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Schweizerisches Bundesblatt.

XXVII. Jahrgang. L

Nr. 6.

6. Februar 1875 ·

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

E i n r ü k u n g s g e b ü h r per Zeile 15 Kp. -- Inserate sind franko an die Expedition einzusenden.

Druk lind Expedition der Stämpflischen Buchdrukerei in Bern.

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Bericht des

Schweiz. Bundesgerichtes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1874.

(Vom 31. Dezember 1874.)

Tit.!

Das abgelaufene Amtsjahr des nun abgetretenen Bundesgerichtes zeichnet sich gegenüber allen frühern aus durch die außerordentliche Menge von Geschäften, die dasselbe in Anspruch nahmen, wie sich aus folgender Zusammenstellung ergibt.

Laut unserm lezten Amtsbericht waren am Ende des Jahres 1873 bei dem Bundesgerichte noch anhängig geblieben 99 Civilprozesse.

Hiezu kamen noch im Laufe des Jahres 1874 349 ,, zusammen 448 Prozesse.

Von diesen wurden erledigt: a . durch Urtheil .

.

.

. 49 b. durch Abstand, resp. Vergleich . 64 c. durch Annahme der bundesgerichtlichen Kommissional-Anträge (in Expropriationssachen) .

.

. 195 zusammen " 308 ,, Es bleiben somit auf Ende 1874 für das neue Bundesgericht noch anhängig .

.

140 Prozesse.

Bundesblatt. Jahrg. XXVII. Bd.I.

15

146 Die etwas große Zahl unerledigter Fälle erklärt sich theil» aus den oft sehr langsam eingehenden Erklärungen der Parteien über Annahme der Kommissionsanträge, theils aus rder Behinderung einzelner Instruktionsrichter in Folge anderweitiger Amtsgeschäfte.

Weitaus die größte Zahl der an das Bundesgericht gelangten Streitsachen betraf E x p r o p r i a t i o n s - A n s t ä n d e , und zwar fallen von diesen 124 einzig auf den Kanton T es s i n, wohin die für dieselben bestimmte Instruktionskommission sich zweimal (im Frühling und im Herbst") zu Beaugenscheinigung der streitigen Lokalitäten begeben mußte. Eine Reihe dieser tessinischen Expropriationsprozesse, besonders der vor das Plenum des Bundesgerichts gelangten, zeichnete sich vor den meisten Streitsachen dieser Gattung" durch ihre materielle Erheblichkeit aus, indem es sich bei denselben öfters um Durchschneidung kostbarer Landgüter und Anlagen (besonders in Lugano, Bellinzona und Locamo), wohl auch von Liegenschaften handelte, welche großen Ziegeleien oder ausgedehnten Handelsgeschäften dienten (wie namentlich in Baierna und Locamo).

Da nunmehr die Expropriationen für den Bau der GotthardBahn im Tessin beinahe als beendigt anzusehen sind, so werden auch wenige neue daherige Streitigkeiten aus diesem Kanton in nächster Zeit zu gewärtigen sein.

Die übrigen Expropriationsprozesse vertheilen sich vorzugsweise auf die Bötzbergbahn^ die Bahnen Winterthur-Singen-Kreuzlingen, Bem-Luzern, Lausanne-Ouchy und Wesen-Zürich.

Obige statistische Zusammenstellung zeigt indeß, daß die große Mehrzahl der bei dem Bundesgerichte anhängig gemachten Expropriations-Rekurse, nämlich ungefähr 65°/o derselben, noch im Stadium des Vorverfahrens durch Abstandserklärung, Vergleich zwischen den Parteien oder durch Annahme der Anträge der Instruktionsrichter erledigt wurden. Die von dem Expropriationsgesetz vorgeschriebene vorausgängige Mittheilung der Urtheüsanträge an die Parteien darf daher als eine, für die rasche und billige Erledigung der bezüglichen Anstände sehr zuträgliche angesehen werden, zumal die Erfahrung die Parteien belehrt hat, daß diese Anträge in der Regel von dem Bundesgerichte angenommen werden.

