und erklärten, nicht mehr arbeiten lassen zu wollen bis der T agi oh n um Fr. l a u f g e b e s s e r t sei. Demzufolge wurden alle Mineurs, welche um 10 Uhr Abends ihre Arbeitsschicht
zu beginnen hatten, mit Gewalt zurükgebalten.

Irgend ein polizeiliches Einschreiten fand am Abend des 27.

nicht statt, und es scheint namentlich Seitens der Unternehmung

623 Favre kein großes Gewicht auf diese Vorfälle gelegt worden zu sein.

Die Nacht vom 27./28. Juli verlief dann sehr stürmisch.

Mehrcrc Bauden durchzogen fortwährend, unter Geschrei und mit Kesseln und Handorgeln einen betäubenden Lärm machend,> das o Dorf.

Am 28. Morgens wurde dann nicht mehr den Mineurs allein, sondern auch den andern Arbeitern jeder Zugang zum Tunnel versperrt, selbst Bürgern, die ihren anderweitigen Beschäftigungen nachgehen wollten, wurde die Passirung der Landstrasse streitig gemacht; so deponirt Straßenmeister Franz Imhof, daß er auf dem Wege nach dea Schöllenen des Morgens früh von drei dort Wache stehenden Italienern angehalten und mit Messern verfolgt worden sei.

Der Oberingenieur Stokalper sah sich nun veranlaßt, beim Gemeindepräsident um polizeiliche Hülfe nachzusuchen, damit der Zugang zum Tunnel nicht langer gegen den Willen der Mehrzahl der Arbeiter geschlossen bleibe. Gleichzeitig sandte er ans Favresche Hauptbüreau in Altdorf folgendes Telegramm: ,,Mineurs font grève et empêchent travailleurs. Envoyez 50 hommes armés et Fr. 30,000.

Stokalper."

Ich führe diesen an und für sich unwichtigen Umstand deshalb hier an, weil aus obiger Depesche, das Gerücht verbreitet wurde, die Unternehmung Favre hätte der Regierung von Uri fragliche Summe für Niederwerfung der sinkenden Arbeiter durch bewaffnete Macht anerboten, welche Verleumdung selbst in öffentlichen Blättern bereitwillige Aufnahme gefunden hat.

Die Regierung von Uri erhielt vielmehr von den Vorgängen in Göschenen durch dortigen Gemeindepräsidenten Kenntniß mit Telegramm vom 28. Morgens 7 Uhr, mit Gesuch um Absendung von 50 Mann.

Fast gleichzeitig stellte sich auch der Chef des Bureau Favre bei der Regierung ein, welcher ein gleiches Verlangen stellte.

Der Präsident der Polizeikommission und dessen erster Stellvertreter waren zufälligerweise abwesend; gleichwohl beschloß die durch Landammann und Landeshauptmann ergänzte Commission.

Morgens 8 Uhr: ,,sämmtliche Landjäger der Stationen Altdorf-Am,,stäg mit Hülfsmannschaft und Waffen sofort nach Göschenen ,,abzusenden. Die Mannschaft soll in Altorf und den Ortschaften ,,längs der Straße aufwärts engagirt werden. Dem Gemeinderath

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,,Göschenen wird per Telegramm hievon Kenntniß gegeben (9 Uhr ,,Vormittags).

,,Der Gemeinderath Wasen ist per Telegramm anzugehen, "disponible Mannschaft mit Stuzern sofort nach Göschenen zu ,,senden" (9 Uhr, 5 Minuten Vormittags).

Landjägerwachtmeister Trösch ,,engagirte" demzufolge in aller Eile in Altdorf 7 Mann, welche mit den Landjägern per Wagen nach Göscheuen spedirt wurden, nachdem sie sich mit der in Wasen bereit gehaltenen Mannschaft -- 8 Mann -- vereinist hatten. Das ganze Detaschement betrug, inclusive der 7 Landjäger, somit 22 Mann. Die Hülfsmannschaft hatte Capute, Polizeimüzen, Milbank-Amsler-Gewehre und Munition aus dem Zeughause von Altdorf erhalten.

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Mittlerweile batte der Gemeindepräsident von Göschenen folgenden "Aufruf an 5 Orten zu Göschenen anschlagen lassen: ,,Italiani! -- Sé volete esser rispettati rispettate pure la volontà d'altrui.

Lasciate liberamente passare ognuno la sua strada, al suo lavoro, altrimenti vi trovate in grave urto colle leggi della libertà! -- Sciogliete, le riunioni. -- La guardia civile sarà messa in piedi per il passaggio libero.

Rispettatela. -- II presidente della Comune di Goeschenen: . , , , .

., -Carlo Arnold."

; Goeschenen, li 28 Luglio alle 11/2 pommeridiane.

Dieser, Aufruf blieb ohne allen Erfolg, die Zugänge zum Tunnel blieben gesperrt und die Zusammenrottungen gewannen sichtlich .au Umfang. Als .die. Altdorfer Mannschaft einrükte, hielt der Gemeindepräsident vom Balkon des Posthauses, unmittelbar gegenüber dem Hauptzugang zu den Favreschen Etablissements und dem Tunnel -- wo die Hauptzusammenrottung stattfand -- eine Anrede in italienischer. Sprache an die Arbeiter, worin er sie in gemäßigten Worten, nochmals ermähnte, auseinanderzugehen und die Passage frei zu geben, widrigenfalls mit Gewalt eingeschritten werden müßte. Hohngeschrei war die Antwort. Als dann. circa fünf Uhr Abends die von Altdorf und Wasen kommende Mannschaft eiurükte und b.is zur Post vordrang, wurde auch sie mit Geschrei und Hohn empfangen, ihre Aufstellung von dichten Schaaren eingeschlossen , und selbst persönliche Insulten nahmen ihren Anfang.

Die Mannschaft sah sich daher genöthigt, sich hinter nahe liegende

625 Dekungen zurükzuziehen, was Seitens der Unruhstifter als ein Fluchtversuch angesehen und nicht nur mit verdoppeltem Geschrei und Bravorufen, sondern auch mit einem förmlichen Steinhagel begleitet wurde. Da der Wachtmeister dem Gemeindspräsident erklärt hatte, ohne Zuzug der Göschener Bürgerwehr nicht das Mindeste zu unternehmen, hatte sich lezterer in's Dorf begeben, dort die 10 Mann der Bürgerwehr bewaffnet und bekleidet wie die Uebrigen, beim flSchäflia gesammelt und nach dem Sektionsgebäude geführt, nicht ohne große Schwierigkeit sich mit dem Bajonett den Weg bahnend. Auch diese Abtheilung wurde mit Steinwürfen, sowie auch mi t R e v o l v e r s c h ü s s e n Seitens der Arbeitermassen empfangen, welche nun die Hauptstraße allmälig räumten und sich auf den dieselbe zwischen Post und Hôtel Göschenen dominirenden, mit großen, gute Dekung gewährenden Felsblöken besäten Hügel zurükzogen. Aus der Göschener Hülfsmannschaft, von welcher mehrere Mann durch Steinwürfe bereits getroffen und theilweise verlezt worden, fiel der erste Schuß, dem einige andere folgten, ohne jedoch Jemanden zu verlezen. Der Steinregen verdoppelte sich hierauf und die Lage der nun vereinigten Polizeimannschaft wurde immer kritischer, bis zwei der Hauptanführer getroffen niederstürzten, worauf in wenig Augenbliken die ganze Masse der Arbeiter hinter dem Hügel verschwand und nach der Brüke hinunter eilte. Daselbst versuchten noch einige Anführer Aufstellung zu nehmen, liefen jedoch sofort auseinander, nachdem die Polizeimannschaften den Hügel erstiegen und von dort auf die Straße hinunter einen Schuß abgefeuert hatte.

