10.097 Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Bekämpfung des Menschenhandels und zum Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz vom 17. November 2010

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin Sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Wir unterbreiten Ihnen hiermit, mit dem Antrag auf Zustimmung, die Botschaft zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Bekämpfung des Menschenhandels mit dem Gesetzesentwurf über den ausserprozessualen Zeugenschutz.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, folgenden parlamentarischen Vorstoss abzuschreiben: 2008

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08.3401

Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels. Unterzeichnung und Ratifikation (N Leutenegger Oberholzer, 13.06.2008)

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

17. November 2010

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Doris Leuthard Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2009-1835

1

Übersicht Das Übereinkommen des Europarats setzt rechtliche Standards in den Bereichen Strafrecht, Opferhilfe, Ausländerrecht sowie prozessualer und ausserprozessualer Zeugenschutz, damit der Menschenhandel wirksam bekämpft werden kann. Das geltende schweizerische Recht erfüllt die Anforderungen des Übereinkommens weitgehend. Es braucht jedoch neue gesetzliche Regelungen über den ausserprozessualen Zeugenschutz, damit die Schweiz das Übereinkommen ratifizieren kann.

Das Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels bezweckt die Bekämpfung aller Formen von Menschenhandel auf inner- und zwischenstaatlicher Ebene. Hierfür setzt es rechtliche Standards in den Bereichen Strafrecht, Opferhilfe, Ausländerrecht sowie prozessualer und ausserprozessualer Zeugenschutz. Ziel des Übereinkommens ist zudem die Stärkung der Prävention und die Eindämmung der Nachfrage.

Gegenüber dem von der Schweiz bereits ratifizierten UNO-Zusatzprotokoll zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels (SR 0.311.542) sieht die Konvention in den Bereichen Opfer- und Zeugenschutz verbindlichere Bestimmungen sowie einen unabhängigen Überwachungsmechanismus vor, welcher die Umsetzung gewährleisten soll. Es handelt sich dabei um eine Expertenkommission «GRETA» aus Vertreterinnen und Vertretern der Signatarstaaten. Weiter ist die Konvention nicht auf grenzüberschreitende organisierte Kriminalität beschränkt.

Die von der Konvention verfolgten Ziele decken sich mit den Interessen und der deklarierten Haltung der Schweiz. Die Schweiz beteiligte sich aktiv an der Ausarbeitung des Konventionstextes. Sie begrüsste die Tatsache, dass die Europaratskonvention durch verbindlichere Bestimmungen namentlich im Bereich des Opferschutzes, der Prävention und bei der Überwachung der Umsetzung durch die Signatarstaaten einen Mehrwert gegenüber den bestehenden internationalen vertraglichen Instrumenten schafft. Durch Mindeststandards stärkt die Konvention zudem die Kooperation zwischen Herkunfts- und Zielstaaten von Menschenhandel.

Die Konvention wurde am 16. Mai 2005 in Warschau zur Unterzeichnung aufgelegt und trat am 1. Februar 2008 in Kraft. Die Schweiz hat sie am 8. September 2008 unterzeichnet. Die Konvention wurde bis Ende November 2010 bereits von 30 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert.

Die geltende schweizerische
Rechtsordnung erfüllt mit einer Ausnahme alle Anforderungen der Konvention. Umsetzungsbedarf besteht in Bezug auf Massnahmen zum ausserprozessualen Zeugenschutz. Gemäss Artikel 28 der Konvention sind die erforderlichen gesetzgeberischen oder anderen Massnahmen zu ergreifen, um in einem Strafverfahren gegen Menschenhandel aussagenden Personen insbesondere während und nach den Ermittlungen einen wirksamen und angemessenen Schutz vor möglicher Vergeltung oder Einschüchterung zu gewähren.

Prozessuale Schutzrechte wie die Anonymisierung oder optische und akustische Abschirmung von Zeuginnen und Zeugen sind in der schweizerischen Strafprozessordnung verankert. Diese genügen dann nicht mehr, wenn die beschuldigte Person

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aufgrund des Inhalts der Aussage auf die Identität der Zeugin oder des Zeugen schliessen oder die Identität auf eine andere Art in Erfahrung bringen konnte. In solchen Fällen erweist sich der ausserprozessuale Schutz häufig allein als geeignet und zielführend. Beispiele sind Massnahmen wie Verhaltensberatung, Bereitstellung von Hilfsmitteln wie neuen Mobiltelefonnummern, vorübergehendes Unterbringen an einem sicheren Ort bis hin zu aufwendigen und teils kostspieligen Massnahmen wie Datenbekanntgabesperren und Beschaffung von Tarndokumenten.

