13.086 Botschaft zur Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» vom 23. Oktober 2013

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft beantragen wir Ihnen, die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» Volk und Ständen zur Abstimmung zu unterbreiten mit der Empfehlung, die Volksinitiative abzulehnen.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

23. Oktober 2013

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Ueli Maurer Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2013-1616

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Übersicht Die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» verlangt eine grundsätzliche Neuausrichtung der schweizerischen Zuwanderungspolitik und der bewährten Praxis der Schweiz im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Ziel, die natürlichen Lebensgrundlagen in der Schweiz und im Ausland dauerhaft sicherzustellen. Die vorgeschlagenen Massnahmen sind weder mit dem Freizügigkeitsabkommen noch mit dem EFTAÜbereinkommen vereinbar. Eine Annahme der Volksinitiative stellt somit die bewährten bilateralen Beziehungen der Schweiz zu ihren europäischen Partnerländern in Frage und schadet der Schweizer Wirtschaft. Sie führt zudem zu einem beträchtlichen bürokratischen Mehraufwand.

Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit stellt sich bereits den Herausforderungen, auf welche die Volksinitiative abzielt, beispielsweise auf den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Eine verstärkte Fokussierung der Mittel auf den Bereich der Familienplanung würde sich kaum auf die Ziele der Volksinitiative auswirken und stünde im Gegensatz zur bewährten Praxis der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.

Der Bundesrat beantragt der Bundesversammlung, die Volksinitiative Volk und Ständen ohne Gegenentwurf zu unterbreiten mit der Empfehlung, sie abzulehnen.

Inhalt der Volksinitiative Die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» wurde am 2. November 2012 bei der Bundeskanzlei eingereicht.

Sie bezweckt die dauerhafte Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Schweiz und im Ausland. Dies soll erreicht werden, indem das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung auf jährlich 0,2 % begrenzt wird und 10 % der Mittel des Bundes für die Entwicklungszusammenarbeit in die freiwillige Familienplanung fliessen.

Vorzüge und Mängel der Volksinitiative Die von der Volksinitiative vorgeschlagene Begrenzung der Zuwanderung würde die Zulassung ausländischer Personen in der Schweiz stark einschränken. Die Rekrutierung von Arbeitskräften insbesondere aus der EU/EFTA wäre stark eingeschränkt.

Dies würde sich massgeblich auf das Wirtschaftswachstum der Schweiz auswirken.

Die Zuwanderung wird heute in erster Linie durch die wirtschaftliche Situation der Schweiz und die damit verbundene Nachfrage
insbesondere nach qualifizierten Arbeitskräften beeinflusst und gesteuert. Die Schweizer Arbeitgeber könnten ihren Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr decken, denn es müssten grosse Kontingente freigehalten werden, damit die Schweiz in erster Linie ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen kann. Obwohl die Volksinitiative sich so auslegen lässt, dass sie den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts nicht widerspricht, müsste bei ihrer Umsetzung gewährleistet sein, dass das Non-Refoulement-Gebot sowie weitere

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Verpflichtungen der Schweiz in Bezug auf die Menschenrechte und die Zulassung aus humanitären Gründen eingehalten werden.

Eine Annahme der Volksinitiative ginge also einher mit der Festlegung von Kontingenten für alle Kategorien von Aufenthaltsbewilligungen, die länger als ein Jahr gültig sind. Prioritär würden Kontingente festgelegt, die sich aus der Einhaltung des Non-Refoulement-Gebots und der anderen Verpflichtungen der Schweiz in Bezug auf die Menschenrechte und die Zulassung aus humanitären Gründen ergeben. Demgegenüber wären die Kriterien für die Verteilung der Kontingente auf die verschiedenen Aufenthaltskategorien, für die keine völker- oder vertragsrechtlichen Verpflichtungen bestehen, nur sehr schwer zu bestimmen. Folglich würde ein erheblicher bürokratischer Mehraufwand entstehen. Zur Umsetzung der Volksinitiative müssten aufwendige und arbeitsintensive Verfahren für die Festlegung der Kontingente und die Erteilung von Kontingentseinheiten in den einzelnen Fällen eingeführt werden.

Der Bundesrat möchte die gegenwärtige Migrationspolitik der Schweiz, die einerseits auf dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) und dem EFTA-Übereinkommen und andererseits auf der beschränkten Zulassung von Angehörigen der übrigen Staaten beruht, beibehalten. Dieses duale Zulassungssystem hat sich bewährt. Allfälligen negativen Auswirkungen möchte der Bundesrat mit den notwendigen Massnahmen begegnen.

Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, welches das Land vor neue Herausforderungen stellt. Die starke Zuwanderung erhöht in verschiedenen Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Auch wenn mit der Annahme der Volksinitiative die reguläre Zuwanderung in die Schweiz verringert werden könnte, ist sie kein geeignetes Instrument.

Wenn durch die Annahme der Volksinitiative die reguläre Zuwanderung stark begrenzt wird, könnte dies zu einer höheren irregulären Einwanderung führen.

Bei einer Annahme der Volksinitiative müsste auch davon ausgegangen werden, dass das FZA und das EFTA-Übereinkommen nicht mehr weitergeführt werden können. Eine Kündigung des FZA hätte gravierende Konsequenzen für die Schweizer Volkswirtschaft, denn die EU ist unser wichtigster Handelspartner. Die Kündigung
des FZA hätte zur Folge, dass die Abkommen der Bilateralen I, die unter die Guillotine-Klausel fallen, ebenfalls nicht mehr anwendbar wären; eine solche Kündigung könnte sich indirekt auch auf andere bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und der EU auswirken. Die Initiative steht zudem in einem Spannungsverhältnis mit weiteren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.

Die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit stellt sich bereits heute den Herausforderungen, auf welche die Volksinitiative abzielt, beispielsweise auf den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Die enge Fokussierung auf Familienplanung, wie sie die Volksinitiative anstrebt, wird den komplexen Herausforderungen der Armut, des Bevölkerungswachstums und der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen in Entwicklungsländern nicht gerecht. Angesichts dieser Herausforderungen muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit vielmehr einen mehrdimensionalen Ansatz bevorzugen.

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Die von der Volksinitiative in diesem Bereich empfohlene Massnahme widerspricht der bewährten Praxis der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, welche die Partnerländer in ihren eigenen Anstrengungen zur Lösung der Armuts- und Entwicklungsprobleme unterstützt und sich an den Prioritäten und dem spezifischen Kontext dieser Länder orientiert.

Das Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sieht bereits Massnahmen vor, die insbesondere die Herstellung und Wahrung des ökologischen und demografischen Gleichgewichts bezwecken. Es bietet genügend Handlungsspielraum, der es erlaubt, auf neue Situationen angemessen zu reagieren.

Eine verstärkte Fokussierung der Mittel des Bundes auf den Bereich der Familienplanung würde sich nur unwesentlich auf die Ziele der Volksinitiative auswirken.

Vielmehr sind verschiedene Ansätze nötig, beispielsweise die Förderung der Bildung oder die Gleichstellung von Frau und Mann.

Antrag des Bundesrates Der Bundesrat beantragt deshalb den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht

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1

8699 8699 8700 8700 8701

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Volksinitiative 1.1 Wortlaut 1.2 Zustandekommen und Behandlungsfristen 1.3 Gültigkeit 1.3.1 Einheit der Materie 1.3.2 Vereinbarkeit mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts 1.3.2.1 Begriff der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts 1.3.2.2 Vereinbarkeit der Einführung einer Begrenzung der Zuwanderung im Asylbereich mit dem Non-Refoulement-Prinzip 1.3.3 Schlussfolgerung

8703 8703 8704 8705

2

Ausgangslage 2.1 Zulassungssystem 2.1.1 Historische Entwicklung der Zulassung 2.1.2 Das heutige Zulassungssystem 2.1.2.1 Zulassung im ausländerrechtlichen Bereich 2.1.2.2 Zulassung im Asylbereich 2.1.3 Eingereichte Volksinitiativen 2.1.4 Wichtigste Auswirkungen seit der Einführung des FZA 2.2 Internationale Entwicklungszusammenarbeit 2.2.1 Gesetzliche Grundlagen 2.2.2 Arbeitsgrundsätze 2.2.3 Sexuelle und reproduktive Gesundheit, einschliesslich freiwillige Familienplanung

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3

Ziele und Inhalt der Initiative 3.1 Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen des Initiativtextes 3.1.1 Artikel 73a E-BV 3.1.2 Artikel 197 Ziffer 9 E-BV 3.2 Auslegung des Initiativtextes

8712 8713 8713 8714 8714

4

Würdigung der Volksinitiative 4.1 Anliegen der Volksinitiative 4.1.1 Im Bereich der Migrationspolitik 4.1.2 Im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit 4.2 Auswirkungen einer Annahme der Volksinitiative 4.2.1 Migrationsbereich 4.2.1.1 Beschränkung der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte und Einführung neuer Bewilligungsverfahren

8723 8723 8723

8711

8724 8724 8724 8724 8697

4.3

4.4

5

4.2.1.2 Neuverhandlung des FZA 4.2.1.3 Auswirkungen auf andere Abkommen 4.2.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit 4.2.3 Umsetzung der Volksinitiative 4.2.3.1 Migrationsbereich 4.2.3.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit 4.2.4 Finanzielle und personelle Auswirkungen 4.2.4.1 Migrationsbereich 4.2.4.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit 4.2.4.3 Unterstellung unter die Ausgabenbremse 4.2.5 Inkrafttreten und Übergangsbestimmungen 4.2.5.1 Migrationsbereich 4.2.5.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Mängel der Volksinitiative 4.3.1 Migrationsbereich 4.3.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit 4.3.2.1 Zusammenhang zwischen freiwilliger Familienplanung und Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern 4.3.2.2 Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Ressourcendruck 4.3.2.3 Zusammenhang zwischen Einwanderungsdruck in der Schweiz und Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern 4.3.2.4 Unangemessenheit in Bezug auf die internationale Entwicklungszusammenarbeit 4.3.3 Probleme gezielter angehen als die Volksinitiative 4.3.3.1 Migrationsbereich 4.3.3.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz 4.4.1 Migrationsbereich 4.4.2 Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Schlussfolgerungen

8725 8726 8727 8727 8727 8728 8729 8729 8730 8730 8731 8731 8731 8731 8731 8733 8733 8733 8734 8734 8735 8735 8739 8741 8741 8743 8743

Literaturverzeichnis

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Bundesbeschluss über die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» (Entwurf)

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Botschaft 1

Formelle Aspekte und Gültigkeit der Volksinitiative

1.1

Wortlaut

Die eidgenössische Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» hat folgenden Wortlaut: I Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 73a (neu)

Bevölkerungsanzahl

Der Bund strebt auf dem Gebiet der Schweiz eine Einwohnerzahl auf einem Niveau an, auf dem die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind.

Er unterstützt dieses Ziel auch in anderen Ländern, namentlich im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.

1

Die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz darf infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen.

2

Der Bund investiert mindestens 10 Prozent seiner in die internationale Entwicklungszusammenarbeit fliessenden Mittel in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung.

3

Er darf keine völkerrechtlichen Verträge abschliessen, die gegen die Bestimmungen dieses Artikels verstossen oder Massnahmen verhindern oder erschweren, die zur Erreichung der Ziele dieses Artikels geeignet sind.

4

II Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert: Art. 197 Ziffer 92 (neu) 9. Übergangsbestimmungen zu Artikel 73a (Bevölkerungsanzahl) Nach Annahme von Artikel 73a durch Volk und Stände müssen völkerrechtliche Verträge, die den Zielen dieses Artikels widersprechen, schnellstmöglich angepasst werden, spätestens aber innert vier Jahren. Nötigenfalls sind die betreffenden Verträge zu kündigen.

1

1 2

SR 101 Da die Volksinitiative keine Übergangsbestimmung der Bundesverfassung ersetzen will, erhält die Übergangsbestimmung zum vorliegenden Artikel erst nach der Volksabstimmung die endgültige Ziffer, und zwar aufgrund der Chronologie der in der Volksabstimmung angenommenen Verfassungsänderungen. Die Bundeskanzlei wird die nötigen Anpassungen vor der Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts (AS) vornehmen.

8699

Nach Annahme von Artikel 73a durch Volk und Stände darf die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung im ersten Kalenderjahr nicht um mehr als 0,6 Prozent und im zweiten Kalenderjahr nicht um mehr als 0,4 Prozent zunehmen. Ab diesem Zeitpunkt, und bis die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a in Kraft gesetzt wird, darf die ständige Wohnbevölkerung nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr zunehmen. Eine höhere Zunahme in den Jahren bis zur Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a muss innerhalb von fünf Jahren nach Inkraftsetzung dieser Ausführungsgesetzgebung ausgeglichen werden.

2

1.2

Zustandekommen und Behandlungsfristen

Die eidgenössische Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» wurde am 19. April 2011 von der Bundeskanzlei vorgeprüft3 und am 2. November 2012 mit den nötigen Unterschriften eingereicht.

Mit Verfügung vom 4. Dezember 2012 stellte die Bundeskanzlei fest, dass die Volksinitiative mit 119 816 gültigen Unterschriften zustande gekommen ist.4 Die Volksinitiative hat die Form eines ausgearbeiteten Entwurfs. Der Bundesrat unterbreitet dazu weder einen direkten Gegenentwurf noch einen indirekten Gegenvorschlag. Nach Artikel 97 Absatz 1 Buchstabe a des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 20025 (ParlG) hat der Bundesrat der Bundesversammlung spätestens bis am 2. November 2013 eine Botschaft und den Entwurf eines Bundesbeschlusses zu unterbreiten. Die Bundesversammlung hat nach Artikel 100 ParlG bis zum 2. Mai 2015 über die Abstimmungsempfehlung zu beschliessen.

1.3

Gültigkeit

Die Volksinitiative erfüllt die Anforderungen an die Gültigkeit nach Artikel 139 Absatz 3 der Bundesverfassung6 (BV):

3 4 5 6

a)

Sie ist als vollständig ausgearbeiteter Entwurf formuliert und erfüllt die Anforderungen an die Einheit der Form.

b)

Zwischen den einzelnen Teilen der Initiative besteht ein sachlicher Zusammenhang. Die Initiative erfüllt somit die Anforderungen an die Einheit der Materie (Ziff. 1.3.1).

c)

Die Initiative verletzt keine zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.

Sie erfüllt somit die Anforderungen an die Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht (Ziff. 1.3.2).

BBl 2011 3795 BBl 2012 9786 SR 171.10 SR 101

8700

1.3.1

Einheit der Materie

Das in Artikel 139 Absatz 3 BV verankerte Gültigkeitserfordernis, wonach Volksinitiativen auf Teilrevision der Bundesverfassung den Grundsatz der Einheit der Materie wahren müssen, wird im Bundesgesetz vom 17. Dezember 19767 über die politischen Rechte (BPR) wie folgt umschrieben8: «Die Einheit der Materie ist gewahrt, wenn zwischen den einzelnen Teilen einer Volksinitiative ein sachlicher Zusammenhang besteht».

Durch die Zusammenfassung mehrerer Begehren in einer Volksinitiative, die keinen sachlichen Zusammenhang aufweisen, sind die Stimmberechtigten gezwungen, die ganze Volksinitiative anzunehmen oder abzulehnen, obwohl sie vielleicht nur einen Teil der Volksinitiative unterstützen. Nur wenn eine Volksinitiative auf eine Materie beschränkt ist, können die Stimmberechtigten ihren Willen differenziert zum Ausdruck bringen. Der Grundsatz der Einheit der Materie soll also den verfassungsrechtlichen Anspruch der Stimmberechtigten auf freie und unverfälschte Willensbildung und -kundgabe schützen. Bei der massgebenden Voraussetzung des «sachlichen Zusammenhangs» handelt es sich um einen offenen Rechtsbegriff, der den Behörden einen weiten Ermessensspielraum belässt.

Die Bundesversammlung nutzt in ihrer Praxis diesen Ermessensspielraum nach dem Grundsatz «in dubio pro populo», was bedeutet, dass sie im Zweifelsfall zugunsten der Volksrechte entscheidet und eine Verletzung des Grundsatzes der Einheit der Materie verneint.9 So soll verhindert werden, dass das Initiativrecht zu sehr eingeschränkt wird. Bei der Beurteilung kantonaler Volksinitiativen geht das Bundesgericht mit dem Kriterium des sachlichen Zusammenhangs zwar etwas strenger, aber im Ergebnis immer noch grosszügig um.10 Die bundesgerichtliche Praxis betont, «dass der Grundsatz [der Einheit der Materie] von relativer Natur und vor dem Hintergrund der konkreten Verhältnisse zu betrachten ist».11 Das Stimmvolk hat keinen verfassungsmässigen Anspruch, dass ihm einzelne oder etwa besonders wichtige Teile einer Vorlage separat zur Abstimmung unterbreitet werden.12 Weil die Beurteilung eidgenössischer Volksinitiativen abschliessend der Bundesversammlung obliegt, kommt allerdings die erwähnte bundesgerichtliche Praxis hier nicht direkt zum Tragen.

Gemäss vorliegendem Initiativtext soll der Bund auf dem Gebiet der Schweiz eine Einwohnerzahl auf
einem Niveau anstreben, auf dem die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind (Art. 73a Abs. 1 erster Satz des Initiativtextes, E-BV). Dieses Ziel der dauerhaften Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen soll der Bund auch in anderen Ländern unterstützen, namentlich im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (Art. 73a Abs. 1 zweiter Satz E-BV).

Die Initiantinnen und Initianten betrachten die Bevölkerungszahl in der Schweiz und auch weltweit als eine der wichtigsten Ursachen für die Belastung der Umwelt und damit für die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Volksinitiative erachtet die ökologischen Kapazitäten und die Ressourcen der Erde unabhängig von 7 8 9 10 11 12

SR 161.1 Art. 75 Abs. 2 BPR Vgl. Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1, hier 433.

Vgl. statt vieler BGE 130 I 185 (Kanton Genf); 129 I 366 (Kanton Zürich).

BGE 129 I 366 E. 2.3 S. 372 BGE 129 I 366 E. 4

8701

Staatsgrenzen als beschränkt. Daher soll die Schweiz sowohl national als auch international aktiv sein, um den Bevölkerungsdruck zu reduzieren und das oben erwähnte Ziel zu erreichen.

Die Volksinitiative fokussiert auf ein Ziel: die dauerhafte Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Schweiz und in anderen Ländern. Sie ist damit hinreichend eng auf ein Thema eingegrenzt. Die Schonung natürlicher Lebensgrundlagen durch Stabilisierung der Bevölkerungszahl kann als eine politische Frage verstanden werden. Die Volksinitiative verknüpft folglich nicht mehrere selbstständige politische Ziele.

Um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, will die Volksinitiative den Bund auf zwei Massnahmen verpflichten: ­

Zuwanderungsbegrenzung in die Schweiz: Diese Massnahme soll einen Beitrag zur Stabilisierung oder zum lediglich geringfügigen Wachstum der Bevölkerung und damit auch einen Beitrag zur Sicherstellung und Schonung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Schweiz leisten.

­

Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung: Durch eine Reduktion der Geburtenzahlen soll auf die Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen in anderen Ländern hingewirkt werden. Ferner soll diese Massnahme auch dazu dienen, den Migrationsdruck in die Schweiz zu mildern und damit einen Beitrag zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl in der Schweiz leisten.

Das Gültigkeitserfordernis der Einheit der Materie ist vorliegend gegeben, weil die einzelnen Massnahmen auf die Verwirklichung des gleichen Ziels ausgerichtet sind und somit einen hinreichenden sachlichen Zusammenhang begründen. Das Ziel der dauerhaften Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen ist das verbindende Glied zwischen den beiden Massnahmen. Der Grad der Wirksamkeit der Massnahme zur Förderung der freiwilligen Familienplanung (tatsächlicher Beitrag zur Milderung des Migrationsdrucks) ist für die Beurteilung der vorliegenden Rechtsfrage unerheblich, jedenfalls solange diese Massnahme nicht offensichtlich kontraproduktiv ist.