Der Gemeinderath erließ hierauf mittelst Plakat einen Befehl, wonach jede Zusammenrottung von mehr als 8 Personen bei Anwendung von Waffengewalt verboten wurde. Die Nacht verlief ohne weitere Störung, obschon während der größten Aufregung, mehrfach die Drohung vernommen wurde, G ö s c h e n e n m ü s s e a n g e z ü n d e t w e r d e n , und man diesfalls nicht ohne ernste Besorgnisse war. Die Polizeimannschaft patroullirte die ganze Nacht.

Andern Tags rükte eine Abtheilung Infanterie unter Befehl des Herrn Comrnandanten Epp von Altdorf ein, worauf mehrfache Arrestationen unbehindert vorgenommen werden konnten. Am 31. Juli konnten diese Truppen bis auf 12 Mann entlassen werden, welch' leztere bis am 2. August
in Göschenen verblieben. Schon am 29. wurde die Arbeit im Tunnel zum großen Theil wieder aufgenommen, und höchstens 80 Arbeiter zogen es vor, Göschenen zu verlassen. Von Seite der italienischen Arbeiter blieben am 28.

zwei todt auf dem Plaze, ein Dritter starb am folgenden Morgen und ein Vierter mehrere Tage nachher in Folge schwerer Ver-

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wundung. Drei Verwundete wurden im Spital der Favreschen Unternehmung bis zu ihrer Heilung verpflegt.

Dies in möglichster Kürze der geschichtliche Sachverhalt. Bei Beantwortung der verschiedenen speziellen Fragen werde ich Anlaß hüben, auf einzelne Details zurückzukommen.

Zur Charakteristik der Zustände in Göschenen mag hier noch die Erwähnung einiger früherer Vorgänge dienen.

Am 4. Dezember 1873 (St. Barbaratag) fand schon ein bedeutender Tumult statt, bei welchem Messer und Revolver eine große Rollo spielten und mehrfache Verwundungen vorfielen. Der intervenirende Landjäger wurde schwer mißhandelt und für längere Zeit in Folge erhaltener Wunden dienstunfähig.

Am 12. April 1875 entstand bei Vornahme der Verhaftung eines italienischen Arbeiters, der den Wirth Emmenegger mit dem Messer in der Hand bedroht hatte, ein Auflauf einer bedeutenden Zahl von Arbeitern, welche ihren Kameraden gewaltsam zu befreien beabsichtigten. Die drei amtirenden Landjäger wurden mitStein-würfen verfolgt, wobei der eine, am Hinterhaupte getroffen, besinnungslos niederstürzte. Die Uebrigen flüchteten mit dein Arrestanten in die Wirthschaft zum,,Schäfli",, worauf eine förmliche Belagerung und Bestürmung des Hauses begann, welche, nachdem sämrnliche Fenster und die Fenstergesimse desErdgeschoßess zertrümmert waren, mit der Befreiung des Arrestanten endigte, während d i e Landjäger m i t knapper Nothsichh durch bei diesem Anlasse dessen Kassa mit circa Fr. 800, sowie verschiedene Viktualien geplündert. Einer derTumultuanten! soll, nach Aussage mehrerer Zeugen, ein BündelMaisstrohh an die Thüre des BakersBüchli er unterm,,Schäfli"- geschleppt und angezündet haben, jedoch konnte die Flamme noch vor ihrem Umsichgreifen erstikt werden. Auch bei diesem Tumult wurde von Revolvern Gebrauch gemacht.

Telegraphisch von diesen Vorgängen benachrichtigt, ließ die Polizeidirektion in Altdorf die Bürgerwehren in Wasen und Göschenen aufbieten und denselben je 10 Milbank-Amsler-Gewehre, 200 Patronen, 10 Soldatenkapüte und 10 Polizeimüzen verabfolgen. Am 13. früh begab sich der Polizeidirektor persönlich nach Göschenen, wo sich zur Unterstüzung der Polizei 10 Mann Bürgerwehr einfanden. Die Ruhe wurde an diesem Tage nicht mehr gestört, und es konnten verschiedene Verhaftungen unbehindert vorgenommen werden. Nach geschlossener Untersuchung wurden dann 4 der meist

627 gravirten Tumultuanten vom Bezirksgericht Uri zu Haft und Landesverweisung verurtheilt. U n t e r diesen b e f i n d e n sich aneli Dissune und P e r u s s o , welche um ihrer Verweisung doch in Göschenen wieder Anstellung gefunden und bei den Unruhen vom 27./28.

Juli eine hervorragende Rolle gespielt haben. Des Lezteren / O O r konnte man nicht mehr habhaft werden, obschon er sich noch gegenwärtig in Göschenen aufhalten soll.

i Es muß billig auffallen, daß bei einer Arbeiterklasse wie die italienische, durchschnittlich als sehr thätig, sparsam und nüchtern bekannt, so häufige und weitgehende Sxcesse vorfallen können.

Es darf nicht übersehen werden, daß bei solchen Tunnelbauten an und für sich schon eine sorgfältige Auswahl der Arbeiter nicht getroffen werden kann, da in der Regel die bessern Arbeiter anderwärts eine eben so lohnende und weniger gefährliche Arbeit finden können. Auch der Umstand, daß am Gotthardtunnel großentheils im Taglohn gearbeitet wird, trägt nicht dazu bei, daß dieser Plaz sehr gesucht ist, indem der arbeitsame Italiener die Accordarbeit stets derjenigen im Taglohn vorzieht. Wenn nun bei diesen Voraussezungen noch eine sehr laxe Fremdenpolizei geübt, wird und namentlich der Arbeitgeber sich hierum nicht im Mindesten kümmert und den Ortsbehörden in keiner Weise an die Hand geht, so ist nicht zu vermeiden, daß mitunter schlimme Elemente sich unter die Arbeiter mengen, Leute, die anderwärts schon wegen gefährlicher Händel , selbst gemeiner Verbrechen kompromittirt sind. Die Anwesenheit solcher Elemente veranlaßt selbstverständlich eine Ausscheidung der tüchtigen Leute, wobei jedoch keineswegs gesagt sein will, daß auch jezt noch die Großzahl der in Göschenen beschäftigten Arbeiter zu einem Tadel Veranlaßung gibt.

Beim Beginn der Tunnelbauten zu Göschenen war daselbst ein alter Landjäger stationirt, der, ohnehin der italienischen Sprache wenig mächtig, beim besten Willen nicht im Stande war, gegenüber der großen Arbeitermenge seine Autorität irgend geltend zu machen. Nach dem ersten der oben berührten Excesse wurde dann noch ein Landjäger augestellt, und seit einigen Tagen ein dritter. Aber auch diese Zahl ist für Exeesse von größerer Bedeutung nicht genügend.

