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Bericht der

nationalräthlichen Kommission über' den Rekurs der Regierung des Kantons Bern gegen den Bundesrathsbeschluss vom 31. Mai 1875, betreffend das Ausweisungsdekret der bernischen Regierung vom 30. Januar 1874.

(Vom. 24. Juni 1875.)

Tit.!

Sie haben in Ihrer Sitzung vom 16. 1. Mts. die unterfertigte Commission mit der Aufgabe betraut, den von der Regierung des hohen Standes Bern durch ein Memorial vom 10. Juni eingeleiteten Rekurs gegen den bundesräthlichen Entscheid vom 31. Mai, betreffend die bekannten jurassischen Streitfragen, ihrer Prüfung zu unterwerfen und Ihnen bezügliche Anträge zu hinterbringen.

Indem die Commission nunmehr sich anschickt, diesem Auftrage ein Genüge zu leisten, glaubt sie vor allen Dingen, sich einer einläßlichen geschichtlichen Darstellung aller in Betracht fallenden Vorgänge füglich enthalten zu dürfen. Es ist den Mitgliedern Ihrer hohen Versammlung schon vor mehreren Tagen ein gedrucktes Heft ,,Akten betreffend die Rekurse aus dem Bernischen Jura gegen die Ausweisung katholischer Geistlicher" ausgetheilt worden, und in dieser Sammlung findet sich in großer Vollständigkeit alles Dasjenige zusammengestellt, was die thatsächlichen Verhältnisse in das richtige Licht zu setzen geeignet sein kann. Es wird also, unter Verweisung auf diese gedruckte Vorlage, genügen, hier einen geBundesblatt. Jahrg. XXVII. Bd. III.

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drängten Ueberblick über die nicht uninteressante Entwicklung zu geben, welche die Angelegenheit innerhalb der letzten nahezu 18 Monate durchgemacht hat.

Am 30. Januar 1874 erließ der Regierungsrath von Bern in Benutzung außerordentlicher Vollmachten, welche ihm am 14. gl.

Mts. der große Rath ertheilt hatte, dasjenige Dekret, welches den Ausgangspunkt des gegenwärtig zur Verhandlung kommenden Rekursfalles bildet. Von der Ueberzeugung geleitet, daß die öffentliche Ruhe und Ordnung im Jura nicht wieder herzustellen sei, so lange die durch das Obergericht im September 1873 abberufenen Geistlichen, welche sich durch den Protest vom Februar 1873 mit den staatlichen Autoritäten in Widerspruch gestellt hatten, im Lande anwesend seien, wurde durch jenes Dekret diesen Geistlichen ,,bis auf Weiteres" der Aufenthalt in den Amtsbezirken Courtelary, Delsberg, Freibergen, Laufen, Münster, Pruntrut und Biel untersagt. Innerhalb zweier Tage hatten die von dieser Veriuguag Betroffenen ihre bisherigen Wohnsitze zu verlassen, einzig vorbehalten den Fall, daß sie binnen dieser Frist die ausdrückliche Erklärung abgäben, sich der Staatsordnung, den Staatsgesetzen und den Verfügungen der staatlichen Behörden unterziehen zu wollen.

Soweit die uns zu Gebote stehenden Akten Aufschluß geben, verstand sich kein einziger der fraglichen Priester zu der Ausstellung einer derartigen Submissions-Erldärung ; alle -- 97 an der Zahl -- zogen es vor, dem Externirungsbefehle zu gehorchen und in den Grenzdistrikten des benachbarten Frankreich vorläuiige Unterkunft zu suchen. Dagegen wurde sofort der Weg des Rekurses an die Bundesbehörden betreten; theils gestützt darauf, daß das Dekret die durch Kantons- und Bundesverfassung gewährleistete Niederlassungsfreiheit verletze, theils darauf, daß durch die Wegweisung aller römisch-katholischer Priester die Landesbevölkeiung thatsächlich der ebenfalls verfassungsmäßig gewährleisteten Freiheit der Cultus-Uebung beraubt werde. Die Regierung von Bern, zur Vernehmlassung über diese Beschwerde aufgefordert, stellte zunächst in Frage, ob dem Bunde überhaupt das Recht der Einmischung in diese Angelegenheit zukomme; sie machte geltend, daß nach Art. 44, Absatz 2 der Bundesverfassung (von 1848) eine concurrirende Befugniß von Bund und Kantonen zur Ergreifung der erforderlichen Maßregeln für
Aufrechthaltung des Friedens unter den Confessione!! zugestanden und daß dies wohl am Natürlichsten dahin zu verstehen sei: der Bund trete mit s e i n e r Compétent ein, wo es sich um internationale und interkantonale Störungen handle ; dagegen die Kantone, und zwar mit ungeschmälerter Souveränetät, wenn es sich um einen Gegenstand handle, der nicht

597 über die Grenzen des Kantons hinausgreife. Aber auch für den Fall, daß diese Auslegung nicht anerkannt werden sollte, müsse daran festgehalten werden, daß die ,,geeigneten Maßnahmen10, welche in Abs. 2 von Art. ^4 vorbehalten sind, unter Umständen auch zu Vorkehren berechtigen, welche einen außerordentlichen Charakter an sich tragen, wie z. B. das angefochtene Dekret oder sogar eine Kantonsverweisung. ,,Vielleicht ,"· so heißt es im Verlaufe des Aktenstückes, ,,ließe sich die Frage aufwerfen, ob derartige Verfassungsgarantien individueller Rechte, wie Cultusfreiheit, Niederlassungsfreiheit u. dgl., nicht blos auf die normalen Zustände im Staate zu beschränken seien und in anormalen Zeiten und Verhältnissen ... wenigstens in Betreff der Urheber derselben zu bestehen aufhören? . . . Diese Frage darf wohl gestellt und vielleicht mit einigem Grund behauptet werden, jenes Lemma enthalte eine ausnahmsweise Beschränkung jener allgemeinen Verfassungsgarantien.'1 Der Bundesrath entschied den Rekurs durch Beschluß vom 27. März 1875, und zwar im Sinne der Abweisung. In den Erwägungen werden die Beschwerdeführer zunächst mit denjenigen Fragen, wo sie eine Verletzung der k a n t o n a l e n bernischen Verfassung behauptet hatten, an die oberste Kantons-instanz -- den Großen Rath -- gewiesen ; daneben wird ausgeführt, daß das Dekret weder die durch die Bundesverfassung gewährleistete Cultus- noch die Niederlassungsfreiheit beeinträchtige; die erstere nicht, weil nicht generell allen römisch-katholischen Priestern, sondern nur einer bestimmten Zahl von Personen, und auch diesen nur bedingungsweise, der Aufenthalt in den jurassischen Amtsbezirken untersagt sei; die Niederlassungsfreiheit nicht, weil Art. 41 der Bundesverfassung (von 1848) nur die Regulirung des Niederlassungsrechtes von Kanton zu Kanton zum Zwecke habe, während es sich im vorliegenden Falle um die Niederlassung bernischer Kantonsbürger im Innern des Kantons handle. Endlich wird der Standpunkt, den die Regierung von Bern eingenommen, um dem Bund in vorgedachter Weise die Competenz zu bestreiten, zurückgewiesen ; auf die allerdings nur in hypothetischen Sätzen aufgestellte Theorie über die Tragweite de& 2. Absatzes in Art. 44 der Bundesverfassung tritt der Bundesrath in den Erwägungen nicht besonders ein.

