73-

# S T #

Bundesratsbeschluß über

den Rekurs von Peter Käch und Genossen in Solothurn gegen die Schlußnahmen der solothurnischen Kantonsbehörden in der Frage der Anwendung des kantonalen Gesetzes über die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses auf die unter der Herrschaft des solothurnischen Rechts in ,,Geldstag" gefallenen Bürger.

(Vorn 20. März 1895.)

Der s c h w e i z e r i s c h e B u n d e s r a t hat über den Rekurs von Peter K ä c h und Genossen in Solothurn gegen die Schlußnahmen der solothurnischen Kantonsbehörden in der Frage der Anwendung des kantonalen Gesetzes betreffend die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses auf die unter der Herrschaft des solothurnischen Rechts in ,,Geldstag" gefallenen Bürger; auf den Bericht seines Justiz- und Polizeidepartements, folgenden Beschluß gefaßt: A.

I n thatsächlicher B e z i e h u n g w i r d f e s t g e s t e l l t :

I.

Am 30. Mai 1893 hat der Kantonsrat von Solothurn, von der den Kantonen in Art. 26 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs eingeräumten Befugnis Gebrauch machend, ein Gesetz über die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses erlassen. Dieses Gesetz, welches in der Volks-

74 Abstimmung vom 20. August gleichen Jahres mit großer Mehrheil angenommen wurde, bestimmt in § l, daß den während der Volljährigkeit fruchtlos Gepfändeten und in Konkurs Gefallenen auf die Dauer von vier Jahren das Stimmrecht in eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Angelegenheiten, sowie die Wählbarkeit zu kantonalen und kommunalen Ämtern entzogen sei.

Gestützt auf dieses Gesetz richteten Peler Käch und Genossen, welche sämtlich unter dem alten solothurnischen Kantonalrechte in ,,Geldstag" gefallen sind, im November 1893 eine Petilion an den Kantonsrat, dahingehend, es möge auf dem Wege einer authentischen Interpretation erklärt werden: diejenigen, welche nach dem alten kantonalen Rechte vergeldstagt wurden, seien in ihren bürgerlichen Ehren und Rechten im Sinne von § l des Ehrenfolgengesetzes wieder herzustellen und ihre Reaktivierung habe einzutreten, sobald seit dem Geldstage 4 Jahre verflossen sind.

Diese Petition wurde in der Sitzung des Kantonsrates vom 20. März 1894 durch Nichterheblichkeitserklärung abgewiesen.

II.

In der Zwischenzeit hatten Peter Käch und drei andere unter der Herrschaft des kantonalen Gesetzes Vergeldstagte, mit Eingabe vom 27. Februar 1894, an den Einwohnergemeinderat der Stadt Solothurn das Gesuch um Eintragung in das städtische Stimmregister gestellt, unter Berufung darauf, daß eine ungleiche Behandlung der früheren Geldstager und der nunmehrigen Konkursiten mit Rücksicht auf Art. 328 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs ungerecht wäre, da erstere gleich letzteren für alle früheren Schulden wieder belangt werden können.

Auf den Antrag seiner Kommission beschloß der Gemeinderat am 6. März 1894, es sei auf dieses Gesuch wegen Inkompetenz nicht einzutreten und es seien die Patenten an die kantonalen, resp. eidgenössischen Oberbehörden zu weisen. Nach gegenwärtig geltender Anschauung, bemerkte der Gemeinderat, könne das Stimmrecht von den nach solothurnischem Rechte Vergeldstagten nur in Gemäßheit des in Art. 9 der kantonalen Staats Verfassung*) vorgesehenen Rehabilitationsverfahrens wieder erworben werden.

*) Art. 9 der Staatsverfassung des Kantons Solothurn vom 23. Oktober 1887 lautet in dieser Beziehung: ,,Von der Stimmberechtigung sind ausgeschlossen: 4. die Vergeldstagten, unter folgenden Ausnahmebestimmungen: a. Solche, die während ihrer Minderjährigkeit vergeldstagt wurden, werden bei erreichter Volljährigkeit stimmberechtigt;

75

III.

Nun ergriffen Peter Käoh und Genossen den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht und an den Bundesrat.

In der Eingabe an den Bundesrat, d. d. 17. Mai 1894, wird von ihnen im wesentlichen geltend gemacht: Die vorliegende Rekursangelegenheit bezieht sich auf das politische Stimmrecht mehrerer tausend Bürger des Kantons Solothurn und hat somit eine eminent politische Bedeutung.

Es handelt sich um die Frage, welche Bedeutung dem Art. 9, Ziffer 4, der solothurnischen Staatsverfassung 1 angesichts der Bestimmungen des neuen Ehrenfolgengesetzes zukomme, und ob nicht die Interpretation, welche ihm die solothurnischen Behörden gehen, höhere, allgemein geltende staatsrechtliche Grundsätze, sowie Rechte einzelner Staatsbürger verletze.

Gemäß Art. 189, zweitletztes Alinea, des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege beurteilt der Bundesrat oder die Bundesversammlung Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der- Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen auf Grundlage sämtlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechtes. Es ist somit die bundesrätliche Kompetenz begründet.

Art. 20 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs räumt den Kantonen das Recht ein, die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses festzusetzen. Von diesem Rechte hat der Kanton Solothurn im Gesetzgebungswege Gebrauch gemacht. Das bezügliche Gesetz, auf vollkommen korrektem und verfassungsmäßigem Wege entstanden, muß unbeschränkt und gegen alle durchgeführt werden.

6. Solche, welche infolge tlbernahme einer Erhschaft vergeldstagt wurden, sind gerichtlich zu rehabilitieren ; c. Vergeldstagte, welche durch Unglück und ohne direktes eigenes Verschulden in Geldstag gefallen sind, können nach Verfluß von 6 Jahren durch gerichtliches Urteil wieder in das Aktivbürgerrecht eingesetzt werden.

Das Verfahren für die unter litt, b und c genannten Fälle bestimmt ein in Jahresfrist zu erlassendes Gesetz, welches auch die Bestimmungen enthalten soll, unter welchen die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes vergeltstagten das Stimmrecht wieder erwerben.

Bis zum Erlaß dieses Gesetzes wird das Urteil in den Fällen von litt. 6 und c durch das Ohergericht nach dem Polizeiverfahren ausgesprochen."

76 Es kann nur einerlei Regel, nur einerlei Berechtigung für die Teilnahme des Bürgers an den Staatsgeschäften geben. Vorrechte dürfen nicht geschaffen werden. Wenn die kantonalen Oberbehörden dem Verfassungsartikel 9 und dem neuen Ehrenfolgengesetze die Auslegung geben, daß die nach dem alten (kantonalen) Rechte Vergeldstagten l e b e n s l ä n g l i c h in dem Aktivbürgerrechte eingestellt bleiben sollen, während die nach dem neuen Bundesgesetze in Konkurs geratenen Bürger schon nach 4 Jahren die bürgerliche Ehrenfälligkeit wieder erlangen, so schaffen sie ein zeitliches Vorrecht einzelner Bürgergruppen gegenüber anderen in Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Folgen gleichartiger Thatsachen. Eine solche Auslegung verstößt gegen die in Art. 4 der Bundesverfassung ausgesprochene Abschaffung jeglicher Vorrechte und ist daher nicht zulässig.

Das Unzulässige der Zweispurigkeit ergiebt sich namentlich aus folgenden Betrachtungen : Ihrer rechtlichen Natur, ihrem Wesen und ihren Konsequenzen nach sind der Geldstag, wie ihn das alte solothurnische Civilgesetzbuch kannte, und der Konkurs nach dem Bundesgesetze über Schuldbetreibung und Konkurs ein und dasselbe Rechtsinstitut. Beide bezwecken und ordnen die Generalliquidation der Aktiven und Passiven des Gemeinschuldtiers; sie ergreifen zu dem Zwecke sämtliches Vermögen des Schuldners und verwenden es zur Deckung der in bestimmte Klassen eingeteilten Gläubiger ; die nichtbefriedigten Gläubiger behalten ihr Forderungsrecht gegenüber dem Schuldner bei. Die Klassifikation der Gläubiger, die Konkursprivilegien, sind nach beiden Rechten prinzipiell und wesentlich dieselben. Es könnte höchstens die Verschiedenheit hervorgehoben werden, daß nach altem kantonalem Recht dem Kridar das nach Auskündung des Geldstages durch seine Arbeit Erworbene nicht angetastet werden konnte, während nach dem Bundesrechte gegen alles neue Vermögen, gleichviel wie es erworben worden ist, Betreibung angehoben werden kann.

