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Schweizerische Bundesversammlung.

Die gesetzgebenden Räthe der Eidgenossenschaft sind am 5. Juni 1882 zu ihrer ordentlichen Sommersession zusammengetreten.

Der Präsident des Nationalraths, Herr Großrath Karl Z y r o von Thun, eröffnete die Sitzung mit folgender Ansprache: ,,Meine Herren!

,,Wir haben in den letzten Tagen ein epochemachendes Ereigniß gefeiert, d i e I n a u g u r a t i o n d e r G o t t h a r d b a h n .

Das Riesenwerk, welches vor drei Dezennien noch bloß wenige hervorragende Geister beschäftigt, steht der Hauptsache nach vollendet da, und zwar in einer Weise, welche den Techniker sowohl als den Laien mit Bewunderung erfüllt. Hier trifft das Wort des Dichters zu: ,,Das Werk soll den Meister loben."

,,Die mannigfachen Hindernisse, welche sich der Ausführung entgegengestellt und das Schlimmste befürchten ließen, sind überwunden. Prompt vermittelt die Lokomotive den Verkehr zwischen diesseits und jenseits unserer Alpen. Der Sotto-Cenere ist von nun an mit dem Sopra-Cenere und der übrigen Schweiz eng verbunden.

,,Obschon bei Anlaß der kaum verklungenen , a l l e n T h e i l n e h m e r n u n v e r g e ß l i c h e n F e i e r v o n berufener Seite mit beredter Zunge wohl Alles gesagt worden ist, was der Situation angemessen war, so erlaube ich mir doch , von dieser Stelle aus noch einigen Gedanken Ausdruck zu geben , von denen mir scheint, daß sie hier am Platze seien.

,,Wir haben die Befriedigung , die Anerkennung von Vertretern der mitkontrahirenden Staaten konstatiren zu können, daß die Schweiz das Vertrauen, welches diese ihr geschenkt, indem sie das Unternehmen in hohem Maße subventionné und ihrer Leitung und Aufsicht unterstellt, gerechtfertigt habe. Uebermitteln wir diese Anerkennung mit unserm Dank den Männern, welche den erfreulichen Erfolg durch ihre Einsicht und anstrengende Arbeit, manche unter Aufopferung ihrer Gesundheit und ihres Lebens, herbeigeführt

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haben. S i e h a b e n s i c h u m d a s V a t e r l a n d v e r d i e n t gemacht!

,,Auch geziemt es sich uns, hervorzuheben, mit welchem imposanten Mehr das Schweizervolk im kritischen Zeitpunkte, an manchem Orte unter Hintansetzung seiner Interessen, die von ihm verlangten Opfer bewilligt und dadurch seine Prüfung mit Ehren bestanden hat. Seien wir dessen stets eingedenk!

,,In dem Gelingen dieses Friedenswerkes feiert n e b e n der T e c h n i k die H u m a n i t ä t den höchsten Triumph.

,,Nicht nur fördert die Gotthardbahn den internationalen Verkehr und bringt die Völkerschaften einander näher, sondern nach dem Geiste zu schließen, welcher das Unternehmen von Anbeginn an begleitet und alle am Eröffnungsfeste aufgetretenen Redner beseelt hat, dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß, was die aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzte Schweiz je länger je mehr einsieht, auch in den Großstaaten zur Anerkennung gelangen wird, d a s nämlich, d a ß j e d e r c i v i l i s i r t e n N a t i o n eminente Eigenschaften innewohnen; welche d i e a n d e r n m i s s e n u n d h o c h s c h ä t z e n , u n d daß, j e besser die Völker sich kennen lernen , desto mehr die Vorurtheile schwinden und die Ueberzeugung Platz greift, d a ß j e d e r N a t i o n a l i t ä t i m S c h ö p f u n g s p l a n ihre A u f g a b e gestellt ist und die f r ie d l i eh e E n t w i c k l u n g d e r T u g e n den Aller zu der Harmonie führt, unter welcher die Menschheit gedeihen.kann.