Gegen diesen Entscheid des Bundesrathes
wurde sofort an die Bundesversammlung recurrirt; aber bevor der Gegenstand hier zur Verhandlung gelangte, trat die neue Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 iu's Leben, und die vom Bundesrathe abgewiesene Partei hielt es für gerathen, ihre Beschwerdeführung -- ohne freilich formell den Rekurs an die Bundesversammlung zurückzuziehen -- neuerdings bei der ersten Instanz, dem Bundesrathe, einzuleiten und

598 hier den Nachweis dafür zu versuchen, daß, gleichviel ob der Beschluß vom 27. März 1875 auf Grundlage der alten BundesverfaKsung correct gewesen sei oder nicht, jedenfalls die n e u e Bundesverfassung Grundsätze enthalte, welche das Dekret der bernischea Regierung vom 30. Januar 1874 als unzuläßig erscheinen lassen, und daß also mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung jenes Dekret aufhören müsse, in Wirksamkeit zu stehen. Die Rekurrenten konnten sich dabei anlehnen an die Motivirung des bundesräthlichen Beschlusses vom 27. März, wo eine Verletzung des Niederlassung!;, rechtes durch das fragliche Dekret nur deßhalb geläugnet wurde, weil der Art. 41 der frühern Bundesverfassung dieses individuelle Recht des Schweizerbürgers in einer Beschränkung gewährleistete!, welche nun in Art. 45 der Bundesverfassung von 1874 nicht mehr besteht. Sie bezogen sich im Weitern darauf, daß die neue Verfassung in Art. 44 einen, der frühern ebenfalls nicht bekannt gewesenen, in vorliegendem Fall zutreffenden Satz aufstelle, den Satz nämlich, daß kein Kanton einen Kantonsbürger aus seinem Gebiet verbannen oder verweisen dürfe.

Angesichts dieser, auf neuer Grundlage beim Bundesrathe eir.gelangten Beschwerden, beschlossen dann (am 18./19. März 1875) die gesetzgebenden Räthe, die frühern, aus der Zeit der Bundesverfassung von 1848 herstammenden Rekurse als dahingefallen za betrachten und in den Gegenstand nicht einzutreten, bevor der Bundesrath über jene neuen Beschwerden gesprochen haben werde.

Ueber diese letztern hatte sich die Regierung von Bern scho.i am 3. Decomber 1874 vernehmen lassen. Sie bestritt vorab, daiS der Art. 44 der Bundesverfassung (von 1874) in casu zutreffe ; die fraglichen Geistlichen seien gar nicht aus dem Kanton weggewieser, sondern es sei ihnen lediglich der Aufenthalt in einzelnen Theilea desselben einstweilen und bedingungsweise untersagt worden. Auch das Recht der freien Niederlassung, das allerdings durch Art. 45 der Bundesverfassung von 1874 unbedingt gewährleistet sei, werde den Betreffenden nicht entzogen, sondern nur für einstweilen suspendirt, und hiezu sei allerdings der Kanton Bern, Angesichts der Bestimmungen von Art. 50, Absatz 2 der Bundesverfassung vollkommen berechtigt. Wenn es danach den kantonalen Behörden obliege, die ihnen geeignet scheinenden Maßnahmen zur Handhabung
der öffentlichen Ordnung und des konfessionellen Friedens zu treffen, so werde es wohl auch ihrer Beurtheilung unterliegen müssen, ob die Gründe, welche diese Maßnahmen hervorgerufea haben, dahin gefallen seien oder nicht.

599 Die Entscheidung des Bundesrathes verzögerte sich bis gegen Ende März 1875, trotzdem daß die Beschwerdeführer, des langen Wartens müde, verschiedentlich zu größerer Beförderung mahnten.

Der Bundesrath hatte nämlich Grund zu der Annahme, daß zu Anfang des laufenden Jahres die Regierung von Bern aus eigenem Antrieb mit dem Gedanken umgehe, das von Anfang an nur als provisorische Maßregel verstandene Dekret vom 30. Januar 1874 außer Kraft zu setzen, sobald einmal die neue Organisation des katholischen Kirchenwesens, worüber am 18. Januar das Volk abzustimmen hatte, durchgefülirt und in passender Weise, etwa durch eine Verordnung gegen Störungen des religiösen Friedens, dafür gesorgt sein werde, daß die Rückkehr der zeitweise externirt gewesenen Priester keine mißlichen Folgen haben werde. Erst als diese Aussicht auf thatsächliche Erledigung des ganzen Falles durch einen spontanen Act der Regierung von Bern sich verdunkelte, that dann der Bundesrath seinen Spruch, und zwar durch motivirten Beschluß vom 27. März 1875. In demselben wird zunächst die staatsrechtliche Frage, welche Tragweite den Art. 44 und 45 der jetzigen Bundesverfassung in Zukunft beizulegen sei, vorläufig unerörtert gelassen; der Bundesrath weist lediglich darauf hin, daß, nach der Natur der Sache und nach den eigenen Aeußerungen der bernischen Regierung, das Dekret vom 30. Januar 1874 zu den außerordentlichen Maßnahmen gehöre, welche wieder aufzuheben sind, sobald die Veranlaßung dazu zu bestehen aufgehört hat. Die von den Rekurrenten aufgestellte Behauptung : das fragliche Dekret sei ipso jure durch das Inslebentreten der neuen Bundesverfassung wirkungslos geworden, gibt der Bundesrath nicht zu ; vielmehr müsse daran festgehalten werden, daß jener Erlaß, unter der Herrschaft der Bundesverfassung von 1848 in zuläßiger Weise zu Stande gekommen, auch unter der neuen Verfassung j e d e n f a l l s das Recht auf Fortbestand für so lange habe, als es ohne Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Ordnung nicht aufgehoben werden könnte.

