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Schweizerisches Bundesblatt.

49. Jahrgang. I.

Nr. 4.

27. Januar 1897.

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Bundesratsbeschluß über

den Rekurs des Jean Fuchs, Handlanger in Lausanne, gegen einen Entscheid des waadtländischen Kantonsgerichts, betreffend Verweigerung des im Bundesgesetze vom 26 April 1887 vorgesehenen Armenrechtes.

(Vom 16. Januar 1897.)

Der schweizerische Bundesrat hat nach Einsicht des Rekurses des Jean F u c h s , Handlanger ia Lausanne, gegen einen Entscheid des waadtländischen Kantonsgerichts, betreffend Verweigerung des im Bundesgesetze vom 26. April 1887 vorgesehenen Armenrechtes, auf den Bericht des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

In thatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

Unterm 16. Juli 1895 reichte Jean Fuchs gegen seine Arbeitgeher A. Jordan
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vom waadtländischen Kantonsgericht gemäß Art. 83bl> der Civilprozeßordnung das Armenrecht bewilligt. Genannter Art. 83bta, in Ausführung von Art. 6, Ziffer l, des oben citierten Bundesgesetzes durch das waadtländische Gesetz vom 19. November 1887 in die Civilprozeßordnung aufgenommen, hat folgenden Wortlaut: ,,Bedürftigen Personen, welche nach Maßgabe der Bundesgesetze über die Haftpflicht Klage erheben, wird auf ihr Verlangen durch das Kantonsgericht die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes und der Erlaß sämtlicher Kautionen, Expertenkosten, GerichtsgebUhren und Stempeltaxen bewilligt.

,,Die Kosten für Experten, Zeugenentschädigungen, Augenscheinvornahmen und andere behufs I n s t r u k t i o n des Prozesses ergangenen Auslagen werden durch den Staat vorgeschossen." . . .

II.

Im Verlaufe des Verfahrens erklärte Jean Fuchs gemäß Art. 306 ff.

der waadtländischen Civilprozeßordnung Reform zu begehren; der Präsident des Civilgerichtshofes von Lausanne war indessen der Ansicht, Art. 83blB der Civilpi-ozeßordnung umfasse die Reformkosten nicht, da diese nicht gewöhnliche Auslagen, sondern selbstverschuldete Kosten (frais frustraires) seien, und weigerte sich, die Notifikationsausfertigung zu unterzeichnen, bevor der Kläger gemäß Art. 309 der Civilprozeßordnung den Betrag von Fr. 30 für Sicherstellung der Kosten der Gegenpartei hinterlegt habe.

III.

Gegen diese Weigerung erhob Jean Fuchs Beschwerde beim Kantonsgericht, welches durch Beschluß vom 18. Januar 1896 den Entscheid des Civilgerichtspräsidenten bestätigte. Art. 83bla der Civilprozeßordnung zähle, wird in diesem Beschlüsse ausgeführt, sämtliche Prozeßhandlungen auf, welche kostenfrei y.u besorgen seien, ebenso sämtliche Prozeßhandlungen, deren Kosten durch den Staat vorgeschossen werden müssen; was das Reformverfahren betreffe, so sehreibe genannter Artikel durchaus nicht vor, daß der Staat verpflichtet sei, die der Gegenpartei schuldigen Prozeßkosten vorzustrecken, ändere überhaupt nichts an dem Grundsatz des oben citierten Art. 309, und es müsse also, obwohl die Reform einen Bestandteil der Prozeßinstruktion bilde, konstatiert werden, daß der Gesetzgeber in den Fällen, von welchen Artikel 308 und 309 der Civilprozeßordnung handeln, zwischen den Gerichtsgebühren und den Parteikosten habe unterscheiden und dem bedürftigen Arbeiter nur die ersteren habe erlassen wollen.

143 IV.

Das Bundesgericht, bei welchem Jean Fuchs wegen dieses Urteiles Rekurs einreichte, erklärte sich durch Entscheid vom 28. Mai, gestützt auf nachstehende Erwägungen, als inkompetent: Art. 11 des Gesetzes über die Haftpflicht bestimmt, daß der Bundesrat die Aufsicht über dessen den Kantonsregierungen obliegende Vollziehung ausübe; wie das Bundesgericht bereits in zwei aufeinanderfolgenden Entscheiden erklärt hat (Deucher contra Thurgau, Bundesgerichtliche Entscheidungen Bd. XVIII, S. 568, und Leonz Arnet, vom 24. April 1895) ist es Sache des Bundesrates, in Anständen betreffend die Frage zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen die Kantone verpflichtet sind, für unentgeltliche Verbeiständung bedürftiger Haftpflichtkläger zu sorgen, da keine Gesetzesbestimmung existiert, welche dem Bundesgerichte die Rechtsprechung in derartigen Anständen zwischen Kantonen und Privaten über die Anwendung von Art. 6 obigen Gesetzes zuwiese.

V.