Durch Art. 328 der Übergangsbestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs wurde jedoch auch dieser Unterschied aufgehoben, indem die Verlustscheine aus dem alten Geldstage mit den gleichen Rechten und Befugnissen ausgerüstet worden sind, wie diejenigen des Bundesgesetzes.

Es ist somit die vollkommene Gleichheit der rechtlichen Natur des
,,Geldstages" und des ,,Konkurses" nachgewiesen.

Daraus folgt mit logischer Notwendigkeit, daß auch die öffentlichrechtlichen Polgen von Geldstag und Konkurs gleich sein müssen.

Das solothurnische Ehrenfolgengesetz ist nach allgemein geltenden Rechtsgrundsätzen, wie auch nach der konstanten Rechtspraxis,

77

der rechtlichen Tradition im Kanton Solothurn, keineswegs ein einfaches Gesetz, sondern ein Verfassungsgesetz. Neben demselben kann nicht ein widersprechendes älteres Verfassungsrecht in Kraft bestehen. Eine verfassungsrechtliche Kollision ist also nicht vorhanden.

Die Nachbarkantone Solothums, Aargau und Basellund, haben ebenfalls die Geldstager des alten kantonalen Rechtes den Konkur siten des neuen Rechts gleichgestellt.

Die Rekurrenten stellen an den Buodesrat das Gesuch : 1. Er wolle beschließen, daß in Anwendung des solothurnischen Gesetzes betreffend die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses vom 20. August 1893 die unter dem kantonalen Rechte in Geldstag Gefallenen, wenn seit der Auskündung des Geldstages 4 oder mehr Jahre verflossen sind, beziehungsweise sobald seit der Auskündung 4 Jahre verflossen sein werden, gleich den unter dem neuen eidgenössischen Betreibungs- und Konkursgesetze Konkursierten reaktiviert und in ihren politischen Rechten hergestellt seien; e-ventuell: Es wolle der Bundesrat die solothurnischen Behörden verhalten, diese Rehabilitation auszusprechen.

. 2. Er wolle anordnen: a. daß die nach dem Rechtsbegehren l erfolgten Rehabilitationen im solothurnischen Amtsblatt ausgekündet werden ; b. daß die in dieser Weise Rehabilitierten nach Maßgabe des kantonalen solothurnischen Gesetzes über die Gemeindeorganisation und nach dem Gesetze über Abstimmungen und Wahlen als Stimmberechtigte für kantonale und eidgenössische Abstimmungen und Wahlen in den Stimmregistera der Gemeinden aufgetragen werden.

IV.

Im Hinblick darauf, daß bei dem vorliegenden Rekurse die Frage der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze wesentlich mit in Betracht fällt, bitten die Rekurrenten in einem ,,accessorischen Gesuche", es mögen die beiden Bundesrekursbehörden, in Anwendung von Art. 194 des Organisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege vom 22. März 1893, durch Meinungsaustausch die Kompetenzfrage vor dem Eintreten auf die Sache selbst erledigen.

78

V.

Ohne dem accessorischen Gesuch sofort Folge zu geben, übersandte das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, in der Meinung, es empfehle sich vor allem weitern, den Rechtsstandpunkt, der solothurnischen Behörden kennen zu lernen, am 24. Mai 1894 die Rekursschrift der h. Regierung des Kantons Solothurn, für sie selbst und den h. Kantonsrat, mit der Einladung zu gutscheinender Vernehm lassung.

VI.

In seiner vom 2. Juli 1894 datierten Antwort ließ sich der Regierungsrat des Kantons Solothurn für sich und im Namen des Kantonsrates folgendermaßen vernehmen: i.

Über die Entstehungsgeschichte des Ehrenfolgengesetzes 30. Mai/20. August -1893.

vom

Bei Erlaß eines Gesetzes betreffend die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses mußte von Art. 9 der solothurnischen Staatsverfassung vom 23. Oktober 1887 ausgegangen werden.

Der durch die Verfassung normierte Zustand ist so gestaltet, daß die Vergeldstagten während ihrer ganzen Lebensdauer von der Ausübung der öffentlichen Rechte ausgeschlossen sind, sofern nicht besondere, in der Verfassung selbst genannte, ,,Ausnahmen" vorliegen oder die civilrechtliche Rehabilitation erfolgt.

Die Stimmberechtigung deckt sieh im allgemeinen mit der Wählbarkeit zu Ämtern (Art. 22 der Verfassung für die Kantonsrats- und Art. 34 für die Regierungsratswahlen), specielle Vorschriften in Gesetzen über besondere Fähigkeitsausweise für einzelne Beamtungen, wie Richterstellen etc., vorbehalten.

Das Gesetz über die gerichtliche Rehabilitation der Vergeldstagten, dem in Art. 9 der Verfassung gerufen wird, ist bis zur Stunde nicht zu Stande gekommen. Eine Vorlage wurde vom Volke verworfen. Die Rehabilitationen wurden seit dem Inkrafttreten der Verfassung durch das Obergericht in freier Würdigung des Aktenmaterials vorgenommen.

Neben diesen verfassungsrechtlichen Vorschriften bestimmten die nun aufgehobenen §§ 1685 und 1686 des alten (Zivilgesetzbuches vom 2. März 1847 Über die sogenannte civilreehtliche Rehabilitation : ,,§ 1685. Das Geldstagsurteil wird aufgehoben, wenn alle im Rodel eingetragenen Schulden angewiesen sind, oder wenn die ver-

79 lustigen Gläubiger durch schriftliche Erklärung ihre Einwilligung zur Aufhebung erteilen.

§ 1686. Der Amtsschreiber wird auf Ansuchen des Geldstagera die Ausweise desselben untersuchen und an das Amtsgericht, das den Geldstag erkannt hat, hinsichtlich der Aufhebung des Urteils die geeigneten Anträge stellen.a Es waren nun bei der Frage, wie der solothurnische Gesetzgeber die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses nach dem neuen eidgenössischen Rechte regeln solle, drei Möglichkeiten vorhanden : 1. Man wandte die Bestimmungen der Verfassung auf jeden, gegen welchen eine vermögensrechtliche Exekution gernäß den jeweilen geltenden Betreibungsgesetzen ergangen ist, also nicht nur auf die Vergeldstagten, sondern auch auf die fruchtlos Gepfändeten und die Konkursiten des neuen Rechtes an. Oder 2. Man bezog die Verfassungsbestimmungen nur auf die unter dem neuen Gesetze in Konkurs Gefallenen, während man bezüglich der fruchtlos Gepfändeten besondere Vorschriften aufstellte. Oder endlich 3. Man erklärte, daß Art. 9 der Verfassung überhaupt nicht in Betracht fallen könne, in der Meinung, daß sowohl der Konkurs als die fruchtlose Pfändung mit dem kantonal-rechtlichen Geldstag nichts gemein haben.

Die Gesetzgebung hat in einer Vorlage zur Volksabstimmung vom 12. April 1891 zunächst den unter Ziffer 2 angedeuteten Weg eingeschlagen und bloß die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung umsehrieben, wobei stillschweigend vorausgesetzt wurde, daß die Bestimmungen der Verfassung für die Konkursiten des neuen Rechtes weiter gelten sollten. Damit war ausgesprochen, daß die fruchtlose Pfändung bei ihrer im Gegensatze zu Geldstsg und Konkurs auf einzelne Vermögensstücke gerichteten Exekution ein vom Geldstag in seinen wesentlichsten Beziehungen verschiedenes Rechtsinstitut sei, weshalb auch eine andere gesetzgeberische Behandlung der fruchtlos Gepfändeten sich rechtfertige. Anderseits wollte man die Gelegenheit nicht, versäumen, die bezüglich des Stimmrechtsentzuges sich im allgemeinen geltend machenden humaneren Anschauungen auch im Kanton Solothurn zum Ausdruck zu bringen. In der Vorlage (Einfuhrungsgesetz zum eidgenössischen Gesetz über Schuldbetreibung und Konkurs) war deshalb für die fruchtlos Gepfändeten eine Einstellung von drei Jahren, von der Ausstellung des Verlustscheines an, vorgesehen. Diese Vorlage wurde jedoch in der Volksabstimmung verworfen.