Einzelne ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen werden heute gestützt auf die allgemeine Gefahrenabwehrpflicht der Kantone ergriffen, eigentliche Zeugenschutzprogramme mit tiefgreifenden Schutzmassnahmen werden mangels spezifischer Rechtsgrundlagen nicht durchgeführt. Ohne Institutionalisierung eines Zeugenschutzes mittels Befugnis- und Verpflichtungsnormen sowie einer klaren Aufgabenzuweisung sind auch den bereits weniger eingreifenden Schutzmassnahmen (z.B.

Verhaltensberatung, Personen- und Objektschutz, Unterbringung an einem sicheren Ort) mangels Ressourcen und Knowhow von vornherein Grenzen gesetzt.

Mit dem unterbreiteten Gesetzesentwurf sollen im Bundesrecht die staatlichen Strukturen und Voraussetzungen für die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen geschaffen werden. Angesichts der vergleichsweise geringen Anzahl Zeugenschutzfälle, der durch die Kleinräumigkeit der Schweiz bedingten interkantonalen und oft wohl internationalen Zusammenarbeit und der anzustrebenden Effizienz und Professionalität der Durchführung erscheint es sinnvoll und wichtig, die Kompetenz zur Durchführung der Zeugenschutzmassnahmen für Zeuginnen und Zeugen aus Bundesverfahren wie für Zeuginnen und Zeugen aus kantonalen Verfahren zentral bei einer nationalen Zeugenschutzstelle anzusiedeln. Der Entwurf regelt Aufgaben und Befugnisse dieser Stelle.

Als Zielgruppe kommen primär gefährdete Personen in Betracht, die in Ermittlungsverfahren der schweren Kriminalität und der Schwerstkriminalität, insbesondere organisierter Kriminalität und terroristischer Gewaltkriminalität, über Wissen verfügen, das zum Verfahrensausgang beiträgt. Es dürfte sich dabei v.a. um tatbeteiligte und professionelle wie auch geschädigte Zeuginnen und Zeugen handeln.

Im Entwurf ist ­ als eine der besonderen
Massnahmen ­ die Ausstattung einer Person mit Tarndokumenten vorgesehen. Zum Aufbau einer sicheren neuen und zur Verhinderung einer Rekonstruktion der alten Identität sind Datensperren in zahlreichen Personenregistern erforderlich, und es müssen echte Dokumente und Einträge auf den neuen Namen erstellt werden können. Der Entwurf enthält für die hierfür zur Mitwirkung angegangenen Organe des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sowie privaten Personen die nötigen Rechtsgrundlagen.

Das längerfristige Leben, allenfalls unter einer neuen Identität, in einem neuen sozialen Umfeld, stellt für die Zeugin oder den Zeugen sowie eventuelle Angehörige einen enormen Einschnitt in das Leben dar. Neben der vorgängigen Eignungsprüfung als Kriterium für die Durchführung eines Programms ist deshalb auch eine angemessene Begleitung und Betreuung durch die für den Zeugenschutz verantwortliche Stelle wichtig. Dritte (z.B. Gläubiger) wie auch die Zeuginnen und Zeugen selbst dürfen aufgrund von Zeugenschutzmassnahmen nicht in ihrer Rechtsposition

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beeinträchtigt werden. Der Entwurf enthält Regelungen zur Erreichbarkeit der zu schützenden Person im Rechtsverkehr.

Verhältnismässig angewandte Massnahmen im Bereich des ausserprozessualen Zeugenschutzes stellen ein wirksames Mittel für eine effiziente Strafverfolgung im Kampf gegen schwere Kriminalität und Schwerstkriminalität dar.