Unerheblich ist ebenfalls, ob die Volksinitiative in den Bereichen Familienpolitik, Armutsbekämpfung und Ressourcennutzung in Armuts- und Entwicklungsregionen von vereinfachten Sachzusammenhängen ausgeht. Solche Fragen bedingen eine politische Wertung, die den Stimmbürgerinnen und -bürgern obliegt.

Die Kombination der Massnahmen kann ferner nicht bloss als «künstlich geschaffen» oder «rein abstimmungspsychologisch motiviert» eingestuft werden.13 Es sind denn auch kaum Verfassungsvorlagen denkbar, die nur ein einzelnes Regelungselement aufweisen. Illustrative Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, bei denen die Einheit der Materie als klar gegeben eingestuft wurde, sind etwa die Abzocker-, die Bauspar- und die Zweitwohnungsinitiative14. Die Forderung nach einem Regelungselement wäre im Übrigen auch realitätsfremd: Zur Lösung politischer Probleme sind regelmässig mehrere Massnahmen erforderlich, damit ein angestrebtes Ziel überhaupt wirksam umgesetzt werden kann. Dass die Massnahmen allenfalls auch separat getroffen werden könnten, bedeutet nicht, dass der notwendige sachliche Zu13

14

So die Terminologie des Bundesgerichts bei der Beurteilung kantonaler Volksinitiativen (vgl. die Hinweise bei Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 3. Aufl., Bern 2011, § 52 N. 44, 46).

Vgl. BBl 2009 299, hier 305; 2009 6975, hier 6983; 2008 8757, hier 8760.

8702

sammenhang entfällt, sobald die Massnahmen in einer Volksinitiative verbunden werden.

Somit besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Ziel und den verschiedenen Massnahmen, welche die Volksinitiative vorsieht. Die Einheit der Materie ist daher gewahrt. Dieser Befund liegt auf der Linie der bisherigen Praxis sowohl des Bundesrates als auch der Bundesversammlung.

1.3.2

Vereinbarkeit mit zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts

Zwingende Bestimmungen des Völkerrechtes umfassen die Fundamentalnormen des Völkerrechts, von denen keine Abweichung zulässig ist. Sie stellen eine materielle Schranke für Verfassungsrevisionen dar. Ein solcher Verstoss gegen die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts und damit ein Ungültigkeitsgrund gemäss Artikel 139 Absatz 3 BV liegt aber nur vor, wenn eine völkerrechtskonforme Auslegung des Initiativtextes nicht möglich ist, mithin ein offener Normkonflikt besteht.

Dies kam bisher erst einmal vor: Die 1992 eingereichte Volksinitiative «für eine vernünftige Asylpolitik» wurde 1996 wegen Verletzung des völkerrechtlichen NonRefoulement-Gebots durch die Bundesversammlung für ungültig erklärt und Volk und Ständen nicht zur Abstimmung unterbreitet.15

1.3.2.1

Begriff der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts

Der Begriff «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts»16 knüpft vorab an das zwingende Völkerrecht (ius cogens) an. Dazu zählen namentlich die Grundzüge des humanitären Völkerrechts («Recht im Krieg») sowie das Gewaltverbot der UNOCharta, das Verbot von Völkermord, Folter, Sklaverei sowie der Ausschaffung in einen Staat, in dem der betroffenen Person Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht («Non-Refoulement-Gebot», vgl. Art. 25 Abs. 2 und 3 BV, Art. 33 des Abkommens vom 28. Juli 195117 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Art. 3 der Europäischen Konvention vom 4. November 195018 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 198419 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe). Unter den Begriff der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» fallen schliesslich auch die notstandsfesten Garantien der EMRK und des Internationalen Pakts vom 16. Dezember 196620 über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II).

15 16

17 18 19 20

BBl 1994 III 1496 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 1996 I 1355 (Bundesbeschluss).

Vgl. eingehend dazu den Zusatzbericht des Bundesrates vom 30. März 2011 zu seinem Bericht vom 5. März 2010 über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht (BBl 2011 3613, hier 3625 ff., Ziff. 2.4.1).

SR 0.142.30 SR 0.101 SR 0.105 SR 0.103.2

8703

1.3.2.2

Vereinbarkeit der Einführung einer Begrenzung der Zuwanderung im Asylbereich mit dem Non-Refoulement-Prinzip

Gemäss der Volksinitiative darf die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen. Bei der Auslegung des Begriffs «ständige Wohnbevölkerung» ist vor allem das zweckorientierte Auslegungselement aussagekräftig, weil die neue Verfassungsnorm (Art. 73a Abs. 1 E-BV) eine Einwohnerzahl auf einem Niveau anstrebt, auf dem die dauerhafte Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen als Ziel definiert ist. Daraus lässt sich für den Begriff der ständigen Wohnbevölkerung folgern, dass (sehr) kurze Aufenthalte nicht zu berücksichtigen sind und die Nationalität und der Aufenthaltsstatus bei ausländischen Personen grundsätzlich unerheblich sind. Die Volksinitiative schliesst damit auch Personen des Asylbereichs ein, da diese vom Ausland in die Schweiz zuwandern und ­ jedenfalls teilweise ­ vom Begriff der ständigen Wohnbevölkerung erfasst sind.21 In einem konkreten Fall könnte die Verweigerung des Aufenthalts in der Schweiz aufgrund bereits ausgeschöpfter Zuwanderungskontingente im Widerspruch zum Non-Refoulement-Gebot stehen. Es ist daher zu prüfen, ob der Initiativtext gegen das Non-Refoulement-Gebot verstösst.

Bisher bestehen im humanitären Bereich, namentlich im Asylbereich und bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen bei schwerwiegenden persönlichen Härtefällen, keine zahlenmässigen Zulassungsbeschränkungen (Ziff. 2.1.2.1). Der Verfassungsentwurf äussert sich nicht näher zur Umsetzung; die geforderte Zulassungsbeschränkung ist als Auftrag an die Bundesbehörden formuliert: Ihnen verbleibt ein Gestaltungsspielraum beispielsweise bei der Festlegung der notwendigen Kontingente im Ausländer- und im Asylbereich. Im Übrigen muss die Zulassungsbegrenzung von 0,2 Prozent jeweils nur im Durchschnitt der letzten drei Jahre erfüllt sein; ein Überschreiten der Begrenzung in einem bestimmten Jahr wäre demnach möglich. Dies erlaubt eine gewisse Flexibilität in der Umsetzung der Volksinitiative. Da derzeit rund 88 000 Personen pro Jahr zugelassen werden könnten (Ziff. 3.2) und momentan von jährlich 24 000 neuen Asylgesuchen pro Jahr ausgegangen wird (wobei nur ein Teil der Asylsuchenden tatsächlich länger als ein Jahr anwesend ist), könnte mit einer entsprechenden Prioritätensetzung selbst bei einer starken Zunahme der Asylgesuche das Non-Refoulement-Gebot
gewahrt werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass dieses Gebot, weil es zum zwingenden Völkerrecht zählt, auch beachtet werden müsste, wenn die Höchstgrenze der Zuwanderung bereits erreicht wäre.

In diesem Sinn wurde auch bei der von Volk und Ständen abgelehnten Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung» argumentiert, die den Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung an der gesamten Wohnbevölkerung generell auf 18 Prozent begrenzen wollte und somit noch an deutlich engere Vorgaben gebunden war als die vorliegende Volksinitiative. Bei der Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung» wurde die Gültigkeit der Volksinitiative ebenfalls mit einem gewissen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung begründet, der die Berücksichtigung des Non-Refoulement-Gebots ermögliche. Darüber hinaus wurde die Meinung vertreten, dass ein kurzfristiges Überschreiten der 18-Prozent-Grenze erlaubt sei unter der Voraussetzung, dass gleichzeitig alle möglichen Massnahmen ergriffen würden, um

21

Vgl. Ziff. 3.2

8704

die vorgegebene Grenze wieder zu erreichen (z. B. grundsätzlicher Bewilligungsstopp).22 Im Ergebnis wäre es somit bei Annahme der Volksinitiative möglich, diese unter Einhaltung des Non-Refoulement-Gebots umzusetzen.

1.3.3

Schlussfolgerung

Die Volksinitiative erfüllt die Voraussetzung der Einheit der Form. Das Gültigkeitserfordernis der Einheit der Materie ist ebenfalls erfüllt, und die Volksinitiative kann in einer Weise ausgelegt werden, die mit den zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (Non-Refoulement-Gebot) vereinbar ist.

Die Umsetzung der Volksinitiative wäre zwar mit erheblichen wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und technischen Schwierigkeiten verbunden. Diese Schwierigkeiten sind jedoch nicht derart gross, dass die Volksinitiative den (ungeschriebenen) Ungültigkeitsgrund der faktischen Undurchführbarkeit erfüllen würde.

2

Ausgangslage

2.1

Zulassungssystem

2.1.1

Historische Entwicklung der Zulassung

Bis zur Mitte der 1960er-Jahre verfolgte der Bundesrat eine liberale Zulassungspraxis. In den 1960er-Jahren kam es jedoch als Folge des raschen Wirtschaftswachstums zu einem erheblichen Anstieg der ausländischen Wohnbevölkerung. Der Bundesrat beschränkte aus diesem Grund die Zulassung, indem er den maximalen Ausländerbestand pro Betrieb durch Verordnungen begrenzte. 1970 wurde diese betriebsweise Plafonierung durch eine generelle Begrenzung aller neu einreisenden erwerbstätigen Ausländerinnen und Ausländer ersetzt. Im Zuge der wirtschaftlichen Hochkonjunktur während der 1980er-Jahre nahm die ausländische Wohnbevölkerung erneut zu (1980: 14,8 %; 1990: 18,1 %). Zwischen 1991 und 1998 ersetzte der Bundesrat seine bisherige Zulassungsregelung («Drei-Kreise-Modell») schrittweise durch ein duales Zulassungssystem, das bei der Zulassung nur noch zwischen den Staaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) einerseits sowie den übrigen Staaten andererseits unterscheidet und grundsätzlich heute noch gilt.23 Am 21. Juni 1999 wurde das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA)24 als Teil der Bilateralen Abkommen I unterzeichnet. Das Schweizer Volk hat am 21. Mai 2000 die Bilateralen Abkommen I mit 67,2 Prozent der Stimmen angenommen.25 Das FZA trat am 1. Juni 2002 in Kraft.

22 23 24 25

BBl 1997 IV 521, Ziff. 154.2 BBl 1991 III 291 SR 0.142.112.681 BBl 2000 3773

8705

Am 24. September 2006 wurde das neue Ausländergesetz vom 16. Dezember 200526 (AuG) mit 68 Prozent Ja-Stimmen vom Schweizervolk angenommen.27 Neben der Verankerung des dualen Zulassungssystems auf Gesetzesstufe wurden mit dem AuG insbesondere neue Bestimmungen über die Integration, den Familiennachzug sowie zur Bekämpfung der Umgehung der Zulassungsbestimmungen eingeführt. Das AuG trat am 1. Januar 2008 in Kraft.

Migrationspolitisch bedeutsam ist heute zudem die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Rahmen der Schengen-Abkommen (Grenzkontrollen, Visa, polizeiliche Zusammenarbeit, justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) sowie DublinAbkommen (Zuständigkeitsregelung für Asylverfahren). Die entsprechenden Assoziierungsabkommen28 wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet, und die praktische Zusammenarbeit begann grundsätzlich am 12. Dezember 2008.29

2.1.2

Das heutige Zulassungssystem

Die Schweiz kennt heute im ausländerrechtlichen Bereich ein duales Zulassungssystem, das zwischen Personen aus EU/EFTA-Staaten sowie Personen aus Drittstaaten unterscheidet.

Die Schweizer Asylpolitik orientiert sich ihrerseits an den Grundsätzen des Abkommens vom 28. Juli 195130 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention).

2.1.2.1

Zulassung im ausländerrechtlichen Bereich

Zulassung von europäischen Staatsangehörigen Aus den EU/EFTA-Staaten können heute qualifizierte und weniger qualifizierte Erwerbstätige rekrutiert werden. Die Zuwanderung dieser Personen richtet sich nach dem FZA und dem Übereinkommen vom 4. Januar 196031 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA-Übereinkommen). Das FZA ist ein Kernstück der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU und damit zentral für die Beziehungen der Schweiz zur EU.

26 27 28

29 30 31

SR 142.20 BBl 2006 9455 Abkommen vom 26. Okt. 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (SAA, SR 0.362.31); Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags (DAA, SR 0.142.392.68).

Für nähere Informationen hierzu siehe Botschaft des Bundesrates vom 7. Dezember 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291, hier 300­302.

SR 0.142.30 SR 0.632.31

8706

Das FZA und das revidierte EFTA-Übereinkommen sind seit dem 1. Juni 2002 für die Staatsangehörigen der alten Mitgliedstaaten der EU (EU-15) und der Mitgliedstaaten der EFTA in Kraft. Am 1. April 2006 wurde das FZA auf die zehn Staaten ausgedehnt, die der EU am 1. Mai 2004 beigetreten waren (EU-8; Zypern und Malta wurden unmittelbar in die Regelung für die alten Mitgliedstaaten eingebunden, die damit zur EU-17 wurden). Am 8. Februar 2009 hat das Schweizervolk die Weiterführung des FZA und das zweite Protokoll zu diesem Abkommen (Protokoll II) gutgeheissen, mit dem dieses auf Bulgarien und Rumänien erweitert wurde.32 Seit dem 1. Juni 2009 ist das FZA auch auf diese beiden neuen Mitgliedstaaten (EU-2) anwendbar.

Seit einigen Jahren gilt für Staatsangehörige der alten EU-Mitgliedstaaten, von Zypern und Malta (EU-17) sowie der EFTA die vollständige Personenfreizügigkeit.

Seit dem 1. Mai 2011 geniessen die Staatsangehörigen der EU-8 ebenso die vollständige Personenfreizügigkeit, die nunmehr für alle Staaten der EU-25/EFTA (EU-17 + EU-8 + EFTA) gilt. Für Staatsangehörige aus Bulgarien und Rumänien gelten bis spätestens 31. Mai 2016 weiterhin Zulassungsbeschränkungen.

Die Schweiz hat während einer begrenzten Zeit die Möglichkeit, bei einer übermässigen Zuwanderung von EU-Arbeitskräften (mehr als 10 % des Durchschnitts der drei vorangegangenen Jahre) aufgrund der Ventilklausel wieder Kontingente einzuführen (Art. 10 Abs. 4, 4a und 4c FZA). Am 18. April 2012 hat der Bundesrat entschieden, die Ventilklausel zu aktivieren und für ein Jahr Kontingente für Aufenthaltsbewilligungen (Ausweis B) für Staatsangehörige der EU-8 festzusetzen. Diese Massnahme trat am 1. Mai 2012 in Kraft und galt vorerst für ein Jahr. Davon betroffen waren Personen aus den EU-8-Staaten, die über einen Arbeitsvertrag in der Schweiz mit überjähriger oder unbefristeter Dauer verfügen oder sich als Selbstständigerwerbende neu in der Schweiz niederlassen wollten. Am 24. April 2013 beschloss der Bundesrat, diese Massnahme ab dem 1. Mai 2013 zu verlängern.

Ausserdem wurde die Kontingentierung ab dem 1. Juni 2013 auf Aufenthaltsbewilligungen (Ausweis B) für Arbeitnehmende aus der EU-17 ausgedehnt. Diese Massnahmen gelten für ein Jahr. Die Ventilklausel kann gegenüber der EU-25 nicht mehr angerufen werden. Für Bürgerinnen und Bürger von
Bulgarien und Rumänien ist eine Anrufung der Ventilklausel noch bis am 31. Mai 2019 möglich.

Am 1. Juli 2013 ist Kroatien als 28. Mitgliedstaat der EU beigetreten. Es ist vorgesehen, dass das FZA aufgrund eines neuen Protokolls zum Abkommen (Protokoll III) auf Kroatien erweitert wird. Dies erfordert die Verabschiedung eines referendumsfähigen Bundesbeschlusses durch das Schweizer Parlament. Die Delegationschefs haben das Protokoll III am 15. Juli 2013 paraphiert.33 Zulassung von Drittstaatsangehörigen Die Zulassung von erwerbstätigen Personen aus Drittstaaten wird im AuG geregelt.

Sie beschränkt sich auf dringend benötigte und gut qualifizierte Arbeitskräfte, deren langfristige berufliche und soziale Integration gesichert erscheint. Zudem bestehen Höchstzahlen, die vom Bundesrat jährlich festgelegt werden (Art. 20 AuG) ­ für das 32 33

BBl 2009 1671 Für nähere Informationen zur historischen Entwicklung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU siehe Botschaft des Bundesrates vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291; vgl. auch die Anhänge 1 und 2 der Verordnung vom 24. Okt. 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR 142.201).

8707

Jahr 2013 3500 Aufenthalts- und 5000 Kurzaufenthaltsbewilligungen.34 Es besteht auch ein Vorrang der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Angehörigen der Staaten, mit denen ein Freizügigkeitsabkommen abgeschlossen wurde (Art. 21 AuG). Im Weiteren müssen die üblichen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden (Art. 22 AuG).

Ausnahmen von diesen strengen Zulassungsvorschriften sind insbesondere beim Familiennachzug, für Ausbildungsaufenthalte sowie aus wichtigen humanitären Gründen möglich (Art. 27­30 und 42­52 AuG). Für diese Fälle bestehen Zulassungsvorschriften; zurzeit sind aber keine Höchstzahlen vorgesehen.

2.1.2.2

Zulassung im Asylbereich

Die Schweizer Asylpolitik orientiert sich an den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer in seinem Heimatstaat nach den völkerrechtlich anerkannten Kriterien bedroht oder verfolgt wird, erhält in der Schweiz Asyl. Die Voraussetzungen dafür sind im Asylgesetz vom 26. Juni 199835 (AsylG) festgelegt.

Im Gegensatz zur Zulassung von Erwerbstätigen ausserhalb der EU/EFTA-Staaten bestehen heute für den Asylbereich auch nach zahlreichen Revisionen des Asylgesetzes keine Höchstzahlen, wie dies die Volksinitiative grundsätzlich verlangt. Die Anzahl von Asylsuchenden ist nicht vorhersehbar. Zudem besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Prüfung von Asylgesuchen.

Die Bundesversammlung hat am 28. September 2012 eine dringliche Änderung des Asylgesetzes beschlossen, die am 29. September 2012 in Kraft getreten ist.36 Nachdem das Referendum am 22. Januar 201337 zusammengekommen war, wurde die Vorlage am 9. Juni 2013 dem Volk zur Abstimmung unterbreitet und mit 78,4 Prozent der Stimmen angenommen.38 Am 14. Dezember 2012 hat die Bundesversammlung weitere Änderungen des Asylgesetzes beschlossen.39 Diese treten voraussichtlich am 1. Januar 2014 in Kraft.

Schliesslich soll das Asylverfahren grundlegend neu gestaltet werden. Der Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vom März 2011 über Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich40 schlägt eine Neustrukturierung vor, wonach die Mehrheit der Asylverfahren in Verfahrenszentren des Bundes innert kurzer Zeit durchgeführt werden soll. Zum entsprechenden Entwurf wird zurzeit ein Vernehmlassungsverfahren durchgeführt.

34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Anhänge 1 und 2 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE, SR 142.201).