Auf diesen Entscheid erhob Jean Fuchs durch seinen Vertreter, Advokat Aloys Fauquez in Lausanne, unterm 20. November 1896 Rekurs beim Bundesrat. Rekurrent behauptet, da ihm die Wohlthat des Art. 6, Ziff. l, des Bundesgesetzes vom 26. April 1887 zu gut komme, so könne er nicht verhalten werden, für irgend eine Prozeßhandlung einen Kostenvorschuß zu hinterlegen, und der Präsident des Civilgerichtshofes befinde sich im Unrecht, wenn er die Notifikation des Reformbegehrens von einer solchen Hinterlegung abhängig mache.

VI.

In ihrer Vernehmlassung über den Rekurs erklärt die Regierung des Kantons Waadt, nur auf den Entscheid des Kantonsgerichts verweisen zu können, dem sie nichts beizufügen habe.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: Das Bundesgesetz über die Ausdehnung der Haftpflicht enthält in Art. 6 die Vorschrift, daß den bedürftigen Personen, welche eine Haftpflichtklage erheben, die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt uod Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen erlassen werden sollen, vorausgesetzt, daß die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum voraus als unbegründet herausstellt. Der Rekurrent ist durch Beschluß

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des waadtländischen Kantonsgerichtes in den Genuß dieser Bestimmung gesetzt worden. Streitig ist nun die Frage, ob der Rekurrent damit das Recht erworben habe, ohne die in Art. 309 dei1 waadtländischen Civilprozeßordnung festgesetzte vorgängige Hinterlegung der Parteikosten Reform zu verlangen. Das Kantonsgericht bestreitet das, indem es sich dabei auf Art. 83bis derselben Civilprozeßordnung stützt, welcher seines Erachtens dem bedürftigen Arbeiter, der die Reform begehrt, nur die Gerichts-, nicht aber die Parteikosten erlassen wolle.

Der Bundesrat hat nicht zu untersuchen, ob das waadtländische Gesetz durch das Kantonsgericht richtig interpretiert worden sei, wohl aber, ob dieses Gesetz nach der vorliegenden Interpretation und Anwendung nichts den Bestimmungen des einschlägigen Bundesgesetzes Zuwiderlaufendes enthalte.

Das Bundesgesetz überläßt es den Kantonen, das bei Haftpflichtprozessen zu befolgende Verfahren festzusetzen, und beschränkt sich auf die Vorschrift (Art. 6, Ziff. 2), daß dies Verfahren so rasch als möglich sein soll. Die Kantone sind also befugt, zu bestimmen, welche prozessualischen Mittel dem Arbeiter zur Verfügung stehen sollen, der gegen seinen Arbeitgeber Klage erhebt und allfällig auf die Wohlthat des Art. 6 des Bundesgesetzes Anspruch macht. Ist aber das anzuwendende Verfahren einmal festgesetzt, so bestimmt das Bundesgesetz, inwieweit dem Kläger das Armenrecht zu bewilligen ist und unter welchen Bedingungen er desselben teilhaftig wird.

Der waadtländische Gesetzgeber hat für die in Frage stehenden Streitsachen keine Änderungen am ordentlichen Verfahren vorgenommen. Die Bestimmungen speciell über die Reform (Art. 306 ff.

der Civilprozeßordnung) sind für die Haftpflichtprozesse in Kraft geblieben; der Arbeiter hat wie jeder andere Kläger das Recht, Reform zu begehren.

Das Bundesgesetz hat nicht beabsichtigt, dem bedürftigen Kläger die Wohlthat des Armenrechtes nur für gewöhnliche Prozeßhandlungen zu gewähren, für außergewöhnliche dagegen sie zu verweigern. Eine solche Unterscheidung wäre dazu angethan, zwischen dem dürftigen Arbeiter und dem Arbeitgeber gerade jene Ungleichheit wieder herbeizuführen, welche das Bundesgesetz hat aus der Welt schaffen wollen; müßte doch der Mangel an finanziellen Mitteln den erstem verhindern, von jenen außergewöhnlichen prozessualischen
Mitteln Gebrauch zu machen, so daß dieselben faktisch nur dein letztern zu Gebote stehen würden. Es würde dem Sinn und Geist des Bundesgesetzes widersprechen, wenn der Kläger seiner Armut wegen sich in Bezug auf diese Mittel dem Beklagten gegenüber in einer inferioren Stellung befände. Die Wohlthat des Armen-

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rechtes muß sich offenbar auf sämtliche Prozeßhandlungen erstrecken, deren Vornahme das kantonale Gesetz gestattet.