Die Beurtheilung des Zeitpunktes, wo diese Gefährde als beseitigt betrachtet werden darf, müsse allerdings in erster Linie den Behörden des Kantons Bern anheimgegeben werden ; aber in sehr bestimmter Weise wird dann auch für die Bundesbehörden das Recht der selbstständigen Prüfung der Frage und die Stellung
der ,,letzten und entscheidenden Instanz" in Anspruch genommen, und es wird, im Anschlüsse daran, die Regierung von Bern eingeladen, dem Bundesrath mit möglichster Beförderung darüber Bericht zu erstatten, ob sie ihrerseits beabsichtige, die Exteruirung der jurassischen Priester noch länger fortbestehen zu lassen und eventuell die Gründe anzugeben, welche nach ihrer Ansicht die Fortdauer der fraglichen ausnahmsweisen Maßregel nothwendig machen.

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Es darf als ein erfreulicher Wendepunkt in der Eutwickelung der ganzen Angelegenheit angesehen werden, daß die Regierung von Bern sich mit diesem Beschlüsse des Bundesrathes im Wesentlichen ganz wohl befreunden konnte; ja, daß bei Vorlage desselben im Schooße des Großen Käthes dieser ausdrücklich eine Resolution faßte, welche die Befriedigung über den vom Bundesrathe eingenommenen Standpunkt ausdrückte. Man darf demnach die früher bernischerseits mehrfach mit mehr oder weniger Bestimmtheit hervortretenden Zweifel über die Befugniß des Bundes zur Einmischung in den Conflict und zur Fällung des entscheidenden Spruches als definitiv dahingefallen erklären, und es taucht diese Seite der Frage in der That seither nicht nur nicht wieder auf, sondern e,3 wird auch in der neuesten offiziellen Aeußerung der bernischen Regierung (Rekurs-Memorial vom 10. Juni) in voller Klarheit die übergeordnete Stellung der Bundesbehörden anerkannt.

Der Bericht der Regierung von Bern, welchen der Bundesrath in seinem Beschlüsse vom 27. März gefordert hatte, ließ ziemlich lang auf sich warten ; er datirt vom 25. Mai 1875. Der Regierungsrath setzt in demselben auseinander, daß nach den ihm vorliegenden amtlichen Berichten die Zustände im Jura sich wenig oder gar nicht gebessert haben ; daß er eben deßhalb bis jetzt das Décret vom 30. Januar 1874 aufrecht erhalten zu sollen geglaubt habe, und daß er der Ansicht sei, die Fortdauer dieser allerdings ausnahmsweise!! Maßregel werde noch für einige Zeit nothwendig sein. Die Regierung erwähnt sodann, sdaß sie den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Störung des religiösen Friedens, ausgearbeitet, habe, und sie verbindet damit die bestimmte Erklärung: daß sie.^ sobald jenes Gesetz vom Großen Rathe und sodann auch vom Volk angenommen sein werde (woran sie nicht zweifle), die Ausweisung der Geistlichen successive wieder aufheben werde.

Der Bundesrath scheint nach Einsicht dieses Berichtes insbesondere Anstand genommen zu haben an der Unbestimmtheit der Frist, für welche nach dieser Erklärung der Regierung von Bern das Décret noch in Kraft bleiben sollte; er fand es ,,nicht zuläßig, solchergestalt neuerdings auf unbestimmte Zeit die Erledigung dieser Angelegenheit hinauszuschieben und sie von einer Thatsache abhängig zu machen, deren Verwirklichung vom Willen der Regierung durchaus
unabhängige- Verzögerungen erleiden kann.1'- Er schritt daher sofort -- schon am 31. Mai -- zur Entscheidung des Rekurses. Hatte der Beschluß vom 27. März offenbar die Absicht, ohne Eintreten auf die theoretische Frage, wie man in Z u k u n f t das Verhältniß der §§ 44 und 45 zu § 50, Absatz 2 der Bundesverfas-

601 .gung von 1874 aufzufassen habe, lediglich den Spezialfall auf Grund einer Prüfung der allgemeinen Lage im Jura zum Austrag zu bringen, so glaubte dagegen der Bundesrath, in seinem Beschlüsse vom 31. Mai .nunmehr gerade jene staatsrechtliche Frage vor allen Dingen beantworten zu müssen, und er gab die Antwort mit großer Bestimmtheit und ohne jeglichen Vorbehalt dahin ab : es müsse die Frage, ob das Décret vom 30. Januar 1874 mit den Bestimmungen der jetzigen Bundesverfassung vereinbar sei und unter der Herrschaft dieser Verfassung länger wirksam sein dürfe, schlechthin verneint werden ; für die Art. 44 und 45 der Bundesverfassung wird diejenige com'binirende Auslegung einfach adoptirt, welche das Bundesgericht im Falle Gutmann im Urtheil vom 26. Februar zur Geltung gebracht hatte, und dann schließlich ausdrüklich betont, daß die in Art. 50, Absatz 2 dem Bunde, sowie den Kantonen vorbehaltenen Maßnahmen sich durchaus innerhalb der durch die Verfassung gezogenen Schranken bewegen müssen und die in derselben aufgestellten Grundsätze oder gewährleisteten Rechte nicht beeinträchtigen dürfen. Gleichwohl wird dann im Weitern, unter Anknüpfung an die Schlußnahme vom 27. März und die derselben au Grunde liegende Auffassungsweise, die Ansicht ausgesprochen und begründet, daß für die Aufhebung des Décrets eine der Natur -des Verhältnisses und den practischen Erfordernissen der Sachlage entsprechende Frist eingeräumt werden müsse, und es wird diese Frist sodann ex sequo et bono auf 2 Monate festgestellt.

Gegen diesen Beschluß des Bundesrathes vom 31. Mai hat nunmehr die Regierung von Bern den Rekurs ergriffen und denselben in einem einläßlichen Memorial vom 10. Juni zu begründen versucht ; sie schließt mit dem Rechtsbegehren : es sei der Beschluß des Bundesrathes zu cassiren -- jedenfalls die Vollziehung des Beschlusses zu suspendiren, bis über den Rekurs entschieden sein wird.

Das fragliche Actenstück zieht die Competenz der Bundesbehörden nicht mehr in Zweifel; dagegen bestreitet es die vom Bundesrathe aufgestellte Rechtsansicht und beschwert sich über die Kürze der von demselben gesetzten, bloß zweimonatlichen Frist.

Es wird in der letzten Hinsicht betont, daß in dieser Fristbestimmung auf den Wunsch der Regierung : die Aufhebung des Décrets gleichzeitig mit der Erlassung des projectirten Gesetzes,
betreffend die Störung des religiösen Friedens, zu bewerkstelligen, gar keine Rücksicht genommen sei ; denn auch bei dem besten Willen könne, Angesichts unbeugsamer Vorschriften der bernischen Staatsverfassung, das genannte Gesetz vor Ende Oktober nicht in Kraft gesetzt worden. Was die staatsrechtliche Frage anbelangt, so wird, wenn

602 auch mehr in Andeutungen und beiläufigen Bemerkungen als in einer klaren Formulirung, dennoch mit mehr Bestimmtheit als früher die Ansicht entwickelt, daß gegenüber dem Art 50, Absaz 2 die übrigen Bestimmungen der Bundesverfassung zurückzutreten haben, daß also bei Anwendung jenes Artikels die Behörden sich nicht auf v e r f a s s u n g s m ä ß i g e Maßnahmen zu beschränken brauchen, (Memorial, S. 16 ob.)

