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Bericht der

Minderheit der Kommission des Ständeraths über die Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Revision des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853.

(Vom 14. Dezember 1882.)

Tit.

Veranlaßt durch den Stabioprozeß stellte Herr Ständerath Brosi den 19. Juni 1880 folgende Motion: ,,Der Bundesrath wird eingeladen, den eidgenössischen Räthen Bericht und Antrag zu hinterbringen über Revision des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar- 1853 im Sinne der Erweiterung des Begriffes der politischen Verbrechen und Vergehen, welche in die Kompetenz der Bundesassisen fallen."

Diese Motion wurde durch Beschluß des Ständerathes vom 28. Juni 1880 erheblich erklärt.

Der Bundesrath hat nun in seiner Botschaft vom 13. Januar 1882 nicht den Begriff der politischen Verbrechen und Vergehen erweitert, wie die Motion Brosi lautete, sondern er geht viel weiter, indem er sich selbst die Kompetenz schaffen will, alle Verbrechen und Vergehen dem Bundesgerichte überweisen zu können, wenn er in Folge politischer Verhältnisse die Unabhängigkeit oder Unbefangenheit kantonaler Gerichte in Bezug auf einen Straffall als gefährdet ansieht, und daher den eidgenössischen Räthen folgenden Zusatzartikel zum Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853 beantragt:

641 ,,Art. 74 bis. Wenn in Folge politischer Verhältnisse die Unabhängigkeit oder Unbefangenheit kantonaler Gerichte in Bezug auf eine ihrer Beurtheilung unterstellte Strafklage als gefährdet angesehen werden muß, so ist der Bundesrath auf Verlangen eines Betheiligten berechtigt, die Untersuchung und Erledigung einer solchen Klage an das Bundesgericht zu überweisen, auch wenn das Verbrechen oder Vergehen in dem gegenwärtigen Gesetze nicht vorgesehen ist. Das Bundesgericht urtheilt in dem letztem Falle nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem das Verbrechen begangen wurde, in der Meinung jedoch, daß der Richter auf Todesstrafe nicht erkennen darf und unter das geringste gesetzliche Strafmaß herabgehen kann.

,,Unter der gleichen Voraussetzung bleibt das Bundesgericht zur Beurtheilung der im Art. 52 dieses Gesetzes genannten Fälle zuständig, wenn auch eine eidgenössische Intervention nicht stattgefunden hat."

Diesem Antrage des Bundesrathes gegenüber, welchem die Mehrheit Ihrer Kommission im Wesentlichen beistimmt, beantragt die Minderheit derselben in erster Linie Nichteintreten, eventuell, für den Fall des Eintretens, beantragt sie folgenden Zusatz zu § 73 des Bundesstrafrechts(die Bundesassisen sind ausschließlichzuständig):: ,,e) Für Verbrechen und Vergehen, durch welche eiue eidgenössische Intervention veranlaßt worden ist.

,,In diesem Falle urtlieilt das Bundesgericht nach der Gesetzgebung des Kantons, in welchem das Verbrechen oder Vergehen begangen wurde."

Gegenüber dem Mehrheitsantrag beantragt die Minderheit eventuell Beschränkung desselben auf die Verbrechen, ungeschmälerte Anwendung der kantonalen Strafgesetze und Streichung des zweiten Alinea.

Wenn wir zur Begründung der Minderheitsanträge übergehen, so müssen wir in erster Linie die Eintretensfrage behandeln. Diese Frage selbst läßt sich wieder von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten, nämlich vom Gesichtspunkte der Verfassungsmäßigkeit und von demjenigen der Zweckmäßigkeit, oder mit andern Worten, vom Gesichtspunkte der Kompetenz und demjenigen der Opportunität.

