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Kreisschreiben des

eidg. Departements des Innern an verschiedene gemeinnützige "Vereine und Gesellschaften der Schweiz, betreffend Maßregeln gegen den übermäßigen Genuß von Alkohol.

(Vorn 5. Juli 18b2.)

Hochgeehrte Herren !

Der Bundesrath hat schon im Laufe des verflossenen Jahres durch Beschluß des Nationalrathes den Auftrag erhalten : ,,ü u p r ü f e n , o li n i c h t, a u f d e in W e g e d e v ,, V e r s t ä n d i g u n g mit den K a n t o n s regie,,rungen M a ß r e g e l n z u e r g r e i f e n s e i e n , u m ,, d e m s i c h s t e i g e r n d e n ü b or m ä ß i g e n G e n u ß ,, v o n A l k o h o l zu s t e u e r n , u n d d a r ü b e r B e,,richt u n d A n t r ä g e v o r z u l e g e n.a Zu diesem Auftrage ist jüngst von Seiten derselben hohen Behörde der weitere gekommen, die Frage zu untersuchen und zuhanden des Rathes zu begutachten : ,,ob nicht, e n t w e d e r durch eine authe n,, t i s c h e I n t e r p r e t a t i o n d e s A r t. 31 d e r B u n ,, d e s v e r f a s s u n g, o d e r , w e n n n ö t h i g , d u r c h ,, ei n e Er g ä n z u ng des s c l b on, den k a n t o n a l eu ,,Behörden der e n d g ü l t i g e Entscheid über ,,die A u s ü b u n g des W ir t hs ch a ft sg e w er b es ,,und des K l e i n h a n d e l s m i t B r a n n t w e i n zu,, z u g e s t e h e n s e i.a

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Im Fernern sind verschiedene Petitionen an den Bundesrath gelangt, welche in Unterstützung des beiden Postulaten zu Grunde liegenden Gedankens auf Maßrege.ln zur Beschränkung des Branntweingenusses im Lande dringen, und diesen Petitionen hätten sich, wie wir aus sicherer Quelle wissen, viele andere im gleichen Sinne angeschlossen, wenn nicht bekannt wäre, daß die Frage durch Beschlüsse des Nationalrathes bereits beim Bundesrath anhängig seo O ö macht sei.

Wenn wir nicht schon dem ersten Postulate des Nationalrathes vom vorigen Jahre sofort weitere Folge gaben , so lag der Grund der Verschiebung darin, daß wir damals, vor Abschluß des Handelsvertrages mit Frankreich, über einen für die Behandlung der Frage sehr wesentlichen Punkt uns noch im Ungewissen befanden, über den Punkt nämlich, ob und und inwieweit wir in Zukunft betreffend die Besteuerung des von Frankreich und von andern Ländern in die Schweiz eingeführten Alkohols freie Hand haben werden.

Nachdem nun durch den seither zu Stande gekommenen Vertrag dieser Punkt ins Klare gesetzt worden ist und eine unserer freien Aktion günstige Erledigung gefunden hat, so hindert uns nichts mehr, der großen und schwierigen Aufgabe, die uns gestellt ist, näher zu treten.

1.

So oft einzelne, um das Wohl des Landes bekümmerte Männer, so oft größere patriotische Gesellschaften und gemeinnützige Vereine sich mit der Frage befaßt haben, wie dem Uebel des übermäßigen Branntweingenusses gesteuert werden könine -- und es ist dies seit Jahrzehnten oft und viel geschehen -- so sind sie immer zu einer Reihe nach den verschiedensten Seiten hin ausgreifender Postulate gekommen.

Vertheuorung des Branntweins durch hohe Besteuerung der Fabrikation im Lande und entsprechende Erhöhung des Eingangszolles einerseits, durch hohe Patentgebühren für Wirtschaften und Branntweindebite andererseits; Einschränkung der Gelegenheit zu Alkoholgenuß durch Reduktion der Wirthscliaften und strenge Maßregeln gegen unpatentirte Winkelwirthschaften; durch Erhöhung des Minimums für den Verkauf über die Gasse; Erlaß von Strafbestimmungen gegen Solche, welche durch Trunkenheit öffentliches Aergerniß geben und die Pflichten gegen ihre Familien nicht erfüllen; Bevogtung unverbesserlicher Branntweintrinker und Ent-

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ziehung der Kinder; Gründung von Heilanstalten für der Trunksucht Verfallene; Erzielung einer rationellem Volksernährung ; Ersatz des Branntweins durch physisch zuträglichere , weniger Gefahren mit sich bringende Getränke; Aufhebung aller Ohmgekler, welche die leichten Weine, Bier, Most vertheuern ; Verbesserung der Wohnungen; unentgeltliche Oeffnung und Zugänglichhaltung von Lokalitäten, welche einen angenehmen und nützlichen Gebrauch der freien Zeit ermöglichen; stramme Erziehung zur Nüchternheit, bessere Pflege des Familienlebens, zweckmäßige Verwendung der Sonnund Feiertage; allseitige Aufklärung des Volkes über die verderblichen Folgen der Trunksucht durch die Schule, durch die Kirche, durch öffentliche Vorträge, durch die Presse etc.