Wenige Tage nach dem Erscheinen dieses Rekurs-Memorials versammelte sich der Große Kath des Kantons Bern; er billigte ausdrücklich das Vorgehen des Regierungsrathes und insbesondere die Ergreifung des Rekurses gegen den bundesräthlichen Entscheid vom 31. Mai; daneben erledigte er in erster Berathung den mehrerwähnten Entwurf eines Gesetzes betreffend Störung des religiösen Friedens, und setzte die zweite Berathung auf den ersten Tag fest, wo sie nach Vorschrift der Verfassung stattfinden kann, nämlich auf den 13. September, mit der weitern Maßgabe, daß die Volksabstimmung jedenfalls im Laufe des Monats October solle vorgenommen werden.

Nach dieser summarischen Darstellung der Vorgänge, welche zu der dermaligen Sachlage geführt haben, werden wir uns in der rechtlichen Erörterung der letztern verhältnißmäßiger Kürze befleißigen können.

Es ist aus dem vorher Angebrachten leicht ersichtlich, daß eigentlich mit Bezug auf den Spezialfall und dessen praktische Erledigung keine großen Schwierigkeiten bestehen, daß die Meinungsverschiedenheiten, die zwischen dem Bundesrath und der Regierung von Bern in d i e s e r Hinsicht noch obwalten, nicht von prinzipieller Bedeutung und überhaupt nicht von erheblicher Tragweite sind.

Nachdem der Bundesrath in seinem Entscheide vom 27. März 1875 sich dahin ausgesprochen hat, daß zur Zeit der Erlassung des Dekrets vom 30. Januar gì. J. demselben ein Bedenken in Betreff seiner Vereinbarkeit mit der damals geltenden Bundesverfassung von 1848 nicht entgegengestanden habe, hat die Frage, ob es gegenüber der inzwischen in's Leben getretenen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 zuläßig wäre, ein ähnliches Dekret wieder zu erlassen, keine praktische Bedeutung und bedarf zur Erledigung und Beurtheilung des Spezialfalls überhaupt keiner Lösung. Die andere Frage, ob das Dekret vom 30. Januar, nachdem die Bundesverfassung von 1874 in Kraft getreten, ohne Weiteres und ipso
jure hinfällig geworden sei, ist, auch unter der Supposition, daß es mit dieser Verfassung nicht mehr vereinbar wäre, vom Bundesrath in seineu Entscheidungen vom 27. Mani

603 und 31. Mai 1875 verneint worden; er anerkennt vielmehr -- und die Commission theilt diese Anschauungsweise vollständig -- daß diese Maßregel -- einmal in zuläßiger Weise entstanden -- für so lange, aber allerdings auch n u r für so lange fortbestehen dürfe, als die Aufhebung ohne Gefahrdung wichtiger Interessen unmöglich wäre.

Hinwieder hat die Regierung von Bern wiederholt, und so namentlich auch in ihrem Rekurs-Memorial vom 10. Juni 1. J.?

die Erklärung abgegeben, daß sie das Dekret vom 30. Januar 1874 lediglich als eine provisorische Maßregel auffasse und demnach bereit sei, dasselbe so bald als irgend thunlich wieder außer Kraft zu setzen. Es bleibt also in der That, so weit als es sich um die Erledigung des Spezialfalles handelt, nichts Anderes übrig, als die Frage: Wann ist der Zeitpunkt gekommen, wo diese Aufhebung der provisorischen und außerordentlichen Maßregel erfolgen soll und darf? und n u r mit Bezug auf diesen Punkt besteht zur Zeit eine praktische Verschiedenheit zwischen dem Entscheide des" Bundesraths vom 31. Mai 1875 und derjenigen Ansicht, welche die Regierung von Bern in ihrem Memorial vom 10. Juni entwickelt hat. Während der Bundesrath die Frist, innerhalb welcher die Zurückziehung des Dekrets vom 30. Januar 1874 erfolgen müsse, auf zwei Monate vom Tage des Entscheides (31. Mai) und also auf Ende Juli festsetzt, führt die Regierung von Bern aus, daß sie die Außerkraftsetzung jenes Dekretes nicht für thunlich erachte, bevor sie in der Lage sei, dasselbe durch etwas Anderes zu ersetzen, d. h. bevor das im Wurfe liegende Gesetz betreffend Störung des religiösen Friedens erlassen und in Kraft getreten sei, was nach Maßgabe der Verhältnisse und der Vorschriften der bernischen Verfassung nicht vor Ende Oktober oder Anfang November der Fall sein kann.

Wie oben bereits angedeutet worden, hat der Bundesrath auf diese Anschauung der Berner Regierung wohl hauptsächlich deshalb nicht eintreten zu können geglaubt, weil er fürchtete, hiedurch die Erledigung der Sache in ganz unbestimmte Ferne hinaus verzögert zu sehen. Allein diese Besorgniß darf wohl Angesichts der Vorgänge, die seit dem 31. Mai stattgefunden haben, Angesichts namentlich des unzweideutig bezeugten Willens des bernischen Großen Käthes, das fragliche Gesetz mit aller zuläßigen Beförderung zum Abschlüsse zu bringen,
als dahingefallcn betrachtet werden, und eben mit Rücksicht auf dieses Novum hielt Ihre Kommission es für angezeigt, den Bundesrath zu einer amtlichen Aeußerung darüber zu veranlaßen, ob er seinerseits gegen eine Erstreckung der Frist bis zu dem Zeitpunkte, wo voraussichtlich das mehr-

604 erwähnte neue Gesetz erlassen sein werde, ein Bedenken hätte.

Die Antwort des Bundesraths erfolgte in dem Sinne, daß eia solches Bedenken nicht bestehe; daß er in einer Fristverlängerung keine Schwächung des von ihm eingenommeneu grundsätzlichen Standpunktes erblicken könne; daß er nach dem neuesten Vorgehen des bernischen Großen Käthes keinen Anstand genommen haben würde, ein Gesuch um Fristevstreckung, wäre ein solches an ihn gestellt worden, von sich aus zu bewilligen, und daß er nunmehr gar nichts dagegen zu erinnern habe, wenn die Bundesversammlung diese Verlängerung ausspreche. Nach Entgegennahme dieser Erklärung fand die Commission, daß in der That keine hinreichenden Gründe bestehen, dem von der Regierung von Bern geäußerten Wunsche entgegenzutreten, und sie schlägt Ihnen demgemäß vor, die Frist bis zum 15. November zu erstrecken.