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Inhaltsverzeichnis Übersicht 1 Grundzüge des Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels 1.1 Einleitung 1.2 Bestrebungen zur Bekämpfung des Menschenhandels 1.2.1 Internationale Bestrebungen 1.2.2 Nationale Bestrebungen 1.3 Entstehungsgeschichte der Europaratskonvention 1.4 Die schweizerische Position 1.5 Art der völkerrechtlichen Bestimmungen 1.6 Das Vernehmlassungsverfahren 2 Die Bestimmungen des Übereinkommens und ihr Verhältnis zum schweizerischen Recht 2.1 Präambel 2.2 Kapitel I: Zweck, Geltungsbereich, Nichtdiskriminierung und Begriffsbestimmungen (Art. 1­4) 2.3 Kapitel II: Verhütung, Zusammenarbeit und sonstige Massnahmen (Art. 5­9) 2.4 Kapitel III: Massnahmen zum Schutz und zur Förderung der Rechte der Opfer unter Gewährleistung der Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 10­17) 2.5 Kapitel IV: Materielles Strafrecht (Art. 18­26) 2.6 Kapitel V: Ermittlungen, Strafverfolgung und Verfahrensrecht (Art. 27­31) 2.7 Kapitel VI: Internationale Zusammenarbeit und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft (Art. 32­35) 2.8 Kapitel VII: Überwachungsmechanismus (Art. 36­38) 2.9 Kapitel VIII: Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften (Art. 39 und 40) 2.10 Kapitel IX: Änderungen des Übereinkommens (Art. 41) 2.11 Kapitel X: Schlussbestimmungen (Art. 42­47) 3 Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG): Grundzüge der Vorlage 3.1 Einleitung 3.1.1 Was ist Zeugenschutz?

3.1.2 Unterscheidung prozessualer und ausserprozessualer Zeugenschutz 3.1.3 Abgrenzung von der Kronzeugenregelung 3.2 Ausgangslage 3.2.1 Recht 3.2.2 Praxis

2 8 8 9 9 10 11 12 12 13 14 14 14 16

22 32 37 41 44 45 46 46 46 46 46 48 49 49 49 50

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3.3 3.4

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3.6

3.2.3 Konsequenzen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien für den Zeugenschutz 3.2.3.1 Datenbearbeitung der Verwaltung 3.2.3.2 Konsequenzen des Internets Geplante Neuregelung Vorarbeiten 3.4.1 Bericht des Bundesrates «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen» 3.4.2 Vorkonsultation zum Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels und zur Modellwahl beim ausserprozessualen Zeugenschutz Rechtsvergleich 3.5.1 Allgemein 3.5.2 UNO 3.5.3 Internationale Strafgerichtshöfe 3.5.4 EU 3.5.4.1 Generell 3.5.4.2 Insbesondere Europol 3.5.5 Europarat 3.5.6 Einzelne Länder 3.5.6.1 Deutschland 3.5.6.2 Österreich 3.5.6.3 Italien 3.5.6.4 Frankreich Erledigung parlamentarischer Vorstösse

4 ZeugSG: Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen 4.1 Erstes Kapitel: Allgemeine Bestimmungen 4.2 Zweites Kapitel: Zeugenschutzprogramm 4.2.1 Erster Abschnitt: Begriff und Inhalt 4.2.2 Zweiter Abschnitt: Ausarbeitung eines Zeugenschutzprogramms 4.2.3 Dritter Abschnitt: Beendigung des Zeugenschutzprogramms und Fortführung über das Ende eines Strafverfahrens hinaus 4.2.4 Vierter Abschnitt: Rechte und Pflichten der geschützten Person 4.2.5 Fünfter Abschnitt: Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und Privaten 4.3 Drittes Kapitel: Zeugenschutzstelle 4.3.1 Erster Abschnitt: Organisation und Aufgaben 4.3.2 Zweiter Abschnitt: Datenbearbeitung 4.4 Viertes Kapitel: Zusammenarbeit mit dem Ausland 4.5 Fünftes Kapitel: Geheimhaltung 4.6 Sechstes Kapitel: Aufsicht 4.7 Siebtes Kapitel: Kosten 4.8 Achtes Kapitel: Änderungen bisherigen Rechts

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52 52 54 54 57 57 57 58 58 60 60 61 61 62 63 63 63 64 65 65 66 66 66 68 68 69 73 74 77 81 81 84 85 87 87 88 89

5 Auswirkungen 5.1 Auswirkungen auf den Bund 5.1.1 Beitritt zum Übereinkommen 5.1.2 Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG) 5.1.2.1 Fallzahlen und Grösse der Zeugenschutzstelle 5.1.2.2 Fallabhängige Kosten 5.1.2.3 Kosten Zeugenschutzstelle 5.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden 5.2.1 Beitritt zum Übereinkommen 5.2.2 Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG)

