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Bundesratsbeschluss über

die Beschwerde des Oskar Rutishauser in St. Gallen und des Julius Ochsner in St. Fiden betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit.

(Vom 5. Januar 1909.)

Der s c h w e i z e r i s c h e Bundesrat hat

über die Beschwerde des Oskar R u t i s h a u s e r in St. Gallen und des Julius 0 c h s n e r in St. Fiden betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, f o l g e n d e n Beschluss gefasst:

A.

In tatsächlicher Beziehung wird festgestellt:

I.

Mit Verfügung vom 19. Juli 1907 belegte das Statthalteramt Meilen den Reisenden Rudolf Hermes der Firma 0. Rutishauser & Cie.

in St. Gallen wegen Übertretung der Art. 2 und 4 des Bundesgesetzes, betreffend die Patenttaxen der Handelsreisenden, vom 24. Juni 1892, in Anwendung von Art. 8 des genannten Bundesgesetzes mit einer Busse von 40 Fr., weil er, obgleich er nur im Besitze einer grünen, taxfreien Ausweiskarte für Handelsreisende

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war, bei Privatpersonen Bestellungen auf Schreibmaschinen aufgenommen hatte. Hermes verlangte gerichtliche Beurteilung der Angelegenheit. Das Bezirksgericht Meilen bestätigte am 26. August 1907 die Bussenverfügung und das Bundesgericht wies am 22. Oktober 1907 eine gegen dieses Urteil gerichtete Kassationsbeschwerde ab.

Als anfangs 1908 beim Patentbureau St. Gallen eine taxfreie grüne Ausweiskarte für 0. Rutishauser und eine rote Taxkarte für den Reisenden Julius Ochsner der Firma Rutishauser
verlangt wurde, verweigerte das Patentbureau die Abgabe der Karten mit der Begründung, dass über die Firma 0. Rutishauser & Cie. vom schweizerischen Handelsdepartement die Kartensperre verhängt worden sei, weil Rudolf Hermes, abgesehen von der Busse, zur Nachzahlung der von ihm umgangenen Patenttaxe verpflichtet sei und diese noch ausstehe. Im Juni 1908 erklärte denn auch das schweizerische Handelsdepartement dem Vertreter der Rekurrenten, dass es die Kartensperre gegenüber der Firma Rutishauser & Cie. nicht aufheben werde. Mit Brief vom 19. Juni 1908 -verlangte der Reisende Ochsner beim Patentbureau St. Gallen neuerdings eine Taxkarte, wurde aber mit Schreiben vom 1. Juli 1908 von der genannten Amtsstelle wiederum abschlägig beschieden.

II.

Mit Eingabe vom 8. August 1908 beschweren sich 0. Rutishauser und Jul. Ochsner beim Bundesrat über die gegen sie verhängte Kartensperre und verlangen Aufhebung dieser Massregel.

Zur Begründung führen sie im wesentlichen aus: Die Kompetenz des Bundesrates sei gemäss Art. 189, Abs. l, Ziff. 3, in Verbindung mit Art. 189, Abs. 2, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege gegeben, da die Kartensperre eine mit Art. 31 der Bundesverfassung unvereinbare Beschränkung der Handels- und Gewerbefreiheit der Rekurrenten bilde und gleichzeitig mit den Bestimmungen des Patenttaxengesetzes im Widerspruch stehe. In diesem Zusammenhang unterliege die Beschwerde auch insoweit der Überprüfung durch den Bundesrat, als sie sich auf die Behauptung einer Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung stütze.

Gemäss Art. 8 des Patenttaxengesetzes könne durch gerichtliches Urteil denjenigen Personen, die sich im Rückfall einer

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Verletzung des Patenttaxengesetzes schuldig gemacht haben, das Patent entzogen und eventuell das Recht zum Erwerb eines Patentes auf l bis 5 Jahre aberkannt werden. Das Gesetz biete jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Ausstellung von Ausvveiskarten noch aus ändern Gründen verweigert werden könne. Aber selbst angenommen, die Verwaltungsbehörde wäre berechtigt, in gewissen Fällen Ausweiskarten zu verweigern, so sei eine solche Verweigerung doch den Rekurrenten gegenüber unzulässig.