Diese Umstände veranlaßten denn auch den Regierungsrath von Uri Anfangs dieses Jahres, den Gemeinderath von Wasen --
(Göschenen war bis Mitte Mai 1875 nur eine Fraktion dieser Gemeinde) -- einzuladen, ,,eine Bürgerwache zu organisiren, welche,, wenn nöthig, zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung und.

628 Sicherlìeit in Aktivität gerufen werden kann a . Es ist jedoch schwer, eine freiwillige Bürgerwehr in einer so kleinen Gemeinde zu unentgeltlichem Dienste zusammenzubringen, sobald sich derselbe nicht auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt. -- Eine polizeiliche Beaufsichtigung der vielen Wirthschaftslokale zu Göschenen, Schließung derselben zu vorgerükter Nachtstunde etc.

fehlt ebenfalls in praxi, und es sind die Ruhestörungen einelner Individuen zu jeder Nachtstunde nichts Außergewöhnliches.

Nicht besser sieht es mit der eigentlichen Fremdenpolizei resp. Kontrole aus. Obschon es an regierungsräthlichen Verordnungen diesfalls nicht mangelt (siehe Verordnung vom 26. November 1872). so scheint bis zur Trennung von Wasen im lezten Mai dieselbe in ganz ungeordneter Weise, ohne Führung von Fremden-Registern, durch einfache Eintheilung von Aufenthaltsbewilligungen ausgeübt worden zu sein. Seit der Trennung gibt sich der Gemeinderath von Gesehenen Mühe, etwas mehr System hineinzubringen, immerhin aber auch jezt noch in unbeholfener und ungenügender Weise. Der Gemeindepräsident geht neinlich von Haus zu Haus und verlangt von dessen jeweiligem Besizer Angabe der Zahl der dort logirenden Arbeiter. Der Hausbesizer ist dann schuldig, denselben ihre Ausweisschriften abzunehmen und dem Gemeindepräsidenten einzuhändigen, welcher darüber Register führt Die Gemeindepolizei ist bei diesem Verfahren nicht im Stande, auch nur annähernd die Zahl der gegenwärtig in Göschenen anwesenden Arbeiter anzugeben. Selbst die Hausbesizer, welche die einzelnen Zimmer an bestimmte Personen vermiethen, wissen nicht, wie viele Arbeiter von diesen dann in Logis genommen werden. So schwankte bei durch, den Kommissär gehaltener Nachforschung die Angabe über die Einwohnerschaft eines einzigen Hauses zwischen 210 und 119!

Es karin hier nicht übergangen werden, eines Umstandes zu erwähnen, der es auch beim besten Willen dem Gemeindevorstand verunmöglicht,
629 hält sich die Unternehmung, trotz Vorschrift des Art. 254 des Urner'schen Landbuches, nicht zur Anzeige an den Gemeindsvorstand verhalten ; sie hat in lezterm Falle den Thätcr gekannt und, als derselbe endlich verhaftet werden sollte, ausbezahlt, worauf er, ohne weiter belästigt zu werden, den Weg über den St. Gotthard einschlug !

Auch bezüglich des Dynamitmagazins, welches, in Gemäßheit wiederholter Regierungsbeschlüsse, an einen für die ganze Gemeinde weniger gefährlichen Ort verlegt werden sollte, hat die Unternehmung bis heute noch nichts gethan.

Schon am 10. Mai 1875 verordnete der Regierungsrath des Kantons Uri: ,,1) Der Unternehmer des Gotthard tunnels in Göschenen sei verpflichtet, die Schriften eines jeden neu eingestellten Arbeiters dem Gemeindepräsidenten bei Strafe und Verantwortlichkeit abzugeben, sowie auch dem Gemeindevorstand oder der Polizei, behufs Ermöglichung gehöriger Oberaufsicht, jederzeit Eiusicht in die Controlen zu gestatten. 2) Derselbe sei aufzufordern, eine bessere Ordnung unter den Arbeitern zu organisiren und der Polizei dadurch die Aufgabe für Handhabung von Ruhe und Disciplin und Verhinderung von Excessen möglichst zu erleichtern. " Dieser Verordnung sezt die Unternehmung Favre die Einrede entgegen, daß kein Gesez in Uri existire, das sie zu solchen polizeilichen Funktionen verpflichte!

In Airolo dagegen unterzieht sich die gleiche Unternehmung der polizeilichen Anordnung, wonach kein Arbeiter angestellt werden darf, ohne daß er dem Unternehmer eine Aufenthaltsbewilligung vorweist.

Es herrscht überhaupt in Airolo eine strammere Ordnung als in Gesehenen, was sofort in die Augen fällt. Die Polizeimannschaft besteht aus sechs Landjägern unter einem ebenso energischen als intelligenten Corporal. An Zahlungstagen werden noch drei Landjäger von Faido hieher gezogen. Winters um 9 Uhr, Sommers um 10 Uhr wird strenge Polizeistunde gehandhabt, mit Ausnahme der Stunde, wo die Arbeiter aus dem Tunnel zurükkehren. Die Gendarmerie patrouillirt die ganze Nacht und duldet keinerlei Ruhestörungen. Nach tessinischem Geseze können die Feldschüzengesellschaften, die wohlorganisirt und befehligt sind, bei besondern Anlässen als Verstärkung der Polizei aufgeboten werden. -- Die Fremdenregister werden in Airolo regelmäßig und nach einem zwekmäßigen System in bester Ordnung geführt. Auch gegenüber

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den Hausbesizern wird strenge Ordnung gehalten, die jeden neu angekommenen Miethsmann sofort bei Buße von 2--5 Fr. zu vorzeigen haben. Die Gemeindegeseze über AufrechthaltungO der öffentO O liehen Ordnung sind hinreichend und werden durch Maueranschläge und besondere Publikationen den Arbeitern zur Kenntniß gebracht.

Was aber, wie in Göschenen, so auch in Airolo, vollkommen im Argen liegt und dringendst einer durchgreifenden Abhülfe ruft, ist eine auch nur einigermaßen genügende G e s u n d h e i t s p o l l i z e i .

In dieser Beziehung geschieht hüben und drüben gar nichts. Die Logirung der Arbeitermassen liegt ganz in Hand ou der Spéculation.

Das Elend in den für die Arbeiter hergerichteten Quartieren übersteigt in der That alle Begriffe. In kleineu dumpfen Zimmern reiht sich Bett an Bett -- elende, h a l b S t r o h s ä k e . h s ä k c . Meist werden diese Zimmer a n besondere Unternehmer a u f nehmen, oft drei für jedes Bett, die dasselbe abwechselnd benuzen.

Das Lagergeld betrügt für acht Stunden 50 Cis., während für ein ganzes Zimmer 20 -- 50 Fr. per Monat bezahlt werden. Mangel an Ventilation dieser überfüllten Räume, wo noch zudem gekocht wird und die ganze Nacht hindurch übelriechende Oellampen brennen, Mangel an der geringsten Reinlichkeit, äußerst unpassende Einrichtung der Aborte etc. etc. lassen diese Quartiere in jeder Beziehung als höchst gesundheitsgefährlich erscheinen, und es müßten die Folgen bei ausbrechenden Epidemien furchtbar sein ! Auch in den Seiteugassen, s o w G ö s c h e n e n h e i i e n als in Airolo, häuft s i c S c h m u z c h i n u z in ekelerregender Weise, ohne daß für dessen Beseitigung das Mindeste geschieht.