Das waadtländische Gesetz verweigert allerdings dem bedürftigen Kläger, der die Reform anbegehrt, nicht alle und jede Erleichterung bei diesem Verfahren; wie das Kantonsgericht ausführt, unterscheidet Art. 83 bis der waadtländischen Civilprozeßordnung zwischen den Gerichts- und den Parteikosteu und gestattet, erstere dem bedürftigen Arbeiter zu erlassen ; allein schon diese Unterscheidung verstößt gegen das Bundesgeselz. Art. 6, ZiiF. l, dieses letzteren kennt keinen Unterschied zwischen den Gerichts- und den eigentlichen Parteikosten, d. h. den der Gegenpartei durch den Prozeß erwachsenden Auslagen. Der französische Text dieses Gesetzes erwähnt neben den Gerichtsgebühren den Erlaß aller ,,Cautionnements", ohne sich klar darüber auszusprechen, ob die Hinterlegung einer zur Deckung der Prozeßkosteu des Beklagten dienenden Summe auch unter diese Bestimmung falle. Der deutsche Text drückt sich umfassender aus, indem er von ,,Kautionen" 1 spricht, welcher Ausdruck sowohl dingliche als auch persönliche Sicherheitsleistung bezeichnet. Dieser weitere Sinn ist der den Intentionen des Gesetzgebers entsprechende : das erhellt aus Art. 7 des Bundesgesetzes, worin die Stellung des Arbeiters vor dem Bundesgericht geregelt und der Kläger ,,von Erlegung der Gerichtsgebuhren und j e d e r i n Art. 2 6 d e s B u n d e s g e s e t z e s v o m 13. J u l i 1855 v o r g e s e h e n e n S i c h e r h e i t s l e i s t u n g " entbunden wird.

Der letzterwähnte Artikel verpflichtet nämlich den Kläger, der erweislich zahlungsunfähig ist, ,,für den Betrag der Gerichtsgebühren und, auf Verlangen des Klägers, a u c h f ü r die K o s t e n d e s P r o z e s s e s , durch Hinterlegung des Barbetrages, Pfänder oder Bürgen, S i c h e r h e i t z u l e i s t e n " .

Dies sind also die ,,Cautionnements", von deren Leistung Art. 7 (französischer Text) des Bundesgesetzes vom 26. April 1887 den Kläger vor dem Bundesgericht entbindet, und nichts spricht dafür, daß dieses Wort in Art. 6 in einem anderen Sinne aufgefaßt werden müsse. Der Arbeiter, welcher in der Lage ist, die Wohlthat des Armenrechtes anzurufen, muß also davon entbunden sein, dem Kläger für die gesamten oder einen Teil der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten.
Zu gunsten des durch das Kantonsgericht gefaßten Entscheides scheint freilich eine Billigkeitserwägung zu sprechen: die Partei, ·welche Reform begehrt, annulliert damit einen Teil des Prozeßverfahrens; es erscheint gerecht, daß sie dem Prozeßgegner für die neuen Kosten, zu welchen sie ihn ausschließlich in ihrem Interesse zwingt, Sicherheit leiste; entbindet man_ sie dieser Verpflichtung,

146 so ist zu befürchten, daß sie von einem Rechte Mißbrauch mache, welches nur für die Gegenpartei Opfer mit sich bringt.

In dieser Beziehung ist aber folgendes zu bemerken : Die waadtläudische Gesetzgebung darf sehr wohl zur Verhütung von Mißbräuchen das Recht der Reformerklärung gewissen einschränkenden Bedingungen unterwerfen, welche den im Genüsse des Armenrechts Stehenden gleicherweise treffen, wie den auf eigene Kosten Prozeßführenden; diese Bedingungen dürfen aber, wenn anders sie nicht gegen das Bundesgesetz verstoßen wollen, nicht in der gänzlichen oder teilweisen Aufhebung des Armenrechtes bestehen. Eine derartige Maßregel würde faktisch den ohne Hülfsquellen dastehenden Arbeiter in eine inferiore Stellung gegenüber dem Arbeitgeber versetzen, welchem seine Mittel gestatten würden, seinerseits unter denselben Bedingungen die Reform zu begehren.

Anders verhält es sich mit der Frage, ob das Gericht nicht berechtigt sei, einer Partei, welche ein prozessualisches Verfahren anwenden wollte, das bei erster Prüfung sich als mißbräuchlich herausstellt, jene Vergünstigung zu entziehen, ähnlich wie Art. 6, Ziff. l, des Bundesgesetzes gestattet, das Armenrecht in Fällen zu verweigern, wo die Klage selbst bei erster Prüfung sich als unbegründet erweist. Diese Frage ist indessen im vorliegenden Falle nicht zu entscheiden, da das Kantonsgericht dem Rekurrenten das Armenrecht als solches nicht entzogen und auch obige Frage nicht berührt, sondern bloß behauptet hat, jenes Recht entbinde ihn nicht von der im Art. 309 der Civilprozeßordnung vorgesehenen Hinterlegung.

Demnach wird beschlossen: 1. Der Rekurs wird begründet erklärt.

2. Die kompetente Gerichtsbehörde des Kantons Waadt wird eingeladen, dem Rekurrenten die Reform zu gestatten, ohne von demselben die vorherige Hinterlegung eines Geldbetrages zu fordern.

B e r n , den 16. Januar

1897.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Biiigier.

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Bundesratsbeschluß über den Rekurs des Jean Fuchs, Handlanger in Lausanne, gegen einen Entscheid des waadtländischen Kantonsgerichts, betreffend Verweigerung des im Bundesgesetze vom 26. April 1887 vorgesehenen Armenrechtes. (Vom 16. Januar 1897.)

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27.01.1897

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