150

#ST#

Bern, den 5. August 1870.

K .. e i s schr e i b e n.

Der schweizerische Bundesrath an sämmtliche eidgenössische Stande.

Getreue, liebe Eidgenossen l Jn den gegenwärtigen kriegerischen Zeitumständen hat die Frage auch herantreten müssen , welche Haltung gegenüber etwaigen Fahnenflüchtigen (Deserteuren) und Fahnenscheuen (Refraktoren) einzunehmen sei, und ob denselben gegenüber der Ausenthalt und die Ernährung von Seiten der Eidgenossenschaft gewährt werden solle oder müsse. Jn dieser Beziehung werden nachstehende Gesichtspunkte einer nähern Würdigung zu unterziehen sein : Von jeher und seit dem Bestand der jezigen Bundesverfassung ununterbrochen ist ein Unterschied gemacht worden zwischen p o l i t i s c h e n Flüchtlingen einerseits und Flüchtlingen der beiden genannteu Kategorien andererseits. Diese Unterscheidung ist schon durch die Verschiedenheit der Bewegnisse gerechtfertigt , welche die eiuen und die andern Fluchtlinge zum Uebertritt in den fremden Staat getrieben haben. Während den politischen Flüchtlingen durch die Kantone, ausnahmsweise auch durch den Bund , stets ein Asyl und oft auch Unterstüzung gewährt ward, sind hievon die Fahnenflüchtigen und Fahnenscheuen fast regelmässig ausgenommen gewesen. Allerdings haben, wie bekannt, auch die lezteru

151 nicht selten in den Kantonen Duldung gefunden; der Bund aber hat stets an dem Grundsa.. festgehalten, dass es zwar den Kantonen unbenommen sei, jene Flüchtlinge ebenfalls aufnehmen, dass er - der Bund aber das Recht besize, dieselben zu interniren , und zwar nicht in der Richtung, dass andere Kautone verpflichtet wären, sie zu dulden, sondern in dem entgegengesehen Sinne, dass die Grenzkantone die Vflicht hätten, sie nicht zu dulden , und dass es den innern Kantonen immer srei stünde, sie ausznnehmen oder nicht.

Der Umstand, dass schon während der jezigen Greuzbese^uug einzelne Deserteure durch Befehl militärischer Oberer in das Jnnere der Schweig eingemahnt wurden, und z.oar geradezu unter Anweisung eines bestimmten Ortes oder Kantons ^. B. Berns), verpflichtet somit den angewiesenen Kanton noch keineswegs, diese Leute auszunehmen und zu hegen. Vielmehr hat der Kanton im Fragesalle nur das Recht, diess alles zu thun, und weun er davon Gebrauch macht, so geschieht es ans seine eigene Verantwortlichkeit , aber auch auf seine eigenen Kosten , da er frei war, diese Begünstigung zu gewähren oder zu persagen. Dabei bleiben i^dess jederzeit die nothig werdenden Verfügungen der eidg. Eiviloder Militärbehoxden zu zwangsweiser Weitersehasfung vorbehalteu , sobald der Moment gegeben zu sein seheint, welcher die seruere Anwesenheit solcher Leute als für das eigene Land Gefahr verheissend erkannt werden muss. Dieses Verfahren hat ohne ^weifel zur ^olge , dass die Deserteure und Refraktäre in der Schweig keine Duldung finden . denn da kein Kanton zur Aufnahme verpflichtet ist, so ist aueh l^eiu Kauton verhalten, sie eiuem^ andern Kanton abzunehmen, wenn sie ihm zugeschoben werden wollten. Dagegen wird jeder Kanton den Durchmarsch zu gestatten haben , um il^ren Austritt aus der Schweiz in einer andern Richtung zu erleichtern ; denn wenn diese Aufnahme zum Durehzug verweigert werden konnte, so würde gerade das Unstatthafte eintreten, dass ein Kanton von. andern zur Duldung von Deserteuren und Resraktäxen gezwungen würde.

Aus dem Gesagten folgt, dass es den Kantonen, vermoge der ihnen Anstehenden Boli^eigewalt, srei steht, den Deserteuren und Resraktären so lange Duldung ^u gewähren, als nicht eine kompetente, eidgenossische Eivil^ oder Militärbehörde deren Abschiebung anordnet. Die Kantone sind hierin auch
dann frei, wenn solche Versonen durch eidg. Greuzbehorden internixt worden wären. Gewähren sie denselben Ausnahme, so thun sie es anf eigene Kosten und Verantwortlichkeit ., verweigern sie ihnen den Ausenthalt, so ist darauf zu achten, dass die Abschiebung in einer andern Richtuug geschehe, als derjenigen, woher die flüchtigen gekommen sind. Jn gleicher Weise ist jeder andere Kanton znr Ge^ währnng des Aufenthaltes berechtigt und im ^alle der Weitersehiebnng verpflichtet, diese in einer Richtung auszuführen, welche der Herkunft

152 .

^

des flüchtigen Jndiv.duums entgegengesezt. ist, jedenfalls nicht mit der

Richtung zusammenfallt, woher der Eintritt in die Schweiz ftattgesnnden hat.