,,Die Wahrnehmungen, welche wir in den jüngsten Tagen gemacht haben, bestätigen aufs Neue die Richtigkeit des Satzes, d a ß es die p r o v i d e n t i e l l e B e s t i m m u n g der schweizerischen E i d g e n o s s e n s c h a f t ist, neben der Kräftigung und fortschrittlichen Gestaltung ihres S t a a t s w e s e n s und der Sorge f ü r die W o h l fahrt aller ihrer A n g e h ö r i g e n stets Hand zu b i e t e n , wo es gilt, auf f r i e d l i c h e m Wege das Loos der gesammten Menschheit zu verbessern.

,,Freuen wir uns der A c h t u n g und S y m p a t h i e , welche dieses Bestreben dem Vaterlande bis dahin eingebracht hat. Erblicken wir in allen solchen Kundgebungen anderer Staaten e i n e A u f m u n t e r u n g , s o w o h l i m I n n e r n a l s nach A u ß e n auf dem unter dem neuen Bunde eingeschlagenen Pfade fortzuschreiten.

,,Der Geist, welcher das Cyklopenwerk der Gotthardbahn geschaffen und von der großen Gefahr, von welcher es bedroht war,

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,,Leider ist der Jubel über das Zustandekommen dieses Werkes nicht ein einstimmiger. Auch hier fehlt im Freudenbecher ein Tropfen Wermuth nicht. Neben den Vortheilen, welche man sich von demselben in den meisten Kantonen verspricht, wurden und werden in andern Klagen über Schädigungen laut. Eine Ausgleichung sieht zwar der Subventionsbeschluß vor. Diejenigen Landestheile aber, welchen dieser keine hinreichende Beruhigung gewährt, mögen einen Trost darin finden, daß die Mutter Helvetia auch ihnen gegenüber gerecht sein und erforderlichen Falls nach d e r Maxime handeln wird : ,, A l l e f ü r E i n e n , E i n e r f ü r Alle!"tt Der Präsident des Ständerathes, Herr Staatsrath A. C o r n a z in Neuenburg, hielt die nachstehende Eröffnungsrede.

,,Meine Herren !

,,Zur Eröffnung der nun beginnenden zweiten Legislaturperiode gestatten Sie mir, auf unsere Arbeiten einen Rückblick zu werfen.

Die wichtigste derselben, der Handelsvertrag mit Frankreich, hat unter schwierigen und dornenvollen Verhältnissen unserer gewerblichen Produktion eine feste und dauerhafte Grundlage gesichert.

Die wichtigsten unserer Industrien haben befriedigende Resultate erzielt, und die Zukunft unseres Exportes scheint sicher gestellt zu sein. Denjenigen, welche mit Recht oder Unrecht glauben, sie seien durch den Vertrag geschädigt worden, waren die Räthe vom aufrichtigen Wunsche beseelt, möglichst vollständige Entschädigung angedeihen zu lassen. Ohne die erzielten Erfolge in allzu optimistischem Lichte betrachten zu wollen, dürfen wir nicht vergessen, daß es unter gegenwärtigen Umständen schwer gehalten hätte, ein Mehreres zu erreichen und daß Alles in Allem genommen die eingetretene Lösung den Vorzug verdient vor einem Retorsionssystem das Unsicherheit der Handelsbeziehungen und Schädigung der großen Masse der Konsumenten zur Folge gehabt hätte. Die Schweiz ist in der That den Männern zu Dank verpflichtet, denen es gelungen ist, diese schwierigen Unterhandlungen zum guten Abschlüsse zu bringen. Man hätte jedoch Unrecht, wollte man es als einen Erfolg betrachten, daß eine große Anzahl Positionen dem Konventionaltarif entzogen und dem Generaltarif überwiesen worden ist. Wenigstens ist es meine Ansicht, die Schweiz sollte nur mit großer Mäßigung von der ihr gegebenen Möglichkeit, die Einfuhrzölle eigenmächtig zu erhöhen, Gebrauch machen.