Weiter zu gehen und den bundesräthlichen Entscheid vom 31. Mai zu cassiren, d. h. auch den ersten Absatz seines ersten Dispositivs aufzuheben und damit die Einladung an die Regierung von Bern, das Dekret vom 30. Januar 1874 demnächst und binnen Frist fallen zu lassen, dazu liegt nach dem einstimmigen Erachten Ihrer Commission ein Grund um so weniger vor, als die Regierung von Bern selbst sich materiell mit Demjenigen einverstanden erklärt ha';, was jene Einladung von ihr verlangt.

Es könnte sonach mit diesen wenigen Bemerkungen, welche in den Motiven l--5 unseres Vorschlages dem Wesen nach wiedergegeben sind, der Spezialfall als ausreichend besprochen und iu einer sowohl dem Bundesrath als der Regierung von Bern zusagenden Weise erledigt betrachtet werden. Allein neben der unmittelbar praktischen Frage, welche das Cassationsbegehren der Regierung von Bern nufgeworfen hat, schreitet eine Frage von mehr s t a a t s r e c h t l i c h - t h e o r e t i s c h e r Bedeutung einher, welchem, nachdem sie einmal gestellt ist, Ihre Kommission nicht aus dem Wege gehen zu dürfen glaubt. Es betrifft dieselbe die eigentliche Tragweite von Art. 50, Absatz 2 der Bundesverfassung oder, noch präciser gesagt, das Verhältniß desselben zu dem übrigen Inhalt der Bundesverfassung. Der Bundesrath hat s e i n e dahcrigc Anschauungsweise in Erwägung 3 seines Beschlusses vom 31. Mai sehr bestimmt formulirt; der Regierungsrath von Bern, wie schon oben bemerkt, hat eine solche F o r
m u l i r u n g seines Standpunktes unterlassen; aber dieser findet sich "doch an mancher Stelle, ara prägnantesten vielleicht in dem schon angeführten Passus auf pag. IG seines Rekursmemorials vom 10. Juni 1875 ziemlich bestimmt augedeutet. Wir glauben uns von der Wahrheit nicht allzuweit zu

605 entfernen, wenn wir die Frage, die sich erhebt, folgendermaßen präcisiren : Hat die Bundesverfassung, indem sie in Art. 50, Absatz 2 den Kantonen, sowie dem Bunde die geeigneten Maßnahmen zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften, sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte des Staates und der Bürger vorbehält, damit sagen wollen, daß auf d i e s e m Gebiete a t i s n a h m s w e i s e die staatlichen Behörden, unbekümmert um andere verfassungsmäßigen Bestimmungen, unbekümmert namentlich um die durch die Bundesverfassung gewährleisteten Grundrechte, lediglich nach dem Gesichtspunkte der Z w e c k m ä ß i g k e i t (,,geeignete Maßnahmena) verfahren können?

Oder aber hat es die Meinung, daß hier, gerade so gut wie auf allen andern Gebieten des staatlichen Lebens, die Vorschriften der Bundesverfassung, die in ihr enthaltenen Garantien der persönlichen und bürgerlichen Freiheitsrechte, den festen Rahmen bilden, innerhalb dessen sich die ,,Maßnahmen" der staatlichen Behörden zu bewegen haben?

Das Erstere ist -- allerdings zu einer principielleu Schärfe zugespitzt, welche in den Aeußerungen der bernischen Regierung nirgends einen positiven Ausdruck findet -- ungefähr der Standpunkt von Bern; das Letztere ist der in den Erwägungen l--3 des Entscheides vom 31. Mai 1875 deutlich ausgeprägte Standpunkt des Bundesrathes.

W elcher von beiden ist der richtige ?

Das wesertlichste Argument, das die Regierung von Bern zur Unterstützung ihrer Ansicht anführt, geht dahin : daß, bei einer anderweitigen Interpretation des Art. 50, Absatz 2 d e r s e l b e g a r k e i n e n S i n n h ä t t e ; denn, wären blos ,,verfassungsmäßige Maßnahmen- gemeint, so wäre die Sache so selbstverständlich, daß man in der Bundesverfassung gar nicht hätte davon zu reden brauchen (Memorial Seite 16 oben). Es ist dabei eigenthümlich, daß in den Auslassungen des Berner Regierungsrathes fast durchgängig, wenn der Art. 50 allegirt wird, nicht der dort wirklich gebrauchte Ausdruck: ,,geeignete Maßnahmen" reproduzirt, sondern so citirt wird, als hieße es : ,,außerordentliche"1 Maßregeln, ja sogar einmal (Memorial Seite 15 unten) als hieße es: ,,discretionäre Befugnisse'''. Es ist gar nicht zu leugnen, daß, w e n n diese Ausdrücke wirklich in Art. 50 der Bundesverfassung ständen, darin

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eine gewisse Unterstützung der bernischen Auffassung gefunden werden könnte; aber der Augenschein lehrt, daß eben diese Ausdrücke nicht da stehen, und der wirklich gebrauchte hat, wie wir nachher noch des Nähern zeigen werden, in keiner Weise einen Charakter, der eine so ungewöhnliche Tragweite des Artikels vermuthen lassen könnte. Will man in unbefangener Weise die wirkliche Meinung des vielbesprochenen Absatzes 2 des Art. 50 erfahren, so muß man ihn zusammennehmen mit dem ersten Absätze des gleichen Artikels. Dieser enthält die Garantie der Cultusfreiheit in ziemlich absoluter Weise, nur mit der Restriction, daß sich die Ausübung der gottesdienstlichen Handlungen innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung zu halten habe. Der zweite Absatz aber, der im Wesentlichen schon in der Bundesverfassung von 1848 stand, knüpft offenbar an die erfahrungsgemäße, gerade in der Geschichle unseres Landes deutlich genug bezeugte Thatsache an, daß das Nebeneinanderbestehen mehrerer kirchlichen Gemeinschaften, deren jede an sich die volle und absolute Freiheit der Cultusübung beanspruchen kann, unter Umstäno.en bedenkliche, für die öffentliche Ruhe und den Frieden gefährliche R e i b u n g e n zur Folge haben kann, und er weist nun der Staatsgewalt (den Kantonen sowie dem Bunde) die A u f g a b e zu, solche Consequenzen des im ersten Absätze ausgesprochenen Prinzips durch ,,geeignete Maßnahmen"' zu verhüten, eventuell zu beseitigen, ßs unterliegt keinem Zweifel, daß für solche ,,Maßnahmen", seien es nun Gesetze, generelle Verordnungen oder Verfügungen im Einz3lfalle, ein sehr weiter Kreis besteht, ohne daß man irgendwie die Grenzen der Verfassung zu überschreiten braucht ; wir brauchen diese einleuchtende und allgemein bekannte Thatsache nicht einmal mit Beispielen zu belegen. Daneben muß anerkannt werden, daß der zweite Satz den ersten einigermaßen e i n s c h r ä n k t ; durch ihn wird der Staat unstreitig ermächtigt, den Confessionen im Interesse des Friedens gewisse Beschränkungen in der Ausübung ihres Cultus aufzulegen, welche sie sonst, wenn der Absatz l allein da stände, als unberechtigt von sich ablehnen könnten. Außerdem aber regelt er ein Verhältniß, das sich gar nicht ohne Weiteres von selbst verstellt. Wäre der Absatz 2 nicht vorhanden, so könnte sehr in Zweifel gezogen werden,
ob auf diesem Gebiete der Bund auch unmittelbar von sich aus einzugreifen befugt sei, oder ob derselbe,, in Anwendung von Art. 3 der Bundesverfassung, lediglich in die Sphäre der Kantonalsouveränetät falle, etwa mit einem bloßen Oberaufsichtsrechte des Bundes. Diesen Zweifel hebt der Absatz 2 in unzweideutiger Weise, indem er dem Bunde gerade so gut wie den Kantonen ein derartiges Eintreten vorbehält.