Einen wohlthuenden Gegensaz zu den oben in nur allzu milden Farben geschilderten Arbeiterquartieren bilden die Lokale der Unternehmung Favre, die im Ganzen genommen allen billigen Anforderungen entsprechen, aber eben nur eine verhältnißmäßig minime Zahl von Arbeitern aufnehmen können.

Auf 1642 Arbeiter in Göschenen werden 208 (meistens familienweise) und auf 1021 Mann in Airolo (Steinhauer nicht eingerechnet) 150 Mann (ebenfalls meist familienweise) in den Etablissements Favre logirt.

Ich bin weit entfernt, die betreffenden Gemeindebehörden für diese auf die Dauer absolut nicht mehr zuläßigen Verhältnisse verantwortlich zu machen. Ihre verfügbaren
Mittel reichen eben nicht aus, den diesfälligen Anforderungen der Humanität und der Gesundheitspflege bei so bedeutenden Dimensionen eines internationalen Unternehmens gerecht zu werden. Hier kann nur dieses Unter-

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nehmen selbst die erforderlichen Vorkehren treffen, und ich erachte dies für dssseu unausweichliche Aufgabe und Pflicht. Durch SchaffungO ogenügender und billiger Unterkunftslokale,i die unter Kontrole O O der Unternehmung selbst stehen, wird zweifelsohne sich der ganze Arbeiterbestand vortheilhaft verändern, indem nicht nur genügende Personalkontrole stattfinden und gefährliche, ausweislose Individuen fern gehalten werden können, sondern auch die bessern Elemente, die Ogegenwärtig fern halten,i wieder herangezogen o o sich möglichst o o o werden. Bei der mit nächstem Frühjahr erfolgenden allgemeinen Inangriffnahme der ganzen Gotthardlinie sollte daher in obigem Sinne zeitig und genügend vorgesorgt werden.

Nachdem ich in der bisherigen Darstellung der p o l i z e i l i c h e n V e r h ä l t n i s s e versucht habe, in kurzen Zügen «lie Uebelstäüde hervorzuheben, die geeignet sind, Unordnungen und Excesse, möglich zu machen, werde ich, bevor ich auf die Details der Vorgänge vom 27.,28. Juli übergehe, das Resultat der mir übertragenen O 7 O Untersuchung iu Bezug auf dis Verhältnisse der Arbeiter am Gotthardtunnel gegenüber dam Arbeitgeber, Favro & Comp., hier niederlegen, und zwar sowohl in a. a d m i n i s t r a t i v e r als auch in b. t e c h n i s c h e r Richtung.

A d a . \. D i e L ö h n u n g s v e r h ä l t n i s s e : Die M i n e u r s am Gotthardtunnel erhalten bei achtstündiger Arbeit im Durchschnitt .

.

.

. Fr. 3. 80 bis 4. --, die Schütter ,, 3. 40 ,, 3. 50.

Die Maurer kommen bedeutend höher, bis Fr. 5 und mehr, zu stehen. (Die Steinhauer arbeiten meist im Accord.)

Gegenüber der Löhnung bei ähnlichen Arbeiten anderwärts kann dieser Durchschnittslohn nicht zu gering genannt werden, zumal gegenwärtig in Folge der finanziellen Krisis die Arbeitslöhne überall beträchtlich zurükgegangen sind. Zum Vergleich mit den im Laufe dieses Sommers anderwärts bezahlten Arbeitslöhnen an Straßen bauten diene, daß in Graubünden für Handlanger . . Fr. 3. -- Maurer . . . ,, 4.50 Mineurs . . . ,, 3 . 5 0 bei normaler Tagesarbeit von 12 Stunden bezahlt wurde. Dagegen ist beim Gotthardunternehmen zu berüksichtigen, daß jeder Arbeiter 3 °/o seines Einkommens an die Cassa di soccorso abgeben muß, und für Anschaffung der Tunnellampen Fr. 5, für das Oel täglich 30 Cts. zu entrichten hat. Den Arbeitern im südlichen Tunnel (Airolo) wird überdies für die Lederkleidung ein Abzug

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von Fr. 5 monatlich gemacht. Für die Aufenthaltsbewilligung wird in Gesehenen Fr. 1. 50 (bisher Fr. 2), in Airolo Fr. l verlangt.

Die Z a h l u n g wird monatlich ausgerichtet. In der Zwischenzeit erhalten die Arbeiter im Verhältniß ihres Guthabens Vorschüsse in B o n s zu l, 2 und 5 Francs.

2. Die B e k ö s t i g u n g .

In Göschenen existiren circa 20, meist von Italienern gehaltene Magazine, daraus der Arbeiter Lebensmittel aller Art beziehen kann.

Daneben hält hier die Favre'sche Unternehmung ebenfalls ein Magazin, w ä h r e n d d i e s i n A i r o l o n i c h t d e r F a l l i s t .

Die Preise der gewöhnlichsten Lebensmittel sind in allen Magazinen durchschnittlich gleich, und auch nicht bedeutend*' höher als anderwärts, wie wir uns aus den Preiscourents verschiedener Consumovereine, z. B. Winterthur, Chur etc. überzeugt haben. Unter Hinweis auf die bei jedem Händler erhobenen Preisangaben, welche mit denjenigen übereinstimmen, die im Berichte der Gottharddirektion aufgeführt sind, beschränken wir uns auf folgende Durchschnittszahlen : Göschenen.

l Kilo Halbweißbrod .

.

.

. Fr. --. 45 bis - . --, l ,, Käse ,, i. -- ,, 2. 50 l ,, Zuker, per Stok .

.

.

,, Ì. -- ^ --. -- l ,, ,, Detail .

.

.

. ,, 1. ?0 ,, -. l ,, Polentamehl .

.

. - . ,, --. 35 ,, --. 40 l ,, Kaffee, I. Qualität .

.

,, 4. -- ,, 5. -- l ,, ,, II. ,, .

.

. ,, 4. - ,, 4. 50 l ,, Teigwaa-ren ,, --. 68 ,, --. 80 l Liter Piemonteserwein .

.

.

. ,, --. 60 ,, --. 70 Airolo.

l Kilo Halbweißbrod .

.

.

. Fr. --. 40 bis --. 42 l ,, Käse .

.

.

.'· .

. ,, -. 80 ,, 2. l ,, Zuker, per Stok .

.

.

,, 1. -- ,, --· -- l ,, ,, Detail .

.

.

. ,, 1. 10 ,, --. - l ,, Poleutamehl ,, --. 30 ,, --. 35 l ,, Kaffe, I. Qualität .

.

.

. ,, 4. -- ,, --. -- l ,, ,, H.

.

.

.

. ,, 3. 50 -. n l f l Teigwaaren .

.

.

.

.

.

: l Liter Piemonteserwein ,, --. 60 ,, --. 70 Viele Arbeiter, die gemeinsam Menage machen, ernähren sich mit einem Aufwande von täglichen Cts. 60--80, was bei der con-

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sumirenden Tunnelarbeit, nach Angabe der Aerzte, durchaus unzulänglich ist und zu mehrfachen Krankheitserscheinungen Veranlaßung gibt. -- Es existiren auch verschiedene Kosthäuser, wo für Fr. 2. 50 Kaffee, Käs und Brod des Morgens, Mittags Suppe, Fleisch, Gemüse und Brod mit zwei Schoppen Bier, Abends Suppe, kalte Küche und Brod mit einem Schoppen Wein verabreicht wird.