Das sind, immerhin unvollständig zusammengestellt, die Postulate , welche in dieser oder jener Gruppirung den Schluß aller öffentlichen Besprechungen des zu bekämpfenden Uebels in Schriften und Versammlungen gemeinnütziger Vereine bilden.

2.

Wir theilen die Ueberzeugung, daß die Bekämpfung des Uebels eine von verschiedenen Punkten ausgehende, konzentrisch arbeitende sein muß. Wir halten dafür, daß das Herausgreifen eines einzelnen Punktes, z. B. Verteuerung der Branntweinfabrikation oder Limitation der Wirtschaften, oder eines andern, der Gegenstand eines Gesetzes sein könnte, einerseits nicht ausreicht, um zu einem ernstlichen Erfolge zu führen, andererseits außerordentlich schwierig wäre , weil von den verschiedensten Standpunkten aus mit Recht die Einseitigkeit eines solchen Vorgehens und die mit dieser Einseitigkeit verbundene Unbilligkeit desselben angefochten würde und werden müßte.

Die Angelegenheit kann nur auf umfassender Grundlage an die Hand genommen werden.

3.

Man kann sich nicht verhehlen, daß die Aufgabe dadurch eine sehr umfangreiche und gleichzeitig sehr schwierige wird. Es wird sich darum handeln, die Klage über zunehmenden Branntweingenuß und die damit in Verbindung gebrachten Schädigungen des allgemeinen Wohles auf ihre Richtigkeit zu prüfen; die bezüglichen Thatsachen und Zustände so genau als möglich gleichzeitig in der ganzen Schweiz zu ermitteln; die Frage zu untersuchen, ob das

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Uebel als ein vorübergehendes betrachtet werden dürfe, welches ohne direktes Zuthun des Staates und der Gesellschaft mit der Zeit von selbst abnehmen und verschwinden werde, und eventuell nachzuweisen, daß und warum dies nicht der Fall sei.

Es wird nothwendig werden, Zustäude und Verhältnisse derjenigen Länder, in welchen dasselbe Uebel aufgetreten ist, und die zur Bekämpfung desselben von ihnen getroffenen Maßnahmen sammt deren Wirkungen einem gründlichen Studium zu unterwerfen.

Es wird sich im Weitern darum handeln, die Maßregein, welche für unser Land in Aussicht genommen werden könnten, jede für sich zum Gegenstände einer allseitigen , sachverständigen Untersuchung und Bearbeitung zu machen, so die Frage der Preiserhöhung des Branntweins mit allen darin enthaltenen Punkten ; die Frage der Einschränkung der Wirthschaften und was damit zusammenhängt; die Frage strafrechtlicher Bestimmungen gegen Trunkenheit; die Zollfrage; die auf Verbesserung der Volksernährung, der Wohnungen, auf Betheiligung der Schule, der Kirche, der ganzen Gesellschaft an der zu unternehmenden Aktion hinzielenden Postulate.

Sind die Arbeiten auf diesen verschiedenen Punkten beendigt, SO wird es sich dann darum handeln, die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen nach Richtigkeit, praktischer Brauchbarkeit und Anwendbarkeit auf die Verhältnisse unseres Landes zu prüfen, das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Nothwendige vom weniger Notwendigen auszuscheiden; vom staatsrechtlichen Gesichtspunkte aus zu untersuchen, was Sache des Staates und was Sache der organisirten Privatthätigkeit sei, und bezüglich der dem Staate zufallenden Aufgaben, was in den Bereich des Bundes fallen oder gestellt werden könne und was ausschließlich Aufgabe der Kantone sei.

Und da es sich nicht nur um Formuliruag von Wünschen, sondern um ganz bestimmte Propositioneu und um zielbewußte, praktische Organisationen handeln wird , so wird die letzte vorbereitende Arbeit darin bestehen, den schließlich aufgenommenen Postulaten die ihrer Bestimmung gemäße feste Gestalt zu geben.

4.