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Es folgt daraus, daß dieser Absatz 2 einen sehr guten Sinn und seine vollständige Existenzberechtigung hat, auch wenn man durchaus nicht zugibt, daß er den staatlichen Behörden ein außerordentliches Recht, eine ,,diseretionäre Befugniß" einräume. Das erwähnte Hauptargument der bernischen Regierung für die von ihr vertheidigte Auffassung kann daher durchaus nicht als stichhaltig anerkannt werden. Aber selbst, wenn es wahr wäre, daß jener Absatz 2 ziemlich müßig dastände, sofern man ihn nur in dem eben besprochenen engern Sinne verstehen will, so könnte dies noch lange nicht als ein ausreichender Grund für eine Interpretation im entgegengesetzten Sinne betrachtet werden. Eine solche Interpretation, die für ein einzelnes Gebiet des staatlichen Lebens ein ganz ausnahmsweises und besonderes Staatsrecht schafft, die für dieses Gebiet alle verfassungsmäßigen Garantien der politischen und individuellen Freiheit aufhebt oder wenigstens einfach in das Belieben der jeweiligen Staatsbehörden legt, könnte sicherlich nur aufrecht gehalten werden, wenn der W o r t l a u t im eigentlichen Verstände dazu z wän g e. Jede V e r m u t h u n g spricht gegen eine derartige Interpretation. Eine solche Nöthigung durch den Wortlaut liegt aber hier nicht im Entferntesten vor. Der Ausdruck ,,geeignete Maßnahmen", ,,erforderliche Verfügungen", ,,nöthige Bestimmungen" kehrt in Verfassungen und Gesetzen jeden Augenblick wieder; er gehört zu den allergewohnlichsten Redewendungen, und es soll mit demselben offenbar nichts Mehreres und nichts Anderes gesagt werden, als daß der Staat auf demjenigen Gebiete, von welchem gehandelt wird, überhaupt in Aktion treten solle oder dürfe, ohne schon genauer dcfiniren zu wollen, in welcher Weise (durch Gesetz, durch generelle oder spezielle Verfügung) dies zu geschehen habe. Wir verweisen, um diese Ansicht zu erhärten, auf die theils ganz gleich wie in Art. 50, theils wenigstens ganz analog gewählten Ausdrücke in Art. 27 fin., Art. 35 Abs. 3, Art. 55, Art. 102 Ziff. 2 und 16 der Bundesverfassung von 1874. Gewiß ist es bisher noch Niemanden eingefallen, diese Stellen dahin zu verstehen , daß in den davon betroffenen Beziehungen nur das schrankenlose Recht der Behörden gelte, lediglich nach den Gesichtspunkten des Bedürfnisses und der Zweckmäßigkeit zu handeln und sich dabei hinwegzusetzen über
die verfassungsmässigeu Rechte der Bürger. Wo liegt also der Grund dafür, um auf einmal in Art. 50, Abs. 2 dem Worte : ,,Die geeigneten Maßnahmen" eine so exorbitante Bedeutung beizulegen?

Es kann auch nicht anerkannt werden, daß -- wie die Regierung von Bern einmal in ihrem Rekurs-Memorial beiläufig bemerkt -- der Art. 50, Abs. 2 der jetzigen Verfassung eine v e r s c h ä r f t e Reproduktion des Art. 44 in der Bundesverfassung von 1848 sei.

Abgesehen davon, daß -- schwerlich in glücklicher Wendung --

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vor das Wort ,,Frieden" das Adjektiv ,,öffentlich1' eingeschobcn und der Ausdruck ,,Confessionen" durch ,,Angehörige von Religionsgenossenschaften " ersetzt worden ist, hat nur eine Ei n s ehielt» un g stattgefunden (,,sowie gegen Eingriffe der kirchlichen Behörden etc.Ui), welche lediglich geeignet ist, das O b j e k t für die ,,geeigneten Maßnahmen11 zu e r w e i t e r n , durchaus aber nicht das M a ß d e r Intensität, welches dieselben annehmen dürfen, zu vergrößern.

Endlich muß auch noch hervorgehoben werden, daß die Theorie von der außerordentlichen Tragweite des Art. 50, Abs. 2 eigentlich ziemlich neuen Datums ist. Es sind in den letzten Jahren sehr viele Rekurse und Conflikte entschieden worden, welche in den Bereich des Art. 50 fallen ; überall aber wurde sowohl von den angegriffenen Kantonsbehörden als von den Vertheidigern der staatlichen Rechte in den urtheilenden Behörden der Satz als feststehend anerkannt, daß die Bundesverfassung und die in ihr gewährleisteten Rechte auch in Fällen dieser Art ungekränkt bleiben müssen ; nur d e r Beweis wurde immer geleistet oder zu leisten versucht, es sei nicht richtig, wenn einer Verfügung der Vorwurf der Verfassungswidiigkeit entgegengehalten werde. Niemals aber bis auf den gegenwärtigen Fall verstieg man sich zu der Behauptung: ein solcher Beweis sei gar nicht nöthig, da der Art. 50 (früher 44) der Bundesverfassung in Fragen solcher Natur die staatlichen Behörden überhaupt von der Pflicht, die Vorschriften der Bundesverfassung als unübersteigliche Schranke zu achten, losspreche.