Von vornherein sei klar, dass dem Rekurrenten Ochsner, dem jetzigen Reisenden der Firma Rutishauser & Cie. die Ausstellung der von ihm verlangten Taxkarte nicht verweigert werden könne, weil der frühere Reisende Hermes die Nachzahlung der Taxe nicht geleistet und auch die ihm auferlegte Busse nicht entrichtet hat; denn Ochsner habe nach dem Patenttaxengesetz als Reisender ein selbständiges Recht auf die Taxkarte.

Ähnlich verhalte es sich auch mit dem Rekurrenten Rutishauser. Er sei nach dem Gesetz für die Zuwiderhandlungen seiner Reisenden nicht verantwortlich, und die Ausweiskarte könne ihm deswegen nicht verweigert werden. Auf diesem Standpunkt stehe nicht nur das Gesetz selbst, sondern auch das Kreisschreiben des Bundesrates vom 2. April 1897, welches ausdrücklich sage, dass der ,,Reisende" zur Nachzahlung der umgangenen Taxe anzuhalten sei. Weder im Gesetz noch im Kreisschreiben werde die Haftung des Geschäftsinhabers für die seinem Reisenden auferlegten Bussen oder die umgangenen Patentgebühren statuiert. Eine solche Haftung könne auch selbstverständlich nicht durch die Interpretationen des Handelsdepartements vom Jahr 1898 zum Patenttaxengesetz eingeführt werden. Der Inhalt des letzten Absatzes der Interpretationen zu Art. 8 des Patenttaxengesetzes könne also nur der sein, dass den Kraft Gesetzes zur Entrichtung der Patenttaxe verpflichteten Personen keine neuen Ausweiskarten verabfolgt werden dürfen, ehe sie nicht die umgangene Taxe entrichtet haben. Das st. gallische Patentbureau sei sich übrigens der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens selbst bewusst, ansonst es wohl versucht hätte, auf dem Wege der Betreibung die angeblich geschuldete Patenttaxe von der Firma 0. Rutishauser & Cie. zu erlangen.

Die gesetzwidrige Kartensperre beinträchtige auch die den Rekurrenten durch Art. 31 B. V. garantierte Handels-
und Gewerbefreiheit, da sie die Rekurrenten verhindere, ihre Waren durch Aufnahme von Bestellungen abzusetzen. Sie sei überdies unvereinbar mit Art. 4 der Bundesverfassung.

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III.

In ihrer Vernehmlassung vom 28. August 1908 führt die Regierung des Kantons Sfc. Gallen aus, in dem vom schweizerischen Handelsdepartement pro 1907 erstellten Verzeichnis der wegen Übertretung des Patenttaxengesetzes bestraften Reisenden sei Rudolf Hermes unter denjenigen genannt, die die nachträgliche Zahlung der Taxe nicht geleistet haben, denen also, wie den von ihnen vertretenen Firmen gemäss Kreisschreiben des schweizerischen Handelsdepartements vom 24. Dezember 1897 bis auf weitere Mitteilung keine Ausweiskarten auszustellen seien. Die Kartensperre sei somit als eine von der eidgenössischen Behörde verhängte Massregel zu betrachten ; aus diesem Grunde habe der Regierungsrat auf die von Rutishauser und Ochsner erhobene Beschwerde nicht eintreten können und müsse es den eidgenössischen Behörden anheimstellen, ob sie an der bisherigen Praxis festhalten wollen oder nicht.

IV.

Da die Rekurrenten ihre Beschwerde gleichzeitig auch beim Bundesgericht eingereicht hatten, so fand gemäss Art. 194 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege ein Meinungsaustausch über die Kompetenzfrage statt, auf Grund dessen das Bundesgericht mit Urteil vom 8. Oktober 1908 wegon Inkompetenz auf die Beschwerde nicht eintrat.