SR 142.31 AS 2012 5359 BBl 2013 944 BBl 2013 6613 BBl 2012 9685 www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Berichte > Bericht über Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich

8708

2.1.3

Eingereichte Volksinitiativen

Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurden zahlreiche Volksinitiativen zur Beschränkung der Zuwanderung in die Schweiz eingereicht; sie sind nicht zustande gekommen oder wurden von Volk und Ständen abgelehnt (z. B. Volksinitiative «gegen die Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz»41 oder Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung»,42 die den Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung auf 18 % begrenzen wollte).

Eine Volksinitiative aus der jüngeren Vergangenheit ­ die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», die am 14. Februar 2012 bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde ­ will ebenfalls die Zuwanderung begrenzen, indem jährliche Höchstzahlen für alle Zulassungen festgelegt werden. Diese Volksinitiative ist der in dieser Botschaft behandelten Volksinitiative zwar sehr ähnlich, sie lässt aber eine grössere Flexibilität bei der Festlegung von Kontingenten zu. In seiner Botschaft vom 7. Dezember 201243 hat der Bundesrat empfohlen, diese ohne Gegenvorschlag abzulehnen.44 Am 27. September 2013 haben der Nationalrat mit 140 zu 54 Stimmen bei einer Enthaltung und der Ständerat mit 37 zu 5 Stimmen ebenfalls die Ablehnung empfohlen.

2.1.4

Wichtigste Auswirkungen seit der Einführung des FZA

Die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU/EFTA wurde vor drei Jahren eingeführt. Die Unternehmen haben stark davon profitiert, Fachkräfte aus dem EU/EFTA-Raum rekrutieren zu können. Diese Öffnung des Arbeitsmarktes trug in den letzten Jahren stark zum Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in der Schweiz bei.

Die Zuwanderung in die Schweiz im Rahmen des FZA und des EFTA-Übereinkommens hängt stark von der Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften ab.

Demgemäss haben sich die starken konjunkturellen Schwankungen der letzten Jahre auch auf die Netto-Zuwanderung ausgewirkt. 2008 erreichte diese mit 90 200 Personen einen Höchstwert, zwei Drittel davon waren Staatsangehörige der EU-27/EFTA.

Mit der Finanzkrise 2009 verringerte sich der gesamte Wanderungssaldo (rund 25 %), ehe sich die rasche wirtschaftliche Erholung in den Jahren 2010 und 2011 in einer erneuten Zunahme auswirkte; 2012 stabilisierte sich der Wanderungssaldo schliesslich wieder.

Im Jahr 2012 war die Zahl der ausländischen Personen, die in die Schweiz einwanderten, um 73 000 höher als die Zahl der ausländischen Personen, die im gleichen Jahr die Schweiz verliessen (der Wanderungssaldo war also positiv). Knapp drei Viertel davon kamen aus dem EU/EFTA-Raum. Demgegenüber erreichte der Wanderungssaldo im Jahr 2011 78 500 Personen.

41 42 43 44

BBl 1974 I 190 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 1974 II 1522 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 1997 IV 521 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 2001 183 (Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung).

BBl 2013 291 (Botschaft des Bundesrates) und BBl 2013 345 (Beschluss).

Für nähere Informationen hierzu siehe Botschaft des Bundesrates vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291, hier 304­306.

8709

Im Zeitraum 2003­2012 erhöhte sich die Erwerbsquote sowohl bei den EU-27/ EFTA-Staatsangehörigen als auch bei Schweizerinnen und Schweizern im Alter von 25­64 Jahren, wobei die Staatsangehörigen der EU-27/EFTA zur Schweizer Bevölkerung aufschliessen konnten. Die Arbeitslosenquote ist seit den 1990er-Jahren stabil geblieben. Trotz eines leichten Anstiegs der Erwerbslosenrate nach internationalen Normen verzeichnete die Schweiz im Jahr 2012 mit 4,2 Prozent nach Norwegen den zweittiefsten Wert in Europa.

In Studien aus jüngerer Zeit kommen Forscher der Universitäten Zürich und Lausanne zum Schluss, dass die starke Zuwanderung zu keinem allgemeinen Verdrängungseffekt geführt hat. Hingegen haben sie einen leichten Verdrängungseffekt für hoch qualifizierte Fachkräfte festgestellt. Demnach hat die zusätzliche Zuwanderung infolge der Personenfreizügigkeit eine um 0,2 Prozentpunkte höhere Arbeitslosigkeit bei den in der Schweiz geborenen Personen mit sich gebracht. Dieses Phänomen ist jedoch auf hoch qualifizierte Personen beschränkt.45 Die Zuwanderung aufgrund der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU/EFTA wirkte sich in den Grenzregionen teilweise anders aus als in anderen Regionen der Schweiz. Die Grenzregionen verzeichneten in den Jahren 2001­2008 ein höheres Beschäftigungswachstum. Der Zuwachs konzentrierte sich im Vergleich zur übrigen Arbeitskräftemigration aus den EU/EFTA-Staaten stärker auf tiefere berufliche Qualifikationsniveaus als in anderen Regionen der Schweiz.46 Hingegen ist im Zeitraum 2002­2010 kein negativer Einfluss der höheren Grenzgängerbeschäftigung auf die regionale Lohnentwicklung erkennbar.47 Die Zuwanderung verlangsamt die Alterung der Schweizer Bevölkerung. Arbeitnehmende aus der EU-/EFTA leisten heute mehr Beiträge an die Sozialversicherungen, als sie daraus beziehen. Langfristig begründen die Beitragszahlenden aber auch Rentenansprüche, welche die AHV in 30 bis 40 Jahren belasten werden. Die anfänglichen Befürchtungen, dass die Personenfreizügigkeit zu einer unverhältnismässigen Zunahme der Anzahl ausländischer IV-Leistungsbezüger führe, haben sich nicht bestätigt.

Das vor allem durch die Zuwanderung generierte Bevölkerungswachstum wirkte sich auch auf die Entwicklung der Siedlungsstruktur aus. Die Bevölkerung wächst heute vor allem in den städtischen Zentren
und deren Umland. Damit ist gerade in jenem Raum die Nachfrage nach Wohnraum hoch, in dem Baulandreserven knapp sind. Die Zuwanderung ist allerdings nur ein Grund für den zunehmenden Druck auf die Zentren. So ist schweizweit der Anteil der Haushalte ausländischer Herkunft im

45 46

47

Favre, Lalive und Zweimüller 2013; vgl. Literaturverzeichnis.

Nähere Informationen dazu im Bericht des Bundesrates über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz, S. 37, verfügbar unter: www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 2012 > 04.07.12, sowie im 8. Bericht des Observatoriums vom 25. Mai 2012 zum Freizügigkeitsabkommen des SECO, des BFM, des BFS und des BSV, verfügbar unter: www.seco.admin.ch > Dokumentation > Publikationen und Formulare > Studien und Berichte > Arbeit > Bericht des Observatoriums.

Nähere Informationen dazu und insbesondere zur Lohnentwicklung in den Grenzregionen in Ziff. 3.4.4 des 9. Berichts des Observatoriums vom Juni 2013 zum Freizügigkeitsabkommen sowie in Kap. 5 des 7. Berichts des Observatoriums von 2011 zum Freizügigkeitsabkommen mit zusätzlichen Analysen zur Lohnentwicklung in den Grenzregionen im Zeitraum 2002­2008, verfügbar unter: www.seco.admin.ch > Dokumentation > Publikationen und Formulare > Studien und Berichte > Arbeit > Bericht des Observatoriums.

8710

Jahr 2012 auf 26,3 Prozent bei den Mietern und auf rund 6,5 Prozent bei den Wohneigentümern gestiegen.48

2.2

Internationale Entwicklungszusammenarbeit

2.2.1

Gesetzliche Grundlagen

Die rechtlichen Grundlagen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz bilden auf Verfassungsstufe insbesondere Artikel 54 BV und auf Gesetzesstufe das Bundesgesetz vom 19. März 197649 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.

2.2.2

Arbeitsgrundsätze

Die Arbeitsgrundsätze der internationalen Entwicklungszusammenarbeit werden in den rechtlichen Grundlagen50 und in der Botschaft vom 15. Februar 201251 über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016 festgelegt. Die Schweiz unterstützt die eigenen Anstrengungen von Ländern und Organisationen, Armuts- und Entwicklungsprobleme zu bewältigen. Die Zusammenarbeit ist dementsprechend auf die Prioritäten der Länder und Organisationen ausgerichtet und berücksichtigt politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Rahmenbedingungen und Kontexte.

2.2.3

Sexuelle und reproduktive Gesundheit, einschliesslich freiwillige Familienplanung

Die thematischen Schwerpunkte sind in der Botschaft vom 15. Februar 2012 über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016 festgelegt.52 Im Schwerpunkt Gesundheit ist die «sexuelle und reproduktive Gesundheit» seit Langem ein zentrales Arbeitsgebiet der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Die entsprechenden Massnahmen orientieren sich am Aktionsplan der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD, Kairo 1994). Die Schweiz arbeitet hierzu seit Jahrzehnten mit verschiedenen Partnerorganisationen wie dem Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) und der weltweiten Dachorganisation für sexuelle und reproduktive Gesundheit, der International Planned

48

49 50 51 52

Nähere Informationen dazu siehe den Bericht des Bundesamtes für Wohnungswesen, Personenfreizügigkeit und Wohnungsmarkt Schweiz, Entwicklung 2012 vom 10. Juli 2013, verfügbar unter www.bwo.admin.ch > Personenfreizügigkeit und Wohnungsmarkt.

Für nähere Informationen zu den wichtigsten Auswirkungen der Einführung des FZA auf das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage, die Arbeitslosigkeit, die Löhne, die Grenzgängerregionen und den Wohnungsmarkt siehe den Bericht des Bundesrates vom 4. Juli 2012 über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in die Schweiz (www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 2012 > 04.07.12).

SR 974.0 Siehe insbesondere die Art. 2 und 5 des Bundesgesetzes über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.

Vgl. BBl 2012 2485 (insbes. die Ziff. 1.6., 3.4. und 4.5).

BBl 2012 2485

8711

Parenthood Federation (IPPF), zusammen. Die Unterstützung und Massnahmen der Schweiz haben folgende Ausrichtung: ­

Förderung der Müttergesundheit und Zugang zu den Diensten der reproduktiven Gesundheit. Die Zusammenarbeit umfasst u. a. die freiwillige Familienplanung und die Unterstützung von UNFPA, WHO, UN und IPPF. Die DEZA setzt das Ziel in bilateralen Programmen auf nationaler und lokaler Ebene um.

­

Ausbildung von Mädchen und Frauen sowie «empowerment» der Frauen53.

Unterstützung von UNO-Organisationen (UN Women, UNICEF, UNESCO) und bilaterale Programme.

­

Mitgliedschaft in der UNO-Kommission für Bevölkerung und Entwicklung des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC). Die Kommission überprüft die Umsetzung des Aktionsplans der ICPD. Des Weiteren arbeitet die Schweiz bei relevanten internationalen Initiativen zur Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit mit.

3

Ziele und Inhalt der Initiative

Das übergeordnete Ziel (oder der Zweck) der Volksinitiative ist in Artikel 73a Absatz 1 E-BV formuliert: «Der Bund strebt auf dem Gebiet der Schweiz eine Einwohnerzahl auf einem Niveau an, auf dem die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind. Er unterstützt dieses Ziel auch in anderen Ländern, namentlich im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.» Konkret fordert der Initiativtext folgende Massnahmen:

53

­

Der jährliche Zuwachs der ständigen Wohnbevölkerung durch Zuwanderung darf nach einer Übergangsfrist im dreijährigen Durchschnitt höchstens 0,2 Prozent betragen (im ersten Jahr nach Annahme 0,6 % und im zweiten Jahr 0,4 %).

­

Eine höhere Zunahme der ständigen Wohnbevölkerung durch Zuwanderung in den Jahren bis zur Umsetzung der Volksinitiative muss innerhalb von 5 Jahren nach Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung kompensiert werden.

­

Mindestens 10 Prozent der Mittel für die internationale Entwicklungszusammenarbeit müssen in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung investiert werden.

­

Bestehende völkerrechtliche Verträge, die den Zielen von Artikel 73a E-BV widersprechen, müssen innerhalb von vier Jahren nach Annahme der Volksinitiative angepasst oder gekündigt werden. Neue völkerrechtliche Verträge dürfen dem Ziel der Volksinitiative nicht widersprechen.

Siehe www.deza.admin.ch/de/Home/Glossar

8712

3.1

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen des Initiativtextes

3.1.1

Artikel 73a E-BV

Neu soll ein Artikel 73a mit der Sachüberschrift «Bevölkerungszahl» in die BV eingefügt werden. Dieser Artikel gehört 3. Titel 2. Kapitel 4. Abschnitt «Umwelt und Raumplanung» und folgt auf den geltenden Artikel 73 BV bezüglich Nachhaltigkeit, dessen Inhalt unverändert bleibt.

Absatz 1 verlangt nicht nur, dass die Wohnbevölkerung in der Schweiz auf ein bestimmtes Niveau begrenzt wird, um die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sicherzustellen. Er verpflichtet den Bund auch, dieses Ziel in anderen Ländern zu unterstützen, namentlich über die internationale Entwicklungszusammenarbeit.

Denn die Initiantinnen und Initianten der Volksinitiative sind der Meinung, dass das starke Bevölkerungswachstum in der Schweiz und in anderen Ländern der Umwelt schadet, die Lebensqualität beeinträchtigt (verstopfte Strassen und überfüllte Züge, hohe Mietzinsen, Rückgang der Landwirtschaftsflächen, verdichtetes Wohnen etc.)

und dem im geltenden Artikel 73 BV festgelegten Ziel widerspricht. Dieser verpflichtet den Bund und die Kantone, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits anzustreben.54 Für die Initiantinnen und Initianten der Volksinitiative stellt die hohe Bevölkerungszahl in der Schweiz und im Ausland einen der Hauptgründe für die Umweltverschmutzung und eine Bedrohung für die natürlichen Lebensgrundlagen dar. Sie sind ausserdem der Ansicht, dass die Weltbevölkerung heute ein historisch einmaliges Wachstum erlebt und dass die ökologische Kapazität der Erde überlastet ist, was zu einer Verknappung der natürlichen Ressourcen führt.

Das hohe Bevölkerungswachstum in der Schweiz ist gemäss den Initiantinnen und Initianten der Volksinitiative zu 80 Prozent durch die Zuwanderung bedingt, und insbesondere durch die Aufhebung der Einwanderungsbeschränkung für einen Grossteil der EU/EFTA-Staatsangehörigen im Mai 2007.55 Absatz 2 legt den Grundsatz fest, dass die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen darf. Dieser Absatz muss in Zusammenhang mit der Übergangsbestimmung von Artikel 197 Ziffer 9 Absatz 2 E-BV (vgl. Ziff. 3.1.2) gesetzt werden, denn der definierte Wert soll degressiv gestaffelt innerhalb von zwei Jahren
erreicht werden. Die Initiantinnen und Initianten der Volksinitiative erachten die Begrenzung von 0,2 Prozent als mit der Entwicklung in der EU vereinbar, betrug doch der EU-Wanderungssaldo zwischen 1997 und 2007 0,26 Prozent. Ohne Spanien, Italien und Grossbritannien lag dieser Wert sogar unter 0,2 Prozent. Deshalb bliebe ihrer Ansicht nach trotz einer solchen Begrenzung die Nettoeinwanderung in der Schweiz höher als in den meisten EU-Ländern. Ausserdem könnten 1,3 Prozent der Bevölkerung jährlich neu in die Schweiz kommen, da pro Jahr durchschnittlich 1,1 Prozent der Bevölkerung die Schweiz verlässt. Somit könnte ein grösserer Anteil Fachkräfte in die Schweiz einwandern als in den meisten EU-Ländern.56 54 55 56

Siehe Website der Initiantinnen und Initianten der Initiative, Stand 5. August 2013, verfügbar unter: www.ecopop.ch > Initiative.

Siehe Website der Initiantinnen und Initianten der Initiative, Stand 5. August 2013, verfügbar unter: www.ecopop.ch > Initiative > Argumente/FAQ.

Siehe Webseite der Initiantinnen und Initianten der Initiative, Stand 5. August 2013, verfügbar unter: www.ecopop.ch > Initiative > Argumente/FAQ.

8713

Absatz 3 sieht vor, dass mindestens 10 Prozent der für die internationale Entwicklungszusammenarbeit gesprochenen Mittel des Bundes in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung fliessen. Gemäss den Initiantinnen und Initianten soll diese Massnahme in erster Linie den Migrationsdruck in der Schweiz verringern, aber auch dazu beitragen, die natürlichen Lebensgrundlagen im Ausland und insbesondere in den Ländern mit einem starken Bevölkerungswachstum zu erhalten.

Absatz 4 verlangt, dass der Bund keine neuen völkerrechtlichen Verträge abschliessen darf, die gegen die Bestimmungen von Artikel 73a E-BV verstossen oder die Massnahmen zu deren Umsetzung verhindern oder erschweren. Auch diese Bestimmung muss in Zusammenhang mit der Übergangsbestimmung von Artikel 197 Ziffer 9 Absatz 1 E-BV (Ziff. 3.1.2) gebracht werden: Die Volksinitiative sieht darin nämlich vor, dass völkerrechtliche Verträge, die den Zielen dieses Artikels widersprechen, innerhalb von vier Jahren angepasst oder gekündigt werden müssen.

3.1.2

Artikel 197 Ziffer 9 E-BV

Gemäss Absatz 1 sind völkerrechtliche Verträge, die den Zielen von Artikel 73a E-BV widersprechen, innerhalb von vier Jahren anzupassen oder, falls eine Anpassung nicht möglich ist, zu kündigen (vgl. Ziff. 4.2.1.3, 4.2.3.1 und 4.4.1 für nähere Informationen zu den von der Volksinitiative betroffenen Verträgen und Abkommen im Migrationsbereich sowie Ziff. 4.2.5.2 für Verträge im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit).

Absatz 2 sieht ausserdem vor, dass bei Annahme der Volksinitiative die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung im ersten Kalenderjahr nicht um mehr als 0,6 Prozent und im zweiten Kalenderjahr nicht um mehr als 0,4 Prozent zunehmen darf. Ab diesem Zeitpunkt, und bis die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a E-BV in Kraft gesetzt wird, darf die ständige Wohnbevölkerung nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr zunehmen. Eine höhere Zunahme muss innerhalb von fünf Jahren nach Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung ausgeglichen sein.

3.2

Auslegung des Initiativtextes

Grundsätzlich ist bei der Auslegung der Verfassung ­ nicht anders als bei der Auslegung von Gesetzes- und Verordnungsnormen ­ vom Wortlaut einer Norm auszugehen (grammatikalisches Auslegungselement). Ist der Text unklar oder lässt er verschiedene Deutungen zu, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden.

Dabei sind weitere Auslegungselemente zu berücksichtigen, wie namentlich die Entstehungsgeschichte der Norm (historisches Auslegungselement) und ihr Zweck (teleologisches Auslegungselement). Wichtig ist zudem die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt (systematisches Auslegungselement). Bei der Gesetzes- wie bei der Verfassungsauslegung findet nicht ein bestimmtes Auslegungselement vorrangig oder sogar ausschliesslich Anwendung.

Vielmehr werden die Auslegungselemente nebeneinander berücksichtigt. Es muss im Einzelfall abgewogen werden, welche Methode (oder Methodenkombination) geeignet ist, den Normsinn der auszulegenden Verfassungsbestimmung korrekt 8714

wiederzugeben (sog. Methodenpluralismus).57 Der Wille der Initiantinnen und Initianten einer neuen Verfassungsnorm ist nicht ausschlaggebend. Er kann aber etwa im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden.58 Zusätzlich zu den allgemeinen Auslegungselementen sind zwei verfassungsspezifische Auslegungselemente zu berücksichtigen: ­

Die «harmonisierende Auslegung»59 (oder die Herstellung praktischer Konkordanz), wonach der Gesetzgeber gehalten ist, alle von der Sache berührten Verfassungsanliegen mitzubedenken. Verfassungsnormen sind so zu interpretieren, dass Widersprüche innerhalb der Verfassung nach Möglichkeit vermieden werden.