Um so mehr ist es nothwendig, diese im höchsten Grade bedenkliche Doktrin bei ihrem erstmaligen, wenn auch theilweise verhüllten Auftreten mit aller Bestimmtheit zurückzuweisen u:id demgemäß zu erklären, wie es der Bundesrath in Erwägung 3 seines Beschlusses vom 31. Mai gethan hat : ,,Der Art. 50 der Bundesverfassung begründet für die Gebiete, die er behandelt, nämlich für die Aufrechthaltung des Friedens unter den Confessionen und für die Abwehr kirchlicher Uebergriffe, kein ausuahmsweises und besonderes Staatsrecht, keine Exemtion von den übrigen Vorschriften und Garantien der Bundesverfassung, sondern, was auf jedem andern Gebiete Recht ist, das ist es auch -- voll und unverkürzt -- für das Gebiet dieser kirchlich - politischem Confluite."

Allerdings kann man nun
noch die Frage aufwerfen, ob nicht Fälle und Lagen gedenkbar wären, wo eine Abweichun dieser Regel trotzdem als statthaft angesehen werden müßte.

Regierung von Bern hat in ihren Erlaßen sich mehrfach des

denn von Die Aus-

609 drucks bedient: es gebe schwere Störungen der Ruhe und Ordnung, wo eine Art von Kriegszustand eintrete und wo also der Staatj wenn er nicht aus den Fugen gehen solle, nothwendig außerordentliche Maßregeln zu Hülfe nehmen müsse. Man wird dies im Prinzip schwerlich bestreiten können ; nur ist durchaus an dem oben hervorgehobenen Satze festzuhalten, daß für k i r c h l i c h e Wirreu kein a n d e r e s , weder ein besseres, noch ein schlechteres Recht besteht, als für Wirren anderer (z. B. sozialer oder rein politischer) Art. Gibt es ein staatliches Nothrecht, das vorübergehend ein Heraustreten aus den Schranken der Verfassung rechtfertigt, so gilt dasselbe für jede Situation, wo seine sachlichen Voraussetzungen vorhanden sind, gleichviel auf welchem Gebiete die Veranlaßung liegen möge, die diese Voraussetzungen herbeigeführt hat. Die Bundesverfassung statuirt ein solches staatliches Nothrecht nirgends ausdrücklich; nur in Art. 16 deutet sie allerdings an, daß bei gestörter Ordnung im Innern eine exceptionnelle Action der Bundesgewalt eintreten müsse. Die wissenschaftliche Doctrin anerkennt indessen das N o t h r e c h t ausdrücklich auch für den Fall, wo darüber in der Staats Verfassung nichts enthalten'ist, und man wird hinzufügen dürfen, daß kein Staat der Welt ganz darauf verzichten kann, oder jemals darauf verzichtet hat, gegebenen Falls, d. h. wenn die eigene Existenz, der Fortbestand der politischen und bürgerlichen Rechtsordnung auf dem Spiele steht, die Erhaltung seiner selbst zum obersten und einzigen Zielpunkt zu nehmen und danach zu handeln, d. h", den uralten Satz zu bethätigen: salus populi suprema lex csto. Der Bundesrath hat in den Erwägungen zum Beschluß vom 27. März 1875 im Grundsatze ebenfalls anerkannt, daß es Fälle gebe, wo außerordentliche Maßregeln, also wohl solche, die mehr oder weniger aus dem Rahmen der Verfassung heraustreten, statthaft seien; im Beschluß vom 31. Mai hingegen schweigt er hierüber gänzlich. Die Schwierigkeit liegt indessen nicht in der Anerkennung des Prinzips, sondern in der Definition der Voraussetzungen, welche die Anwendung desselben rechtfertigen können; die Wissenschaft hat auch diesen Punkt zu regeln gesucht und namentlich sich positiv dahin ausgesprochen, daß nur die wirkliche ernsthafte und gegenwärtige Noth jenes Nothrecht begründe, und daß
die auf dieselbe gefaßten exceptionellen Maßregeln auch ihrer Art, ihrem Umfange und ihrer Dauer nach niemals über das Maß des absolut Notwendigen hinausgreifen dürfen.*) Aber wenn man auch im Grundsätze für solche Fälle, wo die ordentlichen Mittel sich zur Wahrung ö der wichtigsten Interessen als unzureichend er*) Vrgl. über diese ganze Materie die interessanten Ausführungen bei B l n n t s c h l i , Allg. Staatsrecht, II, 113 fg. (Ausg. von 1863.)

610 weisen, ein solches Nothrecht, als durch die Existenzbedingungen des Staates gerechtfertigt und gefordert, anerkennt, immer wird man dabei, insbesondere im Freistaate, daran festhalten müssen, daß man sehr behutsam sein soll in der A n w e n d u n g des Grundsazes, daß nicht jeder mäßige Conflict oder Auflauf, nicht jede Verlegenheit der Staatsgewalt aufgeregten Leidenschaften gegenüber schon als eine Art von Kriegszustand proklamirt und daraus das Recht des Staates zu Ausnahms-Maßregeln hergeleitet werden darf. Die Freiheitsrechte der Bürger, in der Verfassung garantirt, sind ein geheiligtes Depositum, über welches die Staatsbehörden gewissenhoft zu wachen haben, und sie dürfen nicht leichthin auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dasselbe anzutasten.

In unsern schweizerischen Verhältnissen insbesondere wird wohl in der Regel nur der Bund in die Lage kommen, ein solches staatliches Nothrechts zu üben, im Anschlüsse an Dasjenige, was dar Art. 16 der Bundesverfassung darüber festsetzt. Wo ausnahmsweise und für den ersten drängenden Augenblick ein Kanton in eine Lage versetzt wird, wo er glaubt, auf die Anwendung dss gleichen Rechtes einen Anspruch zu haben, da kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Bund Recht und Pflicht hat, Kenntniß davon zu nehmen und über Zuläßigkeit, Maß und Dauer der ausnahmsweisen Maßnahmen das entscheidende Wort zu reden. Hierüber waltet, wie oben gezeigt worden, zur Stunde um so weniger mehr ein Widerspruch, als die Regierung des einzigen Kantons, der eine Zeit lang nicht ganz diese Auffassung zu theilen schien, seither dieÄlichtigkeit derselben ausdrücklich und fraglos anerkannt hat.

Wir sind damit am Schlüsse unserer Berichterstattung angelangt und legen Ihnen, in kurzer Zusammenfassung der darin niedergelegen Ansichten, den nachfolgenden motivirten Beschlusses-Entwurf vor, dessen Genehmigung wir Ihnen einmüthig empfehlen.

Mit Hochschätzung!

B e r n , den 24. Juni 1875.

Namens der Commission, Der Berichterstatter:

Dr. J. Heer.

Die am 16. Juni vom Nationalrathe gewählte Commission bestand aus den Herren H e e r , H a b e r s t i c h , E s c h e r , Ziegler, Hu:agerbühler, S t o f f e l und B a r m a n .