In Expropriationssachen mußte zu wiederholten Malen, gegenüber Entschädigungsforderungen für Aufhebung bestehender Pachtöder Miethverträgen in Folge
stattgefundener Expropriationen, an dem in Art. l des Expropriationsgesetzes niedergelegten Grundsatz, daß nur dingliche Rechte zu entschädigen sind, festgehalten werden ; es ist jedoch nicht zu verkennen, daß dieser Grundsatz in seiner

147 Anwendung öfters Härten zur Folge hat, weßhalb man mitunter, trotz demselben, bei Bemessung von Entschädigungen auf bestehende Pacht- und Micthverhältnisse Rücksicht zu nehmen genöthigt war.

Auch wurde in einem paar Fällen anerkannt, daß, wenn auch keine eigentliche Expropriation erfolgte, dessenungeachtet eine Baugesellschaft alsdann entschädigungspflichtig werden kann, wenn ein von ihr erstellter Eisenbahndamm gegenüber benachbarten Liegenschaften nicht die von den betreffenden Kantonsgesetzgebungen für Bauten vorgeschriebene Entfernung einhält. Es dürfte hieraus erhellen, daß das bestehende Expropriationsgesetz in mehr als einer Beziehung einer Ergänzung wohl bedürftig wäre.

Von den übrigen, von dem Bundesgerichte ausgefällten Urtheilen verdienen hervorgehoben zu werden: 1. Der von dem Kassationsgericht behandelte fiskalische Prozeß, zwischen dem eidgenössischen Handels- und Zolldepartement und der Wittwe Blanc geborne Roguet von Moillesulaz, Kantons Genf.

Da der bezügliche Entscheid von grundsätzlicher Bedeutung: ist, glauben wir, den Sachverhalt kurz mittheilen zu sollen.

Er ist folgender: Am 30. Juli 1872 hatte Frau Blanc einen Sack gestoßenen Zuckers unverzollt über die Zollgrenze geführt, weßhalb derselbe zu Amtshanden genommen und Frau Blanc aufgefordert wurde, ihn gegen Bezahlung der Gebühren und Kosten zu erheben. Frau Blanc, behauptend, es sei der nämliche Sack schon im Port frane zu Genf verzollt worden, kam dieser Einladung nicht nach, sondera belangte die Zolldirektion des VI. Kreises vor dem Genfer Civilgericht mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr der fragliche Sack Zucker zurückzugeben, eventuell dessen Werth zu vergüten, und wirklich wurde von dem gedachten Gerichte mit Urtheil vom 5. Dezember 1872 diesem Begehren entsprochen.

Gegen dieses Urtheil wurde nun, gestützt auf Art. 18 des Verfahrens bei Uebertretungen polizeilicher und fiscalischer Bundesgesetze, das Rechtsmittel der Kassation ergriffen, und zwar theils weil das Genfer Civilgericht in Sache inkompetent gewesen, theils wegen Verstoßes gegen bestimmte gesetzliche Vorschriften, nämlich gegen die Artikel 18, 19, 23, 35, 49, 50 des Zollgesetzes und den Art. 23 und 25, Ziff. 3 der Bundesverfassung, aus welchen die ausschließliche Kompetenz des Bundesrathes, in fraglicher Sache zu entscheiden, abgeleitet wurde.
Das Kassationsgericht glaubte aber die Kassationsbeschwerde des Zoll départements aus dem Grunde abweisen zu sollen, weil zufolge Art. 103 der Bundesverfassung von 1848 und Art. 13 und

148 14 des Gesetzes über Organisation der Bundesrechtspflege nur in S t r a f s a c h e n ein eidgenössisches Kassationsgericht aufgestellt wurde, während das angegriffene Urtheil des Genfer Civilgerichtes nnstreitig ein C i v i l - und kein Strafurtheil war.

2. Der Heimatlosigkeitsstreit zwischen den Kantonen Sehwyz und W alii s betreffend die Familie Vinet. Diese Familie, ursprünglich aus Altendorf, Kantons Schwyz, war seit 1817 im Kanton Wallis niedergelassen, wo seither mehrere Verehelichungen von Gliedern derselben mit Walliserinnen ohne Einholung der konkordatsmäßig erforderlichen Bewilligung der heimatlichen Behörden erfolgten, weßhalb Schwyz schließlich der aus der letzten dieser Ehen (des Joh. Jak. Michel Winet mit der Maria Magdalena Mex) hervorgegangenen Familie nicht mehr Ausweisschriften ausstellen -wollte. -- Da indeß die Regierung fragliche Ehe als solche nicht bestritt, so mußte folgerichtig die Familie Vinet dem Kanton Schwyz zugesprochen werden.