Wenn wir die Eintretensfrage von beiden Gesichtspunkten aus verneinen zu müssen glauben, so können wir vom konstitutionellen Standpunkte aus zugeben, daß allerdings schon in der Verfassung

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vom Jahr 1848 und in derjenigen vom Jahr 1874 Bestimmungen aufgenommen worden sind, welche die Souveränität der Kantone in Beziehung auf das Strafrecht und den Strafprozeß beschränken und anderseits auch dem Bund strafrechtliche und strafprozessualische Kompeleuzen einräumen. Allein das wird jeder unparteiische Beurtheiler unserer bundesstaatlichen Zustände zugestehen müssen, daß das Gebiet des Strafrechts und der Strafrechtspflege, beziehungsweise des Strafprozesses, bis anhin dasjenige geblieben ist, auf welchem die kantonale Souveränität und Autonomie noch den weitesten Spielraum hatte. Der Bundesrath selbst, nachdem er in einem geschichtlichen Rückblick auf die Verfassung von 1848 die verschiedenen Bestrebungen, die Strafkompetenz des Bundes auf Kosten der Souveränität der Kantone in Strafsachen auszudehnen, besprochen hat, kommt auf Seite 5 seiner Botschaft zu folgendem Resumé : ,,Das endliche Resultat aller dieser Vorgänge war das, daß die kantonale Souveränität in Strafsuchen durch die Bundesverfassung vom Jahre 1848 nur in folgenden Punkten beschränkt wurde: 1) durch das Verbot der Aufstellung von Ausnahmegerichten (Art. 53); 2) durch das Verbot von Todesurtheilen bei politischen Vergehen (Art. 54); 3) durch die Ordnung des Auslieferungswesens (Art. 55), und endlich 4) durch die Kompetenz, über politische Verbrechen und Vergehen zu urtheilcn, wenn dieselben mit einer eidgenössischen bewaffneten Intervention im Zusammenhange stehen (Art. 104), Die Bundes.verfassung vom Jahre 1874, so fährt der Bundesrath fort, hat in den Artikeln 58, 65, 67 und 112 diese Einschränkungen aufs Neue aufgestellt und denselben noch die Art. 44 (Verbot der Verbannung) und 66 (Bundesgesetzgebung über den Verlust der politischen Rechte) beigefügt."'

Es dürfte die Aufzählung dieser Beschränkungen des kantonalen Strafrechts noch durch das im Art. 65 der Bundesverfassung vom Jahr 1874 aufgenommene Verbot der körperlichen Strafen ergänzt werden.

Wenn wir diese verfassungsmäßigen Bestimmungen näher in's Auge fassen, so ergibt sich, daß die negativen Bestimmungen über Verbot der Ausnahmegerichte, die Todesstrafe bei politischen Ver-

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gehen und die Verbannung und über die Bundeskompetenz betreffend den Verlust der politischen Rechte von allgemeinen poli tischen Gesichtspunkten ausgingen, während die Ordnung des Auslieferungswesens kein kantonales, sondern ein interkantonales Verhältniß betraf, das Verbot der körperlichen Strafen einer humanen Zeitrichtung Rechnung tragen wollte, und nur für den Fall einer bewaffneten eidgenössischen Intervention eine positive Strafkompetenz des Bundes über politische Verbrechen und Vergehen geschaffen und diese der Strafkompetenz des betreffenden Kantons entzogen wurden. Allerdings hat der Bund auch sein eigenes Bundesstrafrecht, in welchem in Ausführung von Art. 104 litt, a, l) und c, Art. 45 letzter Absatz und Art. 107 der Bundesverfassung vom Jahr 1848 die Verbrechen gegen das Völkerrecht, den Bund und seine Organe näher bestimmt und die bezüglichen Strafen festgesetzt wurden. Allein dieses Bundesstrafrecht bildet einen integrirenden Theil der Organisation des Bundesstaates und ergibt sich aus der Natur der Sache, weil einem einzelnen Gliede desselben eine Kompetenz über Verbrechen gegen das Ganze nur insoweit zustehen kann, als diese ihm vom Bundesstaate delegirt wird. Diese Delegation ist denn auch in Art. 74 des Bundesstrafrechts als Regel vorgesehen, wobei allerdings der kantonale Richter die Bestimmungen des Bundesstrafrechtes in Anwendung zu bringen hat, wie auch seinerseits das Bundesgericht bei gemeinen Verbrechen, die mit politischen konnex sind, nach Art.76ö und Art. 9 des Bundesstrafrechts das kantonale Strafgesetz anzuwenden hat.

