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Bundesratsbeschluss über

den Rekurs der Genossenschaft ,,Crédit à l'Epargne" in Lyon, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 8. Oktober 1897.)

D e r s c h w e i z e r i s c h e B u n d e sr a t , nach Einsicht des Rekurses der Genossenschaft ,,Crédit à l'Epargne" in Lyon wegen Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, gestützt auf folgende Erwägungen :

A.

In thatsächlicher Beziehung: 1. Mit Schreiben vom 16. Januar 1897 ersuchte die Genossenschaft ,,Crédit à l'Epargne" in Lyon den Staatsrat des Kantons Waadt um die Ermächtigung zum Gewerbebetriebe im Kanton Waadt. Unterm 27. Januar brachte der Vorsteher des kantonalen Justiz- und Polizeidepartements der Gesellschaft zur Kenntnis, daß der Staatsrat, gestützt auf das waadtländische Gesetz vom 5. Dezember 1876 betreffend das Verbot der Lotterien, die nachgesuchte Erlaubnis verweigere.

2. Die ersten Artikel des genannten Gesetzes lauten wie folgt: Art. 1. ,,Die Lotterien sind verboten.

Art. 2. ,,Als Lotterien werden betrachtet und sind demnach verboten Verkäufe von Immobilien, beweglichen Sachen und Waren, welche auf dem Wege der Verlosung geschehen, und im allgemeinen

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sämtliche dem Publikum angetragenen Geschäfte, bei welchen die Hoffnung auf einen durch das Los zu erzielenden Gewinn eine Rolle spielt.

Art. 3. ,,Nicht als Lotterien gelten dagegen die Finanzanleihen auswärtiger Staaten, Städte und Gemeinden, sowie des Kantons, bei welchen Prämien ausbezahlt werden oder welche auf dem Wege der Verlosung zur Rückzahlung gelangen, ebensowenig gleichartige Geschäfte von auswärtigen oder kantonalen Aktiengesellschaften und -Unternehmungen, sofern die Ausgabe der bezüglichen Titel im Gebiet des Kantons durch den Staatsrat bewilligt worden ist.

Diese Bewilligung wird nur erteilt, wenn die Aktien- oder Obligationenlose jener Anleihen oder sonstigen finanziellen Operationen auf einen bestimmten Zeitpunkt und zu einem Betrage rückzahlbar sind, der wenigstens dem eingezahlten Kapital entspricht."

3. Gegen den Entscheid des waadtländischon Staatsrates reichte der ,,Crédit à l'Epargne"1, vertreten durch den Advokaten Boleslas in Genf, mit Eingabe vom 23. März 1897 Rekurs beim Bundesrat ein. In der Rekursschrift wird folgendes ausgeführt: Die rekurrierende Gesellschaft ist laut notariellem Akt nach Erfüllung aller im französischen Gesetze vorgeschriebenen Formalitäten, d. h. unter Beobachtung des Gesetzes vom 24. Juli 1867 und des Dekretes vom 22. Januar 1868 in Lyon gegründet worden ; ihr Zweck besteht in der Bildung eines ansehnlichen Kapitals durch bescheidene Einzahlungen und in Ruckzahlung dieses Kapitals durch häufige Abschlagsrückzahlungon auf dem Wege von vierteljährlichen Losziehungen.

Die Gesellschaft hat für ihre Operationen die nachfolgenden drei Tarife aufgestellt : a. Der Subskribent zahlt während 60 Monaten Fr. l pro Monat ein, womit er die Berechtigung erwirbt, innert einer Maximalfrist von 60 Jahren Fr. 1000 zurückbezahlt zu erhalten.

Die Gesellschaft arbeitet zur Stunde nicht mehr nach diesem Tarif.

b. Der Zeichner zahlt während 75 Monaten je Fr. l per Monat ein und erhält innert einer Maximalfrist von 45 Jahren unter einem Male Fr. 500 zurück.

c. Der Unterzeichner zahlt während 120 Monaten Fr. 2 per Monat ein, worauf ihm die Gesellschaft innert einer Frist von

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höchstens 35 Jahren ein Kapital von Fr. 1000 in Beträgen von je Fr. 100 zurückerstattet.