80

Die Gesetzesvorlage, welche hierauf ausgearbeitet wurde, stellte sich auf den gleichen Standpunkt wie die verworfene. Dieselbe wurde in der Abstimmung vom 6. September 1891 vorn Volke ebenfalls nicht angenommen, wohl aber das am gleichen Tage zur Abstimmung gelangte Einführungsgesetz.

In der Volksabstimmung vom 20. August 1893 endlich wurde das gegenwärtig in Kraft bestehende Gesetz betreffend die öffentlichrechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses angenommen. Wie der Titel besagt, regelt dasselbe nicht nur die Ehrenfolgen der fruchtlosen Pfändung, sondern auch diejenigen des Konkurses. Diese Thatsache ist daraus zu erklären, daß im Laufe der Gesetzesberatungen der bisher eingenommene Standpunkt verlassen wurde und die oben unter Ziffer 3 mitgeteilte Anschauungsweise Platz griff. Man hatte sich der Ansicht zugewandt und derselben im Gesetze Ausdruck gegeben, daß die Bestimmungen der Verfassung überhaupt nicht könnten Anwendung finden auf die vom Geldstag rechtlich verschiedenen Institute des bundesgesetzlichen Konkurses und der fruchtlosen Pfändung. Es wurde darum sowohl für die Konkursiten als filr die fruchtlos Gepfändeten eine Einstellung in den politischen Rechten für den Zeitraum von vier Jahren vorgesehen.

Die gemäß dem kantonalen Betreibungsrechte während ihrer Volljährigkeit in Geldstag Gefallenen dagegen unterliegen nach wie vor den Bestimmungen des Art. 9 der Staatsverfassung und sind somit in ihren öffentlichen Rechten auf Lebenszeit eingestellt, sofern nicht eine gerichtliche Rehabilitation gemäß der Verfassung selbst oder eine civilrechtliche Rehabilitation stattfindet.

Dieser Zustand, welcher in der That auf den ersten Blick eine wesentlich verschiedene Behandlung der solothurnischen Falliten nach altem und neuem Rechte bezüglich der politischen Ehrenfolgen erkennen läßt, ist vom Gesetzgeber herbeigeführt worden, weil er ihm durch die Schwierigkeit der Sachlage diktiert war.

Wollte nämlich im Anschluß an das neue Ehrenfolgengesetz ·auch eine kürzere Einstellung der Vergeldstagten eingeführt werden, so konnte dies nicht anders denn auf dem Wege einer Verfassungsrevision geschehen. Die Bestimmungen des Art. 9 sind nicht etwa durch das eidgenössische Betreibungs- und Konkursgesetz aufgehoben worden ; die Festsetzung der öffentlich-rechtlichen Folgen wurde ja
ausdrücklich in Art. 26 des Bundesgesetzes den Kantonen vorbehalten. Die Revision der Verfassung aber mußte, wenn der Kantonsrat dieselbe beschließen wollte, nach Art. 77 und 78 der Verfassung vorgenommen und dem Volke als gesonderte Vorlage .zur Abstimmung unterbreitet werden. Es ging nicht etwa an, die

81 Fnige der Rechtsstellung der Vergeldstagten ebenfalls in dem neuen Ehrerifolgengesetz zu behandeln und dem Volke nur ei n e Vorlage zu unterbreiten.

Man hätte gegenüber dieser Schwierigkeit allerdings den Weg einschlugen können, in einer Verfassungsrevision auch die Ehrenfolgen für die Konkursiten und die fruchtlos Gepfändeten zu regeln.

Allein es erschien als viel praktischer, das letztere auf dem Wege der gewöhnlichen Gesetzgebung (Art. 38, 31 und 17 der Verfassung) zu thun. Die Aussichten für die A n n a h m e wurden dadurch viel günstiger ; zudem aber war, was als die Hauptsache erschien, Gelegenheit geboten, von der alten starren Auffassung der Verfassung, wonach ein Falliter auf Lebenszeit seiner politischen Rechte verlustig ist, abzugehen und sich der humanem Auffassung der bloß zeitliehen Einstellung anzuschließen.

Bei allen Beratungen über diese Materie und namentlich bei der Beratung des gegenwärtig in Kraft bestehenden Ehrenfolgengesetzes wurde darauf hingewiesen und betont, daß angesichts des in demselben aufgenommenen mildern Prinzips nun auch der Art. 9 der Verfassung revisionsbedürftig geworden sei und über kurz oder lang abgeändert werden müsse. Diese Abänderung aber ist bis zur Stunde nicht möglich gewesen.

2. In betreff

der Kompetenz des Bundesrates.

Dio solothurnisehen Kantonsbehörden halten nicht den Bundesrat, sondern das Bundesgericht für kompetent zur Beurteilung des vorliegenden staatsrechtlichen Rekurses. Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vorn 22. März 1893 weist dem Bundesrate oder der Bundesversammlung Beschwerden zu betreffend die politische Stimrnbereehtigung der Bürgerund betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen, auf-Grundlage sämtlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechts und des Bundesrechts. Nach Ston und Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung entscheidet also der Bundesrat Beschwerden auf Grund unbestrittener und feststehender kantonaler oder eidgenössischer Rechtsnormen. Ein solcher Fall liegt, aber nicht vor; es handelt sich nicht um die Frage, ob die solothurnischen Behörden mit der von ihnen dem Art. 9 der Verfassung gegebenen Auslegung positive Rechtsnormen des kantonalen und des über ihm stehenden eidgenössischen Verfassungsrechtes in Hinsicht auf die politische Stimmberechtigung verletzt haben, sondern um die wesentlich anders gestii Itete Frage, ob die Auslegung, welche die Behörden des Kantons Solothurn dem Art. 9, Ziffer 4, der Verfassung geben, richtig sei, mit andern Worten, ob diese Bestimmung noch zu Recht bestehe oder ßundesblatt. 47. Jahrg. Bd. II.

6

82 nicht. Den Sinn des kantonalen Verfassungsrechts haben die Kantonsbehörden festzustellen, und erst dann kommen die Bimdesbehörden in den Fall, sich mit der Sache zu befassen, wenn eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Bürger behauptet und darüber Beschwerde erhoben wird. Eine solche Beschwerde ließe sich im vorliegenden Fall nicht schlechtweg auf die politische Stirnmberechtigung gründen, weil nicht diese in Frage liegt, sondern die Auslegung einer Verfassungsbestimmung, welche auf Grund der Artikel 3, 4 oder anderer Bestimmungen der Bundesverfassung angefochten werden könnte. Zur Beurteilung von Beschwerden dieser Art ist aber gemäß Art. 175 des Organisationsgesetzes das Bundesgericht die zuständige Behörde.

Im weitern will es den Kantonsbehörden scheinen, daß durch Art. 189 des Organisationsgesetzes nicht alle mit der Stimmberechtigung der Bürger in Zusammenhang stehenden Beschwerden der Kognition des Bundesrates unterworfen werden wollten, sondern nur diejenigen, welche in einem thatsächlichen Zusammenhange mit einer Wahl oder einer Abstimmung stehen. Nach dem alten Organisationsgesetze vom 27. Juni 1874 war dies jedenfalls klar, indem Art. 59, Ziffer 9, dem Bundesrate ausdrücklich die Kompetenz nur gab zur Entscheidung von ^Beschwerden gegen die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen'1, wobei freilieh nach der Interpretation der politischen Bundesbehörden (Bundesrat und Bundesversammlung) auch Stimmrechtsbeschwerden, welche sich bei, vor oder nach einem Abstimmungs- oder Wahlakte ergaben, in ihre Kompetenz hineinbezogen werden konnten. Dieser letztere Teil der bundesrätlichen Kompetenz ist nun irn neuen Gesetze ausdrucklich aufgenommen, aber offenbar nur in dem von der Regierung angedeuteten Sinne. So hat sich denn auch die Rekurspraxis des Bundesrates und der Bundesversammlung auf eigentliche ,,Wahlrekurse", bei denen die Stimmberechtigung der Bürger in Be/,ug auf einen Wahl- oder Abstimmungsakfr, oder die Gültigkeit des letztern selber in Frage stand, beschränkt (v. Salis, Bundesrecht II, S. 520 ff., und Botschaft des Bundesrates zum Organisationsgesetze, 5. 387 ff.). In vorliegender Angelegenheit handelt es sich 'aber nicht um einen Wahlrekurs, sondern um die von den Rekurrenten bestrittene Auslegung des Art. 9 der solothurnischen Kantonsverfassung.