Aus dem Angeführten ergibt sich, daß bisanhin der Bund nur negativ, durch das Verbot gewisser Strafarten, das kantonale Strafrecht beschränkte, daß er zum Schütze der ihm selbst übertragenen Rechte ein Bundesstrafrecht schuf und nur irn Falle einer bewaffneten Intervention das Strafrecht über politische Verbrechen und Vergehen in Anspruch nahm. Daß in diesem letztern Falle, in dem ein Kanton sich als ohnmächtig erweist, die verfassungsmäßige Ordnung auf seinem Gebiete aufrecht zu erhalten, der Bund, welcher dieselbe mit Waffengewalt wieder herstellen muß, auch die Kompetenz hat, die kantonale Strafjustiz zu suspendiren und die Beurtheilung der die bewaffnete Intervention veranlaßenden politischen Verbrechen und Vergehen dem Bundesgerichte zu überweisen,
muß sich schon daraus ergeben, daß in einem solchen Falle auch nur der Bund die Macht hätte, solche Urtheile zu vollziehen.

Die Ansicht der Minderheit Ihrer Kommission, daß die Strafkompetenz der Kantone verfassungsgemäß nur durch Art. 112, Ziffer 3 der Bundesverfassung beschränkt sei, (heilt auch die Mehrheit, des Bundesgerichtes welches sich in seiner Vernehmlassung vom

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16. April 1881 über die Motion Brosi bezüglich der konstitutionellen Frage in folgender Weise ausspricht : ,,Nach Art. 112, Ziffer 3 der Bundesverfassung ist die Bundesstrafgewalt, abgesehen von den in den übrigen Sätzen dieses Artikels aufgezählten Fällen, auf solche politische Verbrechen und Vergehen beschränkt, welche mit Unruhen, durch welche eine bewaffnete eidgenössische Intervention veranlaßt w n r c e , in ursächlichem Zusammenhange stehen. Eine Revision des Bundesstrafrechts im Sinne der Erweiterung der Zuständigkeit der eidgenössischen Assisen in Straffällen politischen Charakters ist also jedenfalls an diese verfassungsmäßige Schranke gebunden, wobei wir jedoch beifügen wollen, daß eine Minderheit des Bundesgerichts die Ansicht vertrat, Art. 114 der Bundesverfassung ermächtige die Bundesgesetzgebung zur Ueberweisung von politischen Verbrechen und Vergehen an den eidgenössischen Strafrichter, auch ohne daß die Requisite des Art. 112, Ziffer 3 vorhanden wären."

Aus dieser Vernehmlassung geht hervor, daß die Mehrheit des Bimdesgerichts die Bundesstrafgewalt durch den politischen Charakter der strafbaren Handlung und die bewaffnete Intervention des Bundes bedingt erklärte, während eine Minderheit zvi'ar von der bewaffneten Intervention des Bundes absehen, jedoch den politischen Charakter des betreffenden Verbrechens oder Vergehens festhalten wollte.