­

Die völkerrechtskonforme Auslegung: Das ius cogens steht über der Verfassung; die Normen des übrigen Völkerrechts sind zu «beachten» (Art. 5 Abs. 4 BV). Darauf basiert die Verpflichtung aller Staatsorgane, im Rahmen ihrer rechtsetzenden oder rechtsanwendenden Tätigkeit die Verfassungsnormen (soweit nötig und möglich) völkerrechtskonform auszulegen.

Art. 73a Abs. 1 E-BV Dieser Absatz ist als allgemeiner Auftrag an den Bund zu verstehen, einerseits dafür zu sorgen, dass die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz auf einem Niveau gehalten wird, auf dem die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind, und andererseits dieses Ziel auch in anderen Ländern zu unterstützen, insbesondere über die internationale Entwicklungszusammenarbeit.

Der erste Absatz verlangt somit einerseits, dass die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz auf einem Niveau gehalten wird, das eine dauerhafte Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen erlaubt, und andererseits, dass der Bund dieses Ziel vor allem im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit auch in den anderen Ländern verfolgt.

Absatz 1 spricht von «Einwohnerzahl» auf dem Gebiet der Schweiz, Absatz 2 hingegen von «ständiger Wohnbevölkerung». Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Begriff in Absatz 1 gleich auszulegen ist wie der Begriff in Absatz 2 (siehe dazu Art. 73a Abs. 2 E-BV). Diese Frage ist mit Nein zu beantworten. Das Adjektiv «ständig» bezieht sich hier auf eine bestimmte Anwesenheitsdauer in der Schweiz, weshalb Kurzaufenthalte nicht in diesem Begriff enthalten sind.

Der in Absatz 2 der Verfassungsbestimmung verwendete Begriff «ständige Wohnbevölkerung» bezieht sich auch auf die ausländische Bevölkerung, die sich länger als zwölf Monate in der Schweiz aufhält (zur Begründung siehe Kommentar zu Abs.

2 weiter unten). Demgegenüber umfasst der in Absatz 1 verwendete Begriff «Einwohnerzahl» alle zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Schweiz wohnhaften Personen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und der Art und Dauer ihrer Aufenthalts57 58 59

Häfelin Ulrich/Haller Walter/Keller Helen, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Auflage, Zürich 2012, N. 130.

Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, BBl 2010 2263, Ziff. 8.7.1.2.

Rhinow/Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Basel 2009, N. 524, 529; Hangartner Yvo, Unklarheiten bei Volksinitiativen. Bemerkungen aus Anlass des neuen Art. 121 Abs. 3­6 BV (Ausschaffungsinitiative), AJP 2011, S. 473; BGE 139 I 16 E. 4.2.2.

8715

bewilligung. Dieser Begriff bezieht sich somit nicht nur auf die in der Schweiz domizilierten Staatsangehörigen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, sondern auch auf die ausländischen Staatsangehörigen. Die ausländische Wohnbevölkerung umfasst konkret die Inhaberinnen und Inhaber einer Niederlassungsbewilligung, einer Aufenthaltsbewilligung (einschliesslich anerkannte Flüchtlinge), einer Kurzaufenthaltsbewilligung (einschliesslich Aufenthalte von weniger als zwölf Monaten) sowie Personen im Asylprozess, Diplomatinnen und Diplomaten und internationale Funktionäre sowie deren Familienangehörige.

Nicht zur Wohnbevölkerung zählen hingegen Personen ohne offiziellen Wohnsitz in der Schweiz, beispielsweise in der Schweiz arbeitende Grenzgängerinnen und Grenzgänger, Touristinnen und Touristen sowie Personen, die für einen Besuch oder eine Geschäftsreise in der Schweiz weilen.

Diese Auslegung ergibt sich einerseits aus der Definition des Bundesamtes für Statistik (BFS) des Begriffs der Wohnbevölkerung60 und drückt andererseits den Willen der Initiantinnen und Initianten aus; sie erwähnen, dass das Ziel der Volksinitiative die nachhaltige Sicherung der Lebensqualität für alle in der Schweiz wohnhaften Personen sei, unabhängig von Nationalität und Rasse.61 Die Verfassungsbestimmung definiert nicht genau, welches Niveau angemessen ist, um die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sicherzustellen. Die von der Volksinitiative verlangten Mittel zur Erreichung dieses Ziels (Absätze 2 und 3) müssen hingegen eingesetzt werden. Die offene Formulierung dieses Absatzes schliesst nicht grundsätzlich aus, dass die Schweiz bestehende Abkommen fortführt oder neue eingeht. Diese dürfen aber die von der Volksinitiative vorgeschlagenen Mittel nicht verhindern.

Beim Begriff «natürliche Lebensgrundlagen» handelt es sich um einen geläufigen Verfassungsbegriff. Die BV führt den Begriff in mehreren Bestimmungen auf (vgl.

die Art. 2 Abs. 4, 54 Abs. 2, 104 Abs. 1 Bst. b BV). Artikel 73a Absatz 1 E-BV ist folglich harmonisierend auszulegen, wobei man sich am Normsinn der genannten Bestimmungen zu orientieren hat. Ferner wird das Ziel der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen durch andere Verfassungsnormen konkretisiert (vgl. insb.

die Art. 73 f. und 89 BV). Wichtige natürliche Lebensgrundlagen umfassen zumindest die
folgenden Ressourcen: Klima, Boden, Biodiversität und Ökosysteme, Luft und Wasser. Diese Ressourcen müssen in ausreichender Menge und Qualität vorhanden sein. Umweltprobleme wie Klimawandel oder Luftverschmutzung machen nicht an der Landesgrenze halt. Die weltweiten Ökosysteme stellen deshalb auch die Lebensgrundlage für die Schweizer Bevölkerung dar.

Der Begriff «dauerhafte» Sicherstellung kann so verstanden werden, dass gewährleistet werden muss, dass die natürlichen Lebensgrundlagen auch kommenden Generationen zur Verfügung stehen.

Art. 73a Abs. 2 E-BV Die Hauptmassnahme der Volksinitiative liegt darin, dass die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen darf.

60 61

Verfügbar unter: www.bfs.admin.ch > Infothek > Definitionen > Wohnbevölkerung.

Siehe Website der Initiantinnen und Initianten der Initiative, Stand 9.7.2013, verfügbar unter: www.ecopop.ch > Argumente/FAQ > Behauptung 7.

8716

Aufgrund des Wortlautes der Volksinitiative («Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung infolge Zuwanderung») wird nur die Zuwanderung aus dem Ausland in die Schweiz, nicht jedoch das Wachstum durch einen Geburtenüberschuss in der Schweiz erfasst.

Mit der Forderung nach einer solchen Zuwanderungsbeschränkung möchte die Volksinitiative in Wirklichkeit Kontingente für alle Ausländerkategorien und alle Arten von Aufenthaltsbewilligungen, die länger als ein Jahr gültig sind, einführen.

Die Volksinitiative erläutert nicht, auf welche Art und Weise die Kontingente festzulegen sind und wer zur Festlegung der Kontingente berechtigt sein soll. Sie verlangt lediglich eine zahlenmässige Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz.

Andererseits verbietet der Wortlaut von Absatz 2 nicht, im Rahmen von festen Limiten Staatsangehörige von Staaten, mit denen die Schweiz besonders enge wirtschaftliche Beziehungen unterhält ­ namentlich EU-Staatsangehörige ­, privilegiert zuzulassen.

Die Bestimmung ist nicht direkt anwendbar; sie ist durch den Gesetzgeber zu konkretisieren.

Ein anderer Schwachpunkt ist die Auslegung des Begriffs «ständige Wohnbevölkerung». Dieser Begriff ist insofern zentral, als er ermöglicht, den von der Begrenzung betroffenen Personenkreis zu bestimmen.

Weder der Initiativtext noch das Argumentarium oder die anderen von den Initiantinnen und Initianten zur Verfügung gestellten Dokumente definieren oder erklären den Begriff «ständige Wohnbevölkerung». Je nach Auslegung dieses Begriffs sind unterschiedliche Personenkategorien von den vorgeschlagenen Zulassungsbeschränkungen betroffen, und es ergeben sich unterschiedliche Ausgangsgrössen für die Berechnung der weiterhin möglichen Zuwanderung. Der Begriff der «ständigen Bevölkerung» ist mit Hilfe der anerkannten juristischen Auslegungsmethoden in den Kontext der Verfassung als Ganzes zu stellen und nach objektiven Kriterien auszulegen. Im Rahmen der systematischen Auslegung kann auf Begriffe abgestellt werden, die bereits im Verordnungsrecht definiert sind. Daher ist es zunächst naheliegend, bei der Auslegung dieses Begriffs auf die im Zeitpunkt der Abfassung des Initiativtextes und der Unterschriftensammlung in der Gesetzgebung und in der Verwaltungspraxis bereits bestehenden Definitionen abzustellen.

Das Bundesamt für Statistik (BFS) definiert
den Begriff «ständige Wohnbevölkerung» nach Artikel 2 Buchstabe d der Volkszählungsverordnung vom 19. Dezember 200862 als die Gesamtheit aller Personen mit Hauptwohnsitz in der Schweiz, die:

62

­

in der Schweiz gemeldet und Schweizer Staatsangehörige sind;

­

ausländische Staatsangehörige ausserhalb des Asylprozesses sind und über eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für mindestens zwölf Monate oder eine Kurzaufenthaltsbewilligung für eine kumulierte Aufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten verfügen;

­

Personen im Asylprozess mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten sind.

SR 431.112.1

8717

Erfasst werden neben den angemeldeten Schweizerinnen und Schweizern somit alle Ausländerinnen und Ausländer mit einer Anwesenheitsbewilligung für mindestens 12 Monate oder ab einem Aufenthalt von 12 Monaten in der Schweiz, d. h. Aufenthalter/innen (Ausweis B), Niedergelassene (Ausweis C), Kurzaufenthalter/innen mit einer kumulierten Aufenthaltsdauer von mindestens 12 Monaten (Ausweis L), internationale Funktionärinnen und Funktionäre, Diplomatinnen und Diplomaten und ihre Familienangehörige (EDA-Ausweis) sowie Asylsuchende (Ausweis N) und vorläufig Aufgenommene (Ausweis F) mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens 12 Monaten.

Das Bundesamt für Migration (BFM) definiert demgegenüber den Begriff der «ständigen Wohnbevölkerung» in seinen Statistiken wie folgt: ­

schweizerische Staatsangehörige mit einem Hauptwohnsitz in der Schweiz;

­

Ausländerinnen und Ausländer, die während mindestens 12 Monaten in der Schweiz wohnhaft sind und über eine Kurzaufenthalts-, Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung verfügen (Ausweise B einschliesslich Ci-Ausweise, C und L).

Eine solche Definition war auch in Artikel 5 der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Verordnung vom 6. Oktober 198663 über die Begrenzung der Zahl der Ausländer zu finden. Das BFM zählt ­ unabhängig von der Dauer des Aufenthalts ­ Personen aus dem Asylbereich (Asylsuchende mit Ausweis N), vorläufig Aufgenommene (Ausweis F) sowie internationale Funktionärinnen und Funktionäre, Diplomatinnen und Diplomaten und ihre Familienangehörigen ohne Erwerbstätigkeit (EDA-Ausweis) nicht zur ständigen Wohnbevölkerung. Wird die Definition des BFM verwendet, sind diese Personengruppen ­ insbesondere Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene ­ von den Zulassungsbeschränkungen der Volksinitiative nicht betroffen. Erhalten sie jedoch später eine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung (Ausweise B und C), so müssen sie nachträglich bei der Zuwanderung zur ständigen Wohnbevölkerung gerechnet werden und die Zulassungsbeschränkungen werden dann wirksam (z. B. bei Gewährung des Asyls; spätere Regelung aus humanitären Gründen; Heirat).

Der durch das BFS definierte Begriff berücksichtigt demgegenüber die europäischen Vorgaben des statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat), wonach der Asylbereich ebenfalls umfasst ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Begriff auch dem Willen der Initiantinnen und Initianten entspricht. So führen diese auf ihrer Internetseite aus: «Würde die Zuwanderung auf netto 0,2 % pro Jahr limitiert, so könnten aufgrund der hohen Auswanderung pro Jahr rund 95 000 Personen einwandern, was 72 % der im Jahr 2009 verzeichneten Einwanderung entspricht.

Damit könnten alle benötigten Fachpersonen inklusive Pflegepersonal weiterhin in die Schweiz kommen ­ und es hätte immer noch viel Platz für soziale Anliegen wie Familiennachzug oder Ausbildung sowie humanitäre Bedürfnisse für die Aufnahme von Verfolgten».64 Vor allem aber ist hier das zweckorientierte Auslegungselement ergiebig, weil die neue Verfassungsnorm (Art. 73a Abs. 1 E-BV) selber eine «Einwohnerzahl» auf einem Niveau anstrebt, auf dem die dauerhafte Sicherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen als Ziel definiert ist. Daraus lässt sich für den Begriff 63 64

AS 1986 1791 Website der Initiantinnen und Initianten der Initiative, Stand 9.7.13, verfügbar unter: www.ecopop.ch > Initiative > Argumente/FAQ.

8718

der ständigen Wohnbevölkerung folgern, dass Personen mit (sehr) kurzer Aufenthaltsdauer nicht zu berücksichtigen sind und die Nationalität und der Aufenthaltsstatus bei ausländischen Personen grundsätzlich unerheblich sind.

Aus diesen Gründen ist die Definition in der Volkszählungsverordnung (vom BFS verwendet) gegenüber derjenigen des BFM vorzuziehen.

Dies bedeutet, dass Aufenthalte von Ausländerinnen und Ausländern unter einem Jahr nicht angerechnet werden (vorübergehende Aufenthalte zwecks Besuch, Tourismus, Ausbildung, Erwerbstätigkeit etc.). Dies gilt auch für den Asylbereich. Hier steht nicht bereits bei der Einreise fest, ob der Aufenthalt 12 Monate oder länger dauern wird. Für die Berechnung der möglichen Zuwanderung nach der Volksinitiative muss bei Asylsuchenden somit jeweils nachträglich festgestellt werden, wie viele Personen sich tatsächlich noch länger in der Schweiz aufhalten. Ein Teil von ihnen wird z. B. vorher im Rahmen der Dubliner Zusammenarbeit in den für das Asylverfahren zuständigen Dublin-Staat zurückkehren oder reist nach einem negativen Asylentscheid früher wieder aus. Eine nachträgliche Anrechnung ist auch bei Personen ausserhalb des Asylbereichs mit Kurzaufenthaltsbewilligung erforderlich, wenn sie ihren Aufenthalt nachträglich auf mindestens 12 Monate verlängern.

Das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung durch Zuwanderung muss im ersten Kalenderjahr nach Annahme der Volksinitiative auf 0,6, im zweiten auf 0,4 und danach auf 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung gesenkt werden (Ziff. 3.1.2). In den Jahren 2008­2011 belief sich beispielsweise das Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung jährlich auf 0,7­1,3 Prozent.

Die nachträgliche Berechnung der möglichen Zuwanderung gemäss der Volksinitiative für das Jahr 2012 sieht unter Verwendung der Zahlen von 2011 wie folgt aus: ­

mögliches Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung: rund 16 000 Personen (0,2 % von rund 7 955 000 Personen; ständige Wohnbevölkerung am 31.12.2011)

­

Wegzug von Ausländerinnen und Ausländern: rund 67 000 Personen (2011)

­

Auswanderung von Schweizerinnen und Schweizern: rund 30 000 Personen (2011).

Daraus ergibt sich eine mögliche Zuwanderung für das Jahr 2012 von total rund 113 000 Personen (sofern sich die Verhältnisse nicht wesentlich ändern). Werden von dieser möglichen Zuwanderung jährlich durchschnittlich rund 25 000 zurückkehrende Auslandschweizerinnen und -schweizer abgezogen, so ergibt sich für das Jahr 2012 eine mögliche Zuwanderung von rund 88 000 Ausländerinnen und Ausländern (inkl. Personen, die ursprünglich als Kurzaufenthalterinnen und Kurzaufenthalter oder Asylsuchende eingereist sind und 2012 ab einem effektiven Aufenthalt von 12 Monaten zur ständigen Wohnbevölkerung übergetreten sind). Das «Zuwanderungskontingent» für Ausländerinnen und Ausländer hängt also auch von der Anzahl der zurückkehrenden Schweizerinnen und Schweizer ab.

Die gegenwärtige Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern ist jedoch deutlich höher (durchschnittlich rund 141 500 Personen pro Jahr in den letzten fünf Jahren) und müsste somit um rund 38 Prozent reduziert werden. Dies würde insbesondere die Möglichkeit, benötigte qualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren, sehr stark einschränken, da die zulässigen Kontingente für die Zuwanderung in Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz reserviert werden müssten (z. B.

Asylbereich, Genfer Flüchtlingskonvention und Art. 3 EMRK, Recht auf Achtung 8719

des Familienlebens, Art. 13 BV und Art. 8 EMRK). Die Weiterführung des FZA wäre nicht mehr möglich (Ziff. 4.2.1.2).

Art. 73a Abs. 3 E-BV Die Volksinitiative verlangt, dass der Bund das Ziel der Begrenzung der Bevölkerungszahl auch in anderen Ländern verfolgt (Art. 73a Abs. 1 und 3 E-BV). Er soll daher mindestens 10 Prozent seiner in die internationale Entwicklungszusammenarbeit fliessenden Mittel für Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung einsetzen.

Die internationale Entwicklungszusammenarbeit des Bundes wird in der Bundesverfassung nicht definiert. Das Bundesgesetz vom 19. März 1996 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe und die Botschaften zu den jeweiligen Rahmenkrediten unterscheiden zwischen internationaler «Entwicklungszusammenarbeit» und «humanitärer Hilfe». Die Zusammenarbeit mit Osteuropa und der Gruppe unabhängiger Staaten (GUS) basiert auf einer eigenen gesetzlichen Grundlage, dem Bundesgesetz vom 24. März 200665 über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas. Die Botschaft vom 15. Februar 201266 über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016 umfasst insgesamt vier Rahmenkredite: 1.

Humanitäre Hilfe und Schweizerisches Korps für humanitäre Hilfe SKH

2.

Technische Zusammenarbeit und Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern

3.

Wirtschafts- und handelspolitische Massnahmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit

4.

Transitionszusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und der GUS.

Der Bund setzte im Jahr 2012 insgesamt 1406,6 Millionen Franken für die internationale Entwicklungszusammenarbeit (Punkte 2 und 3) ein.

Der Initiativtext präzisiert nicht, was unter «internationaler Entwicklungszusammenarbeit» zu verstehen ist. Auch die ECOPOP-Website gibt keinen eindeutigen Aufschluss, was die Initiantinnen und Initianten darunter verstehen (Stand Juni 2013). Mehrere Hinweise auf der Website deuten darauf hin, dass die Initiantinnen und Initianten die «ärmsten» Länder bzw. die Länder des «Südens» begünstigen möchten.67 In dieser Optik würden die Länder der Transitionszusammenarbeit nicht unter die internationale Entwicklungszusammenarbeit fallen. Im Widerspruch hierzu beziffern die Initiantinnen und Initianten in ihrem Bulletin Nr. 61 vom Juni 2011 die Entwicklungszusammenarbeit auf rund 1,4 Milliarden Franken. Auf Basis der damals erhältlichen Zahlen für das Jahr 2010 könnte dies bedeuten, dass die Initiantinnen und Initianten die Transitionszusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und der GUS mitgerechnet haben (1235,4 Mio Fr. für Entwicklungszusammenarbeit des Bundes plus 165,7 Mio. Fr. für die Ostzusammenarbeit, total also 1401,1 Mio Fr.).