Bei jedem Tarif tritt eine kleine Reduktion ein, wenn der Deponent die Totalprämie sofort comptant entrichtet.

Dieses Verfahren hat durchaus nicht den Charakter einer Lotterie; die Gesellschaft ist denn auch in Genf durch Staatsratsbeschlüsse vom 27. September und 1. November 1895 und vom November 1896 zum Geschäftsbetrieb zugelassen worden.

Die rekurrierende Gesellschaft stellt unter Berufung auf Art. 31 der Bundesverfassung, Art. 175, 189, § 3 des Gesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 und Art. l des schweizerisch-französischen Vertrages vom 23. Februar 1883 an den Bundesrat das Begehren, es möge der Beschluß des Staatsrates des Kantons Waadt vom 27. Januar 1897 als der Handelsund Gewerbefreiheit widersprechend aufgehoben und ihr die Ermächtigung zum Geschäftsbetrieb im Kanton Waadt zugesprochen werden.

4. In seiner Vernehmlassung vom 23. April 1897 spricht sich der Staatsrat des Kantons Waadt dahin aus, nach seiner Ansicht gehörten die von der Rekurrentin betriebenen Geschäfte zu den von Art. 2 des obcitierten waadtländischen Gesetzes betroffenen. Die Prospekte besagen allerdings, daß der Subskribent in jedem Falle sein einbezahltes Geld wieder bekomme. Thatsächlich bestehe für ihn auch eine Chance, nach kurzer Frist eine Summe zurückzuerhalten, welche den einbezahlten Betrag bedeutend übersteige; die Wahrscheinlichkeit sei aber viel größer, daß er erst nach einer sehr langen Zeitspanne, die sogar bis zu einem vollen Jahrhundert weniger ein Jahr steigen könne, wieder in den Besitz des Geldes gelange. In diesem Falle erhalten aber die Zeichner nicht ihr Eingezahltes samt Zins und Zinseszinsen zurück. Das vom Zufall abhängige Element liege also nicht in der Rückzahlungssumme, sondern im Rückzahlungstermin. ,,Zwischen diesen beiden Begriffen aber bestehe mathematische Äquivalenz"1, es handle sich also faktisch um eine Lotterie.

B.

In rechtlicher Beziehung: I. Solange der Bund die in Art. 35 der Bundesverfassung vorgesehenen Maßnahmen nicht getroffen hat, ist es Sache der Kantone, für ihr Gebiet alles, was auf die Lotterien Bezug hat,

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zu ordnen ; es liegt in ihrer Befugnis, Lotterieunternehmen zu dulden oder aber zu verbieten (vergi, von Salis IV, Nr. 1406, 1407; Bundesbl. 1876, II, 547; 1879, II, 613; 1883, II, 906; 1889, II, 778).

Letztere stehen demnach nicht im Genüsse der verfassungsmäßig gewährleisteten Handels- und Gewerbefreiheit. Dagegen steht es dem Bunde zu, zu bestimmen, welche Unternehmungen als Lotterien betrachtet werden können.

II. Der Staatsrat des Kantons Waadt stützte sich bei Abweisung des Gesuches der Rekurrentin auf das kantonale Gesetz betreffend das Verbot der Lotterien. Die Gesellschaft bestreitet, daß ihre Geschäfte den Charakter einer Lotterie aufweisen und ruft zur Begründung ihres Anspruchs auf freien Gewerbebetrieb den in Art. 31 der Bundesverfassung gewährleisteten Grundsatz an.

Die Geschäfte der Genossenschaft ,,Crédit à l'Epargne11 beschränken sich auf drei Kombinationen, nämlich : a. Tarif 1. Einmalige Einzahlung von Fr. 50, oder 60 Einzahlungen zu je Fr. l mit Berechtigung auf Bezug von Fr. 1000, die innert 99 Jahren auf dem Wege der Verlosung in Beträgen von je Fr. 100 zurückbezahlt werden.