120 ,,Das vom Ständerath mit Abänderungen angenommene Posttaxengesetz steht nun auf den Traktanden des Nationalrathes, wo demselben, wie es scheint, ebenfalls wichtige Modifikationen bevorstehen. Hoffen wir, daß in diesem Kampfe der widersprechenden Ansichten die Post ihre wesentliche Bedeutung als öffentliche Anstalt ersten Ranges beibehalten werde; ist sie doch in erster Linie dazu geschaffen, dem Publikum zu dienen und in demselben Maße den vielfachen Bedürfnissen zu genügen, ohne ein einziges derselben den anderweitigen Interessen zu opfern. Andererseits soll die Post für den Bund eine Einnahmenquelle bleiben. Man sollte es vermeiden, bei den bevorstehenden verschiedenen Abänderungen der Taxen der Neigung zu folgen, sämmtliche Bestimmungen des Gesetzes abzuschwächen, welche dem Bunde Einnahmen bringen, dagegen alle diejenigen beizubehalten, welche eine finanzielle Einbuße bedeuten. Das hieße das nothwendige Gleichgewicht zerstören.

Ueber die Frage der Portofreiheit ist viel hin und her gestritten worden. Ein Punkt scheint mir jedoch außer Frage zu sein, daß es nämlich im Sinne der im Jahre 1848 geschaffenen Institutionen lag, den Kantonen die amtliche Portofreiheit zu wahren. Keine einzige Stimme hat sich damals dagegen erhoben, und bis heute stimmten die thatsächlichen Verhältnisse mit dieser Auffassung überein.

,,Das Epidemiengesetz hat gegenwärtig noch die Probe des Referendums zu bestehen. Vom Standpunkte aller Derjenigen, welche demselben vorwarfen, es enthalte eine Summe von Verletzungen der individuellen Freiheit und des Hausrechtes, ist dasselbe zufolge verschiedener Verbesserungen nunmehr annehmbar geworden, so daß sie für dasselbe stimmen konnten.

,,Es enthält u. A. nützliche Bestimmungen betreffend die Reinhaltung der Wohnhäuser. Der Impfzwang bildet den einzigen noch bestrittenen Punkt. Die Gegner dieser Maßregel sind neuerdings sehr energisch für die Verwerfung des Gesetzes eingetreten. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß erwiesenermaßen in der Schweiz und andern Ländern seit der allgemeinen Einführung der Impfung die Pockenepidemie in bedeutendem Maße abgenommen hat.

,,Der ständeräthliche Beschluß über den Erfindungsschutz hat in diesem wichtigen Gebiete einer leidigen Unsicherheit ein Ende gemacht. Wenn, wie es wahrscheinlich ist, das Schweizervolk sich herbeiläßt, in
diesem Punkte die Bundesverfassung zu revidiren, so wird dieses Votum unsere Industriellen dazu ermuthigen, ihre Erfindungen zu veröffentlichen, was einen gedeihlichen Wetteifer bedingen wird, und die Schweiz wird ungehindert in den internationalen Verträgen über Erfindungsschutz die ihr zukommende Stellung einnehmen können.

121 ,,Die Bundesbeitrage für Flußkorrektionen stehen noch auf der Tagesordnung. Von einem Ende der Schweiz bis zum andern, vom Landwasser und Rhein bis zu den Juragewässern kommt ein Kanton nach dem andern, den Bund zu bitten, zu seinen Gunsten seine vielbewährte Rolle als L a n d e s m u t t e r weiter zu spielen, vermittelst welcher er zur Popularisirung der neuen Bundesinstitutionen so viel beigetragen hat.

Andere wichtige Arbeiten erwarten die Räthe. -- Die Revision des Bundesstrafrechtes hat zum Zwecke, Urtheile in politischen Prozessen den Parteileidenschaften, die sich in den Kantonen geltend machen, zu entziehen. Trotz zwei aufeinander folgenden Mißerfolgen scheint mir das Bundesgesetz über das Stimmrecht dem Geiste der 1874er Verfassung gemäß dazu berufen zu sein, die Ausübung der politischen Rechte auf wahrhaft freisinniger Grundlage zu sichern, und zwar zu Gunsten sämmtlicher Bürger, denen das Vaterland Leistungen auferlegt, insbesondere die schwerste aller Leitsungen, den Militärdienst. Nur dann wird es möglich sein, in unserem Lande den republikanischen Grundsatz zu verwirklichen : Gleiche Rechte, gleiche Pflichten.