65 66 67

SR 974.1 BBl 2012 2485 Siehe www.ecopop.ch > über ECOPOP Bulletin; ECOPOP Bulletin, Nr. 64, Juni 2012, Seite 2; ECOPOP Bulletin, Nr. 62, Oktober 2011, Seite 7; Medienmitteilung: Bundesrat lehnt Ecopop-Initiative wie erwartet ab (ECOPOP 29.05.2013, 16.00 Uhr), siehe: www.ecopop.ch > News sowie www.ecopop.ch > Initiative > Argumente/FAQ (Stand 18. Juni 2013).

8720

Die Absicht der Initiantinnen und Initianten kann angesichts dieser widersprüchlichen Hinweise zur Interpretation des Initiativtextes kaum sinnvoll berücksichtigt werden. Die Definition der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ­ gestützt auf die gesetzlichen Grundlagen und die Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016 sind Grundlage zur Interpretation des Initiativtextes.

Weder die geltende Verfassung noch der Verfassungsentwurf der Volksinitiative definieren «freiwillige Familienplanung». Gemäss verschiedenen Hinweisen auf der ECOPOP-Website verstehen die Initiantinnen und Initianten darunter die Bereitstellung von Verhütungsmitteln, begleitet durch Information und Beratung. Sie sprechen von Freiwilligkeit der Familienplanung und von Familienplanung als Menschenrecht. Das entspricht dem an der Kairo- (1994) und der Peking-Konferenz (1995) entwickelten internationalen Konsens, dem sich auch die Schweiz verpflichtet hat.68 Art. 73a Abs. 4 E-BV Artikel 73a Absatz 4 E-BV untersagt den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die gegen «die Bestimmungen dieses Artikels verstossen» oder gar Massnahmen erschweren, die zur Erreichung der Ziele der Volksinitiative geeignet sind. Er regelt damit ausdrücklich einen Aspekt der auswärtigen Angelegenheiten. Damit wird ­ im Sachbereich der Zuwanderung und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ­ die Kompetenz des Bundes zum Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen verfassungsrechtlich ausdrücklich eingeschränkt.

Die vorgeschlagene Norm bezieht sich allerdings auf den Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Somit untersagt sie dem Bundesrat nicht, einen Staatsvertrag im Hinblick auf den parlamentarischen Genehmigungsbeschluss zu unterzeichnen.

Denn die Bundesversammlung kann in Anwendung von Artikel 141a Absatz 1 BV allfällige Verfassungsänderungen, die der Umsetzung des Vertrags dienen, in den Genehmigungsbeschluss aufnehmen, der seinerseits dem obligatorischen Referendum untersteht. Hingegen erfasst der Begriff des «Abschlusses» die Unterzeichnung von Staatsverträgen, für die der Bundesrat aufgrund von Gesetz und völkerrechtlichem Vertrag zuständig ist.69 Im Migrationsbereich bedeutet dies konkret, dass insbesondere das FZA neu zu verhandeln wäre. Falls dies in dem von der Volksinitiative vorgegebenen Zeitraum nicht möglich ist,
wäre das FZA zu kündigen (Ziff. 4.2.1.2). Ausserdem könnten gewisse Freihandelsabkommen oder andere internationale Abkommen ebenfalls von einer Annahme der Volksinitiative betroffen sein (Ziff. 4.2.1.3, 4.2.3.1 und 4.4.1).

Für die internationale Entwicklungszusammenarbeit des Bundes würde der vorliegende Verfassungsentwurf bedeuten, dass keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden können, die den Einsatz von mindestens 10 Prozent der Mittel zur 68

69

Siehe Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung, 1994: Prinzip 8 und Kapitel VII reproduktive Rechte und Gesundheit, www.unfpa.org/puplic/publications/pid/1973; Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (SR 0.108), Art. 10(h), 12 und 14(2)(b). Erklärung und Aktionsplattform von Beijing: www.un.org/womenwatch/daw/beijing/platform.

Siehe hierzu auch Botschaft des Bundesrates vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291, hier 316, Ziff. 3.2 zu Art. 121a Abs. 4 BV.

8721

Förderung der freiwilligen Familienplanung verhindern oder erschweren würden.

Die Bestimmung wäre insbesondere auf folgende Verträge anwendbar: ­

Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und Partnerländern. Die Rahmenabkommen gelten in der Regel langfristig (oft Jahrzehnte). Um veränderten Prioritäten gebührend Rechnung zu tragen, benennen sie die Schwerpunkte der Zusammenarbeit nur auf allgemeine Art und Weise.

­

Abkommen zur Leistung von allgemeinen Beiträgen an internationale Organisationen. Diese orientieren sich in der Regel an den Schwerpunkten der jeweiligen Organisation.

­

Projektabkommen, die Ziel und Inhalt spezifischer Vorhaben beinhalten.

Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 E-BV Dieser Absatz setzt eine zeitliche Limite fest, innerhalb welcher nach Annahme der Volksinitiative durch Volk und Stände völkerrechtliche Verträge, die den Zielen der Volksinitiative widersprechen oder gegen diese verstossen, neu verhandelt oder gar gekündigt werden müssen. Er sieht eine «schnellstmögliche» Neuverhandlung oder Kündigung der völkerrechtlichen Verträge vor, spätestens aber innerhalb von vier Jahren nach Annahme der Volksinitiative.

In Bezug auf den Migrationsbereich müsste das FZA innerhalb dieser Frist neu verhandelt oder gar gekündigt werden (Ziff. 4.2.1.2 und 4.4.1).

Im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz sind keine geltenden völkerrechtlichen Verträge bekannt, die den Einsatz von mindestens 10 Prozent der Mittel zur Förderung der freiwilligen Familienplanung verhindern oder erschweren oder anderweitig den Zielen des vorgeschlagenen Artikels 73a E-BV widersprechen würden.

Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 E-BV Dieser Absatz präzisiert nicht, wann die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a E-BV bei Annahme der Volksinitiative in Kraft zu setzen ist. Der erste und der zweite Satz erläutern, wie Artikel 73a Absatz 2 E-BV zwischen dem Zeitpunkt der Annahme der Volksinitiative und der Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung anzuwenden ist, nämlich durch eine degressive Begrenzung der Zuwanderung während dieses Zeitraums. Somit legt die Übergangsbestimmung keine zeitliche Limite für die Umsetzung der Volksinitiative fest, falls diese angenommen wird. Der dritte Satz schreibt vor, dass, wenn bis zur Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung die in der Übergangsbestimmung vorgesehenen Werte überschritten werden, der höhere Wert innerhalb von fünf Jahren nach Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung ausgeglichen werden muss. Deshalb muss die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a E-BV einer möglichen Überschreitung der festgelegten Limiten während der Übergangsfrist Rechnung tragen.

8722

4

Würdigung der Volksinitiative

4.1

Anliegen der Volksinitiative

4.1.1

Im Bereich der Migrationspolitik

Eine Annahme der Volksinitiative würde zu einer grundlegenden Neuausrichtung der schweizerischen Migrations- und Zulassungspolitik führen.

Die Auswirkungen einer Annahme der vorliegenden Volksinitiative sind mit denjenigen der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» der SVP vergleichbar.70 Allerdings sind die Auswirkungen der vorliegenden Volksinitiative noch einschneidender, da diese eine starre Zulassungsbegrenzung vorsieht. Die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung legt keine zahlenmässige Beschränkung bei der Festlegung von Kontingenten fest und lässt den Behörden somit einen gewissen Spielraum. Die vorliegende Volksinitiative hingegen schreibt eine feste Begrenzung der Zuwanderung vor, wobei die ständige Wohnbevölkerung im dreijährigen Durchschnitt um nicht mehr als 0,2 Prozent zunehmen darf.

Die Zuwanderungspolitik der Schweiz basiert auf dem FZA und den entsprechenden Bestimmungen des EFTA-Übereinkommens sowie einer beschränkten Zulassung von Angehörigen der übrigen Staaten aus wichtigen wirtschaftlichen oder humanitären Gründen. Dieses duale Zulassungssystem hat sich bewährt. Die Zuwanderung wird heute in erster Linie durch die wirtschaftliche Situation der Schweiz und die damit verbundene Nachfrage nach Arbeitskräften beeinflusst und gesteuert.

Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und Raumplanung und in der Bildungspolitik erhöhen.

Die hohe Zuwanderung verstärkt in diesen Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, die nötigen Reformen anzugehen. Grundlage dafür bilden der Bericht der Arbeitsgruppe Personenfreizügigkeit und Zuwanderung, der am 4. Juli 2012 vom Bundesrat verabschiedet wurde,71 sowie die Massnahmen, die der Bundesrat am 24. April 2013 im Rahmen des Entscheids über die Anrufung und Weiterführung der Ventilklausel ergriffen hat. Die vorliegende Volksinitiative ist kein taugliches Instrument dafür. Die Massnahmen des Bundesrates gegen zuwanderungsbedingte Probleme werden in Ziffer 4.3.3.1 ausführlich dargestellt.

70 71

Botschaft vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291.

Bericht des Bundesrates vom 4. Juli 2012 über die Personenfreizügigkeit und die Zuwanderung in die Schweiz, siehe unter: www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > 2012 > 04.07.12.

8723

4.1.2

Im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Das Teilziel der Volksinitiative, die natürlichen Lebensgrundlagen auch in anderen Ländern sicherzustellen, entspricht auch den Zielsetzungen der Politik des Bundes.

Bereits nach geltendem Verfassungsrecht setzt sich der Bund bei der Erfüllung der auswärtigen Angelegenheiten unter anderem für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ein (Art. 54 Abs. 2 BV). Eine wirtschaftliche, soziale und ökologisch nachhaltige Entwicklung verbessert die Lebensbedingungen armer und ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen. Sie trägt dazu bei, die natürlichen Lebensgrundlagen langfristig zu sichern.

Gleichzeitig verlangt die Volksinitiative, dass der Bund in anderen Ländern das Ziel der Begrenzung der Bevölkerungszahl verfolgt (Art. 73a Abs. 1 und 3 E-BV) und dazu mindestens 10 Prozent der für die internationale Entwicklungszusammenarbeit eingesetzten Mittel für Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung verwendet. Diese Forderung stellt die bewährten Arbeitsansätze der Entwicklungszusammenarbeit in Frage. Die bislang erfolgreiche Praxis, die Unterstützung der Schweiz auf die Prioritäten und die Nachfrage der Partnerländer und -organisationen auszurichten, müsste relativiert werden.

Ein enger Fokus auf die freiwillige Familienplanung kann in Entwicklungsländern nicht nennenswert zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen. Die Volksinitiative setzt kausale Zusammenhänge zwischen freiwilliger Familienplanung, Bevölkerungswachstum, Umweltbelastung und Migration voraus, die in der suggerierten Form nicht bestehen. Die Mängel der Volksinitiative werden in Ziffer 4.3.2 ausführlicher dargestellt. Die Massnahmen des Bundesrates zur Überwindung negativer Wechselwirkungen zwischen Armut und Bevölkerungswachstum, zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in Entwicklungsländern sowie im Bereich Migration und Entwicklung werden unter Ziffer 4.3.3.2 beschrieben.

4.2

Auswirkungen einer Annahme der Volksinitiative

4.2.1

Migrationsbereich

4.2.1.1

Beschränkung der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte und Einführung neuer Bewilligungsverfahren

Eine starke Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz, wie sie von den Initiantinnen und Initianten gewünscht wird, würde im Jahr 2012 einen Rückgang der Zuwanderung von 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr mit sich bringen (Details siehe Ziff. 3.2). Schweizer Unternehmen hätten somit weniger Möglichkeiten, Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren. Die Zuwanderung in die Schweiz wird aber im Wesentlichen durch den Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft gesteuert. Eine Zuwanderungsbegrenzung dürfte sich auch massgeblich auf das Wirtschaftswachstum in der Schweiz auswirken und ihre Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität mindern. Die Schweizer Arbeitgeber könnten ihren Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr decken, denn es müssten grosse Kontingente freigehalten werden, damit die Schweiz in erster Linie ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen kann.

8724

Ausserdem würde die Annahme der Volksinitiative auch die Einführung eines Kontingentsystems für alle Kategorien von Aufenthaltsbewilligungen von mehr als einem Jahr mit sich bringen (Ziff. 3.2 und 4.2.3.1). Abgesehen von der Kontingentfestlegung in jenen Bereichen, in denen in erster Linie die internationalen Verpflichtungen der Schweiz erfüllt werden müssen (Asylbereich, Zulassung aus humanitären Gründen oder zur Einhaltung internationaler Abkommen etc.), liesse sich die Aufteilung der Kontingentseinheiten unter den anderen Zulassungskategorien zwangsläufig nur sehr schwer umsetzen. Daraus ergäbe sich ein entsprechender Mehraufwand für die Behörden, welche für die Festlegung der Kontingentseinheiten zuständig sind, aber auch für die Behörden, welche die Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung prüfen müssen (Ziff. 4.2.3.1).

4.2.1.2

Neuverhandlung des FZA

Wie die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» ist die vorliegende Volksinitiative nicht mit dem FZA vereinbar. Dieses Abkommen müsste somit spätestens innert vier Jahren gekündigt oder angepasst werden (Ziff. 4.2.5.1), falls in der Zwischenzeit keine Neuverhandlungen im Sinne der Volksinitiative erfolgen sollten.

Das Gleiche gälte für die massgebenden Bestimmungen des EFTA-Übereinkommens (Ziff. 4.2.1.3).

Die Neuverhandlung des FZA scheint zwar zumindest aus Schweizer Sicht nicht ausgeschlossen. Allerdings setzt die EU heute die Übernahme des vollständigen EU-Rechts und dessen Weiterentwicklungen für den Abschluss von Verträgen mit der Schweiz voraus. Zudem bestehen auf Seiten der EU grundsätzliche Einschränkungen für eine Neuverhandlung des FZA: Die Personenfreizügigkeit gehört zu den zentralen Grundfreiheiten, die aus Sicht der EU mit einer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt verbunden sind. Bei einer Beschränkung der jährlichen Zuwanderung, wie von der Volksinitiative gefordert, müssten wieder Höchstzahlen für EU-Staatsangehörige eingeführt werden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten könnten eine Diskriminierung ihrer Bürgerinnen und Bürger gegenüber Schweizerinnen und Schweizern in diesem Bereich jedoch nicht akzeptieren. Das FZA müsste im Falle einer Annahme der Volksinitiative daher mit grösster Wahrscheinlichkeit gekündigt werden. Eine Kündigung des FZA hätte schwerwiegende Konsequenzen auf das Verhältnis der Schweiz mit der EU. Durch die Guillotine-Klausel treten bei einer Kündigung des FZA sechs Monate nach deren Notifikation alle anderen betroffenen Abkommen der Bilateralen I72 automatisch ausser Kraft. Gemäss dem Wortlaut des Abkommens kann der Gemischte Ausschuss bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen auf Verlangen einer Vertragspartei zusammentreten, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen. Allerdings würde die EU eine Annahme der Volksinitiative höchstwahrscheinlich kaum als ein derartiges Problem einstufen.

72

Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (SR 0.172.052.68), Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse (SR 0.946.526.81), Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen (SR 0.916.026.81) sowie Abkommen über den Land- (SR 0.740.72) und über den Luftverkehr (SR 0.748.127.192.68).

8725

4.2.1.3

Auswirkungen auf andere Abkommen

Durch die Guillotine-Klausel (Art. 25 Abs. 4 FZA) treten im Fall einer Kündigung des FZA sechs Monate nach deren Notifikation alle anderen betroffenen Abkommen der Bilateralen I automatisch ausser Kraft (vgl. Ziff. 4.2.1.2, 4.2.1.3 und 4.3.3.1).

Zudem besteht die Gefahr, dass die EU ihrerseits Abkommen aufkündigt, die direkt oder indirekt mit dem FZA verknüpft sind.

Das Schengen-Assoziierungsabkommen (SAA) sowie das Dublin-Assoziierungsabkommen (DAA) sind formell nicht mit dem FZA verknüpft und fallen somit nicht unter die Guillotine-Klausel. Bei einer Kündigung des FZA besteht dennoch das Risiko, dass die EU diese beiden Abkommen in Frage stellt. Denn für die EU war das Bestehen eines Abkommens über die Freizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU eine Vorbedingung für die Assoziierung der Schweiz an den SchengenBesitzstand.

Ausserdem steht die Volksinitiative im Widerspruch zum EFTA-Übereinkommen.

Bei einer Neuausrichtung der schweizerischen Migrationspolitik aufgrund der Annahme der Volksinitiative könnte sich die Schweiz auch der Kritik seitens der Unterzeichnerstaaten des EFTA-Übereinkommens aussetzen.

Zudem würde das Abkommen über die Assoziierung der Schweiz zum fünften Forschungsrahmenprogramm unter die Guillotine-Klausel fallen, denn dieses ist Bestandteil der sektoriellen Abkommen, die 1999 zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen wurden (Bilaterale I). Obwohl diese Klausel in den nachfolgenden Rahmenprogrammen mit Schweizer Beteiligung nicht übernommen wurde, könnte die EU dieses Dossier durchaus wieder mit der Personenfreizügigkeit verknüpfen und das Forschungsprogramm73 kündigen, falls das FZA nicht mehr gelten sollte.

Zusätzlich könnte die Erneuerung der Kooperationsabkommen im Bereich Bildung74 und MEDIA75 in Frage gestellt werden.

Nicht zuletzt ist sowohl mit einer tieferen Kompromissbereitschaft der EU in laufenden Verhandlungen ­ im schlimmsten Fall gar mit einem Verhandlungsstopp in allen Marktzugangsdossiers ­ als auch mit einer Verschlechterung der Verhandlungsposition der Schweiz in Bezug auf die institutionellen Fragen zu rechnen.

Daneben könnte die Volksinitiative Verpflichtungen der Schweiz im Rahmen der EMRK76, UNO-Pakts II77 sowie des Übereinkommens vom 20. November 198978 über die Rechte des Kindes (KRK) tangieren. Und schliesslich könnte sie weitere 73

74

75

76 77 78

Abkommen vom 25. Juni 2007 über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft andererseits, SR 0.420.513.1 Abkommen vom 15. Febr. 2010 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union zur Festlegung der Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenossenschaft am Programm «Jugend in Aktion» und am Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens (2007­2013), SR 0.402.268.1 Abkommen vom 11. Okt. 2007 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft im audiovisuellen Bereich zur Festlegung der Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenossenschaft am Gemeinschaftsprogramm MEDIA 2007, SR 0.784.405.226.8 SR 0.101 SR 0.103.2 SR 0.107

8726

Abkommen der Schweiz in Frage stellen, beispielsweise Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) und des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS)79, die sich aus Freihandelsabkommen (FHA) oder aus Abkommen über den Austausch junger Berufsleute (Stagiaires) ergeben. Diese Punkte werden in Ziffer 4.4.1 behandelt.

4.2.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Bei einer Annahme der Volksinitiative müsste der Bund 10 Prozent seiner in die internationale Entwicklungszusammenarbeit fliessenden Mittel für Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung einsetzen (Art.73a Abs. 3 E-BV), und er müsste sicherstellen, dass keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden, die den Einsatz von mindestens 10 Prozent der Mittel zur Förderung der freiwilligen Familienplanung verhindern oder erschweren. Die Konsequenzen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, die bei einer Umsetzung der Volksinitiative anfallen würden, werden unter den Ziffern 4.2.3.2 und 4.3.2.4 dargestellt.

4.2.3

Umsetzung der Volksinitiative

4.2.3.1

Migrationsbereich

Die Hauptmassnahme der Volksinitiative liegt darin, dass die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz infolge Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen darf (Art. 73a Abs. 2 E-BV; Ziff. 3.2).