Aus den von der Rekurrentin eingereichten Verteilungslisten geht hervor, daß sie stets noch Einzahlungen nach diesem Taril entgegennimmt.

b. Tarif 2. Einmalige Einzahlung von Fr. 70 oder 75 monatliche Einzahlungen von je Fr. l, mit Anspruch auf Bezug einer Summe von Fr. 500, die unter einem Male auf dem Wege der Verlosung in einer Frist von 99 Jahren ausbezahlt wird.

c. Tarif 3. Einmalige Hinterlegung von Fr. 70 oder 75 monatliche Hinterlegungen von je Fr. l, mit Anrecht auf Rückbezüg einer Summe von Fr. 1000, die im Verlaufe von 99 Jahren auf dem Wege der Verlosung in Beträgen von je Fr. 100 zurückzubezahlen ist.

Die im Rekurse selbst enthaltenen Angaben über die Rückzahlungsfristen sind also nicht genau.

Wer eine Verpflichtung dieser Art (,,Police"1) unterzeichnet hat, ist vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft. Zur Bestimmung der vor dem Termin von 99 Jahren rückzubezahlenden ,,Policen" wird alle drei Jahre eine Losziehung vorgenommen.

Der ,,Crédit à l'Epargne11 garantiert dem Einzahler nicht bloß die Rückzahlung der Einlage, sondern auch einen bestimmten Zins.

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Je nach der gewählten Kombination bezieht der Einzahler eine 20, 7,i oder 4,4 Mal größere Summe zurück als er hinterlegt hat.

Variabel ist bloß die Dauer der Hinterlage bis zur Rückzahlung, oder, mit ändern Worten, der Zinsfuß, zu welchem das Kapital angelegt wird. Bei den für den Einleger ungünstigsten Bedingungen beträgt immerhin dieser Zinsfuß noch wenigstens 3 %, 2 °/o oder

17« %.

In seinem Entscheide vom 9. Juni 1892 über den Rekurs Alois Bernhard (Bundesbl. 1892, III, 915) hat der Bundesrat anerkannt, der Handel mit Prämienobligationen könne, obwohl er mit einer Lotterie viele Verwandtschaft aufweise, nicht als solche betrachtet werden, weil der Einleger nicht das Kapital, sondern nur den Zins oder einen Teil desselben (je nachdem der Schuldner wenig oder gar keinen Zins zu entrichten hat) zu riskieren verliere.

Es folgt daraus, bemerkt der Bundesrat weiter, daß der Handel mit Prämienobligationen nicht schlechtweg dem kantonalen Lotterieverbot unterworfen werden kann ; dagegen steht es den Kantonen, ohne daß sie sich damit eine Verletzung von Artikel 31 der Bundesverfassung schuldig machen, frei, den Betrieb dieses Handels Einschränkungen von zweierlei Art zu unterstellen, einmal indem sie eine strenge Aufsicht über solche Unternehmungen ausüben und ihnen die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb nur erteilen, sofern die beabsichtigten Geschäfte und die dabei verwendeten Personen die erforderliche finanzielle und moralische Garantie gewähren, anderseits, indem sie gewisse Arten von Geschäften, die speciell zu einer Übervorteilung des Publikums Anlaß bieten können, formell unterAus den hiervor erwähnten Thatsachen ist nun aber ersichtlich, daß bei den Operationen des ,,Crédit à l'Epargne'- das vom Zufall abhängige Element keine größere Rolle spielt, als bei dem Prämienloshandel. Der Staatsrat des Kantons Waadt war also nicht befugt, der Gesellschaft gegenüber das Lotterieverbot zur Anwendung zu bringen; wohl aber konnte er, gestützt auf Artikel 31, litt, e, der Bundesverfassung, der Rekurrentin die Ermächtigung zum Gewerbebetrieb verweigern, wenn er Gründe zu der Annahme hatte, daß die Art der von ihr betriebenen Geschäfte für das Publikum eine ernste wirtschaftliche Gefahr bilde.

Die Durchsicht der von der Rekurrentin vorgelegten Aktenstücke muß nun aber zum Schlüsse führen, daß letzteres thatsächlich der Fall sei.