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6 Verhältnis zur Legislaturplanung

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7 Rechtliche Aspekte 7.1 Verfassungsmässigkeit 7.1.1 Bundesbeschluss zur Unterzeichnung des Übereinkommens 7.1.2 Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG) 7.2 Vereinbarkeit mit dem internationalen Recht 7.3 Erlassform bzw. Umsetzungsgesetzgebung 7.4 Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

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Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (Entwurf)

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Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG) (Entwurf)

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Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels

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Botschaft 1

Grundzüge des Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels

1.1

Einleitung

Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei, die im Zunehmen begriffen ist. Es gibt Schätzungen, wonach weltweit jährlich zwischen 800 000 und 2,4 Millionen Menschen Opfer dieses Verbrechens werden. 1 Zu den Ursachen gehören einerseits Armut und Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern, andererseits die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften und nach Frauen für das Sex-Gewerbe in den Zielländern. Kriminelle Kreise machen sich die Perspektivlosigkeit von Migrantinnen und Migranten sowie deren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zunutze, um diese beispielsweise mit falschen Versprechungen über Arbeits- oder Heiratsmöglichkeiten anzuwerben. Im Zielland werden die Opfer durch Schuldknechtschaft, Nötigung oder Gewalt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht und ausgebeutet.

Die Ausbeutung kann die sexuelle Ausbeutung, die Ausbeutung der Arbeitskraft und/oder die illegale Entnahme von Körperorganen umfassen.

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Die Schweiz ist ein Zielland und in geringerem Masse ein Transitland des Menschenhandels. Der grösste Teil der Opfer sind Frauen und in einzelnen Fällen Mädchen, die zum Zweck der Ausbeutung in der Prostitution gehandelt werden.

In geringerem Masse sind in anderen Branchen Fälle von Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (v.a. Haushaltshilfen) bekannt. Die Opfer des Menschenhandels in der Schweiz stammen vornehmlich aus Ost- und Südosteuropa, Brasilien und Thailand. Meistens betreiben kleine, oft familiär oder ethnisch geprägte Gruppen den Handel mit Menschen. Sie sind vernetzt mit entsprechenden Gruppierungen in den Herkunftsländern der Opfer.

Die schweizerische Strafurteilstatistik weist für die Jahre 2002­2008 durchschnittlich 5 Verurteilungen wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und 13 Verurteilungen wegen Förderung der Prostitution aus. 2008 beanspruchten 97 Opfer aus diesem Bereich Leistungen nach dem Opferhilfegesetz. Es wird jedoch allgemein von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Das Bundesamt für Polizei (fedpol) schätzte im Jahr 2002 die Risikogruppe beim Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung auf 1500­3000 Personen 2 . Neuere Schätzungen sowie Schätzungen über den Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft liegen nicht vor. Fälle von Menschenhandel zum Zweck der Organentnahme wurden in der Schweiz bisher nicht bekannt.

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Als Hauptgrund für die geringe Aufklärungsquote von Menschenhandelsdelikten nennt der Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe Menschenhandel von 2001 die geringe Bereitschaft der Opfer zur Anzeige und Zeugenaussage. Diese ist

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Trafficking in Persons Report 2007, US State Department, Washington 2007 respektive Bericht des Generaldirektors der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) «Eine globale Allianz gegen Zwangsarbeit», 2005, S. 11.

Fedpol, Bericht Innere Sicherheit 2002, S. 71

auf die ausländerspezifische Abhängigkeit der Opfer sowie auf deren Einschüchterung durch die Täterschaft zurückzuführen.3

1.2

Bestrebungen zur Bekämpfung des Menschenhandels

1.2.1

Internationale Bestrebungen

Der Menschenhandel, namentlich der Mädchen- und Frauenhandel, gehört zu den ersten Menschenrechtsthemen, derer sich die internationale Staatengemeinschaft annahm. Seit 1904 wurden zu diesem Thema mehrere internationale Übereinkommen geschlossen, wobei der Begriff des Menschenhandels sukzessive ausgeweitet wurde.4 Das jüngste Vertragswerk ist das Zusatzprotokoll vom 15. November 20005 zur Konvention der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität betreffend die Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, (VN-Zusatzprotokoll) . Dieses Protokoll erweiterte die Definition des Menschenhandels über den Zweck der sexuellen Ausbeutung hinaus auf die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Organentnahme. Ebenfalls zum engeren Themenkreis gehört das Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie (VN-Fakultativprotokoll) .

