551

# S T #

Kreisschreiben des

Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend das Verfahren bei Begehren um Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse und um Revision der Bundesverfassung, (Vom 27. Februar 1897.)

Getreue, liebe Eidgenossen !

Die bei Referendums- und Initiativbegehren jeweilen wiederkehrenden Unregelmäßigkeiten, welche in jedem einzelnen Falle die Gültigkeit einer großen Zahl von Referendums- und Initiativunterschriften beanstanden lassen, mußten uns die Frage nahe legen, auf welche Weise den zu Tage getretenen Übelständen abzuhelfen sei.

Unserer Ansicht nach geschieht dies am besten durch Erlaß einer Verordnung, welche, auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen, die einschlägigen Bestimmungen der Bundesgesetze vom 17. Juni 1874*) und vom 27. Januar 1892 näher präzisiert, und eine einheitliche Ausführung derselben sichert.

Wir haben durch Schlußnahme vom 23./27. Februar eine solche Verordnung festgestellt (s. Seite 547 hiervor).

*) Siehe eidg. Gesetzsammlung n. F., Bd. I, S. 116.

552

Die meisten der darin neu aufgenommenen Bestimmungen erklären sich durch sich selbst; nur mit Bezug auf die Frage, von w e m die Stimmberechtigung der Unterzeichner bezeugt werden solle, erscheint eine Erläuterung am Platze.

In dieser Beziehung schreibt das Bundesgesetz vom 17. Juni 1874, betreffend Volksabstimmungen über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse in Art. 5, Alinea 3, folgendes vor : ,,Die Stimmberechtigung der Unterzeichneten ist vom V o r s t a n d der Gemeinde, \vo dieselben ihre politischen Rechte ausüben, zu bezeugen.a Der französische Text lautet: .,,Le droit de vote des signataires doit être attestò par l'autorité communale du lieu où ils exercent leurs droits politiques. ct Weder der deutsche noch der französische Sprachgebrauch zwingt uns dazu, anzunehmen, daß unter ,,Gomeindevorstand"1 und ^autorité communale" der Gesetzgeber nur jenen an der Spitze der Gemeindeverwaltung stehenden Beamten verstanden habe, der in den verschiedenen Kantonen verschieden benannt wird : Gemeindepräsident, Gemeindeammann, maire, syndic, sindaco etc.

In der Regel ist es wohl nach den kantonalen Vorschriften der Gemeindepräsident, dem es obliegt, Bescheinigungen über die Stimmberechtigung der Gemeindeangehörigen auszustellen ; aber es ist nicht abzusehen, warum ein Kanton nicht den Gemeindeschreiber oder einen ändern Beamten mit dieser Befugnis ausstatten dürfte. In der Stadt Zürich z. B. bestehen für die Führung der Stimmregister eigene Bureaux, die Kreisbureaux, zu deren Befugnissen es naturgemäß auch gehört, Zeugnisse über die Stimmberechtigung der in ihren Registern eingetragenen Bürger auszustellen. D i e B e s c h e i n i g u n g e n d i e s e r K r e i s b u r e a u x sind denn auch vom Bundes rat nie beanstandet worden, obwohl ein K r e i s b u r e a u kein Gemeindev o r s t a n d ist. Wir glauben daher, die Bestimmung von Art. 5, Absatz 3, des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874 sei nicht in dem Sinne zu verstehen, daß der Gemeindepräsident a l l e i n es sei, weichern die Bescheinigung der Stimmberechtigung der Unterzeichner zukomme, sondern einfach in dem Sinne, daß die Stimmberechtigung der Unterzeichner durch die z u s t ä n d i g e k a n t o n a l e B e h ö r d e zu bezeugen sei. Nicht der Bund, sondern die Kantone haben zu bestimmen, wer zur Vornahme solcher Beglaubigungen befugt sei ; der Bund kann nur verlangen, daß eine A m t s s t e l l e für dieses Geschäft bezeichnet und ihm hiervon

553

Mitteilung gemacht werde, damit er jeweilen bei der ihm obliegenden Prüfung erkennen könne, ob die Unterschriftenbogen eine gültige Beglaubigung tragen oder nicht.

Das Bundesgesetz über das Verfahren bei Volksbegehren und Abstimmungen betreffend Revision der Bundesverfassung vom 27. Januar 1892 spricht allerdings im französischen Texte vom ,,Président de commune (maire, syndic)a, und auch im deutschen Texte kann das Wort ,,Vorstand11 nicht wohl anders verstanden werden, indem auch von ,,dessen Stellvertreter'1 die Kode ist.

Allein nach den oben zu der entsprechenden Bestimmung des 74ger Gesetzes gemachten Ausführungen ist anzunehmen, daß das Gesetz von 1892 sich dieser Ausdrücke nicht sowohl deswegen bedient habe, um eiae bindende Vorschrift aufzustellen, als deswegen, weil eben in der großen Mehrzahl der schweizerischen Gemeinden der ,,Président de commune (maire, syndic)11 oder Gemeindevorstand (Gemeindeammann, Gemeindepräsident) der zur Ausstellung derartiger Bescheinigungen nach kantonalem Recht zuständige Beamte ist und der Gesetzgeber daher den einen Ausdruck dem ändern als gleichwertig substituieren zu können glaubte.

Nichts läßt darauf schließen, daß er in diesem Punkt ein von dem im 74ger Gesetze vorgeschriebenen abweichendes Verfahren habe einführen wollen.

Wir laden Sie demzufolge ein, uns mit gefl. Beförderung mitzuteilen, w e l c h e B e a m t e g e m ä ß d e n i n I h r e m K a n tone geltenden Vorschriften zuständig sind, die Stimmberechtigung der Bürger in jeder Gemeinde z u b e s c h e i n i g e n . Es leuchtet ein, daß in Zukunft Reforendumsbogen, welche nicht durch die von Ihnen als zuständig bezeichneten Amtsstellen beglaubigt wären, ohne weiteres als ungültig betrachtet werden müßten. Der Bundesrat wird daher auch von jeder künftighin in dieser Hinsicht eintretenden Änderung in Kenntnis zu setzen sein.

Wir ersuchen Sie, für Bekanntmachung der neuen Vorschriften zu sorgen und insbesondere den mit der Beglaubigung der Referendumsbogen betrauten Beamten entsprechende Weisungen zu erteilen.

Zu diesem Behufe lassen wir Ihnen die neue Verordnung in einer solchen Anzahl von Exemplaren zugehen, daß jeder Gemeinde einige derselben abgegeben werden können.

Sollten Sie noch größeren Bedarf haben, so wollen Sie sich, thunlichst bald, jedenfalls noch im Laufe des Monats März, au das Drucksachenbureau der Bundeskanzlei wenden.

554

Wir benutzen diesen Anlaß, um Sie, getreue, liebe Eidgenossen, samt uns in Gottes Machtschutz zu empfehlen.

B e r n , den 27. Februar 1897.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Kreisschreiben des Bundesrates an sämtliche Kantonsregierungen, betreffend das Verfahren bei Begehren um Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse und um Revision der Bundesverfassung. (Vom 27. Februar 1897.)

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1897

Année Anno Band

1

Volume Volume Heft

09

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

03.03.1897

Date Data Seite

551-554

Page Pagina Ref. No

10 017 763

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.