Wenn etwa darauf
hingewiesen werden wollte, daß dem Rekurse der Charakter einer Wahlbeschwerde zukomme, da er sich gegen die abweisenden Entscheide der Einwohnergemeinderats-Kommission Solothurn vom 3. März 1894 und des Einwohuergemeinderätes vom 6. März 1894 richte, so ist dieser Einwand unstichhaltig, einmal

83

weil nicht eine Wahl oder Abstimmung in Frage steht, und überdies weil gegen diese Entscheide nicht nach § 27 des Gesetzes vom 28. Mai 1870 betreffend Volksabstimmungen und Wahlen an den Kantonsrat rekurriert worden ist. Die Eingabe von Käch und Genossen an den Kantonsrat vom November 1893 hat nicht den Charakter einer Wahl- oder Abstimmungsbeschwerde.

3. Über die Sache selbst.

Das solothurnisehe Gesetz vom 20. August 1893 gilt seinem Wortlaut, seiner Entstehung und seiner Tendenz nach einzig für die nach dem 1. Januar 1892, d. h. unter der Herrschaft des eidgenössischen Rechtes fruchtlos Gepfändeten und in Konkurs Geratenen ; es nimmt keinerlei Bezug auf die nach kantonalem Rechte Vergeldstagten.

Art. 9 der Verfassung ist durch dieses Gesetz in keiner Weise berührt; weder eine ausdrückliche noch eine stillschweigende Aufhebung des Verfassungsartikels hat stattgefunden. Es hätte auch auf dem Gesetzgebungswege dessen Aufhebung oder Abänderung nicht erfolgen können, indem niemals ein einfaches Gesetz eine in der Verfassung stehende Bestimmung aufheben oder abändern kann. Über den Modus der Revision der Verfassung enthält die letztere ausführliche Bestimmungen im Titel X, Art. 76--80. Danach kann eine Revision vorgenommen werden durch einen Verfassungsrat (Art. 76), oder durch den Kantonsrat, ,,wenn diese Behörde es von sich aus beschließt11 (Art. 77). Hierbei ist zu bemerken, daß die Verfassungsrevisionen totale oder partiale sein können. Im Falle einer Revision durch den Kantonsrat muß eine zweimalige Beratung stattfinden.

Das Ehrenfolgengesetz ist nicht auf diese Weise entstanden, es enthält keine Verfassungsrevision, ist kein Verfassungsstatut und nicht auf dem für ein solches vorgeschriebenen verfassungsmäßigen Wege entstanden. Es hat auch keine zweimalige Beratung über dasselbe im Kantonsrat stattgefunden.

Wenn nun die Natur des ,,Verfassungsgesetzestt daraus gefolgert werden will, daß von jeher die Bestimmungen über die Stimmberechtigung in den solothurnischen Verfassungen niedergelegt waren und dies als natürlich bezeichnet wird, indem durch diese Bestimmungen das wichtigste Recht der Bürger im Staate geregelt werde, so ist hierauf zu erwidern : In demjenigen Teile, in welchem eine Verfassung die Rechte der Bürger normiert, wird stets das politische Stimm- und Wahlrecht die erste Stelle einnehmen. Die Feststellung der Voraussetzungen, wann dieses Recht von dem einzelnen Individuum ausgeübt werden dürfe, kann aber still-

84

schweigend oder expressis verbis der Gesetzgebung überlassen (vgl. z. B. Art. 66 der Bundesverfassung") oder in der Verfassung selbst geregelt werden. Diesen letztern Weg hat die solothurnische Verfassung in Art. 9 gewählt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß diese Voraussetzungen einen notwendigen Bestandteil der Verfassung bilden und die Feststellung derselben durch die Gesetzgebung ein Ding der Unmöglichkeit sei. Es giebt viele Bestimmungen in der Verfassung, welche ihrer Natur und ihrer Bedeutung nach nicht in dieselbe gehören. So war es auch nicht notwendig, die Ehrentblgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses durch einen Verfassungsartikel zu bestimmen, es konnte dies durch ein bloßes Gesetz geschehen.

Übergehend zur Prüfung der Frage, ob dus solothurnische Rechtsinstitut des Geldstages und der bundesgesetzliche Konkurs das Gleiche bedeuten, so ist, wie schon oben gezeigt wurde, zu bemerken, daß die beiden ersten Gesetzesvorlagen, die vom Volke verworfen wurden, nur die Ehrenfolgen der fruchtlosen Pfändung geregelt haben aus dem dort genannten Grunde, daß sich hier eine mildere Behnndlung rechtfertige. Bezüglich der Konkursiten aher erachtete man stillschweigend die Bestimmungen der Verfassung als fortbestehend. Ja, es war in dem Vorschlage der Regierung an den Kantonsrat zum zweiten der beiden verworfenen Gesetze die ausdrückliche Bestimmung vorgesehen, die nur zufälligerweise nicht in die Volksabslimmungsvorlago hineinkam, daß die öffentlich-rechtlichen Folgen des Konkurses durch Art. 9 der Verfassung bestimmt werden.

Im gegenwärtigen Gesetze dagegen sind auch die Ehrenfolgeu des Konkurses geregelt, und zwar auf gleiche Weise, wie diejenigen der fruchtlosen Pfändung. Es ist die Meinungsänderung, welche in dieser Regelung gegenüber den frühern Vorlagen ausgedruckt ist, dem Fortschreiten der Idee zu verdanken, daß bezüglich der öffentlich-rechtlichen Folgen humanere Grundsätze als die bisher in der Verfassung enthaltenen aufgestellt werden sollen.

Bei diesem Anlasse fragte man sich, ob dieser Schritt gegenüber Art. 9 der Verfassung zulässig sei. Man kam hierbei zum Schlüsse, daß Geldstag und Konkurs nicht die gleichen Rechtsinstitute seien und daß nichts entgegenstehe, bezüglich des letztern die Ehrenfolgen unabhängig von der Verfassung zu regeln. Freilich, wenn man die verschiedenen
Exekutionsarten unter wissenschaftliche Systeme zusammenfaßt, so wird man sagen können, daß Konkurs und Geldstag ein und dasselbe System zur Grundlage haben : beide Institute führen zur Exekution in das ganze Vermögen im Gegensatze zur Pfändung, die nur die einzelnen Vermögensstücke

85 ergreift. Nichtsdestoweniger darf mit Fug und Recht behauptet werden, daß der Geldstag nach Entstehung, Durchführung und Wirkungen von dem hundesgesetzlichen Rechlsinstitute des Konkurses verschieden sei. Es kann nicht in der Aufgabe der Kantonsbehörden liegen, hier näher auf die Unterschierle einzugehen. Sie berufen sich auf die §§ 1564 ff. des alten außer Kraft getreteneu solothurnischen Civilgesetzbuches und auf die Bestimmungen des nunmehr in Kraft bestehenden eidgenössischen Betreibungs- und Konkursgesetzes. Erwähnt seien nur kurz die beiden nin meisten in die Augen springenden Unterschiede des ,,Nachschlages"1 und des Umstandes, daß das vom Geldstager durch persönliche Arbeit nach dem Geldstage erworbene Vermögen diesem für die vor dem Geldstuge entstandenen Schulden nicht durch Rechtstrieb entzogen werden konnte.

Der kantonale Gesetzgeber war durchaus kompetent und es lag für ihn genügender Grund vor, zum Schlüsse zu gelangen, Geldstag und Konkurs seien nicht die gleichen Rechtsinstitute.