Die Lösung dieser nur summarisch skizzirten Aufgabe, deren Vorberathung dem Departement des Innern zugewiesen ist, erheischt nicht nur Zeit, sondern auch eine Mitarbeit tüchtiger Kräfte aus

402 verschiedenartigsten Kreisen, eine Mitarbeit in größerin Maßstabe, als dies bei einfachem, rein gesetzgeberischen Vorarbeiten deiFall ist.

Glücklicherweise fehlt es unserm Lande au solchen Kräften nicht. Die vorliegende Frage weist keine Seite auf, welche nicht in mehr oder weniger direkter Weise in das Arbeitsgebiet eines oder mehrerer unserer zahlreichen und thätigeu schweizerischen Vereine einschlüge, und manchen derselben ist sie durchaus keine neue Fräse.

Es liegt also nahe, behufs Losung der weitschichtigen Aufgabe an die hiezu geeigneten schweizerischen Vereine zu appellieren und dieselben auf Grund eines sorgfältig erwogenen Arbeitsplanes einzuladen, das Studium und die Bearbeitung der spezieilen, jedem einzelnen Vereine zuzutheilenden Frage zu Übernehmen und die Aufgabe innert einer bestimmten Frist zu Ibsen.

Wir zweifeln nicht daran, daß ein solcher Appell bei der großen Bedeutung der Angelegenheit für das Land bei den aufzurufenden Vereinen ein geneigtes Entgegenkommen finden und Alle sich bestreben werden, zur bestmöglichen Lösung der Aufgabe das Ihrige nach Kräften beizutragen.

5.

Es handelt sich in erster Linie darum , die Arbeit zu orgaaisiren.

Wir verstehen darunter : Feststellung der iu den Bereich der Arbeit zu ziehenden Untersuchungen und Fragen ; Kationelle Gruppirung derselben behufs Verkeilung der Arbeit; Zutheilung der einzelnen Aufgaben an die einzelnen Vereine; Bestimmung einer Frist, welche einerseits den Vereinen gründliche Arbeit möglich macht, andererseits den geordneten Fortgang der Gesammtarheit sichert.

Das Projekt zu einem solchen Arbeitsplan wird vom Departement des Innern aufgestellt und der Beratbung und Beschlußfassung «iner Organisationskommission unterbreitet, bestehend aus den seitens der Vereine dem Departement des Innern vorzuschlagenden Experten. Das Projekt würde diesen Experten gedruckt, in genügender Anzahl von Exemplaren und so rechtzeitig mitgetheilt, daß ihnen die Möglichkeit bliebe, dasselbe vor der Sitzung der Kommission auch in den Vorständen ihrer Vereine zur Berathung 'zu ti ringen.

483 6.

Im Sinne der vorstehenden Auseinandersetzungen beehren wir uns, nachfolgende Vereine und GeseUschafteu (Ergänzung vorbehalten) um ihre geneigte Mitwirkung anzugehen : Schweizerische gemeinnützige Gesellschaft.

Schweizerische statistische Gesellschaft.

Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen in Basel.

Verein schweizerischer Armenerzieher.

Schweizerischer Verein für Straf- und Gefängnißwesen.

Schweizerische Predigergesellschaft.

Schweizerischer Pi us verein (als einzig bekannte freie Vertretung der katholischen Kirche).

Schweizerischer Juristen verein.

Schweizerischer medizinischer Centralverein.

Société médicale de la Suisse romande.

Schweizerischer Lehrer verein.

Schweizerischer landwirthsermft.licher Verein.

Société d'agriculture de la Suisse romande.

Schweizerischer Grüt li verein Schweizerischer Gewerbeverein.

/p

In der zuversichtlichen Erwartung, daß Sie unserer Bitte um Ihre Mitarbeit zu entsprechen sich geneigt finden werden, ersuchen wir Sie, uns mit Ihrer Antwort gleichzeitig diejenigen Ihrem geehrten Verein augehörenden Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche Sie für die der Organisationskommission (Ziffer 5) vorbehaltenen Arbeiten besonders geeignet erachten.

Indem wir Ihrer gefälligen Antwort wenn möglich bis 1. August entgegensehen, benutzen wir den Anlaß, Sie unserer ausgezeichneten Hochachtung zu versichern.

B e r n , den ö. Juli 1882.

Der V o r s t e h e r d e s eidg. D e p a r t e m e n t s d e s I n n e r n : Schenk.

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Kreisschreiben des eidg. Departements des Innern an verschiedene gemeinnützige "Vereine und Gesellschaften der Schweiz, betreffend Maßregeln gegen den übermäßigen Genuß von Alkohol. (Vom 5. Juli 1882.)

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15.07.1882

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