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Schweizerisches Bundesblatf.

34. Jahrgang. IV.

Nr. 49.

14. Oktober 1882.

J a h r e s a b o n n e m e n t (portofrei in der ganzen Schweiz): 4 Franken.

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und Expedition der Stämpflischen in Bern.

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Bundesrathsbeschluss betreffend

den Rekurs der Frau Adèle Fauvel, geb. Monnier, wohnhaft in Versoix, Kantons Genf, wegen deren Ausweisung aus dem Kanton Genf.

(Vom

19. September 1882.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t h

hat in Sachen der Frau A d è l e F a u v e l , geb. Monnier, wohnhaft in Versoix (Genf), betreffend deren Ausweisung aus dem Kanton Genf; nach angehörtem Berichte des Justiz- und Polizeidepartements und nach Einsicht der Akten,' woraus sich ergeben: o I. Durch Verfügung des Justiz- und Polizeidepartements des Kantons Genf vom 3. Mai dieses Jahres, bestätigt vom Staatsrath durch Beschluß vom 21. Juli a b b i n , wurde die Rekurrentin aus dem Gebiete des Kantons Genf ausgewiesen.

Dieselbe ergriff sofort gegen die Verfügung des Departements, dann aber, als ihr vom Bundesrathe bedeutet worden, daß er vor Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges auf ihren Rekurs nicht eintreten könne, und sie sich demgemäß beim Staatsrath von Genf gegen die Verfügung des Justiz- und Polizeidepartements beschwert batte , auch gegen den ihr ungünstigen Entscheid des Staatsrathes den Rekurs an den Bundesrath.

Bundesblatt. 34. Jahrg. Bd. IV.

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II. Zur Begründung ihrer Beschwerde macht die Rekurrentin in ihren schriftlichen Eingaben vorn 19. Juni und 31. Juli abhin folgende Angaben : Sie sei Französin und an einen Franzosen verheirathet, von welchem sie jedoch durch gerichtliches Urtheil zu Tisch und Bett geschieden worden. Sie habe niemals eine Verurtheilung erlitten, schulde Niemandem etwas, sei Grundbesitzerin im Kanton Genf, wo sie alle Steuern regelmäßig entrichte, und sei bereit, immerfort allen gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Es sei nicht wahr, daß ihr Betragen Jemandem Anlaß zu begründeten Klagen biete ; daß sie in Versoix im Hause des Herrn E. de Traz wohne, könne doch unmöglich einen Grund zu ihrer Wegweisung aus dem Kantonsgebiete bilden. Eine Reihe von Zeugnissen, welche bei den Akten liegen, worunter dasjenige der Mehrheit der stimmberechtigten Einwohner einschließlich mehrerer gegenwärtiger und gewesener Gemeinderäthe von Versoix, widerlege alle gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen.

Die bezügliche Schlußnahme der Genfer Staatebehörde basire übrigens nicht bloß auf einem umsichtigen thatsächlichen Fundamente , sie sei auch durchaus rechtswidrig. Denn als Französin beanspruche die Rekurrentin auf Grund des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich Gleichbehandlung mit den Schweizern anderer Kantone, die im Kanton Ger.f sich niederlassen. Das Recht der Niederlassung und des Aufenthalts im Kanton Genf könne ihr also nur nach Maßgabe der bezüglichen Bestimmungen der schweizerischen Bundesverfassung entzogen werden, nicht aber gestützt auf irgend ein damit im Widerspruche stehendes genf'erisches Gesetz über Fremdenpolizei.

III. Dem gegenüber macht der Staatsrath des Kantons Genf in seiner Vernehmlassung vom 22. August dieses Jahres darauf aufmerksam, daß auf den Rekurs der Frau Fauvel gegen die Ausweisungsverfügung des Justiz- und Polizeidepartements eine neue, höchst einläßliche Untersuchung des Sachverhalts angeordnet und erst hiernach gemäß dem Berichte eines als Spezialk ommissär hiezu bestellten Mitgliedes des Staatsrathes die Departementalverfügung von ihm bestätigt worden sei. Gestützt auf diese Untersuchung und die von ihm produzirten Aktenstücke hebt der Staatsrath folgende Thatsachen hervor: a. Die Lebensführung der Frau Fauvel , welche 1861 von ihrem Manne gerichtlich geschieden , 1863 zu Paris wegen Diebstahl zu 15 Tagen Gefängniß verurtheilt worden und seit 1871 verschiedene Ortschaften des Kantons Genf bewohnt, gebe vielfach

Anlaß zu Aergeruiß. Sie sei allgemein als die Maitresse des Herrn de T . . bekannt, unterhalte aber auch noch andere Beziehungen.

Der Maire und der Pfarrer von Versoix, ihrem dermaligen Wohnorte, verlangen angesichts der Polgen des von ihr in dieser kleinen Ortschaft gegebenen schlechten Beispieles nachdrücklich ihre Ausweisung. Solchen ernsten und gewichtigen Stimmen gegenüber könne eine durch den Einfluß des reichen Grundbesitzers de T . .

zu Stande gebrachte Belobungsadresse von 125 Einwohnern von Versoix (also nicht der Majorität der Stimmberechtigten) nicht ins Gewicht fallen.

b. Die Ausweispapiere der Frau Fauvel seien nicht mehr ordnungsgemäß. Sie habe auf dem Bureau für Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen in Genf einen vom französischen Generalkonsul daselbst unterm 29. Dezember 1873 ausgestellten, auf ein Jahr gültigen, allgemeinen Paß deponirt.

Erst seit der Niederlassungsbewilligung seien der Genfer Behörde die gerichtliche Verurtheilung und die ordnungswidrige Lebensführung der Rekurrentin bekannt geworden.