Ueber Qualität und Preis der Lebensmittel sind n i e m a l s Klagen laut geworden. Wohl aber stehen die L o g i s p r e i s e nach oben angegebenem Durchschnitte viel zu-hoch, was eben bei der damit getriebenen Privatspekulation unausweichlich ist.

Bei diesen Verhältnissen der Löhnung zu den Lebensmittelund Wohnungspreisen ist es noch immerhin möglich, daß d^r Arbeiter etwelche Ersparnisse machen kann. In der That gehen sowohl von Göschenen als von Airolo monatlich per Postmandat durchschnittlich je Fr. 30,000 nach Italien., und eine,. ungefähr gleiche Summe wird in Gold eingewechselt und so nach, Hause gebracht.

3. Es erübrigt hier, noch ein Wort über die ,,Verhältnisse zwischen der Unternehmung Favre & Comp. und den Magazinresp. Wirthscliaftshaltern, namentlich zu Göschenen, obschon diese eigentlich nicht in's Ressort dieser Untersuchung fallen sollten, weil hiedurch der Arbeiter kaum direkte berührt wird.'.. Es, .ist aber im Laufe der gerichtlichen Untersuchung mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die große Mißstimmung der kleinern, meist-italienischen Magazinhalter gegen die Unternehmung Favre mit den Unruhen vom 27./28. Juli, und auch schon von früher, in einem .nicht zu unterschäzenden Zusammenhange stehen dürfte, und es hat, sich der Unterzeichnete, obwohl keine direkten Inzichten eruirt werden konnten, doch kaum des Gedankens erwehren können, daß dieser Verdacht seine etwelche Berechtigung habe, · Die nachstehende Auseinandersezung betrifft hauptsächlich die Göschener Verhältnisse, da in Airolo der Haupstein des Anstoßes, die Favre'sche Konkurrenz mittelst Maganzinhaltens, wegfällt und nur bezüglich der Auszahlung der Vorschüsse an die Arbeiter in Bons die gleiche Klage auch dort gehört wird.

Das jezige Magazin Favre war früher im Besize eines Franzosen und genoß keine besondern Vergünstigungen. Erst dieses Jahr ging es in den Besiz und Selbstbetrieb der Unternehmung über. Bis dahin konnten die übrigen Magazinhalter
und Geschäftsleute überhaupt für ihre Guthaben bei der Unternehmung vor Ausbezahlung der Löhne Sequester darauf legen und waren somit hiefür ziemlich sicher gestellt. Das Landbuch des Kantons Uri gestattet solche Sequesteranlagen mit folgenden Worten:

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,,Art. 145. Es soll in hiesigem Kanton Niemand ein Verboth thun oder etwas mit Sequester belegen mögen ohne Erlaubniß des Richters des Lands, seines Statthalters oder eines w. w. Raths.

,,Es solle aber keinem Landmann etwas verbothen oder ein Sequester gegen ihn bewilligt werden, außer er sei zuvor bei Feuer und Rauch .besucht, und als ein gefährlicher Mann wirklich bekannt, oder gebe sich durch Pfandabschlagen als ein solcher kanntlich . . " Nun scheint aber diese Gesezesvorschrift auf die italienischen Arbeiter sehr weii und in summarischer Weise ausgedehnt worden o zu sein, indem eben einfach, ohne weitere Präliminarien seitens der angeblichen Gläubiger, sei es für Lebensmittel, sei es für Triukschulden gegen die Zeit der monatlichen Auslöhnung hin Sequester auf das Guthaben derselben bei Favre & Comp. gelegt wurde. Dies gab regelmäßig zu Streitigkeiten und Umständlichkeiten aller Art Veranlaßung, da Gläubiger und Schuldner oft nicht der gleichen Ansicht über den Betrag der Schuld waren.

Die Unternehmung Favre sah sich daher veranlaßt, mit Publikation im Amtsblatt des Kantons Uri die Erklärung abzugeben, ,,daß.

alle ihre Angestellten und Arbeiter die Befugniß besizen, täglich ihre Löhnung bei der Kasse zu beziehen, oder auch Vorschüsse auf ihren Lohn hin beliebig erhalten können. Es sei somit denselben die Möglichkeit geboten, Waaren und Lebensmittel gegen baar zu kaufen, und es werden Favre & Comp. demnach inskünftig keinerlei Sequester oder Arrestlegungen auf Lohnguthaben der Arbeiter mehr anerkennen und lehnen jede daherige Verantwortlichkeit des Bestimmtesten ein für alle-Male ab."

Soweit nun diese Erklärung den wirklichen Mißbrauch betraf, der mit fraglichen Arrestlegungen getrieben wurde, stand die Unternehmung Favre vollkommen in ihrem Rechte. Arrestanlagen dagegen auf gesezlich vorgeschriebenem Wege durch kompetenten R i c h t e r kann eine solche Privaterklärung offenbar nicht hindern, und es wird der Richter in Uri, -- wie dies bei analogem Geseze in Tessin wirklich der Fall ist, -- sich dadurch vor Vollziehung des Gesezes doch nicht abhalten lassen ! Den Herren Magaziniers war aber mit einer derartigen Weitläufigkeit nicht gedient, und sie sahen sich in ihrem bisherigen weitgehenden Kreditiren an die Arbeiter um so mehr beschränkt, als sie mit Aufhören des beliebten Sequesters
und durch vielfaches Unsichtbarwerden ihrer Schuldner bedeutend geschädigt wurden.

Das Favre'sche Magazin allein hatte und hat nun den V ort h e i l , daß es sich vor solchem Schaden hüten kann, indem es auf ein Bezugsbüchlein hin den Arbeitern kreditirt und am Zahltag die Schuld vom Lohn in Abzug bringt.

G35 Da zwischen den Zahltagen die Arbeiter mir in Bons Vorschüsse bekommen, müssen die Maganzinhalter im Dorfe dieselben an Zahlungsstatt annehmen, wenn sie überhaupt Geschäfte machen wollen, ja sogar mit baarem Geld einwechseln, wenn ein Arbeiter z. B. ein Glas Bier etc. trinkt und eine Favre'sche Fünffrankennote als Zahlung präsentirt. Während nun der im Dorfe Handeltreibende gegen nur allmonatlich auszulösende Bons seine Baarschaft, resp.

Betriebsfonds zinslos hergeben muß, genießt die Unternehmung Favre für die gleiche Zeit bis zur Einlösung der Bons die Zinse ihrer Baarvorräthe.

Wie schon oben bemerkt, trifft dieses Verhältniß die Arbeiter kaum direkt, zumal gegen Preise und Qualität der Waaren aus dem Favre'schen Magazin selbst von den Konkurrenten nicht die mindeste Aussezung gemacht wird, und durch Aufhebung der unstatthaften Arrestanlagen der Arbeiter nur vor leichtsinnigem Schuldenmachen und möglichen Ueberforderungen der Kreditoren geschüzt wird. Immerhin hat dieses ungleiche Verhältniß die Konkurrenz sehr erschwert, und es sind daherige Klagen der Magazinhalter im Dorfe nicht unbegründet. Ihr unbezweifelbarer Einfluß auf ihre Landsleute dürfte denn auch jedenfalls bei den Unruhen vom 27./28. Juli und namentlich in der dazwischen liegenden Nacht schwerlich zu Gunsten der Favre'schen Unternehmung sich geltend gemacht haben.