Wenn daher aus den angeführten Bestimmungen der Bundesverfassung und der bundesrechtlichen Praxis die Kompetenz zu der vom Bundesrathe vorgeschlageneu weitgehenden Novelle zum Bundesstrafrecht nicht hergeleitet werden kann und vom Bundesrathe auch nicht hergeleitet werden will, so fragt es sich, ob dieselbe, wie der Bundesrath und mit ihm die Kommissionsmehrheit annimmt, in Art. 114 der Bundesverfassung von 1874 begründet, sei. Diese Frage glaubt die Minderheit mit Beziehung auf die Tragweite der vorgeschlagenen Gesetzesnovelle verneinen zu müssen. Allerdings lautete schon Art. 106 der Bundesverfassung vom Jahr 1848 : ,,Es bleibt der Bundesgesetzgebung überlassen, außer den in Art. 101, 104 und 105 bezeichneten Gegenständen auch noch andere Fälle in die Kompetenz des Bundesgerichts zu legen", und es hat die Bundesverfassung von 1874 in ihrem Art. 114 diese Bestimmung noch durch den Zusatz erweitert: ,,insbesondere die Befugnisse festzustellen,
welche ihm nach Erlassung der im Art. 64 vorgesehenen eidgenössischen Gesetze behufs einheitlicher Anwendung derselben zu übertragen sind.11 Ebenso muß zugegeben werden, daß der Art. 104 der Bundesverfassung vom Jahr 1848, inhaltlich übereinstimmend mit Art. 112 der Bundesverfassung vom Jahr 1874, auf welchen in Art. 106 der alten und Art. 114 der jetzigen Bundesverfassung verwiesen wird, die Köm-

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petenz der Bundesassisen, beziehungsweise des Bundesgerichtes mit Zuziehung von Geschwornen in Straffällen behandelt. Die Minderheit ist auch mit der bundesräthlichen Botschaft einverstanden, daß die Bundesversammlung bei Erlaß der durch die Bundesverfassung geforderten Bundesgesetze die S traf ko m petenz des Bundes auch auf die Uebertretungen dieser Gesetze ausgedehnt hat. Wenn der Bundesrath aber ein besonderes Gewicht auf die bundesrechtlichen Strafbestimmungen des Banknotengesetzes legen will, laut welchen die Bundeskompetenz ausgesprochen wurde, obschon dem Bunde nur das Aufsichtsrecht im Banknotenwesen zustehe, so dürfte dieses Gewicht um so weniger in die Wagschale fallen, als Art. 39 der Bundesverfassung den Bund ja ausdrücklich befugt erklärt, im Wege der G e s e t z g e b u n g allgemeine Vorschriften über die Ausgabe und die Einlösung von Banknoten zu erlassen. Die Ausdehnung, welche die Kompetenz des Bundes in Strafsachen in Anwendung des Art. 114 erhalten hat, bezieht sich also nur auf Bundesgesetze.

Durch den vorgeschlagenen Art. 74 WB des Bundesrathes aber wird das ganze kantonale Strafrecht und der ganze kantonale Strafprozeß über den Haufen geworfen.

Was den S t r a f p r o z e ß betrifft, so soll die Strafkompetenz; und das Verfahren sich nicht mehr nach allgemein gültigen, zum Voraus bestimmten und für alle Fälle gleichen Vorschriften richten, sondern nach politischen Verhältnissen, nach dem Willen des Angeklagten oder des Staatsanwalts oder des Privatklägers und dem Entscheide des Bundesrathes. Nach dem bundesräthlichen Vorschlag kann jeder Betheiligte in jedem Strafprozeß unter Berufung auf politische Verhältnisse die Unabhängigkeit und Unbefangenheit seiner kantonalen Gerichte anfechten und den Entscheid des Bundesrathes über die Frage der Ueberweisung an das Bundesgericht anrufen , was der Bundesrath auf Seite 8 seines Berichtes ausdrücklich mit den Worten zugesteht, ,,daß das zu erlassende Gesetz, allerdings auch jedem Dieb und Betrüger die Möglichkeit bietet, seinen kantonalen Richter als parteiisch zu bezeichnen und die Ueberweisung an das Bundesgericht zu verlangen." Wenn sich der Bundesrath damit tröstet, ,,diese Fälle werden übrigens selten sein und nie zum Ziele führen, weil nicht das Begehreu des Angeklagten, sondern der Beschluß des Bundesrathes über die Ueber
Weisung entscheidet," so dürfte diese Erwartung schwerlich in Erfüllung gehen. Immerhin ist so viel klar, daß neben diesem Rechte des Beklagten, der iu jedem Stadium der Untersuchung und der gerichtlichen Beurtheilung den kantonalen Untersuchungsrichter und die kantonalen Gerichte wegen politischer Verhältnisse als abhängig und befangen beim Bundesrathe denunziren und das kantonale "S1 Strafverfahren suspendiren kann, ein geordnetes Strafverfahren in