Die vorliegende Volksinitiative weist viele Ähnlichkeiten mit der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» auf. Sie ist insofern strenger, als sie eine feste Begrenzung der Zuwanderung vorsieht (vgl. Ziff. 4.1.1).

Mit der Forderung nach einer Zuwanderungsbegrenzung verlangt die Volksinitiative letztlich die Einführung eines Kontingentsystems für alle Kategorien ausländischer Personen und Aufenthaltsbewilligungen von mehr als einem Jahr (Ziff. 3.2). Dies bedeutet eine grundsätzliche Neuausrichtung der heutigen Migrationspolitik der Schweiz, die sich auf ein duales Zulassungssystem stützt und ein Kontingentsystem mit einigen Ausnahmen lediglich für Arbeitnehmende aus Drittstaaten kennt (vgl.

Ziff. 2.1.2.1 für europäische Staatsangehörige).

Abgesehen von gewissen Ausnahmen (vgl. Ziff. 2.1.2.1) sind Staatsangehörige der EU/EFTA-Staaten, für die das FZA/EFTA-Übereinkommen anwendbar ist, nicht einem Kontingentsystem unterstellt. Im Bereich der schweizerischen Migrationspolitik besteht ebenso wenig eine Begrenzung der Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen wie im Asylbereich.

Sowohl im Asylbereich als auch beim Familiennachzug bestehen völkerrechtliche Zulassungsverpflichtungen (Flüchtlingskonvention, EMRK, Kinderrechtskonvention etc.). Diese machen Höchstzahlen zu einem untauglichen Instrument zur Begrenzung der Zuwanderung. Diese Konventionen sollten eingehalten und die Kontingente angepasst werden, um diese Rechte zu schützen. Denn eine Verweigerung der 79

SR 0.632.20

8727

Aufenthaltsbewilligung aufgrund der Volksinitiative könnte in gewissen Fällen zu einer Verletzung von Artikel 8 Absatz 1 EMRK oder von Artikel 17 UNO-Pakt II sowie zu einer Verletzung des KRK führen. Bei der Ausarbeitung der Zulassungsbestimmungen sind auch die Verfassungsgarantien zu berücksichtigen, beispielsweise das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV) oder das Recht der Schweizerinnen und Schweizer, in die Schweiz einzureisen (Art. 24 Abs. 2 BV).

Die Einführung eines solchen Kontingentsystems für alle Ausländerkategorien und über alle Bereiche hinweg wäre deshalb sehr schwierig umzusetzen, und die Schweiz wäre verpflichtet, namentlich das FZA und sogar die EMRK zu kündigen.

Auch anderen Verpflichtungen aus internationalen Abkommen müsste Rechnung getragen werden, beispielsweise den Abkommen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) oder den Abkommen über den Austausch junger Berufsleute (Stagiaires) (Ziff. 4.4.1). Ausserdem müsste die Ausführungsgesetzgebung von Artikel 73a E-BV eine Lösung beinhalten, mit der das grundlegende Prinzip des NonRefoulement in jedem Fall gewahrt bleibt, und zwar auch dann, wenn die Kontingente bereits erschöpft sein sollten.

Alle Kontingente müssten jährlich festgelegt werden. Da es kaum möglich wäre, diese Kontingente in einem formellen Gesetz festzulegen, müsste diese Kompetenz an den Bundesrat delegiert werden, wie im Wortlaut der Volksinitiative vorgesehen (vgl. Ziff. 3.2 zu Art. 73a Abs. 2 E-BV). Die umfassende Einführung von Höchstzahlen für alle Bewilligungen würde allerdings auch zu aufwendigen und arbeitsintensiven Bewilligungsverfahren sowie einem erheblichen administrativen Mehraufwand bei den für die Gesuchprüfung zuständigen Behörden führen. Zudem würden sich die Festlegung von Kontingenten unter den verschiedenen Bewilligungskategorien sowie die Zuteilung der Kontingentseinheiten bei der Prüfung der einzelnen Gesuche um Aufenthaltsbewilligung als äusserst schwierig erweisen (Ziff. 4.2.1.1).

4.2.3.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Zur Umsetzung der Volksinitiative müsste sichergestellt werden, dass die getätigten bilateralen Mittel in Schwerpunktländern sowie Beiträge an internationale Organisationen im Bereich der freiwilligen Familienplanung zusammengerechnet 10 Prozent der Gesamtausgaben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ausmachen.

Zur Einhaltung dieser Vorgabe müsste eine zentrale Koordination aufgebaut werden, und es wären Instruktionen für die verschiedenen Koordinations- und Programmbüros der DEZA zu erlassen. Die DEZA müsste auch in Ländern und Regionen Projekte im Bereich der freiwilligen Familienplanung lancieren und durchführen, in denen solche Projekte nicht den Schwerpunkten der nationalen und lokalen Regierungen und Akteure entsprechen. An bestimmte internationale Organisationen ­ wie zum Beispiel den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) ­ müssten mehr Mittel zweckgebunden geleistet werden.

Als sofortige Massnahme müssten nach einer Annahme der Volksinitiative bestehende Strategien und eingegangene Verpflichtungen überprüft beziehungsweise angepasst werden, um die Vorgabe der Volksinitiative zu respektieren.

8728

4.2.4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

4.2.4.1

Migrationsbereich

Bei einer Annahme der vorliegenden Volksinitiative sind die Auswirkungen vergleichbar mit den Auswirkungen, die eine Annahme der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» hätte.

Die Einführung von Höchstzahlen für alle Kategorien von ausländischen Personen und Aufenthaltsbewilligungen von mehr als einem Jahr, insbesondere für europäische Staatsangehörige, würde einen erheblichen Personalaufbau bei den für die Behandlung dieser Gesuche zuständigen Behörden bedingen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, das zusätzlich benötigte Personal zahlenmässig zu bestimmen, da die Modalitäten der Umsetzung der Volksinitiative nicht definiert sind. Auch die Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I können nicht in Zahlen gefasst werden; diese dürften aber noch schwerer wiegen, falls die EU beabsichtigt, die indirekt mit dem FZA und den Bilateralen I verbundenen Abkommen zu kündigen.

Bei einer möglichen Kündigung des SAA und des DAA würden zwar die Beteiligungskosten der Schweiz im Bereich Schengen und Dublin wegfallen, namentlich die jährlichen Verwaltungsbeiträge, die Beiträge an die Agenturen (IT-Agentur, FRONTEX) oder an den Aussengrenzenfonds. Ein Ausstieg aus der Schengener und Dubliner Zusammenarbeit hätte jedoch auch erhebliche Kosten (Abschreibungen von bisher getätigten, hohen Investitionen z. B. für Anschlusskosten an Schengener/Dubliner IT-Infrastrukturen, Anpassung von bestehenden nationalen ITSystemen wie ZEMIS oder AFIS) oder generelle Strukturanpassungen (nationales Visainformationssystem, neues Schweizer Visum oder Kontrollregime an Landesgrenzen und Flughäfen) zur Folge.

Vor allem würden die mit der Beteiligung an Dublin möglichen Einsparungen wegfallen. Berechnet man die mit Dublin verkürzte Verfahrensdauer (diese ist bei einem Dublin-Verfahren vom Asylgesuch bis zum erstinstanzlichen Entscheid rund vier Monate kürzer als bei einem normalen Asylverfahren), so ergäben sich Mehrkosten von durchschnittlich rund 26,5 Millionen Franken pro Jahr, weil jährlich etwa 4000 Dublin-Nichteintretensentscheide wegfielen. Die Schweiz würde bei einem Ausstieg aus dem Dublin-System als Asylland stark an Attraktivität gewinnen: Jede asylsuchende Person, deren Gesuch in einem EU-Land abgewiesen wurde, könnte in der Schweiz erneut ein Asylgesuch stellen, auf welches die Schweiz ohne Dublin
eintreten müsste. Sie müsste folglich die Verfahren selber durchführen. Dies hätte einen Anstieg der Asylgesuche zur Folge. Bei einer vorsichtigen Schätzung von jährlich 2000 zusätzlich eingereichten Asylgesuchen ergäben sich Mehrkosten für die Unterbringung und Sozialhilfe in Höhe von 40 Millionen Franken.80

80

Für nähere Informationen in Bezug auf die finanziellen und personellen Auswirkungen sei auf die Botschaft des Bundesrates vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» verwiesen, BBl 2013 291, hier 320 (Ziff. 4.2.4).

8729

4.2.4.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Bei Inkrafttreten der von der Volksinitiative vorgeschlagenen Regelung im Jahr 2012 hätte die Berechnung der notwendigen Mehrausgaben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der freiwilligen Familienplanung folgendermassen ausgesehen: Gesamtausgaben für die internationale Entwicklungszusammenarbeit in Mio. Franken

1482*

davon 10 Prozent

148,2

getätigte Ausgaben für Massnahmen zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, inkl. Familienplanung

bilateral multilateral

benötigte Mehrausgaben für die freiwillige Familienplanung * **

69,9** 78,3

DEZA: CHF 1273 Mio.; SECO: CHF 209 Mio.

Bilaterale: CHF 23,4 Mio.; Multilaterale: CHF 46,5 Mio.

Für die Jahre 2013­2016 hat das Parlament im Dezember 2012 eine Aufstockung der Mittel der internationalen Entwicklungszusammenarbeit beschlossen.81 Auch ist geplant, die Mittel zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit inklusive Familienplanung 2013­2016 zu erhöhen.

Da es sich bei dem von der Volksinitiative geforderten Anteil um eine prozentuale Vorgabe handelt, wäre keine Erhöhung der Mittel der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Die prozentuale Vorgabe der Volksinitiative würde innerhalb des Portfolios der internationalen Entwicklungszusammenarbeit eine Kompensation der notwendigen Mehrausgaben für freiwillige Familienplanung erfordern (Rahmenkredite: «Technische Zusammenarbeit und Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern» sowie «Wirtschafts- und handelspolitische Massnahmen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit», siehe Botschaft über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016).

4.2.4.3

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Die Vorlage untersteht nicht der Ausgabenbremse nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV, da sie weder Subventionsbestimmungen noch die Grundlage für die Schaffung eines Verpflichtungskredites oder Zahlungsrahmens enthält.

81

Botschaft vom 15. Febr. 2012 über die internationale Zusammenarbeit 2013­2016 (BBl 2012 2485, hier 2532, Tabelle 1). Bis 2015 sollen die öffentliche Entwicklungshilfe auf 0,5 % des Bruttonationaleinkommens erhöht werden (Bundesbeschluss vom 28. Febr.

2011 zur Erhöhung der Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Entwicklungshilfe zugunsten der DEZA (BBl 2011 2919) und Bundesbeschluss vom 28. Febr. 2011 zur Erhöhung der Mittel zur Finanzierung der öffentlichen Entwicklungshilfe zugunsten des SECO (BBl 2011 2921).

8730

4.2.5

Inkrafttreten und Übergangsbestimmungen

4.2.5.1

Migrationsbereich

Die Volksinitiative würde am Tage ihrer Annahme durch Volk und Stände zu gültigem Verfassungsrecht (Art. 195 BV). Bestehende völkerrechtliche Verträge müssten innerhalb von vier Jahren nach Annahme der neuen Verfassungsbestimmung neu verhandelt und angepasst werden, wenn sie den neuen Verfassungsbestimmungen widersprechen (Art. 73a Abs. 4 E-BV). Betroffen davon wäre das FZA (vgl.

Ziff. 4.2.1.2). Es ist darauf hinzuweisen, dass das FZA grundsätzlich für maximal vier Jahre weiterhin angewendet werden könnte; allerdings müsste eine höhere Zuwanderung später im Rahmen der Übergangsbestimmungen wieder kompensiert werden (siehe unten).

Die neue Verfassungsbestimmung ist nicht direkt anwendbar. Artikel 197 Ziffer 9 Absatz 2 E-BV sieht eine Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a E-BV vor. Darin wären die Einzelheiten des neuen Zulassungssystems zu regeln. Dabei wäre darauf zu achten, dass die gewählte Lösung den bestehenden weiteren völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz so weit wie möglich entspricht (Ziff. 4.2.3.1).

Eine höhere Zunahme in den Jahren bis zur Inkraftsetzung der Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 73a E-BV muss innerhalb von fünf Jahren nach Inkraftsetzung dieser Ausführungsgesetzgebung ausgeglichen werden (Ziff. 3.1.2, 3.2).

4.2.5.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Keine völkerrechtlichen Verträge der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sind von den Übergangsbestimmungen (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 E-BV) betroffen. Ein Ausführungsgesetz oder Änderungen bestehender rechtlicher Grundlagen wären nicht notwendig. Das Bundesgesetz vom 19. März 1976 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sieht in Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe e bereits Massnahmen im Bereich «Herstellung und Wahrung des ökologischen und demografischen Gleichgewichts» vor. Weitere Vorgaben könnten im ausführenden Recht gemacht werden.

4.3

Mängel der Volksinitiative

4.3.1

Migrationsbereich

Im Gegensatz zur Volksinitiative will der Bundesrat an seiner bewährten Zulassungspolitik festhalten, welche auf der Personenfreizügigkeit im Rahmen des FZA/EFTA-Übereinkommens und strengen Zulassungsvoraussetzungen für Personen aus Drittstaaten beruht (duales Zulassungssystem).

Eine Begrenzung der Zuwanderung auf 0,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung, wie sie die Volksinitiative vorschlägt, würde zwar die reguläre Zuwanderung in die Schweiz verringern, sie stellt aber kein taugliches Instrument hierfür dar, insbesondere was die humanitäre Zulassung und den Familiennachzug betrifft. In

8731

diesen Bereichen ist die Zuwanderung aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen nur sehr begrenzt steuerbar.

Eine Annahme der Volksinitiative würde zudem sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Behörden der Kantone und des Bundes zu einem bürokratischen Mehraufwand führen. Sie wäre schädlich für das wirtschaftliche Wachstum der Schweiz und würde deren Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität negativ beeinflussen.

Nachstehend werden die schwerwiegenden Folgen einer Kündigung des FZA vertieft dargestellt.

Gravierende Konsequenzen für die Wirtschaft Auch wenn die genaue Bedeutung eines Ausserkrafttretens der Bilateralen I schwierig abzuschätzen ist, würde dies gravierende Konsequenzen für die Volkswirtschaft haben. Denn die EU ist die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Eine Kündigung der Bilateralen I würde sich namentlich wie folgt auswirken:82 ­

Wegfall des garantierten Zugangs zu den Arbeitsmärkten von 27 Mitgliedstaaten für schweizerische Staatsangehörige (28 nach der Verabschiedung des Protokolls III);

­

Wegfall des garantierten Zugangs von Schweizer Firmen zu öffentlichen Aufträgen in gewissen Bereichen;

­

erschwerte Exporte in die EU wegen zusätzlicher Produktprüfungen;

­

erschwerte Agrarexporte in die EU;

­

verkomplizierte Abwicklung des Land- und Luftverkehrs;

­

mögliche Einstellung der sehr erfolgreichen Beteiligung der Schweizer Forschenden (Hochschulen, Firmen) an den EU-Forschungsprogrammen.

Eine Annahme der Volksinitiative würde in erster Linie die wirtschaftlich ausgerichtete Zuwanderung massiv einschränken. Es ist damit zu rechnen, dass auch zukünftig ein erheblicher Bedarf an Arbeitskräften (Fachkräftemangel etwa im Gesundheitswesen oder in den technischen Berufen) besteht, der nicht vollumfänglich durch inländische Arbeitskräfte gedeckt werden kann. Die Einschränkung der Zuwanderung auf einen Beitrag von 0,2 Prozent an das Bevölkerungswachstum wäre wirtschaftlich einschneidend. Die Attraktivität der Schweiz als Standort für international ausgerichtete Unternehmen wäre grundlegend in Frage gestellt.

Ferner würde eine verminderte Zuwanderung ein tieferes Wirtschaftswachstum zur Folge haben. Dementsprechend würden auch weniger Einnahmen den Sozialversicherungen zufliessen. Insbesondere die AHV und die IV wären von negativen Finanzierungsauswirkungen erheblich betroffen, die nachhaltige Sicherung der Finanzierungsgrundlagen würde damit deutlich erschwert.

Ausserdem sind äusserst negative Konsequenzen für die Steuereinnahmen auf allen Ebenen zu erwarten, namentlich auf der Ebene der Unternehmen und der natürlichen Personen.

Eine Annahme der Volksinitiative würde zudem zu einer deutlichen Erhöhung des administrativen Aufwands bei den Arbeitgebern sowie den Arbeitsmarkt- und 82

Näheres zu den Auswirkungen einer Kündigung der bilateralen Abkommen siehe Botschaft des Bundesrates vom 7. Dezember 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291, hier 323­328.

8732

Migrationsbehörden der Kantone und des Bundes führen (Verwaltung der Höchstzahlen, Kontrolle von Aufenthalts- und Arbeitsvoraussetzungen, aufwendige Bewilligungs- und Beschwerdeverfahren).

Aus diesen Gründen ist die Volksinitiative aus Sicht der Zulassung zum Arbeitsmarkt abzulehnen. Die Steuerung der Migration und ihrer (negativen) Auswirkungen kann auch beim heutigen Zulassungssystem noch verbessert werden; in der Botschaft zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» hat der Bundesrat dies näher ausgeführt.83 Zudem soll auf die Verantwortung der Arbeitgeber in einem Zulassungssystem hingewiesen werden, das gegenüber den EU/EFTA-Staaten weitgehend auf eine bürokratische Steuerung der Migration zugunsten der Wirtschaft verzichtet. Die Wirtschaft muss verstärkt Verantwortung bei der Berufsausbildung, der Rekrutierung von neuen Arbeitskräften aus dem Ausland wie auch bei der Förderung der Integration wahrnehmen.

4.3.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Die Volksinitiative setzt kausale Zusammenhänge zwischen freiwilliger Familienplanung, Bevölkerungswachstum, Umweltbelastung und Migration voraus, die in dieser Form nicht bestehen.

4.3.2.1

Zusammenhang zwischen freiwilliger Familienplanung und Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern

Die Politik der freiwilligen Familienplanung kann mit der Verfügbarmachung von Verhütungsmitteln und einer entsprechenden Aufklärung das Bevölkerungswachstum reduzieren helfen. Sie ist jedoch nicht der wichtigste Faktor. Die UNOKonferenz zur Bevölkerung und Entwicklung (ICPD, Kairo, 1994) wie auch die Nachfolgekonferenzen zur Umsetzung des ICPD-Aktionsprogramms haben folgende Faktoren für eine Stabilisierung des Bevölkerungswachstums herausgearbeitet: eine zielorientierte und wirksame Armutsbekämpfung, die sexuellen und reproduktiven Rechte für alle, die Gleichstellung der Geschlechter, die Ausbildung und Ermächtigung der Mädchen und Frauen (inkl. ihr Zugang zu Produktionsmitteln und Gütern), die Aufklärung der Jugendlichen über Reproduktion und Sexualität, der Zugang zu Basisgesundheitsdiensten inklusive sexuelle und reproduktive Gesundheit und Familienplanung. Bevölkerungspolitische Massnahmen sind dann wirksam, wenn sie in breite Ansätze zur Armutsbekämpfung eingebettet sind (Ziff. 4.3.3.2).

4.3.2.2

Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Ressourcendruck

Weltweit zählen heute besonders der Klimawandel, der Verlust biologischer Vielfalt, die Bodendegradation, die Verknappung von Süsswasser sowie die Übernut83

BBl 2013 291, Ziff. 4.3.2

8733

zung der Meere zu den kritischen Veränderungen der natürlichen Umwelt. Die Ausbreitung nicht nachhaltiger Lebensstile und Produktionsweisen sowie eine steigende Energie- und Ressourcennachfrage beschleunigen die Veränderungen.