,,Die Ausführung des Art. 27 der Bundesverfassung möchte ich nur mit großer Vorsicht berühren, gebietet mir doch meine Stellung, den Gefühlen-von Kollegen, denen ich die höchste Achtung zolle, nicht zu nahe zu treten. Zwei sehr schwer y zu vereinigende Strömungen stehen hier einander gegenüber, einerseits die Ansicht Derjenigen, welche dafür halten, es müsse in der modernen Gesellschaft die Schule jedem religiösen und konfessionllen Einflüsse entrückt sein, damit sie mit gleichen Rechten von den Angehörigen aller Konfessionen besucht werden könne, und zwar auch deßhalb, weil der konfessionslose Unterricht mit den Grundsätzen der Freiheit und Duldsamkeit allein vereinbar ist. Auf der andern Seite stehen diejenigen, welche, den ehrwürdigen Ueberlieferungen der Vergangenheit Rechnung tragend, von dem Gefühle durchdrungen sind, es müsse der Religionsunterricht die Grundlage jeder Erziehung bilden. Ich meinerseits wünsche, es möge die Lösung so ausfallen, daß sie nicht allzu tiefe Wunden schlage; allerdings muß aber die Durchführung der Bundesverfassung zur Wahrheit werden.

,,Kurz vor dem Zusammentritt der Bundesversammlung hat die Schweiz ein großes nationales Ereigniß
festlich begangen. Nach wechselvollen und oft kritischen Schicksalen hat endlich das großartige Gotthardunternehmen seinen Abschluß gefunden, und die Bahn ist gegenwärtig dem Verkehr dreier Länder erschlossen. Der große Transitverkehr Zentraleuropas ist unserem Lande gesichert.

122 Unsere Einfuhr und Ausfuhr wird in Folge dessen zu einem bedeutenden Aufschwünge gelangen. Mehreren Industriezweigen sind neue Absatzgebiete eröffnet. Dieses ist die volkswirthschaftliche und materielle Tragweite dieses Ereignisses. Aber nicht minder groß sind die Folgen auf politischem Gebiete. Die beiden tessinischen Gebietsteile Sopra- und Sotto-Cenere sind nunmehr miteinander verbunden. Möge dieses Ereigniß für das Tessinervolk ein Pfand der Eintracht und Annäherung sein ! Die ganze Schweiz wünscht es, und wie es keinen Monte-Cenere mehr für die Tessiner gibt, so gibt es auch für die Schweizer keine Scheidewand, keinen Gotthard mehr. Die italienische Schweiz ist nunmehr mit unauflöslichen Banden an das gemeinsame Vaterland gekettet. Welches Ereigniß wäre im Stande, unsern Patriotismus freudiger zu stimmen ?

,,Ich danke zum Schlüsse meinen Kollegen für das mir während meiner Amtsdauer erwiesene Wohlwollen und erkläre hiemit die ordentliche Sommersession des Jahres 1882 als eröffnet" Die Bureaux beider Räthe wurden in folgender Weise bestellt: Im N a t i o n a l r a t h .

Präsident: Herr Dr. Adolf D e u c h e r , Regierungsrath, in Frauenfeld, gewesener Vizepräsident; Vizepräsident: ,, Dr. Simon K a i s e r , Bankdirektor, in Solothurn ; Stimmenzähler: ,, Paul W u l l i è m o z , Receveur, in Payerne (Waadt); ,, Robert D u r r er, Landammann, in Stans (Nidwaiden) ; ,, Joh. M o s e r , Bezirksstatthalter, in KleinAndelfingen (Zürich); ,, Gottlieb B erg er, Großrath, in Bern.

Im S t ä n d e r a t h .

Präsident: Herr Wilhelm Vigier, Regierungsrath, in Solothurn; Vizepräsident: ,, Walther Ha u s er, Regierungsrath, in Wädensweil (Zürich).

Stimmenzähler: ,, Joh. Jakob H o h l , Obergerichtspräsident, in Herisau (Appenzell A.-Rh.); ,, Joseph C h a p p e x , Staatsrath, in Sitten (Wallis).

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10.06.1882

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