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Mit der Ausbeutung der Arbeitskraft befassen sich weiter die Übereinkommen der Internationalen Organisation für Arbeit (ILO) über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930 (Nr. 29), über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 25. Juni 1957 (Nr. 105) sowie über das Verbot und unverzügliche Massnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit vom 17. Juni 19996 (Nr. 182). Auch die Europäische Union erliess bereits verschiedene Beschlüsse und Richtlinien zur Bekämpfung des Menschenhandels 7 , wobei die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 25. März 2009 einen Vorschlag für einen überarbeiteten Rahmenbeschluss zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz von Opfern vorlegte.

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«Menschenhandel in der Schweiz», Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe Menschenhandel an das EJPD, Bundesamt für Justiz, Bern 2001.

Internationales Übereinkommen vom 18. Mai 1904 zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes gegen das unter dem Namen «Mädchenhandel» bekannte verbrecherische Treiben (SR 0.311.31), Internationales Übereinkommen vom 4. Mai 1910 zur Bekämpfung des Mädchenhandels (SR 0.311.32), Internationales Übereinkommen vom 30. September 1921 zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels (SR 0.311.33), Internationales Übereinkommen vom 11. Oktober 1933 über die Unterdrückung des Handels mit volljährigen Frauen (SR 0.311.34), UNO-Konvention zur Unterdrückung des Menschenhandels und der Ausbeutung der Prostitution Dritter (UN GA Res 317 [IV]) vom 2. Dezember 1949. Bis auf letztere Konvention hat die Schweiz diese völkerrechtlichen Verträge ratifiziert.

SR 0.311.542 SR 0.822.713.9, SR 0.822.720.5 und SR 0.822.728.2 Rahmenbeschluss 2002/629/JI des Rates vom 19. Juli 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels; Rahmenbeschluss 2002/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren; Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren.

9

Auf politischer Ebene stand der Menschenhandel in den letzten Jahren auf der Agenda verschiedener internationaler Organisationen. Nebst mehreren Resolutionen und Ratsbeschlüssen des Europarates, ist der OSZE-Aktionsplan zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 2. Dezember 2003 hervorzuheben 8 . In diesem Zusammenhang wurden durch die OSZE die Institution der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels sowie innerhalb des OSZE-Sekretariates eine spezielle Einheit zur Bekämpfung des Menschenhandels geschaffen.

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1.2.2

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Nationale Bestrebungen

Die Schweiz verurteilt den Menschenhandel als gravierende Menschenrechtsverletzung. Die beiden mittlerweile ratifizierten Protokolle, das VN-Zusatzprotokoll und das VN-Fakultativprotokoll, wurden vom Parlament ohne Gegenstimmen genehmigt. Im Rahmen der Ratifizierung des VN-Fakultativprotokolls wurde der Tatbestand des Menschenhandels, Artikel 182 des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 19379 (StGB) revidiert und an die internationale Definition angepasst 10 . Die neue Strafbestimmung ist seit dem 1. Dezember 2006 in Kraft. Im Bundesgesetz vom 16. Dezember 200511 über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG), das am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist, werden die gesetzlichen Grundlagen für die Möglichkeit einer Regelung des Aufenthaltes von Opfern des Menschenhandels während einer Bedenkzeit und während des Ermittlungs- und Strafverfahrens sowie einer Rückkehrhilfe festgehalten (Art. 30 Abs. 1 Bst. e und Art. 60 Abs. 2 Bst. b AuG). Zusätzlich ist in der Verordnung vom 24. Oktober 200712 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) vorgesehen, dass in schwerwiegenden persönlichen Härtefällen ausnahmsweise auch ein Aufenthalt gewährt werden kann, wenn das Opfer nicht zur Zusammenarbeit mit den Strafbehörden bereit ist (Art. 36 Abs. 6).