Aufgrund dieser Veränderungen ist die Verwundbarkeit armer Länder und armer Bevölkerungsgruppen stark angestiegen.

In Entwicklungsländern kann das Bevölkerungswachstum den Druck auf Umweltressourcen erhöhen. Massgebend für die ökologische Belastung ist jedoch weniger die Bevölkerungsgrösse als vielmehr der Ressourcenverbrauch und die zugrunde liegende Wirtschafts- und Sozialordnung. Wirksame Antworten auf den wachsenden Druck auf die natürlichen Ressourcen erfordern denn auch einen breiten Ansatz.

Dazu gehören die Förderung eines nachhaltigen und breitenwirksamen Wirtschaftswachstums, die nachhaltige Ressourcennutzung, eine gerechtere Verteilung und Lastenteilung, eine ressourcenschonende Produktion und ein ressourcenschonender Konsum in Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern sowie innovative Partnerschaften zwischen staatlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren.

4.3.2.3

Zusammenhang zwischen Einwanderungsdruck in der Schweiz und Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern

Nur rund 16 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz stammen aus Entwicklungsländern.84 Von den Migrantinnen und Migranten aus Entwicklungsländern weltweit residiert die Hälfte in anderen Entwicklungsländern. Gemäss Statistik der Weltbank waren dies im Jahr 2011 43,1 Millionen Menschen. Rund 42,8 Millionen wohnen in OECD-Ländern. Die Migrationsgründe sind insbesondere Armut, Perspektivenlosigkeit, wirtschaftliche Motive, politische Verfolgung, Gewaltkonflikte. Das Bevölkerungswachstum spielt bei den Migrationsgründen höchstens eine sehr untergeordnete Rolle. Die Wechselwirkungen zwischen Migration und Entwicklung werden international intensiv diskutiert. Reproduktionsbezogene Ansätze sind dabei angesichts der ethischen Implikationen und des politischen Konfliktpotenzials wenig relevant. Im Vordergrund stehen politische Optionen und Massnahmen zur Steuerung der Migration (Ziff. 4.3.3.2).

4.3.2.4

Unangemessenheit in Bezug auf die internationale Entwicklungszusammenarbeit

Die Annahme der Volksinitiative würde die wirksame Praxis der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Frage stellen. Die Fixierung von 10 Prozent der Mittel für Familienplanung widerspricht der bewährten Politik der Schweiz, die eigenen Anstrengungen armer Länder bei der Bewältigung von Armuts- und Entwicklungsproblemen zu unterstützen. Dieser Grundsatz ist in Artikel 5 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 19. März 197685 über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe verankert. Die Ausrichtung der Unterstützung der 84

85

Bundesamt für Statistik (BFS), Stand Ende Dezember 2011, Dokument verfügbar unter: www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.Document.

20577.xls.

SR 974.0

8734

Schweiz auf die Prioritäten der Länder und Organisationen (Nachfrage) wäre nicht mehr gegeben (Ziff. 2.2.2). Bei Annahme der Volksinitiative müsste die DEZA in Ländern und Regionen Projekte im Bereich der freiwilligen Familienplanung durchführen, auch wenn diese Ausrichtung nicht den jeweiligen national und lokal festgelegten Schwerpunkten entsprechen würde. Die DEZA müsste diese Massnahmen verstärken, auch wenn sie glaubhaft machen kann, dass diese Aktivitäten mit höchster Wahrscheinlichkeit zur Erreichung der Ziele der Volksinitiative keinen nennenswerten Beitrag leisten. Eine solche Vorgehensweise würde die breite Anerkennung und Reputation der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz belasten.

Die Schweiz müsste für ausgewählte internationale Organisationen, wie zum Beispiel den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, mehr zweckgebundene Beiträge leisten. Dies widerspricht dem Anliegen der Vereinten Nationen, dass Geberländer allgemeine Beiträge («core contributions») priorisieren und die zwischenstaatlich ausgehandelten Prioritäten der multilateralen Organisationen berücksichtigen.

Für bestimmte Themen und einen ausgewählten Aufgabenbereich der internationalen Zusammenarbeit in der Bundesverfassung eine exklusive Zweckbindung anzubringen, wäre nicht stufengerecht. Das Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe gibt den erforderlichen Handlungsspielraum, um auf rasche Veränderungen im Kontext angemessen reagieren und neue Massnahmen lancieren zu können.

Schliesslich dürfte das ausdrückliche Ziel, die Bevölkerungsgrösse in anderen Ländern zu reduzieren, auch dem internationalen Ansehen der Schweiz schaden. Die Schweiz würde für Kritik angreifbar, weil sie im Vergleich zu Entwicklungsländern einen hohen Ressourcenverbrauch aufweist und auch Schweizer Firmen von der Nutzung natürlicher Ressourcen in Entwicklungsländern profitieren.

4.3.3

Probleme gezielter angehen als die Volksinitiative

4.3.3.1

Migrationsbereich

Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und Raumplanung und in der Bildungspolitik erhöhen. Die hohe Zuwanderung erhöht in den genannten Bereichen den innenpolitischen Reformdruck. Der Bundesrat setzt sich dafür ein, die nötigen Reformen anzugehen. Die Volksinitiative ist aber keine angemessene Antwort auf die Probleme im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die bereits eingeführten und künftig geplanten Reformen eine bessere Antwort sind auf die Herausforderungen, die sich der Schweiz in den kommenden Jahren stellen.

Massnahmen in Bezug auf die Personenfreizügigkeit Mit der schrittweisen Einführung der Personenfreizügigkeit wurden auch flankierende Massnahmen (FlaM) eingeführt, die am 1. Juni 2004 in Kraft traten. Sie sollen verhindern, dass die Löhne und die Arbeitsbedingungen in der Schweiz aufgrund der Öffnung des Arbeitsmarktes unter Druck geraten. Der wichtigste Bestandteil der 8735

FlaM bildet das Entsendegesetz vom 8. Oktober 199986 (EntsG). Dieses verpflichtet Arbeitgeber, die im Rahmen einer Dienstleistungserbringung Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung der schweizerischen minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen.

Die flankierenden Massnahmen werden wirksam umgesetzt und erlauben somit, missbräuchliche Entwicklungen im Bereich der Personenfreizügigkeit zu verhindern.87 Um diese Massnahmen und deren Vollzug zu verstärken, wurde das EntsG am 1. Januar 2013 geändert. Die neuen Bestimmungen erleichtern insbesondere die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit ausländischer Dienstleistungserbringer durch die Einführung einer Dokumentationspflicht und neuer Sanktionsmöglichkeiten. Zudem sind ausländische Arbeitgeber seit dem 1. Mai 2013 verpflichtet, bei einer Entsendung ihrer Mitarbeitenden in die Schweiz den Bruttostundenlohn jedes Mitarbeitenden im Rahmen der Meldepflicht bekanntzugeben. Neben diesen Änderungen hat der Bundesrat am 26. Juni 2013 beschlossen, dass am 15. Juli 2013 eine verstärkte Solidarhaftung im Bauhaupt- und Baunebengewerbe in Kraft treten soll.

Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, eine zivilrechtliche Haftung des Erstunternehmers zu begründen, wenn ein Subunternehmer die in der Schweiz geltenden Mindeststandards bezüglich Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht einhält.

Das EntsG hat somit eine diesbezügliche Anpassung erfahren. Unmittelbar darauf wurde auch entschieden, in der Verordnung vom 21. Mai 200388 über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (EntsV) verschiedene Bestimmungen zur Anwendung der Solidarhaftung einzuführen. Die genannten Bestimmungen traten ebenfalls am 15. Juli 2013 in Kraft.

Aufgrund von Empfehlungen und eines Postulats89 der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) hat der Bundesrat das WBF beauftragt, die strategische und operative Steuerung der FlaM durch eine verstärkte Unterstützung der Vollzugsorgane in Form von Kontrollen und Begleitung vor Ort zu verbessern. Die Zusammenarbeit aller am Vollzug beteiligten Organe soll ebenfalls verstärkt werden.

Aufgrund der Anrufung der Ventilklausel durch den Bundesrat am 24. April 2013 sind die Aufenthaltsbewilligungen (Ausweis B) für Staatsangehörige der EU-8 und der EU-17 für die Dauer eines Jahres erneut einer Kontingentierung
unterworfen worden (Ziff. 2.1.2.1). Zudem hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 24. April 2013 weitere Massnahmen getroffen, um die negativen Folgen der Personenfreizügigkeit einzudämmen.

In Bezug auf die Staatsangehörigen von Rumänien und Bulgarien hat der Bundesrat bereits im Jahr 2011 beschlossen, die Kontingente bis 2014 weiterzuführen. Diese Massnahmen können bis 2016 angewendet werden. Ausserdem hat das BFM einen

86 87

88 89

SR 823.20 Vgl. Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft, FlaM-Bericht vom 26. April 2013 zur Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Freizügigkeit im Personenverkehr, 1. Januar bis 31. Dezember 2012, verfügbar unter: www.seco.admin.ch > Themen > Arbeit > Freier Personenverkehr > Flankierende Massnahmen SR 823.201 www.parlament.ch > Dokumentation > Berichte > Berichte der Aufsichtskommissionen > Geschäftsprüfungskommission GPK > 2011 > Evaluation der Aufsicht über die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit und deren Wirkungen.

8736

Bericht90 mit Empfehlungen91 verfasst, um die Praxis der Kantone in Bezug auf die Umgehung der Aufenthaltsbewilligungen für rumänische und bulgarische Staatsangehörige im Rotlichtmilieu zu vereinheitlichen. Zudem bedeutet die systematische Bekämpfung der berufsmässigen Bettelei in der Praxis, dass konsequenter als bisher auf die Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen zurückgegriffen wird.

Das Massnahmenpaket FZA des Bundesrates vom 24. Februar 2010 stellt ebenfalls ein Instrument dar, um gegen missbräuchliche Bezüge von Sozialleistungen sowie Lohn- und Sozialdumping vorzugehen und die Kontrolle der Zulassungsvoraussetzungen zu verstärken. Aufgrund der Empfehlungen, die der Bundesrat in seinem Bericht vom 4. Juli 201292 über die Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in die Schweiz abgab, wurde das Bundesamt für Migration beauftragt, zusammen mit den Kantonen ein nachhaltiges Missbrauchsmonitoring im ausländerrechtlichen Bereich einzuführen.

Eine besondere Schwierigkeit für die Migrationsbehörden stellen die fehlenden Informationen dar, die in gewissen Fällen die Beendigung des Aufenthalts von EU/EFTA-Staatsangehörigen bei fortgesetzter Arbeitslosigkeit ermöglichen würden.

Zur Sicherstellung dieses Informationsaustausches beschloss die Bundesversammlung am 14. Dezember 2012 eine Änderung von Artikel 97 Absatz 3 AuG. Demnach kann der Bundesrat festlegen, welche Daten über den Bezug von Arbeitslosenentschädigung den Migrationsbehörden mitgeteilt werden müssen.93 Diese Bestimmung wird voraussichtlich am 1. Januar 2014 in Kraft treten.

Massnahmen in Bezug auf die Integration von Ausländerinnen und Ausländern Obwohl das Schweizer Integrationsmodell trotz der hohen Zuwanderung im Grossen und Ganzen als erfolgreich bewertet werden kann, muss die Schweiz weitere Anstrengungen zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern unternehmen. Der Bundesrat hat hier Handlungsbedarf erkannt. Den bestehenden Integrationsdefiziten wird mit geeigneten Massnahmen Rechnung getragen werden. Als Grundlage dazu dient der vom Bundesrat im November 2011 beschlossene Integrationsplan. Generelles Ziel dieses Plans ist es, das Prinzip «Fördern und Fordern», also die Gegenseitigkeit des Integrationsprozesses, verbindlicher zu regeln. Der Integrationsplan sieht vier Massnahmen vor.

Erstens sollen die integrationsrechtlichen
Bestimmungen im Ausländergesetz revidiert werden, um die Verbindlichkeit der Integrationspolitik für alle Beteiligten zu stärken. Im Vordergrund steht der Gedanke, dass Integration verstärkt eingefordert, aber auch weiterhin gefördert werden soll.

Der Bundesrat hat am 8. März 2013 die Botschaft zur Teilrevision des AuG verabschiedet.94 Diese sieht beispielsweise vor, dass in Zukunft nur noch gut integrierte Ausländerinnen und Ausländer eine Niederlassungsbewilligung erhalten.

90

91

92 93 94

Bericht des BFM zur Rotlichtproblematik vom Januar 2012, verfügbar unter: www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Rechtliche Grundlagen > Weisungen und Kreisschreiben > Weitere Weisungen und Rundschreiben > Rotlichtproblematik.

Empfehlungen des BFM zur Rotlichtproblematik, verfügbar unter: www.bfm.admin.ch > Dokumentation > Rechtliche Grundlagen > Weisungen und Kreisschreiben > Weitere Weisungen und Rundschreiben > Rotlichtproblematik.

Bericht verfügbar unter: www.bfm.admin.ch > Medienmitteilungen > 2012 > 04.07.12.

BBl 2012 9685 BBl 2013 2397

8737

Sie definiert zudem die Aufgaben von Bund und Kantonen bei der Integrationsförderung. Diese baut auf dem Grundsatz auf, dass Integration eine Querschnittaufgabe ist, die vor Ort erfolgen soll: in der Schule, im Beruf und im Quartier.

Zweitens soll mittels Anpassungen im Raumplanungsgesetz vom 22. Juni 197995, im Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 200296 sowie in der Sozialversicherungsgesetzgebung die Integration auch in den sogenannten Regelstrukturen, d. h. in allen Bereichen des Alltags und vor Ort, verankert werden. Der genannte Gesetzesentwurf enthält ebenfalls diesbezügliche Bestimmungen. Er wird zurzeit im Parlament beraten.

Drittens soll dort, wo bestehende Strukturen fehlen oder nicht zugänglich sind, die spezifische Integrationsförderung im Rahmen von kantonalen Integrationsprogrammen ausgebaut werden.

Viertens soll der Bund zusammen mit den Kantonen und Gemeinden im Dialog mit Akteuren aus der Wirtschaft und Gesellschaft konkrete Integrationsziele vereinbaren, welche gemeinsam erreicht werden sollen.

Massnahmen in Bezug auf den Wohnungsmarkt und die Infrastrukturen Die Nachfrage nach Wohnraum ist in den letzten Jahren insbesondere in den Städten und Agglomerationen stark gestiegen. Der Nationalrat hat am 19. März 2013 ein Postulat97 eingereicht mit der Aufforderung, der Bundesrat solle prüfen, ob flankierende Massnahmen im Wohnungswesen getroffen werden müssen, um die negativen Folgen der Personenfreizügigkeit zu mindern.

Am 15. Mai 2013 hat der Bundesrat zudem eine Aussprache über die Massnahmen im Wohnungswesen geführt. Die aktuelle Wohnungspolitik soll beibehalten, aber optimiert werden. Mehrere der vorgeschlagenen Massnahmen sollen umgesetzt oder im Detail geprüft werden. Um die Schaffung preisgünstigen Wohnraums zusätzlich zu fördern, soll beispielsweise das Gespräch mit Kantonen, Städten und Gemeinden in den Bereichen Raumplanung und Baurecht intensiviert werden. Zudem wird eine Förderung des Wohnbaus über das Raumplanungsgesetz (RPG) geprüft.

Im Infrastrukturbereich sind zahlreiche Projekte am Laufen. Am 18. Januar 2012 hat der Bundesrat die Botschaft zur Volksinitiative «Für den öffentlichen Verkehr» und zum direkten Gegenentwurf (Bundesbeschluss über die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur, FABI)98 an das Parlament überwiesen. Der Ständerat hat als
Erstrat die Vorlage mit Anpassungen am 3. Dezember 2012 gutgeheissen.

Der Nationalrat stimmte der Vorlage in der Schlussabstimmung vom 21. Juni 2013 zu. Dieses Projekt zur Finanzierung und zum Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) ermöglicht den schrittweisen Ausbau der Kapazitäten des Schweizer Schienennetzes. Gleichzeitig möchte der Bund auch die Kapazität des Strassennetzes erhalten.

Deshalb sollen rund 400 Kilometer Kantonsstrassen in das Nationalstrassennetz übernommen werden (neuer Netzbeschluss, NEB). Diese Massnahme ermöglicht eine bessere Verkehrsanbindung der Städte und Agglomerationen. Um Staus zu lindern, sieht der Bundesrat in seiner Botschaft zum Programm zur Beseitigung von Engpässen im Nationalstrassennetz und zur Freigabe von Mitteln zudem Investitio95 96 97 98

SR 700 SR 412.10 Postulat 12.3662 vom 28.08.12 der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrates, «Massnahmen im Wohnungswesen».

BBl 2012 1577

8738

nen in zusätzliche Fahrspuren vor. Im Rahmen der ersten Botschaft vom 11. November 200999 zum Programm zur Beseitigung von Engpässen im Nationalstrassennetz und zur Freigabe von Mitteln wurden Mittel im Umfang von rund 1,4 Milliarden Franken freigegeben. In einem zweiten Programm100 schlägt der Bundesrat nun zusätzliche Investitionen von rund 995 Millionen Franken für den Ausbau bestimmter Abschnitte vor. Die Vernehmlassung wurde vom 10. April 2013 bis am 7. August 2013 durchgeführt.101

4.3.3.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Bevölkerungswachstum und Armut Bevölkerungswachstum hängt von einer Vielzahl Faktoren ab (vgl. Ziff. 4.3.2).

Bevölkerungspolitische Massnahmen sind in mehrdimensionalen Ansätzen erfolgreich, welche die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum und nachhaltiger Entwicklung berücksichtigen. Die bewährte Praxis der Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz setzt auf mehreren Ebenen an: ­

Armutsbekämpfung: Hinter dem hohen Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern verbirgt sich meist kein unstillbarer Kinderwunsch. Massgeblich ist die wirtschaftliche Situation. In Gesellschaften mit hoher Armut dienen Kinder häufig als Altersvorsorge. Neben Massnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur nachhaltigen Ressourcennutzung sind soziale Dienstleistungen und Sozialversicherungssysteme wichtige Komponenten der Armutsbekämpfung. Sie können die Anreize, die Kinderzahl zu erhöhen, mindern.

­

Sexuelle und reproduktive Rechte für alle: Die Fähigkeit und Macht der Mädchen und Frauen, über Schwangerschaften entscheiden zu können, ist ein zentraler Faktor für die Reduktion des hohen Bevölkerungswachstums. Zielführende Massnahmen in diesem Bereich sind: Förderung von Geschlechtergleichstellung, Ausbildung, politische Teilhabe, wirtschaftliche Rechte, Verhinderung sexueller Gewalt.

­

Ausbildung für alle, einschliesslich Aufklärung: Bildung ist eine Voraussetzung für eine verbesserte reproduktive Gesundheit. Mädchen und Frauen, die über eine Sekundarbildung verfügen, können eine ungewollte Schwangerschaft eher vermeiden. Sie finden eher Zugang zu Verhütungsmitteln und

99 100

BBl 2009 8387 Bericht für die Vernehmlassung zum Bundesbeschluss über das zweite Programm zur Beseitigung von Engpässen im Nationalstrassennetz und zur Freigabe von Mitteln, verfügbar unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossene Vernehmlassungen > Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation.

101 Für nähere Informationen zu diesen Massnahmen und insbesondere zum Integrationsplan des Bundes sei auf die Botschaft des Bundesrates vom 7. Dez. 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» verwiesen, BBl 2013 291, hier 328­334

8739

verwenden sie auch häufiger. Die Fertilität ist weltweit mit gesteigerten Bildungschancen gesunken. Dazu hat insbesondere die Ausweitung der Sekundarbildung für Mädchen beigetragen. Jugendliche (Mädchen und Knaben) benötigen Zugang zu Informationen über Reproduktion und Sexualität wie Verhütung, sexuelle Gewalt und negative Konsequenzen einer frühen Schwangerschaft.