Ad b. T e c h n i s c h e V e r h ä l t n i s s e .

Ueber die Ventilation während der Arbeit im Gotthardtunnel hat die Centralbauleitung der Gotthardbahn einen so einläßlichen und in jeder Beziehung durch den eidgen. Gotthardinspektor bestätigten Bericht zu den Akten gegeben, daß ich mich unter Berufung auf denselben hier nur zu wenigen Bemerkungen veranlaßt sehe.

Die Ventilation des Tunnels ist namentlich auf der Gesehener Seite eine ungenügende, während auf der Seite von Airolo die schlechten Gase durch die bedeutenden Wassermassen daselbst großenteils absorbirt werden. -- Ein Blik auf die dem Kommissär eingereichten Krankenrapporte der Aerzte zu Göschenen und Airolo zeigt, daß in ersterm Brustleiden zufolge mangelhafter Respiration, an lezterm Orte dagegen mehr rheumatische Krankheitserscheinungen an der Tagesordnung sind. Hiebei ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Krankheiten der Athmungsorgane zu einem nicht unwesentlichen Theil der verpesteten Luft in den oben beschriebenen Arbeiterquartieren zugeschrieben werden müssen, was schlagend . mit der Thatsache nachgewiesen wird, daß Mineurs, welche mit Familie

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in Göschenen leben, und daher etwalchermaßen bessere Räume bewohnen, als die Großzahl der Arbeiter, troz gleicher Tunnelarbeit sehr geringe Krankheitserscheinungen aufweisen. Die oft allzu schwache Ernährung trägt selbstverständlich auch bedeutend dazu bei, daß die Mineurarbeit nicht von jedem Arbeiter auf die Dauer ertragen werden kann. Immerhin muß dafür gesorgt werden, daß der Tunnel in Zukunft besser ventilirt werde als bisher der Fall war, und daß die Unternehmung Favre nicht länger mit leeren Versprechungen die Inbetriebsezung der Aspiratoren hinausschiebe.

Indem ich hiemit den Bericht über den allgemeinen Theil derjenigen Untersuchungen schließe, die mir zufolge Instruktion Ihrer hohen Behörde übertragen war, bleibt mir noch übrig, auf die Vorgänge vom 27./2S. Juli abhin insbesondere zurükzukommen, und zwar sowohl über den Ursprung, Charakter und die Ausdehnung der Arbeitseinstellung, als -auch über die zur Herstellung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit seitens der unierischen Behörden ergriffenen Maßnahmen mich auszusprechen.

Aus den oben geschilderten Verhältnissen der am Gotthardtunnel beschäftigten Arbeiter geht zur Genüge hervor, daß weniger die Lohn- und Verpflegungsverhältnisse, als die unzureichende Zuführung guter Luft im Tunnel Veranlaßung oder mindestens Vorwand zur Unzufriedenheit bieten konnte. In der That haben die wenigen Arbeiter, welche am Nachmittag des 27. Juli die ganze ' Arbeitseinstellung durch f a l s c h e Alarmirung des sämmtlichen Arbeiter- und Aufsichtspersonals in Scene gesezt, damals an Ort und Stelle selbst, wie auch unmittelbar nach Verlassen des Tunnels beim Chef - Ingenieur der Favre'schen Unternehmung l e d i g l i c h über mangelhafte Ventilation, resp. zu starken Rauch nach Entladung der Minen sich beschwert, während erst einige Stunden nachher und namentlich als nach einer tumultuösen Nacht und konsequenter Absperrung der Tunnelzugänge die Bewegung bedeutendem Umfang erhalten, Begehren nach einer L o h n e r h ö h u n g laut wurden. Vor dem 27. sind nach allen Erhebungen weder in Bezug auf den Lohn noch auf bessere Ventilation irgend welche Klagen geführt worden, und es muß die plözliche Arbeitseinstellung um so mehr auffallen, als gerade au diesem Tage die Ventilation nach dem Ergebniß des Manometers b e s s e r war als an früheren Tagen. (S. technischer
Bericht der Gottharddirektion.)

Es war also keine äußere, m o m e n t a n e Veranlaßung zu einer Arbeitseinstellung am 27. Juli vorhanden, woraus geschlossen werden m u ß , daß eine bestimmte Verabredung unter einer Anzahl von Tunnelarbeitern bestand, an diesem Tage unter einem V o r wand e

637 die Arbeit einzustellen. Diese Anzahl war, nach allen Umständen zu schließen, anfänglich keine bedeutende, und es scheint auf eine plözliche Ueberrumpelung der Arbeitgeber sowohl als der Mitarbeiter abgesehen gewesen zu sein, da an E r s t e r e vor g a n g ig n i c h t d i e m i n d e s t e n R e k l a i n a t i o n e n g e r i c h t e t und Leztere mit Gewalt von der Fortsezung der Arbeit abgehalten wurden.

Daß dann über Nacht die" Bewegung sich so sehr verallgemeinerte, ist wohl wesentlich aus der Unthätigkeit der Polizei zu erklären. Die Arbeiter, welche sahen, daß die Zugänge zum Tunnel unbehindert von anfänglich Wenigen abgesperrt werden konnten, wähnten sich offenbar Herr der Situation und schlössen sich der Bewegung um o o so leichter an, als ihnen eine Lohnerhöhung dadurch in Aussicht gestellt wurde.

Die Maßnahmen, welche die urnerische Regierung am 28. nach Eingang der telegraphischen Berichte über den Stand der Dinge in Gesehenen zu treffen hatte, konnten einzig nur die Herstellung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und volle Freiheit der Passage nach dem Tunnel im Auge haben. Allfällige Differenzen der Arbeiter mit der Unternehmung Favre berührt die Staatsgewalt nicht im Mindesten, und es ist auch aus keinerlei Anzeichen zu entnehmen, daß sich dieselbe irgendwie in diese Verhältnisse einmischen wollte. Die Proklamation des Gemeindepräsidenten von Göschenen beweist vielmehr des Bestimmtesten, daß nur die Freigebung der Passage und Zerstreuung der t u m u l t u a r i s c h e n A u f l ä u f e verlangt wurde. D i e s e n Zwek nun mußte die Polizei mit allem Nachdruk verfolgen und jeder Widerstand hiegegen m u ß t e beseitigt werden. Da derselbe troz aller Proklamationen und troz persönlicher Ansprache des Gemeindepräsidenten, somit n a c h E r s c h ö p f u n g a l l e r p r ä l i m i n a r i schen,, ~güt l i e h en M i t t e l i m m e r f o r t w u c h s und s i c h s e l b s t zu a g g r e s s i v e m V o r g e h e n s t e i g e r t e , so war ein ernster Zusammenstoß der Staatsgewalt mit dem Aufruhr nicht mehr zu vermeiden.

Es ist hiebei zwar mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß auch noch am 28. Juli, beim Auftreten eines organisirten Truppentheiles, so klein derselbe auch gewesen wäre, mit einem Offizier. an der Spize es zu einem blutigen Zusammenstoße mit den Arbeitern
nicht gekommen wäre. Der Unterzeichnete hat sich aber überzeugt, daß bei der damals bestehenden Militärorganisation des Kantons Uri für augenblikliche Verwendung ein militärisches Aufgebot nicht realisirt werden konnte und sich die Regierung allerdings für den 28. Juli da!auf beschränken mußte, die Bürgerwehren von Wasen und Göschenen und Freiwillige von Altdorf selbst zur O

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Bundesblatt. Jahrg. XXVII. Bd. IV.