B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht:

I.

Der Bundesrat ist zur Entscheidung der vorliegenden Beschwerde kompetent, gleichviel, ob man das Patentbureau des st. gallischen Polizei- und Militärdepartements oder das eidgenössische Handelsdcpartement als diejenige Behörde ansieht, von der die angefochtene Verfügung ausgegangen ist; im ersten Fall ist der Bundesrat getnäss Art. 189 des Organisationsgesetzes vorn 22. März 1893, im zweiten Fall gemäss Art. 20, Abs. 2, des Bundesratsbeschlusses vom 21. August 1878 betreffend die Organisation des Bundesrates kompetent.

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H.

In der Sache selbst begründen die Rekurrenten die Rechtswidrigkeit der Weigerung, ihnen die verlangten Ausweiskarten zu erteilen, namentlich mit der Erwägung, dass sowohl nach dem Gesetze wie nach dem Kreisschreiben des Bundesrates vom 2. April 1897 nur der Reisende verpflichtet sei, die Ausweiskarte zu lösen, und nur er für die Übertretungen des Gesetzes verantwortlich sei.

Dass der Geschäftsinhaber nicht für die Zahlung einer Busse haftbar gemacht werden darf, zu der er nicht verurteilt worden ist, steht wohl ausser Zweifel und ist auch nicht bestritten.

Anders stellt sich jedoch die Frage, ob er nicht für die Bezahlung der Taxe zu hal'ten habe, die sein Angestellter hätte bezahlen sollen, einmal angenommen, dass das unbefugte Aufnehmen von Bestellungen bei Privaten zur nachträglichen Lösung der Taxkarte verpflichte. Jene Frage kann jedoch hier dahingestellt bleiben, weil sich der Rekurs bloss gegen die Verweigerung neuer Ausweiskarten richtet, und diese Verweigerung, die sogenannte Kartensperre, nicht als gesetzmässig betrachtet werden kann. Wenn auch der Inhaber des Geschäftes als für die nachträgliche Bezahlung der Patenttaxe haftbar betrachtet wird, so kann diese öffentlichrechtliche Abgabe doch nicht in der Weise eingetrieben werden, dass ihm und seinem Geschäftsreisenden jede Ausweiskarte, taxfreie wie taxpflichtige, verweigert wird, solange er die rückständige Taxe nicht bezahlt. Diese Schlussfolgerung beruht auf der irrigen Annahme, durch die Ausweiskarte werde dem Geschäftsinhaber und seinem Reisenden erst das Recht verliehen, Bestellungen aufzunehmen oder aufnehmen zu lassen, während sie dieses Recht Kraft des allgemeinen Grundsatzes der Gewerbefreiheit schon haben, nur mit der gewerbepolizeilichen und fiskalischen Verpflichtung, Ausweiskarten zu lösen. Aus der Bestimmung des Art. 8, Abs. 3, des Gesetzes, dass Rückfälligen als Strafe das Patent, entzogen und das Recht, ein neues zu erwerben, auf l bis 5 Jahre aberkannt werden kann, darf gefolgert werden, dass das Gesetz einen ähnlichen Rechtsnachteil nicht auch demjenigen zugedacht hat, der gar nicht bestraft worden ist und lediglich mit der Bezahlung einer Patenttaxe im Rückstande ist.

Solche Taxen müssen wie andere öfientlichrechtliche Geldschulden im Wege der Schuldbetreibung eingetrieben werden.

,504 Demgemäss wird erkannt: Die Beschwerde wird als begründet erklärt, und das st. gallische Patentbureau eingeladen, den Rekurrenten die von ihnen verlangten Ausweiskarten für Handelsreisende auszustellen.

B e r n , den 5. Januar 1909.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident:

Deucher.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

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Bundesratsbeschluss über die Beschwerde des Oskar Rutishauser in St. Gallen und des Julius Ochsner in St. Fiden betreffend Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit. (Vom 5. Januar 1909.)

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