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(Entwurf)

Bundesbeschluss betreffend

den Rekurs der Regierung des Kantons Bern gegen den Bundesrathsbeschluss vom 31. Mai 1875, betreffend das Ausweisungsdekret der bernischen Regierung vom 30. Januar 1874.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht eines Beschlusses des Bundesrathes vom 31. Mai 1875, durch welchen die Regierung von Bern eingeladen wird, das von ihr unter dem 30. Januar 1874 erlassene Dekret, betreffend Ausweisung mehrerer katholischer Geistlicher aus den Amtsbezirken des Jura, binnen einer Frist von zwei Monaten außer Kraft zu sezen ; sowie nach Einsicht eines Rekurs-Memorials der Regierung von Bern vom 10. Juni 1875, mittelst dessen dieselbe bei der Bundesversammlung das Begehren um Kassation des vorgedachten bundes.räthlichen Entscheides stellt; ein E r w ä g u n g : 1. Das angefochtene Dekret der Regierung von Bern vom 30. Januar 1874 ist unter der Herrschaft der Bundesverfassung von 1848 erlassen und es ist durch den bundesräthlichen Rekursbescheid vom 27. März 1875 anerkannt worden, daß dasselbe anBundesblatt. Jahrg. XXVII. Bd. III.

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(il2 gesichts der Vorschriften jener Verfassung nicht als uuzuläßig betrachtet werden kann.

2. Die Notwendigkeit der nunmehrigen Aufhebung des Dekrets, welches als eine Ausnahmsmaßregel nur einen vorübergehenden Charakter haben kann, braucht nicht erst nachgewiesen /,n werden., da die Regierung von Bern sich damit einverstanden erklärt, daß dasselbe außer Kraft zu sezen sei.

3. Es kann nicht von dem Standpunkte ausgegangen werden, daß das Dekret infolge der bloßen Thatsache des Inkrafttretens der Bundesverfassung von 1874 als dahingefallen zu betrachten sd: vielmehr muß, wenn das Dekret aufgehoben werden soll, liicfür eine angemessene Frist anberaumt werden, welche gestattet, dasselbe ohne Gefährdung der öffentlichen Ordnung außer Wirksamkeit treten zu lassen.

4. Die Regierung von Bern wünscht die Aufhebung des Dekrets bei Gelegenheit der Erlassung eines im Wurfe liegenden neuen Gesezes betreffend die Störung des religiösen Friedens zu bewerkstelligen. Dieses Gesez kann aber gemäß den Vorschriften der Verfassung des Kantons Bern nicht vor Ende Oktober nächstkünftig erlassen werden.

5. Es bestehen keine hinreichenden Gründe, dem von der Regierung von Bern geäußerten Wunsche nicht zu entsprechen.

Wenn wider Erwarten das in Aussicht genommene Gesetz nicht zu Stande kommen sollte, so bleibt selbstverständlich die vom Bundesrathe an die Regierung von Bern gerichtete Einladung zur Aufhebung des Dekretes vom 30. Januar 1874 in voller Wirksamkeit.

6. Bei so bewandten Umständen ist es nicht nöthig, das Verhältniß des angefochtenen Dekretes zu deu Vorschriften der Bundesverfassung von 1874 des Nähern zu erörtern. Immerhin muß, ils Richtschnur für die Zukunft, an dem Saze festgehalten werden, daß der Art. 50, Absatz 2 der Bundesverfassung für die in demselben behandelten Verhältnisse kein ausnahmsweises Recht begründet; daß vielmehr die darin vorgesehenen, den Kantonen, sowie dem Bunde vorbehaltenen geeigneten Maßnahmen sich innerhalb der durch die Bundesverfassung gezogenen Schranken zu bewegen haben.

Diesem Saze gegenüber ist nur der anormale, der Natur der Saclie nach in der Bundesverfassung nicht besonders vorgesehene Fall einer K o t hl: a. g e vorzubehalten, in welche der Staat nicht blos aus den mit Art. 50 der Bundesverfassung zusammenhängenden,, .sondern auch aus andern Gründen gerathen und in der er zur

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Ergreifung außerordentlicher Maßregeln gezwungen werden kann; und es ist auch dieser Vorbehalt in dem Sinne zu verstehen, daß, falls solche außerordentliche Maßregeln von den K a n t o n e n ergriffen werden, den Bundesbehörden über die Zuläßigkeit derselben, sowie über die Dauer der Zeit, während welcher sie Anwendung finden dürfen, das Recht der Prüfung und der endgültigen Entscheidung zukommt; beschließt: 1. Es hat bei Dispositiv l, Absatz l des rekurrirten Beschlusses des Bundesrathes, gemäß welchem die Regierung von Bern eingeladen wird, ihren Beschluß vom 30. Januar 1874, betreffend Entfernung einer Anzahl katholischer Priester aus den jurassischen Amtsbezirken, aufzuheben, sein Verbleiben.

2. Dagegen wird die in Dispositiv l, Absatz 2 des bundesräthlichen Beschlusses der Regierung von Bern für die Aufhebung ihres Beschlusses anberaumte Frist bis Mitte November laufenden Jahres erstrekt.

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# S T #

Nachträglicher Bericht des

Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung, betreffend die Gewährleistung der Verfassung des Kantons Basel-Stadt.

(Vom 25. Juni 1875.)

Tit.!

Mit Zuschrift vom 12. Juni abbin hat uns der Ständerath mit Rüksicht auf die Verwahrung der römisch-katholischen Gemeinde in Basel gegen die Genehmigung von Art. 12 der neuen Verfassung des Kantons Basel-Stadt zu einer bezüglichen Ergänzung unserer Botschaft vom 28. Mai 1875 eingeladen.

Nachdem wir auch die Regierung von Basel-Stadt angehört haben, beeilen wir uns, Ihnen hiemit den gewünschten ergänzenden Bericht zu erstatten.

Die Eingabe der Vorstellerschaft der römisch-katholischen Gemeinde in Basel, datirt vom 8. Juni, umfaßt bloß den ersten Theil des Imprimates, welches sie den Mitgliedern der eidg. Räthe hat austheilen lassen. Der in diesem Imprimate enthaltene ,,Nachtrag" ist dem Bundesrathe nicht schriftlich übergeben worden. Er ist daher der Regierung von Basel-Stadt auch nicht zur Beantwortung vorgelegen. Wir glauben indeß, über diese formelle Unregelmäßigkeit hinweggehen zu dürfen, da die rechtliche Begründung, zu welcher der ,,Nachtrag" vorzugsweise bestimmt zu sein scheint,

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht der nationalräthlichen Kommission über den Rekurs der Regierung des Kantons Bern gegen den Bundesrathsbeschluss vom 31. Mai 1875, betreffend das Ausweisungsdekret der bernischen Regierung vom 30. Januar 1874. (Vom. 24. Juni 1875.)

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Bundesblatt

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Jahr

1875

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

28

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

03.07.1875

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595-614

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10 008 692

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