Bezüglich des von den Rekurrenten angerufenen Artikels 328 des eidgenössischen Gesetzes ist zuzugeben, daß der oben erwähnte Unterschied, daß der Arbeitsverdienst und das daraus resultierende Vermögen eines Geldstagers nicht zur Masse gezogen werden können, weeiiefallen ist. Allein es wird vergessen, daß es für die Beo O * urteilung, welche öffentlich-rechtlichen Folgen eintreten, auf den Zeilpunkt ankommt, in welchem die Thatsache des Geldstages oder des Konkurses eingetrelen ist. Irgend welche rückwirkende Kraft zu Gunsten der nach altem Recht Vergeldstagien kann selbstverständlich der angezogenen Bestimmung nicht beigelegt werden.

Wenn Konkurs und Geldstag die gleichen Institute wären, so hätte der kantonale Gesetzgeber, wie dies bei den beiden ersten Vorlagen der Fall war, die Konkursiten der Bestimmung der Verfassung unterstellen müssen, und er hätte die öffentlich-rechtlichen Folgen des Kpnkurses nicht auf dem Gesetzgebungswege feststellen und thalsächlich eine Verfassungsbestimmung auf dein gewöhnlichen Gesetzgebungswege abändern dürfen. Bei diesem Standpunkte wäre die einzig logische Schlußfolgerung die, das kantonale Gesetz sei bezüglich der Konkursiten, weil verfassungswidrig, aufzuheben. Liegt dieser Schluß wirklich im Sinne und Interesse der Rekurrenten?

Was die behauptete Verletzung des
Verfassungsgrundsatzes der Rechtsgleichheit anbelangt, so giebt die Regierung allerdings zu, daß der gegenwärtige Zustand kein befriedigender ist. Geldstag und Konkurs, wenn auch als verschiedene Rechtsinstitute betrachtet, kommen doch in ihren Wirkungen derart einander nahe, daß gewiß

86

eine verschiedene Behandlung bezüglich der öffentlich-rechtlichen Folgen nicht am Platze ist. Die Regierung hat deshalb diese Frage stets im Auge behalten und wird ihr auch ferner ihre Aufmerksamkeit widmen, es sei denn, daß dies, infolge eines Entscheides der Bundesbehörden nicht mehr notwendig sein würde.

Eine Verletzung des Art. 4 der Bundesverfassung jedoch kann angesichts der Praxis der Bundesbehörden nicht wohl angenommen werden. Vergeldstagte und Konkursiten sind zwei Bürgergruppen, welche nicht durch eine und dieselbe Gesetzgebung einer verschiedenen Behandlung unterworfen sind, sondern unter zwei verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen stehen. Wie oben gezeigt wurde, sind die ^tatsächlichen Voraussetzungen nicht die gleichen, indem Geldstag und Konkurs verschiedene Begriffe sind oder doch vom kantonalen Gesetzgeber als solche erklärt worden sind.

Unter allen Umständen könnte der Entscheid der Bundesbehörden nur dahin gehen, daß wegen Verletzung der Rechtsgleichheit das kantonale Ehrenfolgengesetz bezüglich der Konkursiten aufgehoben sei und letztere mit den Vergeldstagten den Bestimmungen der Verfassung unterliegen.

Gestützt auf das Angebrachte stellt der Regierungsrat die Begehren : 1. Der h. Bundesrat möge sich als unzuständig erklären, eventuell: 2. Er möge die Beschwerde abweisen.

VII.

Da die solothurnischen Kantonsbehörden die Kompetenz des Bundesrates zur materiellen Behandlung der Rekurssache ausdrücklich bestritten, beschloß der Bundesrat am 10. Juli 1894 auf Antrag des eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, es sei in Anwendung von Art. 194 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege die Meinungsäußerung des Bundesgerichts über die Kompetenzfrage einzuholen.

Durch Urteil vorn 14. November 1894 hat das Bundesgericht erkannt, es sei seinerseits auf den Rekurs wegen Inkompetenz nicht einzutreten.

Das Gericht zog in Erwägung: Gemäß Art. 175, Abs. 2, des Organisationsgesetzes sind die in Art. 189 gleichen Gesetzes bezeichneten staatsrechtlichen Streitigkeiten der bundesgerichtlichen Kompetenz entzogen. Art. 189 leg. cit.

bestimmt sodann in seinem vorletzten Alinea ausdrücklich, daß Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger

87

und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen vom Bundesrat oder der Bundesversammlung zu beurteilen seien ; diese Be urteilung aber hat, wie der genannte Artikel ausdrücklich bestimmt, auf Grundlage sämtlicher einschlägigen Bestimmungen des kantonalen Verfassungsrechtes und des Bundesrechts zu geschehen (,,ces recours devant être examinés d'après l'ensemble des dispositions de la constitution cantonale et du droit fédéral régissant la matière"). · Angesichts der allgemeinen Fassung dieser Bestimmung kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Buudesrat und in zweiter Instanz die Bundesversammlung allein kompetent sind, Streitigkeiten betreffend das politische Stimmreeht der Bürger auf Grund der Gesamtheit der einschlägigen Bestimmungen zu beurteilen; speciell sollen die genannten Behörden in solchen Fällen eventuell auch Bestimmungen zur Anwendung bringen können, deren Handhabung sonst Sache des Bundesgerichtes ist. Es ist also nicht etwa dem letztern in solchen Sachen eine konkurrierende Gerichtsbarkeit verblieben, kraft welcher es z. B. beurteilen könnte, ob in Stimmrechtsangelegenheiten in einem konkreten Falle z. B.

das Prinzip der Gleichheit verletzt worden sei. Vielmehr ist, sobald es sich in der Hauptsache um eine Frage des politischen Stimmrechts der Bürger handelt, bezüglich des ganzen Umfanges der Streitsache die Kompetenz des Bundesrates besw. der Bundesversammlung begründet; es kommt in dieser Beziehung auch nicht darauf an, ob der Rekurs, sei es aecessorisch, sei es ausschließlich, auf Verfassungsbestimrnungen abstellt, die, wie z. B.

die Gleichheit vor dem Gesetze, sonst nicht in die Kompetenz der administrativen Behörden, sondern in diejenige des Bundesgerichtes fallen. -- In analoger Weise könnten z. B. Rekurse auf Grund des Art. 27, Abs. 2 und 3, der Bundesverfassung betreffend das Schulwesen der Kantone in keiner Weise, auch nicht etwa aus dem Gesichtspunkte der verletzten Gleichheit, an das Bundesgericht gezogen werden. -- Im vorliegenden Falle nun ist streitig, ob durch Vorenthaltung des Stimmrechts resp. Nichtgewährung der neu eingeführten Rehabilitation an die nach altem solothurnischen Rechte Vergeldstagten Bundesrecht, speciell das Gleichheitsprinzip verletzt worden sei. Da es sich demnach um eine Frage des politischen Stimmrechts der Bürger handelt, ist das Bundesgericht nicht kompetent.

8» B.

In rechtlicher Beziehung fällt in Betracht: I.

In betreff

der

Kompetenzfrage.

\, Wenn auch das Bundesgericht durch Urteil vom 14. November 1894 bereits erkannt hat, daß die-vorliegende Rekursstreitsache eine Frage der politischen Stimrnbereohtiguug der Bürger betreffe und darum nicht in die Zuständigkeit des Bundesgeriehts gehöre, sondern der Beurteilung der politischen Bundesbehörden unterliege, so ist doch die Kompetenzfrage auch vom Bundesrate selbständig zu prüfen. Sollte der Bundesrat dabei zu einem dem Urteile des Bundesgeriehts entgegengesetzten Schlüsse gelangen, so würde ein von der Bundesversammlung zu entscheidender negativer Kompetenzkonflikt zwischen Bundesgericht und Bundesrat vorliegen (Art. 85, Ziff. 13, der Bundesverfassung).