3. Der Streit zwischen der Regierung von Schaffhauseu und «der schweizerischen Industriegesellschaft in Neuhausen. Derselbe betraf die Frage, ob eine am Schâffhauser-Rheinfall nächst dem Ufer befindliche Felseninsel, beziehungsweise der zwischen ihr und dem Uferland befindliche Kanal, als Eigenthum des Staates oder der Industriegesellschaft anzusehen sei -- eine Frage, welche mit Rücksicht auf die durch besagten Kanal vermittelte Wasserkraft eine nicht unerhebliche praktische Bedeutung hatte.

Die streitige Felsinsel wurde mit Rücksicht auf den vieljährigen Besitzstand der schweizerischen Industriegesellschaft zugesprochen.

4. Der Streit zwischen den Kantonen Zürich und Thurgau betreffend die Thurkorrektion, beziehungsweise die Kantonsgrenze.

Schon seit dem Jahr 1812 waren zum Zweck der Regulirung des Thurlaufes auf derjenigen Strecke, wo die beiden genannten Kantone an der Thur zusammenstoßen, Verhandlungen, theils zwischen den betreffenden Kantonsregierungen, theils zwischen den zunächst betheiligten Gemeinden, gepflogen worden. "Der Streit zwischen den beiden genannten Kantonen brach dadurch aus, daß Thurgau im "Winter des Jahres 1871/72 auf dem Gebiet der Gemeinde Obermeunforn ein Wuhr erstellen ließ, das zwar einem technisch rationelleren Bewuhrungs-System entsprechen mochte, aber dem noch immer in Kraft bestehenden, zwischen
Zürich und Thurgau am 15. Dezember 1812 abgeschlossenen Vertrag zuwiderlief, weßhalb der Kanton Thurgau schuldig erklärt werden mußte, fragliches Wuhr auf die vertragsmäßige -Wuhrlinie zurückzusetzen.

149 Die große Zahl von Geschäften, welche das Bundesgericht in.

seinem letzten Amtsjahr in Anspruch nahmen, hatte zur Folge, daß dasselbe v i e r Sitzungen halten mußte (im März, Mai, September und Dezember), wovon die eine (im September) in Glarus.

die übrigen in Bern abgehalten wurden.

In Strafsachen kam das Bundesgericht niemals in den Fall zu funktioniren.

Mit vorzüglicher Hochachtung zeichnen ^-r-- den 31. Dezember 1874.

C h u r, Namens des Bundesgerichtes,

Der Präsident: Dr. J. J. Blumer.

Der Aktuar: Dr. P. C. Planta.

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Botschaft des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend .die Beschwerde von Ziegler und Consorten in Schaffhausen wegen Verweigerung von Nettoverzollung.

(Vom 6. Januar 1875.)

Tit.!

Einer der wesentlichsten Grundsäze unseres Zollsystems ist derjenige der Brutto Verzollung (Art. 11 des Bundesgesezes über das Zollwesen vom 27. August 1851, Band II, pag. .539").

Dieser Grundsaz ist auf der ganzen Grenze strengstens durchgeführt und wo eine Waare mit Verpakung zur Verzollung kommt, wird die Tara mitgewogen und das Gesammtgewicht der Waare und Tara nach demjenigen Tarifansaze berechnet, unter welchen die erstere laut Zolltarif fällt.

Eine Anzahl Schaffhauser Gewerbsleute suchte die Bruttoverzollung eine Zeit lang durch folgende Manipulation zu umgehen und an deren Stelle Nettoverzollung treten zu lassen.

In der Stadt Schaffhausen bestehen zwei Zollstätten ; die eine im Bahnhofe, wo die mit der Eisenbahn vom Auslande ankommenden Waaren wie an einer Grenzzollstätte zollamtlich behandelt werden und die andere am Rhein, an der nach der badischen Enclave Büsingen führenden Straße, ziemlich nahe an der Grenze

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Bericht des Schweiz. Bundesgerichtes an die hohe Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahr 1874. (Vom 31. Dezember 1874.)

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06.02.1875

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