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den Kantonen nicht mehr fortzubestehen vermag. Wenn eine angefangene oder bereits vollendete kantonale Strafuntersuchung dem Bundesgerichte zur neuerlichen Untersuchung nach dem Bundesstrafverfahren überwiesen wird, so wirkt dieses Vorgehen auf eine rasche Erledigung der Strafprozesse eben so nachtheilig , als der Vorwurf der Abhängigkeit und Befangenheit der kantonalen Gerichte die Autorität derselben überhaupt untergraben muß.

Allein auch das kantonale S t r a f r e c h t wird durch den bundesräthlichen Vorschlag schwer geschädigt. Das Strafrecht der Kantone ist ein Ausfluß der gesetzgebenden Gewalt in denselben und kann nur durch dieselben gesetzgebenden Faktoren wieder abgeändert werden. Der vorliegende Entwurf nimmt aber dieses verfassungsmäßige Recht den Kantonen und überträgt dasselbe in den gegebenen Fällen dem Bundesgerichte, indem er diesem die Köm- · petenz einräumt, die Stufenleiter der Strafarten und des Strafmaßes um die oberste Stufe, die Todesstrafe, zu verkürzen und die unterste Stufe, das Strafminimum, außer Acht zu lassen. Soll denn der nach dem kantonalen Gesetze todeswürdige Verbrecher leer ausgehen oder mit einer Strafe belegt werden, welche im kantonalen Gesetze ihm nicht angedroht ist, sondern einem weniger schweren Verbrecher, welchem er nun gleichgestellt wird ? Ist das eine Gleichheit vor dem kantonalen Strafgesetze, wenn der kantonale Richter ein Verbrechen mit dem Minimum der Strafe belegen m u ß , während der eidgenössische Richter, gestützt auf das gleiche kantonale Gesetz, unter das Minimum hinabgehen, also eine im Gesetze nicht vorgesehene mildere Strafe aussprechen k a n n ?

Man mag über die Zuläßigkeit der Todesstrafe überhaupt verschiedener Ansicht sein, aber das stellt vom Standpunkte der Bundesverfassung jedenfalls fesÇ daß durch die Partialrevisiori derselben das Verbot der Todesstrafe auf gemeine Verbrechen wieder aufgehoben und daher die Kantone wieder berechtigt wurden, dieselbe in ihr Strafrecht einzuführen. Durch die beantragte Novelle aber würde dieses Recht der Kantone, das ihnen die Bundesverfassung zurückgegeben, wieder illusorisch gemacht werden.

Durch das zweite Alinea des beantragten Art. 74 bis würden alle politischen Verbrechen und Vergehen gegen den Kanton und die kantonalen Behörden faktisch nicht nur der Kompetenz des Bundesgerichts,
sondern auch dem Strafrecht des Bundes unterstellt und den kantonalen Gerichten und Strafgesetzen entzogen.

Denn wenn selbst bei gemeinen Verbrechen und Vergehen die Unabhängigkeit oder Unbefangenheit kantonaler Gerichte am Maßstabe politischer Verhältnisse durch eine politische Behörde gemessen werden soll, so würde dieser Maßstab um so unbedenklicher

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bei politischen Verbrechen und Vergehen seine Wirkung üben.