2. Die aolothurnischen Kantonsbehörden fechten die Kompetenz des Bundesrates aus zwei Gesichtspunkten an: a. Einmal glauben sie, die Kompetenz des Bundesrates sei nicht begründet, weil derselbe nur auf Grund feststehender, unbestrittener Normen des kantonalen oder eidgenössischen Rechts über die politische Stimmberechtigung der Bürger und die Gültigkeit kantonaler Wahlen und Abstimmungen zu urteilen habe, im vorliegenden Falle aber nicht darüber zu entscheiden sei, ob die solothurnischen Behörden durch ihre dem Art. 9 der Kantonsverfassuug gegebene Auslegung kantonale oder eidgenössische Normen betreffend die Stimmberechtigung der Bürger verletzt haben, sondern darüber, ob die Bestimmung des Art. 9, Ziff. 4, der Kantonsverfassung von ihnen richtig ausgelegt, d. h. richtigerweise als noch zu Recht bestehend betrachtet werde. Diese Streitfrage sei in erster Linie von den Kantonsbehöi'den und weiterhin vom Bundesgerichte zu erledigen; denn es handle sich bei ihr nicht schlechtweg um die politische Stimmberechtigung der Btlrger, sondern um die Auslegung einer kantonalen Verfassungsbestimmung.

b. Sodann messen die Kantonsbehörden dem Art. 189, vorletzter Absatz, des Orgauisationsgesetzes über die Bundesrechtspflege nicht die Bedeutung bei, daß dem Bundesrate die Beurteilung aller mit der Stimmberechtigung der Bürger in irgend einem Zusammenhang stehenden Beschwerden zu-

89

komme; sie anerkennen die Kompetenz des Bundesrates vielmehr nur für eigentliche ,,Wahlrekurse", wo die Stitnmberechtigung der Bürger in Bezug auf einem konkreten Wahloder Abstimrnungsakt oder die Gültigkeit eines solchen in Frage steht.

In beiden Richtungen ist die Kompetenzeinrede der Rekurrenten einer nähern Prüfung zu unterwerfen.

Ad a. Der Auffassung, es handle sich im Rekursfalle um die Auslegung unklaren, in seiner Bedeutung bestrittenen kantonalen Rechtes, kann nicht beigepflichtet werden. Inhalt und Bedeutung von Art. 9, Ziff. 4, der solothurnischen Staatsverfassung vom 23. Oktober 1887 sind durchaus klar und unbestritten: Die nach den Vorschriften des solothurnischen Civilgesetzbuches vom 2. März 1847 ,,Vergeldstagten" sollen von der Stimmberechtigung ausgeschlossen sein. Von dieser Bestimmung sind ausgenommen die während der Minderjährigkeit ,,Vergeldstagten", indem sie bei Erreichung der Volljährigkeit sofort und ohne weiteres in den Genuß des Stimmrechts eintreten; den Wirkungen der Bestimmung sind zu entziehen die infolge der Übernahme einer Erbschaft Vergeldstagten, indem sie gerichtlich rehabilitiert werden sollen; von den Wirkungen derselben können befreit werden die infolge von Unglück und ohne direktes eigenes Verschulden Vergeldstagten. indem ihnen die Möglichkeit eröffnet ist, nach Verfluß von 6 Jahren durch gerichtliches Urteil wieder ins Aktiv bürgerrech t eingesetzt zu werden.

Dagegen ist richtig, daß im Rekursfalle die Frage mit in Erörterung fällt, ob Art. 9, Ziff. 4, der kantonalen Verfassung jetzt noch Wirkungen äußern könne, nachdem die Vorschriften des solothurnischen Civilgesetzbuches über die Schuldbetreibungen und deren Vollziehung durch das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs aufgehoben worden sind und der Kanton Solothurn, gestützt auf Art. 26 des Bundesgesetzes, durch ein Gesetz vom 30. Mai / 20. August 1893 die öffentlich rechtlichen Folgen nicht nur -der fruchtlosen Pfändung, sondern auch des Konkurses geregelt hat. Die Erörterung dieser Frage ist nicht zu vermeiden , weil das kantonale Gesetz an den nach den Vorschriften des Bundesgesetzes eiugetretenen Konkurs öffentlich-rechtliche Folgen knüpft, die von den nach Art. 9, Ziff. 4, der kantonalen Verfassung mit dem Geldstag verbundeneu ganz erheblich abweichen, und weil die Rekurrenten behaupten,
,,Geldstag" und ,,Konkurs" seien im wesentlichen ein und dasselbe Rechtsinstitut und. die Kantonsbehörden verletzen die durch Art. 4 der Bundesverfassung und Art. 12, Ziff. l, der Kantonsverfassung gewährleistete Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, indem sie die Wohlthaten des Gesetzes vom 30. Mai und

90

20. August 1893 nicht auch den nach frtiherm Recht ,,Vergeldstagten'1 gewähren.

Wenn der Bundesrat über die Begründetheit des Rekursbegehrens im Hinblick auf die citierten Verfassungsbestimmungen urteilt, so entscheidet er über eine streitige Stimmrechtsfrage auf Grund einer unbestrittenen und feststehenden allgemeinen Rechtsnorm , die als ,,eine einschlägige Bestimmung des kantonalen Verfassungsrechts und des Bundesrechts" erscheint.

Fraglich ist allerdings, ob und mit welcher Wirkung Art. 9, Ziff. 4, der Solothurner Verfassung durch die allgemeine Norm des Art. 4 der Bundesverfassung (Art. 12, Ziff. l, der Kantonsverfassung) infolge des Inkrafttretens des kantonalen Gesetzes vom 30. Mai und 20. August 1893 berührt wird. Darüber kann indessen erst bei materieller Prüfung der Beschwerde gesprochen werden.

Ad b. Auch der von den Kantonsbehörden in zweiter Linie geltend gemachte Eiuredegrund kann nicht als stichhaltig befunden werden.

Der Bundesrat hat bereits durch Beschluß vom 14. November 1893 (Bundesbl. 1893, V, 159) in Sachen von J. Kaufmann und Genossen in Winikon (Luzern) festgestellt, daß Stimmrechtsstreitfragen von der eidgenössischen Rekursbehörde zu erledigen seien, mögen sie auch auf das Schicksal einer Wahl oder Abstimmung ganz ohne Einfluß sein. Es handelte sich in jenem Falle um die Stimmberechtigung von Bürgern bei einer vollzogenen Wahl, deren Gültigkeit nicht angefochten war. Der Bundesrat anerkannte, daß die Rekurrenten ein rechtliches Interesse daran haben, feststellen zu lassen, ob die von den Kantonsbehörden ausgeschlossenen Bürger bei der Wahl als stimmberechtigt anzusehen waren. ,,Aus dieser Feststellung1*, fügte er bei, ,,wird sich nämlich ergeben, ob dieselben unter gleichen Verhältnissen in Winikon als Stimmberechtigte anerkannt werden müssen oder nicht. a Offenbar besteht das rechtliche Interesse des Bürgers an der Stimmberechtigung auch ohne jede Beziehung auf eine vollzogene Wahl oder Abstimmung. Der Bürger hat Anspruch auf Anerkennung seiner Eigenschaft als Stimmberechtigter; und er soll diesen Auspruch, falls derselbe von einer Amtsstelle oder Behörde bestritten wird , rechtlich geltend machen können. Dies trifft namentlich in einem Falle wie dem vorliegenden zu, wo einer ganzen Kategorie von Bürgern aus einem allgemeinen, aber in seiner Geltung bestrittenen, Rechtsgrunde die Stimmberechtigung abgesprochen wird.

Die Feststellung schafft dann allgemeines Recht für alle zukünftigen Wahl- und Abstimmungsakte.

91 IL

In betreff

der Sache selbst.

1. Die Kantonsbehörden gehen hei der Begründung ihres Rechtsstandpunktes davon aua, daß die Bedingungen der Ausübung des politischen Stimmrechts ebensowohl durch die Verfassung eines Staates als durch ein Specialgesetz geregelt werden können. Sie verweisen auf Art. 66 der Bundesverfassung, wo die Bundesgesetzgebung angewiesen wird, die Schranken zu bestimmen, innerhalb welcher ein Schweizerbürger seiner politischen Rechte verlustig erklärt werden kann.

Dem Gesetzgeher, sagen die Kantonsbehörden sodann, wai- es nicht verwehrt, Bestimmungen, die, wie diejenigen über die Stimmrechtsvoraussetzungen , nicht einen notwendigen Bestandteil der Verfassung bilden, dem Gebiete der Gesetzgebung zuzuweisen, d. h.

die Ehrenfolgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses durch ein Gesetz zu bestimmen.