Dieses Verfahren ist bei ähnlichen Anlassen immer beobachtet worden und wir erlauben uns, in diesem Bezuge zu perweisen auf

Ullmer I, Rr. 331, 324, 330 und ll, 1335.

Sind die Kantone diesen Flüchtlingen gegenüber im angedeuteten Sinne srei, so konnte in lezter Linie noch sich fragen, ob nicht die EidGenossenschaft eintreten, die Ueberwachnng dieser Leute von vornherein auf sich nehmen, dann aber anch die Kosten der Verpflegung und die Verantwortlichkeit für die Zukunft tragen sollte. Dieses Versalien würde freilich die Vereinigung aller dieser Leute ermoglichen und deren Beanfsichtignug erleichtern, was unter Umstanden von Ruzeu sein konnte, sosern nämlich einzelne Judividuen als unzuverlässige Leute oder gar als Spione sich entpuppen sollten. Nichtsdestoweniger sind wir ansser Stande, dieses Verfahren zu befürworten. Abgesehen davon, dass darin ein Eingriff in die Bolizeigewalt der Kantone läge, der sich eben jezt nicht so leicht rechtfertige.. würde, wäre für uns der Umstand entscheid dend, dass dadurch die Desertion gewissermassen sistematisi^ würde und für Viele etwas Anziehende... erhielte, während Gründe genug vorliegen, das Desertiren den Leuten eher zu verleiden, als es durch eine gewisse Ostentation zu begünstigen. Lezteres wäre aber der Fall, wenn man die Flüchtlinge mit einer hoheren Aufmerksamkeit und besonderer Bflege behandeln liesse.

Roch machen wir aufmerksam, dass es in einzelnen Fällen zweiselhast sein kann, ob man es mit wirklichen Deserteuren o.^er nicht vielmehr mit einzelnen abgeschnittenen und zersprengten Militärs zu thun habe. Diess näher ^u ermitteln, ist aber ruhig den schweizerischen Osfizieren an der Grenze zu überlassen. Handelt es sieh um Abgeschnittene und Zersprengte, so^ werden diese in die militärischen Depots zu schassen und. gleich denjenigen zu behandeln seiu, die in grosserer Anzahl oder

als Korps über die Grenze kommen. Ergibt es sich. hingegen , dass

man es bloss mit einem Deserteur oder Resraktär zu thun hat, so ist eiu solcher einfach aus angemessene Entsernnng zu iustradiren und in der verdeuteten Weise seinem fernern ^chi^sal zu überlasseu.

Dieses Verfahren hat nicht bloss die stehende Uebung sür sich, sondern es empfiehlt sich auch uo.h von einem praktischen Gesichtspunkte ans. Bekannt ist nämlich, dass in verschiedenen Kantonen Deserteure und Refraktäre ans einer weniger ernsten Zeit , als unsere Gegenwart

ist, sieh aufhalten kennen. Der Billigkeit wegen und dem gleiche.n

Mass zu liebe müßten diese auch in eidgenössische Pflege genommen werden, wenn man eine solche ausgedehntere Fürsorge für Leute jener Kategorien aus neuester Zeit übernehmen wollte.

.^

153

Haben wir oben bemerkt, dass es den Kantonen freistehe, den betreffenden Bersonen so lange Duldung zu geben , als nicht von eid.genossisehen Behorden deren Abschiebung angeordnet werde, so haben wir hier den mogliehen ^all im Auge , dass die Kriegsereignisse ernster an uns herantreten konnten, und dass alsdann eine Entfernung aller geEhrlichen fremden Elemente geboten erscheinen müsste.

Geleitet von solchen Anschauungen und internationalistischen BePachtungen sind wir im Falle, Jhnen zu erossnen, dass wir unsererseits nicht veranlasst sein kounen, etwaiger Deserteure und Resraktäre uus auzunehmen , und dass wir hinsichtlieh des Ausenthaltes und der Verpslegung derselben jeder Verantwortlichkeit uns entschlagen.. immerhin aber in Be^ug aus die Jnternirung oder die gänzliche Ausweisuug aller in diese Klasseu fallenden Jndividuen, an der Hand der Bundesverfassung, die sreie Verfügung uus vorbehalten , indem wir dabei aus die von unserm Militärdepartement in Sachen getroffenen und durch jenen Vorbehalt gedekten Massuahmeu ausdruklieh zu verweisen nicht ermaugeln.

Jndem wir Sie sehliesslich einladen , Jhre Boli^eibehorden anzuweisen, in gegebeueu ^älleu uaeh obiger Vorschrift ^u verfahren, benuzen wir dieseu Aulass, Sie, getreue, liebe Eidgenossen, sammt uns in den Schuz des Allmächtigen ^u empfehlen.

Jm Ramen des schweiz. Bundesrathes,

Der B u u d e s p r ä s i d e n t .

^.r. .^. Dubs.

Der Kauzler der Eidgenossenschaft:

Schiel

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bern, den 5. August 1870. Kreisschreiben. Der schweizerische Bundesrath an sämmtliche eidgenössische Stande.

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1870

Année Anno Band

3

Volume Volume Heft

33

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

12.08.1870

Date Data Seite

150-153

Page Pagina Ref. No

10 006 599

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.