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638 Verstärkung der auf der ganzen Linie bis Andermatt zusammengezogenen Landjäger aufzurufen. Die Bewaffnung solcher beliebig zusammengeraffter Leute, unter dem Namen Bürgerwehr, zur Verstärkung der regulären Polizeimannschaft, ist in der Regel zu vermeiden. Auch die sogenannten Bürgerwehren müssen ihre Organisation haben und namentlich von einem durch die kompetente staatliche Autorität ernannten Chef befehligt sein.

Bei der absoluten Unthunlichkeit sofortiger Mobilmachung eines organisirten Theiles der urnerischen Miliztruppen -- Scharfschüzen oder Infanterie -- blieb nun ,· wie gesagt, der Regierung gewiß nichts anderes übrig, als durch Bewaffnung und Absendung von Freiwilligen die gröblich gestörten gesezlichen Zustände in Göschenen wieder herzustellen. Denn dieser Zwek war ein dermaßen urgenter, daß auch eine für gewöhnliche Verhältnisse nicht statthafte außerordentliche Maßnahme gerechtfertigt erscheint. Der Landjägerwachtmeister mochte wohl als Befehlshaber über die andern 6 Landjäger, nicht aber über eine kombinirte Truppe von Freiwilligen und kommunalen ,,Bürgerwehren" angesehen werden.

Einer solchen Truppe war wenigstens diejenige Organisation zu geben, wonach ein von der Regierung ernannter und bevollmächtigter Befehlshaber die Verantwortlichkeit für die Handlungen der seinem Befehle Unterstellten zu tragen, und welchem hinwieder die Mannschaft Gehorsam zu leisten hatte.

Gegebenen Falls wird zwar obiger Vorwurf wesentlich gemildert, da die Urner Regierung -- deren Polizeidirektor und dessen erster Stellvertreter ohnehin abwesend waren -- durch die von Göschenen erhaltenen Berichte keineswegs so genau über den Saehverhalt aufgeklärt waren, daß sie demselben eine größere Tragweite beimessen konnten, als frühere Tumulte daselbst auch hatten, und es läßt sich daher die Annahme einigermaßen entschuldigen, daß es auch diesmal genüge, den Landjägerposten mit einigen energischen Leuten zu verstärken, resp. diese dem B e f e h l e des L a n d j ä g e r w a c h t m e i s t e r s b e i z u o r d n e n . Der Verlauf der Dinge hat nun allerdings gezeigt, daß eine so vage Verfügung nicht mehr hinreicht, sobald die staatliche Gewalt aus dem Rahmen bloßer Demonstration auf das Feld der wirklichen Aktion heraus treten muß.

In der That hat der Landjägerwachtmeister nicht einmal versucht, Befehle zu
geben. Die Mannschaft stand nicht mehr als ein organisirtes Corps da, sondern sah sich, von einer um's 40fache überlegenen aufgeregten Menge aufs Ernstlichste bedroht und selbst thätlich angegriffen, einfach im i n d i v i d u e l l e n Zustande der Nothwehr, in welchem sie von ihren Waffen, jeder für seine Rechnung, Gebrauch machte.

639 Die Frage, ob wirkliche N o t h w e h r vorhanden war, beantwortet sich aus der aktenrnäßigen Darstellung der Hergänge vom 28. Juli von selbst. Die anfänglich wohl nur von einer kleinen Zahl in Scene gesezte Arbeitseinstellung hat in der Nacht vom 27./28.

bedeutende Dimensionen angenommen. Die während der ganzen Nacht fortgesezten Umzüge von Arbeitern, unter wildem Geschrei und itnprovisirter Musik, die reichlich genossenen geistigen Getränke rissen viele sonst besonnene Leute mit. Die Hülflosigkeit der Polizei während dieser Nacht, das Gelingen vollständigen Absperrens aller Zugänge zum Tunnel, das Alles verfehlte nicht, bei einer ohnehin leicht erregbaren Menge einen bedeutenden Eindruk zu machen.

Die am Morgen des 28. vom Gemeinderath erlassene Proklamation, worin das Eintreffen bewaffneter Mannschaft in Aussicht gestellt wurde, blieb ohne allen Erfolg, deßgleichen die Anrede des Gemeindepräsidenten. Als dann Wachtmeister Trösch mit seinen mitgebrachten Freiwilligen und der Wasener ,,Bürgerwehr" eintraf, konnte er allerdings bis zur Dépendance des Hotels Göschenen mit Mühe vorrüken, wurde aber von der dicht auf der Straße gedrängten Menge förmlich wehrlos gemacht und gröblichen Insulten ausgesezt; von Freimachung der Tunnelzugänge war keine Rede mehr; die fragliche Mannschaft war_ bereits völlig ohnmächtig und konnte sich nur durch einen Rükzug gegen das Sektionsgebäude vor gänzlichem Erdrüktwerden retten. Auch dieser Rükzug geschah nicht auf Commando des Wachtmeisters, sondern auf Zuruf eines im Postgebäude befindlichen Zuschauers. Sobald er angetreten war, steigerte sich der Tumult aufs Aeußerste und ging in einen eigentlichen Angriff mittelst massenhafter Steinwürfe über, die verschiedene der Mannschaften verlezten, meist aber dieselben, nachdem sie unter der hohen Mauer, resp. Steinwand, beim Hotel Göschenen Dekung gefunden, überschössen. Bis zu d i e s e m M o m e n t e h a t t e s i c h die b e t r e f f e n d e Abtheilung ganz passiv verhalten.

Inzwischen rükte die mittlerweile vom Gemeindspräsidenten gesammelte Gesehener Mannschaft, 10 Mann, von der Brüke her die Straße herauf, sich mit gefälltem Bajonnett den Weg bahnend, ohne jedoch Jemanden zu verlezen. Auch sie wurde mit einem Steinhagel und selbst Revolverschüssen empfangen, worauf aus deren Mitte ein Schuß fiel. Dies war
der Beginn des allgemeinen Feuerns. Es ist aber konstatirte Thatsache, und die Kugelspuren in der Höhe der nächsten Häuser beweisen dieselbe faktisch, daß anfangs nur in die Höhe geschossen wurde -- wenigstens 15--20 Schüsse -- die Niemanden trafen, während der Steinhagel sich verdoppelte und die Gefahr für die Polizeimannschaft aufs Höchste stieg. Es scheint, daß in diesem kritischen Momente einige unter Lezterer befindliche Schüzen sich entschlossen, e r n s t e n Gebrauch

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von der Waffe zu machen. Thatsache ist, daß dann in kürzester Zeit die b e i d e n H a u p t a n f ü h r e r der Tumultuanten getroffen fielen und ein Dritter schwer verwundet wurde, worauf sofort die ganze Masse derselben in wilder Flucht hinter dem Hügel verschwand. -- Wären sämmtliche Schüsse -- auf Distanz weniger Meter -- i n diese dichten, jedenfalls die Zahl von T a u s e n d übersteigenden Massen, gerichtet worden, so hätte notwendigerweise die Zahl der Opfer eine sehr bedeutende sein müssen.