Dieses Gesetz, so lautet die Beweisführung der solothurnischen Behörden weiter, ist ein einfaches Gesetz, es hat nicht den Charakter eines Verfassungsstatutes; denn es ist nicht auf dem Wege der Verfassungsrevision entstanden. Art. 9 der Verfassung ist somit von dem Ehrenfolgengesetze in keiner Weise berührt; dieses Gesetz bezieht sich ausschließlich auf die unter der Herrschaft des eidgenössischen Rechtes fruchtlos Gepfändeten und in Konkurs Geratenen, es nimmt auf die nach dem kantonalen Rechte Vergeldstagten keinerlei Bezug; Art. 9, Ziff. 4, der Staatsverfassung besteht nach wie vor Erlaß des Gesetzes von 1893 in Kraft.

Gegenüber diesen Auseinandersetzungen der Kantonsbehörden ist zu bemerken, daß der Bundesrat nicht zu untersuchen hat, ob nach dem Staatsrechte des Kantons Solothurn die Feststellung der öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses in der Staatsverfassung zu geschehen hatte oder 4 urc h ein einfaches Gesetz erfolgen konnte. Er steht vor der Thatsache, daß der kantonale Gesetzgeber -- auf letzter und höchster Stufe das Volk -- im Wege der gewöhnlichen Gesetzgebung die Feststellung vorgenommen hat. Der Inhalt dieses Gesetzes ist ein Bestandteil des öffentlichen Rechts des Kantons Solothurn geworden.

Die Frage, die im Rekursfalle dem Bundesrate vorgelegt wird und von ihm zu entscheiden ist, geht dahin, ob der Ausschluß der Bürger vom Stimmrechte, soweit er an eine ganz oder xum Teil fruchtlos gebliebene Zwangsvollstreckung auf dem Wege der Schuldbetreibung sich knüpft, ausschließlich durch die neu eingeführten öffentlich-rechtlichen Grundsätze bestimmt werde oder ob in dieser

92

Beziehung neben dem neuen noch älteres Recht Geltung haben könne, welch letzteres auf eine gewisse Kategorie von Bürgern anzuwenden wäre.

2. Die Rekurrenten bezeichnen eine ungleiche Behandlung der ,,Geldstager" des frühem solothurnischen Rechts und der "Konkursiten" des neuen eidgenössischen Rechts in Hinsieht auf deren politische Rechtsstellung als eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechtsgleichheit der Bürger; die Kantonsbehörden dagegen betrachten ,,Geldstag" und ,,Konkurs" als zwei Institute des Civilrechts, deren Voraussetzungen und Verhältnisse voneinander abweichen und die durch zwei verschiedene Gesetzgebungen ihre Ausgestaltung empfangen haben, und stellen deshalb in Abrede, daß die ,,Geldstager" den Anspruch erheben können, im öffentlichen Rechte den "Konkursiten" gleichgestellt zu werden.

Es ist den Kantonsbehörden ohne Weiteres zuzugeben, daß die Satzungen des solothurnischen Civilgesetzbuches, die von der Geldstagsbetreibung und dem Geldstag handeln, und die Bestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung uud Konkurs, welche die Betreibung auf Konkurs, das Konkursrecht und das Konkursverfahren regeln, sich formell und materiell nicht decken, ja vielfach, namentlich in den das Liquidationsverfahren regelnden Vorschriften, verschieden sind. Diese Abweichungen alle berechtigen jedoch keineswegs zum Schlüsse, man habe es mit zwei" nach Form und Inhalt wesentlich verschiedenen Rechtsbildungen zu thun.

Denn gemeinsam ist ihnen die Voraussetzung des Verfahrens: die ökonomische Unfähigkeil des Schuldners, seine Gläubiger zu befriedigen, und das Ziel desselben : eine gleichmäßige und gerechte Austeilung des Gesamtvermögens des Schuldners unter alle Gläubiger, welche ein Anrecht auf Befriedigung aus demselben haben.

Es kommt hinzu, daß seit 1. Januar 1892 auf Grund von Art. 328 des Bundesgesetzes ein im ,,Geldstage" seines Schuldners zu Verlust gekommener Gläubiger den Schuldner unter der gleichen Voraussetzung und im gleichen Umfange für seine Forderung wieder betreiben kann, wie ein nicht, befriedigter Konkursgläubiger den Koukursiten des neuen eidgenössischen Rechts. Letzteres bezeichnet an genannter Gesetzesstelle jede im kantonalen Rechte vorgekommene Zwangsvollstreckung in das gesamte Vermögen des Schuldners, mag sie nun diesen oder jenen Namen geführt haben, geradezu als
,,Konkurs".

Dem entsprechend hat auch das vom Kanton Solothurn zum Bundesgesetze Übet- Schuldbetreibung und Konkurs erlassene Einführungsgesetz vom 27. Mai/6. September 1891 in Art. 15 erklärt, daß eine Verlustbescheinigung nach bisherigem Rechte in ihren

93 rechtlichen Wirkungen fortan einem Verlustscheine aus Konkurs nach eidgenössischem Rechte gleichgestellt sei.

Der sonach in der Hauptsache vorhandenen Gleichheit der Rechtsordnung gegenüber können einzelne Ungleichheiten, wie -L. B.

daß das Nachschlagsverfahven des sololhurnischen Rechts dem Bundesgesetze fremd ist, nicht ins Gewicht fallen.

Dagegen ist von entscheidendem Gewichte, daß hei Geldstag und Konkurs jene Momente in ganz gleicher Weise vorhanden sind, welche unbestreitbar die in Art. 9, Ziff 4, der solothurnischen Verfassung und in dem Gesetze von 18^3 enthaltene staatsrechtliche Festsetzung betreffend das politische Stimmrecht der Bürger veranlaßt haben: der ökonomische Zerfall eines Bürgers, wodurch die Vermögensinteressen einer Mehrheit von Personen geschädigt werden, und dessen fortdauernde Unfähigkeit, die von ihm eingegaugene.n Schuldverbindlichkeiteu abzulösen, sollen für denselben eine stratähnliche Folge nach sich ziehen, nämlich den Entzug des Rechts, im Staate gleich den ihre privatrechtlichen Verpflichtungen erfüllenden Bürgern auf die Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse mitbestimmend einzuwirken.

· Demzufolge steht fest, daß der ,,Geldstag a des alten solothurnisc'hen Civilgesetzbuches uud der ,,Konkurs" des Bundesgesetzes vom 11. April 1889 hei Bestimmung ihrer öffentlich-rechtlichen Folgen nicht als zwei verschiedene Rechtsinslitute gelten können.

ISs versteht sich wohl ganz von selbst, daß von einer Verschiedenheit nicht schon darum gesprochen werden kann, weil nicht derselbe Gesetzgeber die Normen festgesetzt hat. Der eidgenössische Gesetzgeber ist verfassungsgemäß an die Stelle des kantonalen getreten und das BunrJesgesetz ist als eine vom kompetenten Gesetzgeber vorgenommene Revision der Bestimmungen des solothurnischen Zivilgesetzbuches über Schuldbetreibung und Geldstag anzusehen.

3. Aus der unter Ziff. 2 enthaltenen Erörterung ergiebt sich der zwingende Schluß, daß, wenn im Kanton Solothurn an die Thatsache des Geldstages und des Konkurses öffentlich-rechtliche Folgen geknüpft werden wollen, dieselben ohne Verletzung der Rechtsgleichheit der Bürger nicht verschieden sein können.

Nun weichen aber die durch Art. 9 der Verfassung festgesetzten öffentlich-rechtlichen Folgen des Geldstags von denjenigen, welche den Konkurs knüpft, ganz erheblich ab.

Beide Erlasse stimmen nur darin überein, daß sie an die bloße T h a t s a c h e des Geldstages oder Konkurses eines volljährigen Bürgers den Entzug des politischen Stimmrechts knüpfen und daß

94

sie eine gerichtliche Rehabilitation zulassen, wenn der Bürger seine» Vermögenszerfall nicht selbst verschuldet hat. Im übrigen und in allen Einzelheiten weisen sie nur Verschiedenheiten auf.

So können Vergeldstagte erst nach Verfluß von 6 Jahren gerichtlich wieder in das Aktivbürgerrecht eingesetzt werden, Konkursiten, wie auch Ausgepfändete, sofort.

Vergeldstagte, die nicht gerichtlich rehabilitiert werden, bleibet» so lange im Stimmrechte eingestellt, als der Geldstag dauert, d. h.

so lange als nicht alle verlustigen Gläubiger befriedigt sind oder ihre Einwilligung zur Aufhebung des Geldstags erteilen ; also möglicherweise zeitlebens.