Gelangt das eingelegte Kapital erst nach der Maximalfrist von 99 Jahren zur Rückzahlung, so ergeben sich als Zinsfuß für das-

556 selbe, je nach der gewählten Kombination, 3 %, 2 °/o oder l'/g %· Die Chance einer früheren Rückzahlung ist nun aber eine äußerst Nach dem Wortlaute der Specialreglemente der Gesell5;eringe.

schaft zahlt dieselbe alljährlich zurück: Für den Tarif 2 : Während 99 Jahren je 4 Policen auf 1600 ausgegebene, also 396 auf 1000 oder .24%; die verbleibenden 76 °/o müssen sonach nahezu ein Jahrhundert auf Rückzahlung warten, während welcher Zeit sie 2 °/o Zins abtragen. Der mittlere Zinsfuß beträgt 22/a %.

Für den Tarif 3: 0,4 Policen auf 128 ausgegebene, somit 4 auf 1280; 72 °/o der Policen werden erst nach 99 Jahren mit einem Zinserträgnis von l l/z °/o zurückbezahlt ; der mittlere Zinsfuß beträgt unter Einrechnung der früher geschehenen Rückzahlungen 2 %.

Aus den Jahresberichten der Gesellschaft ist zu entnehmen, daß sie diesen Amortisationsplan innehält. Für den Tarif l endlich besteht überhaupt kein Amortisationsplan; von 1894 bis 1897 sind Policen dieser Kategorie nur in einer von YSSIS auf YSVIS sinkenden Proportion zurückbezahlt worden. Würde mit den anticipierten Rückzahlungen in dem Maße fortgefahren, wie in der letzten Zeit, so beliefe sich die Prozentzahl derjenigen Policen, welche 99 Jahre auf ihre Amortisation warten müssen, auf 98,3 °/o.

Die Policen des ,,Crédit à l'Epargne" sind auch noch von einem weiteren Standpunkt aus unvorteilhafter als eine gewöhnliche Prämienobligation : der Besitzer kann vor dem Verfalltag keinerlei Nutzen daraus ziehen, dieselben auch nicht ohne beträchtliche Einbuße weiter veräußern; anderseits sind die von der Gesellschaft aufgestellten Rückkaufsbedingungen für den Einleger sehr drückend, da er erst nach Ablauf von 38, respektive 52 Jahren, und auch dann ,,nur unter gegenseitigem Einverständnis beider Parteien", einen Rückkaufswert bezieht, der dem Einsatz ohne Zinserträgnis gleichkommt.

Was die zukünftige Zahlungsfähigkeit des ,,Crédit à l'Epargne" betrifft, so läßt sich nicht verifizieren, ob die Gesellschaft für die in 99 Jahren zu machenden Rückzahlungen die erforderlichen.

Summen in Reserve legt.

Obgleich der ,,Crédit à l'Epargne" nicht eine Versicherungsgesellschaft ist, wird in den Statuten angeführt, daß, um den Vorschriften des französischen Dekretes vom 22. Januar 1868 betreffend die Bildung von Versicherungsgesellschaften (welchem Dekret die Prospekte auch die Bezeichnung ,,Gesetz" und das Datum vom

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.,22. Julia geben) nachzukommen, die Gelder der Gesellschaft in bestimmten staatlich garantierten Wertpapieren, sowie auf Immobilien und in Hypothekardarleihen angelegt werden sollen. Das ganze Gesell Schafts vermögen ist auch thatsächlich auf fünf Immobilien angelegt, während das citierte Gesetz gerade die Placierung auf Immobilien oder in Hypothekardarleihen untersagt.

Aus obiger Darstellung erhellt, daß der ,,Crédit à l'Epargne"für das Publikum eine sehr unvorteilhafte Kapitalanlage bietet und daß er infolge der besondern Art der von ihm ausgegebenen Titel, sowie nach den Mitteln, die zur Heranziehung des Publikums angewendet werden, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus eine eigentliche Gefahr für diejenigen Bevölkerungsklassen bildet, welche nicht in der Lage sind, sich von dem wirklichen Werte derartiger Wertpapiere ein richtiges Bild zu machen.

Beschlossen : Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

B e r n , den 8. Oktober 1897.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesratsbeschluss über den Rekurs der Genossenschaft ,,Crédit à l'Epargne" in Lyon, betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 8. Oktober 1897.)

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1897

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27.10.1897

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