Ueberdies habe Frau Fauvel den durch Artikel 2 des Niederlassungsvertrages zwischen der Schweiz und Frankreich geforderten Immatrikulationsschein nicht beigebracht.

In Bezug auf die Anwendbarkeit und die Rechtsgültigkeit des Gesetzes vom 9. Februar 1844 über die Fremdenpolizei weist der Staatsrath auf Artikel 12 des vom Bundesratli ausdrücklich genehmigten Gesetzes über Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung vom 8. März 1879 hin, durch welche Gesetzesstelle jenes Gesetz ausdrücklich bestätigt worden, und beruft sich im Fernern auf Artikel 5 des französisch - schweizerischen Niederlassungs Vertrages, welcher die Gesetze und Verordnungen über Sittenpolizei in förmlichster Weise vorbehält; er erinnert endlich an die von Frankreich täglich befolgte Ausweisungspraxis gegenüber Fremden und an die in zahlreichen Fällen auch vom Bundesrathe angewendete, damit übereinstimmende Jurisprudenz (vergleiche Rekursfälle Pillard, vom 18. Februar 1876, Moret, vom 10. April 1876, D'Avesnes, vom 26. Oktober 1877}.

IV. In nachträglichen, replizirenden Eingaben vom 3., 4., 7.

und 8. September 1882 setzt nicht bloß die Rekurrentin, unter Beilegung einer Menge neuer ihr günstiger Zeugnisse, sondern zu ihrer Unterstützung auch Herr E. de Traz in Versoix den gegen dieselbe seitens von Beamten und Privaten erhobenen Anschuldigungen ein formelles Dementi entgegen. Frau Fauvel erbietet

sich zur Führung des vollen Gegenbeweises, zu welchem Behufe sie verlangt, daß der Bundesrath eine neue, kontradiktorische. vom Maire von Versoix, seinen Agenten und Ergebenen , sowie auch vom Genfer Justiz- und Poiizeidepartement und dessen öffentlichen und geheimen Agenten unabhängige Untersuchung anordne; in E r w ä g u n g : 1) Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Franzosen in der Schweiz, gleichwie die Schweizer in Frankreich , das Recht der Niederlassung und des Aufenthalts nur nach Maßgabe der Bestimmungen des zwischen den beiden Staaten bestehenden Niederlassungsvertrages vom 23. Februar 1882 beanspruchen können.

Hiernach ist die Behauptung der Rekurrentin nicht, richtig, daß für Franzosen gleich wie für Schweizerbürger die Bedingungen des Erwerbs und des Entzuges der Niederlassung in der Schweiz durch Artikel 44 und 45 der schweizerischen Bundesverfassung geregelt seien. Vielmehr macht der französisch - schweizerische Niederlassungsvertrag für die beidseitigen Staatsangehörigen das Recht des Wohnens in dem andern Vertragsstaate ausdrücklich und mehrfach davon abhängig, daß sie den Gesetzen und Polizei Verordnungen nachleben (Art. 1) und nicht in die Lage kommen, durch gesetzliche Verfügung oder gemäß den Gesetzen oder Verordnungen über die Sittenpolizei und über den Bettel weggewiesen zu werden (Art. 5). Dieselben Bestimmungen waren schon im Niederlassungsvertrage zwischen Frankreich und der Schweiz vom 30. Juni 1864 enthalten, und die von beiden Vertragsstaaten befolgte Praxis ist von jeher damit in vollständiger Uebereinstimmung gestanden.

2) Daraus folgt, daß die Genler Gesetze über Sitten- und über Fremdenpolizei durch den französisch-schweizerischen Niederlassungsvertrag keineswegs entkräftet worden sind , und es bleibt für die Bundesrekursbehörde bloß die Frage zu untersuchen übrig, ob im konkreten Falle die Vorschriften jener Gesetze ohne Grund auf die Rekurrentin angewendet werden wollen.

3") In dieser Beziehung muß das Ergebniß der von den Staatsbehörden des Kantons Genf angestellten Untersuchung vom Bundesrathe als richtig und maßgebend anerkannt werden, und es kann nicht davon die Rede sein, daß die Bundesbehörde auf Begehren einer von einer solchen Untersuchung betroffenen Partei, mit Umgehung der kantonalen Behörden, gleichsam eine Gegenuntersuchung veranstalte.

Es bildet demnach die Untersuchung der Kantonsbehörde die Grundlage für den diesfälligen bundesräthlichen Entscheid. Hievon

ausgehend betrachtet der Bundesrath die Thatsache als erwiesen, daß die Lebensführung der Rekurrentin gegen die gute Sitte verstößt und deßhalb Anlaß zu Aergerniß gibt.

Mit Rücksicht auf diese Thatsache erseheint das Ausweisungsdekret der Behörden von Genf als vollkommen gerechtfertigt, und es ist für den Bundesrath kein Grund vorhanden, dasselbe aufzuheben ; beschlossen :

Ì. Der Rekurs wird als unbegründet abgewiesen.

2. Dieser Entscheid ist dem Staatsrath des Kantons Genf und der Rekurrentin, unter Rückschluß jeweils der beigebrachten Parteibelegeakten, schriftlich mitzutheilen.

B e r n , den 19. September 1882.

Im Namen des Schweiz. Bundesrathes, Der Bundespräsident:

Bavier.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Bingier.

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Bundesrathsbeschluss betreffend den Rekurs der Frau Adèle Fauvel, geb. Monnier, wohnhaft in Versoix, Kantons Genf, wegen deren Ausweisung aus dem Kanton Genf. (Vom 19. September 1882.)

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