Den Konkursiten und fruchtlos Gepfändeten aber wird das Stimmrecht nur auf die Dauer von 4 Jahren entzogen, mag ihre ökonomische Unfähigkeit noch so sehr von ihnen selbst verschuldet sein und noch so lange fortdauern.

Diese Ungleichheiten sind nicht nur in die Augen fallend, sondern auch stoßend; sie verletzen offensichtlich den in Art. 4 der Bundesverfassung und in Art. 12, Ziff. l, der Kantonsverfassung ausgesprochenen Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze.

Eine Stimmrechtsordnung, welche in dieser Weise einem obersten allgemeinen Verfassungsrechtssatze zuwiderläuft, kann nicht zu Recht bestehen. Es kann in einem Rechtsstaate für die Bürger, die sich in dem nämlichen thatsächlichen Verhältnisse befinden, nicht zweierlei öffentliches Recht geben. Das Prinzip der Rechtsgleichheit stellt die unabweisbare Forderung der Beseitigung eines solchen Gegensatzes , und Pflicht der Behörden ist es, die hierzu erforderlichen Anordnungen zu treffen.

4. Wenn es sich nun aber fragt, auf welchem Wege das Postulat der Rechtsgleichheit im vorliegenden Falle zu verwirklichen sei, s» fallen folgende Momente in Betracht.

Das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs hat in seinen Übergangsbestimmungen (Art. 328) festgesetzt, daß der Q-emeinschuldner (Geldstager, Konkursit, Kridar) oder Ausgepfändete des aufgehobenen kantonalen Rechts vom 1. Januar 1892 an zu seinem unbefriedigten Gläubiger, wenn dieser nach kantonalem Recht noch forderungsberechtigt ist, in demselben Rechtsverhältnisse stehen solle, wie der Konkursit oder fruchtlos Gepfändete des neuen eidgenössischen Rechts zu dem Gläubiger, der ihn zum Konkurs oder zur Pfändung betrieben hat. Entgegenstehendes,
f o r m e l l e s und m a t e r i e l l e s , kantonales Recht ist seit 1. Januar 1892 unwirksam geworden. Insbesondere soll es dem Gläubiger, gleichviel ob die

95

Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner nach altem oder nach neuem Recht durchgeführt wurde, zustehen, den Schuldner n a c h M a ß g a b e und in der F o r m des neueu Rechts für die alte Forderung neu zu betreiben, auf Vermögensstücke desselben einen Arrest zu legen u. s. w. Mit andern Worten: das Bundesgesetz will vom Tage seines Inkrafttretens an gegen alle Schuldner und für alle Ansprachen, auch solche, die unter der Herrschaft des kantonalen Rechts und nach einem andern Modus bereits der Zwangsvollstreckung unterworfen waren, das neue Betreibungs- und Vollziehungsverfahren angewandt sehen.

Das solothurnische Einführungsgesetz hat, wie oben bereits erwähnt wurde, die bundesrechtliche Forderung in einer eigenen Bestimmung nochmals zum Ausdruck gebracht.

Es wird also im Kanton Solothurn, der das Pfändungsverfahren nicht hatte, seit l. Januar 1892 eine ungedeckte Geldstagsforderung gegen den im Handelsregister nicht eingetragenen Schuldner im Wege der Pfändung betreibungsrechtlich geltend zu machen sein.

Nun wurde aber -- die fortdauernde Wirksamkeit von Art. 9, Ziff. 4, der Staatsverfassung vorausgesetzt -- dieser Schuldner, wenn die Pfändung fruchtlos bleibt, in öffentlich-rechtlicher Beziehung nicht nach den auf den Fall der fruchtlosen Pfändung anwendbaren Gesetzesbestimmungen behandelt werden, sondern nach wie vor der davon gründlich verschiedenen Verfassungsbestimmung unterstehen. Es müßte somit- ein neuer Zwiespalt in der Rechtsordnung entstehen: in Beziehung auf den Fortbestand der Schuld und die Belangbarkeit und auf das Zwangsvollstreckungsverfahren wäre der Bürger vom neuen Rechte beherrscht, in öffentlich-rechtlicher Beziehung aber fände ein Recht auf ihn Anwendung, das die Geltung aufgehobener Civilrechtsbestimmungen zur Voraussetzung hat.

Diese Betrachtung läßt erkennen, daß der solothurnische Gesetzgeber durchaus sachgemäß und im Sinne des Bundesgesetzes vorgegangen ist, wenn er in einem eigenen Erlasse die öffentlichrechtlichen' Folgen nicht bloß der fruchtlosen Pfändung, sondern auch des Konkurses geordnet hat. Es ergiebt sich daraus aber des weitern als Forderung der Einheit des Rechtssystems, daß die öffentlich-rechtliche Stellung der Gemeinschuldner des alten Rechts, so gut wie ihre privatrechtliche Stellung, nach dem neuen Rechte sich zu richten hat.

Demnach ist der Weg,
auf welchem das Postulat der öffentlichrechtlichen Gleichstellung der Geldstager des alten und der Konkursiten des neuen Rechts seine Verwirklichung finden soll, klarvorgezeichnet.

96 Es geht nicht an, die Konkursiten einer Verfassungsbestimmung zu unterwerfen, die auf eine nicht mehr in Kraft bestehende Gesetzgebung sich bezieht; dagegen sind die früheren "Geldstager" nach den Bestimmungen des Gesetzes über die Ehrenfolgen des Konkurses zu behandeln. Mit andern Worten : Art. 9, Ziff. 4, der Verfassung kann keine Rechtswirkung mehr äußern, da diese. Bestimmung den Rechtsbestand einer aufgehobenen Gesetzgebung voraussetzt und zu einer Ausscheidung von thatsächlich in gleicher Lage sich befindenden Bürgern in zwei Klassen fuhren wurde, die weder mit dem bundesverfassungsmässigen Grundsätze der Rechtsgleichheit der Bürger sich verträgt, noch mitderT v o m Bundesgesetze 5. Der aus den vorangehenden Erörterungen sich ergebende Rechtssehluß kann nur dahin lauton, daß die Bestimmungen des soluthurnischen Gesetzes vom 30. Mai/20. August 1893 über die öffentlich-rechtlichen Polgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses auf die unter der Herrschaft des alten solothurnischen Rechtes in Geldstag gefallenen Bürger entsprechende Anwendung zu finden haben.

Die Art und Weise, wie diesem Rechtsschluss praktische Folge zu geben sei, hat die zuständige Kantonsbehörde festzusetzen. Es mag bloß andeutungsweise bemerkt werden, daß ein legislativer Akt nicht erforderlieh erscheint, um der in demRechtsschlussee ausgedrückten zwingenden Forderung des Bundesrechtes zu genügen.

Demnach wird beschlossen: 1. Die Einrede der Inkompetenz des Bundesrates ist abgewiesen.

2. Der Rekurs ist begründet.

Infolgedessen werden die Behörden des Kantons Solothurn angewiesen, die unter der Herrschaft des aufgehobenen kantonalen Rechts in ,,Geldstag" gefallenen Bürger mit Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Folgen dea Geldstags in Anwendung des kantonalen Gesetzes vom 30. Mai / 20. August 1893 den nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 in Konkurs geratenen Bürgern gleichzustellen und zur Vollziehung dieser Verfügung die erforderlichen Massnahmen zu treffen.

97 3. Dieser Beschluß ist der Regierung des Kantons Solothurn, für sie und den Kantonsrat, sowie unter Aktenrückschluß dem Herrn Peter Käch in Solothurn, zu Händen der Rekurrenten, mitzuteilen.

B e r n , den 20. März 1895.

Im Namen des schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Zemp.

Der Kanzler der Eidgenossenschaft: Ringier.

Bundesblatt. 47. Jahrg. Bd. II.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bundesratsbeschluß über den Rekurs von Peter Käch und Genossen in Solothurn gegen die Schlußnahmen der solothurnischen Kantonsbehörden in der Frage der Anwendung des kantonalen Gesetzes über die öffentlich-rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung ...

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1895

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

13

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

23.03.1895

Date Data Seite

73-97

Page Pagina Ref. No

10 016 977

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.