­

Basisgesundheit für alle, einschliesslich sexuelle und reproduktive Gesundheit und Familienplanung. Angemessene Basisgesundheitsdienste umfassen auch Dienstleistungen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit, Zugang zu Verhütungsmitteln und Versorgung bei geburtshilflichen Notfällen wie Kaiserschnitte. Eine ausgeprägte Kindersterblichkeit ist ein Grund für eine hohe Kinderzahl. Der Zugang zu Basisgesundheitsdiensten hilft mit, die Kindersterblichkeit zu mindern. Funktionierende Gesundheitsdienste können den Zugang zu Familienplanung und Verhütungsmitteln sicherstellen.

Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Die internationale Staatengemeinschaft hat im Rahmen der UNO-Konferenz über nachhaltige Entwicklung (Rio+20) im Juni 2012 Weichen für die internationale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitspolitik gestellt. Die internationale Entwicklungsund Umweltagenda sollen bis 2015 zusammengeführt werden. Die globalen Ziele sollen die ökonomische, ökologische und soziale Dimension der nachhaltigen Entwicklung einbeziehen und alle Länder der Welt betreffen. Die Ausgestaltung der Nachfolgeregelung zu den bis 2015 terminierten Millenniums-Entwicklungszielen102 hat für die Schweiz hohe Priorität. Die internationale Zusammenarbeit ist stark gefordert, angesichts knapper werdender Ressourcen Lösungen zu finden, die ökonomisches Wachstum mit den Erfordernissen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit in Deckung bringen. Umweltverträgliche Lebensformen und ressourcenschonende Entwicklungswege bilden sowohl für wohlhabende wie auch für arme Länder eine besondere Herausforderung. Wohlstand zukunftsverträglich gestalten, natürliche Lebensgrundlagen langfristig sichern, weltweite Armut und Ungleichheit verringern: Diese Aufgaben werden vorrangig für eine zukunftsorientierte internationale Zusammenarbeit.

Für die internationale Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz bedeutet diese Anforderung, in den Partnerländern wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklungswege zu unterstützen. Zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen trägt die Schweiz mit Aktivitäten in folgenden Handlungsfeldern bei: nachhaltige Nutzung der Land-, Weide- und Wasserressourcen, nachhaltige Forstwirtschaft, Anpassung an die Folgen des Klimawandels, Nutzung erneuerbarer Energien, Erhöhung der Ressourceneffizienz, Prävention von Naturgefahren (Dürren, Flutkatastrophen etc.), Bekämpfung der Wüstenbildung, Sicherung der Biodiversität, Management von Abwasser und Abfall.

Steuerung der Migration Die internationale Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz will die positiven Aspekte der Migration nutzen und die negativen Konsequenzen eindämmen. Eine regulierte Migration und deren gezielter Einbezug in die Anstrengungen des Landes

102

www.undp.org

8740

können zur nachhaltigen Entwicklung beitragen. Massnahmen zur Steuerung der Migration beinhalten auf internationaler Ebene: ­

Steuerung der legalen Arbeitsmigration, Verminderung und Verhinderung der irregulären Migration;

­

Erleichterung von Geldrücksendungen sowie Stärkung der nicht-monetären Entwicklungsimpulse (einschliesslich Stärkung der Rechte und Rolle der Frau);

­

Verbesserung der rechtlichen Situation der Migrantinnen in Herkunfts-, Transit- und Zielländern;

­

Einbezug der Diaspora in die Anstrengungen der Zielländer, Armuts- und Entwicklungsprobleme zu bewältigen.

Diese Ansätze stehen auch für die Schweiz im Vordergrund. Sie sind Bestandteil der bilateralen Abkommen und Zielvereinbarungen (beispielsweise Migrationspartnerschaften) sowie von Absprachen in multilateralen Foren wie zum Beispiel dem «Global Forum for Migration and Development». Hier spielt die Schweiz eine besonders aktive Rolle.

4.4

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

4.4.1

Migrationsbereich

Die mit der Volksinitiative angestrebte zahlenmässige Beschränkung der Zuwanderung widerspricht insbesondere den zentralen Grundsätzen des Freizügigkeitsabkommens mit der EU (FZA)103 bzw. des EFTA-Übereinkommens (Anhang K)104.

Sowohl das FZA wie auch das EFTA-Übereinkommen lassen eine Beschränkung der darin vermittelten Ansprüche auf Einreise und Aufenthalt nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu. Diese Abkommen müssten folglich angepasst oder gekündigt werden.

Daneben müssten bei der Ausgestaltung der Zulassungsbestimmungen die Grundsätze weiterer internationaler Verpflichtungen beachtet werden (z. B. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK und entsprechende Garantien im UNO Pakt II105 und in der Kinderrechtskonvention KRK106). Aufgrund der nur noch eingeschränkt möglichen Zuwanderung müssten ­ neben dem Asylbereich ­ insbesondere für diese Fallkategorien ausreichende Kontingente im Rahmen der noch zulässigen Zuwanderung reserviert werden. Hinzuweisen ist insbesondere darauf, dass die pauschale Verweigerung der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für Ausländerinnen und Ausländer gestützt auf die Volksinitiative unter bestimmten Voraussetzungen im Widerspruch zu Artikel 8 Absatz 1 EMRK, Artikel 17 des UNO-Pakts II und entsprechenden Garantien der KRK stehen könnte, wenn dadurch das Familienleben in der Schweiz verunmöglicht würde. Betroffene Personen könn103 104

SR 0.142.112.681 SR 0.632.31. Nachstehend wird grundsätzlich nur noch vom FZA gesprochen; die diesbezüglichen Ausführungen gelten jedoch auch mit Bezug auf das EFTA-Übereinkommen, Anhang K).

105 SR 0.103.2 106 SR 0.107

8741

ten nach der Ausschöpfung des nationalen Instanzenzugs eine Verletzung dieser Garantien beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte rügen, dessen Urteil für die Schweiz verbindlich wäre (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Die Verpflichtung zur Umsetzung des Urteils hätte zur Folge, dass die tatsächlichen und rechtlichen Folgen der festgestellten Konventionsverletzung so weit als möglich zu beseitigen wären.107 Die Schweiz hätte daher allgemeine Massnahmen zu treffen, deren Ziel es ist, die Wiederholung gleichartiger Konventionsverletzungen zu verhindern. Unter der neuen verfassungsrechtlichen Lage wären derartige Massnahmen schwer vorstellbar.

Der Bundesrat hat bereits bei anderer Gelegenheit betont, dass etwa die Kündigung der EMRK aus politischen und juristischen Gründen keine Option darstellt.108 Selbst wenn erwogen würde, die EMRK zu kündigen, blieben die entsprechenden Garantien aus dem (unkündbaren) UNO-Pakt II und der (kündbaren) Kinderrechtskonvention gültig.

Mit der Zielsetzung der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen setzt die ECOPOP-Volksinitiative zwar einen anderen Schwerpunkt als die Masseneinwanderungsinitiative. Bezüglich der Auswirkungen einer Annahme der Volksinitiative auf das FZA und das EFTA-Übereinkommen sowie der Vereinbarkeit der Volksinitiative mit völkerrechtlichen Verpflichtungen im Allgemeinen kann auf die Ausführungen in der Botschaft zur Masseneinwanderungsinitiative109 und die Ziffern 4.2.1.2 und 4.3.1 der vorliegenden Botschaft verwiesen werden. Die Masseneinwanderungsinitiative legt zwar im Gegensatz zur vorliegenden Volksinitiative keine feste Höchstgrenze für die Zuwanderung fest, verlangt aber ebenfalls deren Beschränkung durch jährlich festzulegende Höchstzahlen. Sofern bei einer allfälligen Umsetzung der Volksinitiative darauf geachtet würde, dass die noch mögliche Zuwanderungsquote durch eine Priorisierung insbesondere in den Bereichen Asyl und Familiennachzug sowie unter Beachtung anderer wichtiger völkerrechtlicher Abkommen (z. B. WTO/GATS und Freihandelsabkommen, Abkommen über den Austausch junger Berufsleute, Dubliner Assoziierungsabkommen etc.) eingehalten werden könnte, wären die Auswirkungen bei einer Annahme der Volksinitiative aber sehr ähnlich.

Im Rahmen des Abkommens zwischen der Schweiz und Japan über Freihandel und wirtschaftliche Partnerschaft
sowie der Freihandelsabkommen der EFTA mit Kolumbien, Südkorea, Hongkong, der Ukraine und den Mitgliedstaaten des Kooperationsrates der Arabischen Golfstaaten hat sich die Schweiz verpflichtet, gewisse Personenkategorien insbesondere im Bereich des Kadertransfers nicht den Höchstzahlen (Kontingenten) zu unterstellen. Da diese Abkommen für die Schweizer Wirtschaft sehr wichtig sind, müssen Lösungen gefunden werden, die nicht im Widerspruch zu diesen Abkommen stehen. Die von der Schweiz abgeschlossenen Vereinbarungen über den Austausch von Stagiaires legen für gewisse Staatsangehörige Höchstzahlen für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen zu diesem Zweck 107

S. z. B. EGMR, Emre gegen die Schweiz (Nr. 2), Urteil 11. Okt. 2011, Beschwerde Nr. 5056/10, S. 22. § 75, wonach bei einem gegen Art. 8 EMRK verstossenden Einreiseverbot dessen Aufhebung die nachgerade natürliche Art des Vollzugs eines Urteils des EGMR ist.

108 Vgl. Botschaft vom 7. Juni 2004 zur Volksinitiative «Für einen zeitgemässen Tierschutz», BBl 2004 3282 sowie die Antwort des Bundesrats auf die Interpellation Brunner 13.3237 ­ Kündigung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wonach die Kündigung der EMRK «nicht infrage» kommt.

109 BBl 2013 291, Ziff. 4.2.1 und 4.4.

8742

fest. Deshalb müssten bei einer Annahme der Volksinitiative die in den jeweiligen Abkommen festgelegten Höchstzahlen ebenfalls vorrangig eingehalten werden.

Andernfalls müssten sie gekündigt werden, und die jungen Berufsleute aus der Schweiz könnten sich nicht mehr auf diese Weise im Ausland beruflich weiterbilden.

Die Volksinitiative hat weder auf das Dublin-Assoziierungsabkommen (DAA) noch auf das Schengener Assoziierungsabkommen (SAA) direkte Auswirkungen. Hingegen könnte bei Annahme der Initiative und einer Kündigung des FZA (Ziff. 4.2.1.2) indirekt die Teilnahme der Schweiz am Schengen-/Dublin-System in Frage gestellt werden.110

4.4.2

Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Im Rahmen internationaler Vereinbarungen der Vereinten Nationen (UNO) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich die Schweiz verpflichtet, in den Vorhaben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit die Prinzipien «Eigenverantwortung» («national ownership») und «Partnerorientierung» («alignment») umzusetzen.111 Wie andere Geberländer hat sie sich verpflichtet, die Führungsrolle des Partnerlandes im Entwicklungsprozess zu respektieren und ihre Unterstützung auf die Entwicklungsprioritäten der Partnerländer auszurichten. Damit soll die geleistete Unterstützung möglichst wirksame Entwicklungsresultate erbringen. Mit der Festlegung einer 10-Prozent-Vorgabe wäre die DEZA verpflichtet, in Partnerländern Projekte im Bereich der freiwilligen Familienplanung durchzuführen, auch wenn Familienplanung nicht zu den nationalen Entwicklungsprioritäten gehören würde. Dies läuft den genannten internationalen Verpflichtungen entgegen. Eine formelle Kündigung dieser Vereinbarungen durch die Schweiz wäre hingegen nicht notwendig, da sie völkerrechtlich nicht verbindlich sind.

5

Schlussfolgerungen

Durch eine Begrenzung des Wachstums der ständigen Wohnbevölkerung infolge Zuwanderung auf 0,2 Prozent im dreijährigen Durchschnitt würde die Volksinitiative die reguläre Zuwanderung in die Schweiz zwar verringern. Sie ist jedoch mit gewichtigen Nachteilen verbunden.

110

Für nähere Informationen zu den Auswirkungen der Volksinitiative auf die Freihandelsabkommen und insbesondere auf das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, das im Rahmen der Welthandelsorganisation abgeschlossen wurde, siehe Botschaft des Bundesrates vom 7. Dezember 2012 zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», BBl 2013 291, hier 336 (Ziff. 4.4.3).

111 Siehe zum Beispiel: Keeping the promise: united to achieve the Millennium Development Goals, outcome document of the High-level Plenary Meeting of the sixty-fifth session of the General Assembly on the Millennium Development Goals (2010), A/RES/65/1 §§ 10, 23, 36, 58, 64, 73; der Erklärung von Paris über die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit (2005), siehe www.oecd.org/dac/effectiveness/35023537.pdf, §§ Para. 15 und 16 und Busan Partnership on Effective Development Cooperation (2011), siehe www.oecd.org/dac/effectiveness/49650173.pdf, §§ Para. 11, 12 und 18.

8743

Die Annahme der Volksinitiative würde nicht nur zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der schweizerischen Zuwanderungspolitik führen, sie würde auch die aktuelle Praxis der Schweiz im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in Frage stellen.

Sie wäre auch schädlich für das wirtschaftliche Wachstum der Schweiz und würde ihre Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität negativ beeinflussen. Eine so starke Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz würde die Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften insbesondere aus den EU/EFTA-Staaten erschweren. Denn es müssten Kontingente freigehalten werden, damit die Schweiz in erster Linie ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen kann. Es bliebe somit wenig Spielraum für die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte, während sich die Zuwanderung in die Schweiz zurzeit in erster Linie nach der wirtschaftlichen Lage und der damit verbundenen Nachfrage nach Arbeitskräften richtet. Überdies ginge die Umsetzung der Volksinitiative mit einem erheblichen administrativen Aufwand und einem Ausbau der Bürokratie sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Migrationsbehörden der Kantone und des Bundes einher. Dies steht im Widerspruch zu der von breiten Kreisen geforderten Vereinfachung der Verwaltungsverfahren und einer Zuwanderung, die von der Wirtschaft und dem Bedarf an Fachkräften in der Schweiz gesteuert ist. Darüber hinaus würde sich die Festlegung von Kontingenten unter den verschiedenen Bewilligungskategorien sowie die Zuteilung der Kontingentseinheiten bei der Prüfung der einzelnen Gesuche um Aufenthaltsbewilligung als äusserst schwierig erweisen. Eine starke Begrenzung der regulären Zuwanderung könnte zudem eine höhere irreguläre Einwanderung mit sich bringen.

Die von der Volksinitiative im Migrationsbereich vorgeschlagene Massnahme steht im Widerspruch zur bisherigen bundesrätlichen Zulassungspolitik, welche die Personenfreizügigkeit im Rahmen des FZA/EFTA-Übereinkommens und strenge Zulassungsvoraussetzungen für Personen aus Drittstaaten beinhaltet. Die vorgeschlagene Einführung von Höchstzahlen bei allen Zulassungsgründen ist insbesondere bei der humanitären Zulassung und beim Familiennachzug kein taugliches Instrument für die Begrenzung der Zuwanderung. Diese Massnahme ist weder mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und
der EU noch mit dem EFTA-Übereinkommen vereinbar. Bei Annahme der Volksinitiative müsste das FZA mit grösster Wahrscheinlichkeit gekündigt werden, was wegen der Guillotine-Klausel zumindest die Kündigung der anderen Abkommen der Bilateralen I zur Folge hätte. Dies hätte kaum abschätzbare Auswirkungen auf die Beziehungen zur EU insgesamt und würde zweifellos den bisherigen bilateralen Weg der Schweiz gefährden.

Der Bundesrat verkennt nicht, dass das schweizerische Wirtschaftswachstum und die vergleichsweise hohe Zuwanderung der letzten Jahre zu einem Bevölkerungswachstum geführt haben, womit sich die Herausforderungen insbesondere in der Integration, auf dem Wohnungsmarkt, bei der Infrastruktur- und Raumplanung und in der Bildungspolitik erhöhen. Er ist jedoch der Ansicht, dass die bereits eingeführten und künftig geplanten Reformen eine bessere Antwort sind auf die Herausforderungen, die sich der Schweiz in den kommenden Jahren stellen.

Die vorgeschlagene Massnahme, wonach 10 Prozent der für die internationale Entwicklungszusammenarbeit gesprochenen Mittel für die freiwillige Familienplanung einzusetzen wären, stellt ein Zwangsmittel dar, das den notwendigen Handlungsspielraum der internationalen Zusammenarbeit übermässig einschränken würde. Der Bund wäre verpflichtet, in bestimmten Ländern oder Regionen Projekte im Bereich der freiwilligen Familienplanung durchzuführen, obwohl andere Bereiche 8744

vorrangig unterstützt werden müssten, wenn man dem Kontext und den Bedürfnissen dieser Länder oder Regionen entsprechen möchte. Dies würde einerseits die Wirksamkeit der internationalen Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz mindern und andererseits das Image und die Glaubwürdigkeit der Schweiz beeinträchtigen.

Eine verstärkte Fokussierung auf die Familienplanung würde zudem nur wenig Wirkung zeigen. Um den Teufelskreis von Armut und hohem Bevölkerungswachstum zu durchbrechen, braucht es Ansätze in unterschiedlichen Bereichen wie zum Beispiel Bildung oder Geschlechtergleichstellung.

In Anbetracht dieser Erwägungen ist der Bundesrat der Ansicht, dass die Grundanliegen der Volksinitiative mit der Migrations- und Entwicklungspolitik der Schweiz nicht vereinbar sind. Diese Unvereinbarkeit kann weder mit einem direkten Gegenentwurf noch mit einem indirekten Gegenvorschlag beseitigt werden. Deshalb beantragt der Bundesrat den eidgenössischen Räten, die Volksinitiative «Stopp der Überbevölkerung ­ zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» Volk und Ständen ohne Gegenentwurf oder Gegenvorschlag zur Abstimmung vorzulegen mit der Empfehlung, die Volksinitiative abzulehnen.

8745

Literaturverzeichnis Bericht des Bundesrates über die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in der Schweiz in Beantwortung der Postulate Girod (09.4301) und Bischof (09.4311) sowie der Motion Brändli (10.3721), vom 4. Juli 2012.

Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt, 7. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), Bundesamt für Migration (BFM), Bundesamt für Statistik (BFS), Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), vom 26. Mai 2011.

Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt, 8. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), Bundesamt für Migration (BFM), Bundesamt für Statistik (BFS), Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), vom 25. Mai 2012.

Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Schweizer Arbeitsmarkt, 9. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), Bundesamt für Migration (BFM), Bundesamt für Statistik (BFS), Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), vom 11. Juni 2013.

Personenfreizügigkeit und Wohnungsmarkt Schweiz, Entwicklung 2012, Bundesamt für Wohnungswesen, vom 10. Juli 2013.

Die Volkswirtschaft, Das Magazin für Wirtschaftspolitik, Sandro Favre, Rafael Lalive und Josef Zweimüller, herausgegeben vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (EVD), Juni 2013.

Bericht zur Rotlichtproblematik, Bundesamt für Migration, Januar 2012.

Der Schweizer Arbeitsmarkt und die Personenfreizügigkeit: Bilanz und Perspektive, Sheldon George, im Rahmen des Europaforums Luzern, 23. und 24. April 2012.

Zusammenfassung des Gutachtens zuhanden von economiesuisse betreffend die Eidgenössische Volksinitiative «für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)», Ehrenzeller Bernhard, vom 20. April 2012.

FlaM-Bericht ­ «Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Freizügigkeit im Personenverkehr Schweiz-EU vom 1. Januar bis 31. Dezember 2012», Staatssekretariat für Wirtschaft, vom 26. April 2013.

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