Es kann daher mit allem Recht behauptet werden, daß die Nothwehr der aufs brutalste angegriffenen Polizeimannschaft sich in den engsten Schranken gehalten hat. Daß gerade Diejenigen, welche nicht allein die Menge zum Widerstand anfeuerten, sondern selbst auch durch Steinwürfe auf die betreffende Mannschaft sich hervorthaten, dabei ihr Leben einbüßten, dient als Beweis hiefür, da ohne diesen raschen Abschluß die ganze Aktion zweifelsohne zu noch weit beklagenswertstem Resultaten führen mußte.

Mit dem Rükzuge, resp. der Flucht der Tumultuanten, hörte allerdings der Zustand von Nothwehr für die Polizeimannschaft auf, und es lag dem Kommissär deßhalb sehr daran, zu untersuchen, ob seitens derselben auch noch auf die f l ü c h t e n d e Menge geschossen worden sei. Alle hierüber vernommenen Zeugen verneinen dies des Bestimmtesten, und es geht die Wahrheit ihrer Aussage auch aus den örtlichen Verhältnissen hervor, wonach die Lehne des von den Arbeitermassen besezten Hügels binnen weniger als einer Minute überschritten werden konnte, was auch nach dem Falle der beiden Anführer wirklich geschah. Die wenigen Verwundungen lassen ebenfalls nicht darauf schließen, daß sie im Rükzuge beigebracht wurden. Nachdem dann die Polizeimannschaften den Hügel besezt hatten und gewahrten, daß bei der dahinter liegenden Brüke in's Dorf eine große Zahl aufs Höchste erregter Arbeiter Stellung zu nehmen trachtete, wurde ein Schuß auf die davor liegende leere Straße gethan, worauf dann auch die Brüke sofort geräumt wurde und überhaupt jeder weitere Widerstand ein Ende nahm.

Was nun schließlich die an den folgenden Tagen vorgenommenen V e r h a f t u n g e n und die Durchführung der gerichtlichen Untersuchung anbelangt, so kann Unterzeichneter hier nur bestätigen, was in einem vorläufigen Bericht an Ihre hohe Behörde bereits
niedergelegt ist, daß nämlich die in vollständig unbefangener und sachkundiger Weise geführte Untersuchung durch den urnerischen Verhörrichter zur Evidenz die hervorragende Betheiligung sämmtlicher 10 Inhaftirten nachgewiesen hat.

Dieselben läugneten zwar, sjelbst im Confront mit den Belastungszeugen, jede Antheilnahme am Tumulte, jedoch in einer

641 Weise, welche die übereinstimmenden Aussagen sowohl der in Eidespflicht stehenden Polizeibeamten, als auch ganz unbefangener Augenzeugen nicht entkräften können. Angerufene Entlastungszeugen, die in der gerichtlichen Untersuchung nicht abgehört wurden, konnten vom Unterzeichneten in Gesehenen nicht mehr ausfindig gemacht werden, da deren Namen in dem dortigen Fremdenregister nicht existiren. Die aus der Untersuchungshaft vorläufig entlassenen Angeklagten hatten sich jedoch, troz schriftlicher Verpflichtung, von Göschenen entfernt, nicht ohne daß mehrere von ihnen noch einen nicht ungefährlichen Raufhandel daselbst angestiftet hatten.

Ich resurnire nun meinen Bericht über die Vorfälle ,am 27./28. Juli 1875 dahin, daß vielleicht bei rechtzeitigem und taktvollem Einschreiten einer genügenden Polizei am Abend des 27.

und wahrscheinlich auch noch am 28. die Arbeiterexcesse in Göschenen ohne Blutvergießen hätten bewältigt werden können, daß aber,- so ungeeignet auch die Zusammensezung der von der urnerischen Regierung zur Verstärkung der regulären Polizei aufgerufenen Mannschaft, und so unzureichend die Befehlsertheilung über dieselbe gewesen sein mag, die Widersezlichkeit der Arbeiter gegen alle an sie in amtlicher und gesezlicher Form ergangenen Aufforderungen und der thätliche Angriff auf die immerhin die Staatsgewalt vertretende und als solche kenntliche Polizeimannschaft das Einschreiten derselben durch Gebrauch der Waffen rechtfertigtet daß insbesondere der Fall individueller Nothwehr hier vorlag, welche in keiner Weise überschritten wurde.

Die Beantwortung der Frage, wie in Zukunft ähnlichen Vorfällen zu begegnen sei, geht aus der ganzen vorstehenden Darstellung der Vorfälle vom 27./2S. Juli, sowie auch der administrativen und technischen Verhältnisse, welche mit denselben in näherem oder fernerem Zusammenhange stehen, hervor.

1. Zu möglichster Vermeidung von Reibungen zwischen den fremden Arbeitern und der einheimischen Bevölkerung und daraus entstehender dauernder gegenseitiger Verstimmung sollte strenge auf eine gleichmäßige Anwendung der Geseze geachtet werden.

Einem während der Bauzeit der Gotthardbahn wo möglich ständigen Kommissariat, zu dem die fremden Arbeiter volles Zutrauen haben können, das also von kommunaler, wie auch seitens der Unternehmer ausgeübter Beeinflussung absolut
unabhängig ist, sollte die Ausübung sowohl der Polizeigewalt, als auch der Präliminarjustiz bezüglich Arrestanlagen, Anstände zwischen Arbeitgeber und Arbeitern etc. übertragen und demselben eine hinreichend organisirte Polizeimannschaft zur Verfügung gestellt werden.

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2. In administrativer Beziehung ist vor Allem dafür zu sorgen, daß die Bequartirung der Arbeiter der Privatspekulation enlzogen, oder leztere wenigstens einer genauen polizeilichen und sanitarischen Kontrole unterstellt werde.

Die Art und Weise, wie in dieser Beziehung Vorsorge zu treffen, wäre durch Sachverständige zu untersuchen und zu begutachten.

3. Bezüglich der Verpflegung sollte ebenfalls in Betracht gezogen werden, ob nicht auf billigere Weise dem Arbeiter eine zureichende kräftige Kost geboten werden könnte.

4. Jedenfalls aber ist das Magazinhalten der Unternehmer nicht am Plaze.

5. In technischer Beziehung ist dafür zu sorgen, daß ohne weitern Verzug genügendere Zufuhr guter Luft in den Tunnel, soweit immer möglich, bewerkstelligt werde, und es sollte die eidg. Gotthardinspektion mit der Ueberwachung dieser unerläßlichen Forderung speziell beauftragt werden.

Indem ich hiernit diejenigen Punkte, mit deren Untersuchung Ihre hohe Behörde mich betraut hat, nach bestem Wissen und in objektiver Weise dargelegt zu haben glaube, schließe ich meinen Bericht unter Versicherung vollkommenster Hochachtung.

C h u r, den 16. Oktober

1875.

Hold, Mitglied des Schweiz. Ständerathes.

Der Sekretär :

Alex. Balletta.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des eidg. Kommissärs Hrn. Hold über die Unruhen in Göschenen am 27. und 28.

Juli 1875. (Vom 16. Oktober 1875.)

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Bundesblatt

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1875

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4

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51

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17.11.1875

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621-642

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10 008 859

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