Dann könnten aber die Titel: Verbrechen gegen den Staat, Verbrechen gegen öffentliche Treue und Glauben und die Amtsverbrechen aus den kantonalen Strafgesetzbüchern gestrichen werden, und es dürfte dann auch auf diesem Gebiete der Anfang vom Ende der Kantonalsouveränität hereingebrochen sein. Weil die Minderheit Ihrer Kommission hievon überzeugt ist, bestreitet sie die Kompetenz des Bundes. Sie glaubt nicht, wie der Bundesrath, daß es sich hier um einen einzelnen ,,Fall" handle; dagegen theilt sie mit demselben ,,die Meinung ebenfalls nicht, als ob in dem Art. 114 auch die Befugniß liege, ganze Rechtsgebiete, so z. B. das ganze Strafrecht, als Sache des Bundes zu behandeln* (Seite 12 des Berichts). Wir theilen diese Meinung um so weniger, als gerade im gleichen Art. 114 , ungeachtet der in Art. 64 ausgesprochenen zivilgesetzgeberischen Kompetenz des Bundes, die Bundeskompetenz für die Feststellung der Befugnisse behufs einheitlicher Anwendung der betreffenden Zivilgesetze ausdrücklich aufgenommen wurde.

Wenn wir daher vom verfassungsmäßigen Standpunkte aus die Kompetenz des Bundes zur Revision des Bundesstrafrechts in der vom Bundesrathe beantragten Tragweite verneinen müssen, so halten wir dieselbe auch vom Standpunkte der Z w e c k m ä ß i g k e i t nicht für angezeigt.

Das Bundesstrafrecht existirt bereits 30 Jahre, ohne daß die angebliehe Lücke in demselben ausgefüllt worden wäre. Wenn auch zugegeben werden muß, daß in Folge des Stabioprozesses eine Aufregung entstanden war, so würde diese vielleicht nicht vermieden worden sein, wenn auch die ßeurtheiluug dem Bundesgerichte und einer außerhalb des Kantons Tessin waltenden Jury unterstellt worden wäre. Sind doch die in Sachen gefaßten Beschlüsse des Bundesgerichts in der Presse nicht mit geringerer Heftigkeit angegriffen worden, als die Gerichte des Kantons Tessin selbst. Zudem ist es immer mißlich, einen Artikel dem organischen Ganzen eines Gesetzes einzufügen, indem dadurch Unklarheit und Widersprüche im Gesetze selbst entstehen können.

Die Funktionen , die der neue Artikel dem Bundesrathe zuweist, würden auch nicht ermangeln , dieser Behörde den Vorwurf politischer Parteilichkeit zuzuziehen, während die ohnehin große Go schäftslast des Bundesgerichts durch Zuweisung solcher
Prozesse noch mehr vergrößert würde.

Immerhin müssen wir bemerken, daß woniger Gründe der Inopportunität als vielmehr wesentlich Gründe der Inkompetenz die Minderheit Ihrer Kommission bestimmen, Ihnen das Nichteiatreten auf die bundesräthliche Gesetzesvorlage zu beantragen.

Bundesblatt. 34. Jahrg. Bd. IV.

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Wenn die Mehrheit des Rathes diesem Antrage nicht zustimmen, sondern Eintreten beschließen sollte, so stellt die Minderheit der Kommission dem Gesetzesentwurfe des Bundesrathes einen selbstständigen Gegenantrag gegenüber, und beantragt Ihnen gleichzeitig eventuelle Amendements zum Antrage der Mehrheit der Kommission.

Der Gegenantrag der Minderheit der Kommission, wie er gedruckt Ihnen ausgetheilt wurde, bezweckt vor Allem, die der bundesgerichtlichen Kompetenz zu unterstellenden Fälle klar zu bezeichnen. Wenn bisher die Kompetenz des Bundesgerichtes sich auf die politischen Verbrechen und Vergehen beschränkte, durch welche eine bewaffnete eidgenössische Intervention veranlaßt worden war, daher das Kriterium der Kompetenz in der Art des Verbrechens und in dem äußern Merkmale einer bewaffneten Intervention des Bundes lag, so glaubt die Minderheit der Kommission, wenn sie auch die Kompetenz auf alle politischen und gemeinen Verbrechen und Vergehen ausdehnen will, doch eine, wenn auch unbewaffnete, eidgenössische, Intervention für die Kompetenz des Bundesgerichtes fordern zu müssen. Das Strafrecht ist zum Schütze der öffentlichen Ordnung aufgestellt und soll nicht dem Spiel der Parteien überliefert werden.

Wenn im Bundesstaate ein Bundesglied diese öffentliche Ordnung mit seiner Strafgesetzgebung aufrecht erhalten kann und der Bund sich nicht einmal zu einer unbewaffneten Intervention veranlaßt findet, soll er den kompetenten kantonalen Strafrichter seines Amtes walten lassen. Nur wo durch ein Verbrechen oder Vergehen die öffentliche Ordnung und der Frieden des ganzen Landes gefährdet wird, und der Bund sich veranlaßt findet, in irgend welcher Form zu interveniren, da mag aus diesem höhern allgemeinen Gesichtspunkte im Interesse des Ganzen das betreffende Verbrechen oder Vergehen der Kompetenz des Bundesgeriehtes unterstellt werden.

Der Vorschlag der Minderheit bedarf des Mittelgliedes des" Bundesrathes nicht; er stellt diese Verbrechen und Vergehen direkt unter das Bundesgericht. Er überläßt es auch nicht dem Ermessen einer politischen Behörde, die Frage der richterlichen Kompetenz zu entscheiden, sondern hebt die darin liegende Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetze auf, indem er die gegebenen Fälle definitiv dem Bundesgerichte zuweist, das im Bestreitungsfalle über seine Kompetenz selbst zu
entscheiden hat.

Durch den zweiten Absatz des Vorschlages der Minderheit ist sodann das kantonale Strafrecht in seinem ganzen Umfange gewahrt und die Latitude des Bundesgerichtes ausgeschlossen, das durch die gesetzgebenden kantonalen Gewalten geschaffene Strafrecht außer Kraft zu setzen. Wie bei Straffällen gegen den Bund, wenn sie dem kantonalen Gerichte überwiesen werden, der kantonale Richter

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nicht von dem B und esstraf rech te abgehen darf, so soll auch das Bundesgericht, wenn ihm kantonale Straffälle überwiesen werden, das kantonale Strafgesetz ganz und voll in Anwendung bringen.

Es erübrigt zum Schlüsse noch, mit wenigen Worten auf die Amendements zum Antrage der Mehrheit der Kommission hinzuweisen.

Dieselben bezwecken bei der weitgehenden Tendenz des Art. 74bl8, die Straffälle auf die eigentlichen Verbrechen zu beschränken und die Vergehen auszuschließen ; durch Streichung des Nachsatzes : ,,in der Meinung jedoch etc.a die kantonalen Strafgesetze unverkürzt aufrecht zu erhalten, und endlich durch Streichung des zweiten Alinea nicht einen Theil des kantonalen Strafrechts dem Bundesstrafrechte zum Opfer zu bringen.

Indem die Minderheit Ihrer Kommission mit diesen Bemerkungen schließt, stellt sie Ihnen in erster Linie den Antrag auf Nichteintreten.

B e r n , den 14. Dezember 1882.

Mitglieder der Kommissionsminderheit: Herzog, Berichterstatter.

Heitlingen.

Clausen.

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Bericht der Minderheit der Kommission des Ständeraths über die Botschaft des Bundesrathes an die Bundesversammlung, betreffend die Revision des Bundesstrafrechtes vom 4. Februar 1853. (Vom 14. Dezember 1882.)

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23.12.1882

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