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Gestützt auf den interdepartementalen Bericht «Menschenhandel in der Schweiz» vom September 2001 13 und die Stellungnahme des Bundesrates dazu vom 29. Mai 2002 14 wurde im Januar 2003 unter Federführung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes (EJPD) die Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) gegründet. Diese vereinigt alle im Bereich der Bekämpfung und Verhütung von Menschenhandel und Menschenschmuggel tätigen Behörden in Bund und Kantonen sowie spezialisierte Organisationen der Zivilgesellschaft. Die KSMM ist eine Informations- und Analysedrehscheibe, erarbeitet Instrumente und Strategien zur Bekämpfung der Phänomene und koordiniert die TF

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OSCE Action Plan to Combat Trafficking in Human Beings, Ministerial Council Decision No. 2/03 vom 2. Dezember 2003.

SR 311.0 Vgl. Bundesbeschluss vom 24. März 2006 über die Genehmigung und die Umsetzung des Fakultativprotokolls vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (AS 2006 5437 5440).

SR 142.20 SR 142.201 Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe «Menschenhandel in der Schweiz», Bundesamt für Justiz, Bern 2001.

Medienmitteilung EJPD: Den Menschenhandel umfassend bekämpfen, Bundesrat lässt Empfehlungen einer Arbeitsgruppe prüfen, Bern, 29. Mai 2002.

Massnahmen in den Bereichen Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz. Die KSMM verfügt über eine Geschäftsstelle bei fedpol. Bei der Bundeskriminalpolizei (BKP) wurde 2004 das heutige Kommissariat «Menschenhandel, Menschenschmuggel» geschaffen, welches die Kantone bei komplexen Ermittlungen mit internationalem Bezug in operationeller Hinsicht unterstützt.

1.3

Entstehungsgeschichte der Europaratskonvention

Als regionale Organisation, die zu ihren Hauptaufgaben die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte zählt, hat sich der Europarat schon früh mit dem Problem des Menschenhandels befasst. Seit Anfang der 1990er-Jahre verabschiedete das Ministerkomitee des Europarates dazu verschiedene Resolutionen und Empfehlungen. Erwähnt seien die Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarats Nr. R (2000) 11 zu Massnahmen gegen den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung sowie die Empfehlung Rec (2001) 16 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung, welche den Weg zur vorliegenden Konvention ebneten.

Gestützt auf die Erkenntnis, dass das Phänomen Menschenhandel im Zunehmen begriffen ist und in der Öffentlichkeit vermehrt wahrgenommen wird, zog der Europarat 2001 erstmals konkret in Erwägung, in diesem Bereich ein juristisch zwingendes Instrument zu schaffen. Dieses sollte auf den Schutz der Opfer und den Respekt der Menschenrechte ausgerichtet sein und gleichzeitig die Bedürfnisse des Opferschutzes mit denjenigen der Strafverfolgung in Einklang bringen. Die Konvention sollte die bestehenden Instrumente nicht konkurrenzieren, sondern die vorhandenen Normen weiterentwickeln. Die parlamentarische Versammlung des Europarates unterstützte dieses Vorhaben ausdrücklich 15 .

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2003 setzte das Ministerkomitee des Europarates das Ad-hoc-Komitee über die Bekämpfung des Menschenhandels (Comité ad hoc sur la lutte contre la traite des êtres humains, CAHTEH) ein und beauftragte es mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Vertragstextes. Zwischen September 2003 und Februar 2005 fanden acht ordentliche Sitzungen des CAHTEH in Strassburg statt. Die ausgearbeitete Konvention wurde am 3. Mai 2005 vom Ministerkomitee genehmigt und am 16. Mai 2005 in Warschau zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten des Europarats, die Nichtmitgliedstaaten, die an seiner Ausarbeitung mitgewirkt haben, und die Europäische Gemeinschaft aufgelegt. Das Übereinkommen ist am 1. Februar 2008 in Kraft getreten. Bis Ende November 2010 haben 43 Staaten die Konvention unterzeichnet, darunter die meisten EU-Staaten. 30 Staaten haben sie bis zu diesem Zeitpunkt bereits ratifiziert, darunter die Nachbarstaaten Österreich und Frankreich.

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Namentlich im Rahmen folgender Resolutionen: Empfehlung 1545 (2002) zu einer Kampagne gegen den Frauenhandel; Empfehlung 1610 (2003) zur Frage der Migration in Verbindung mit Frauenhandel und Prostitution; Empfehlung 1611 (2003) zum Organhandel in Europa; Empfehlung 1663 (2004) zu häuslicher Sklaverei: Leibeigenschaft, Au-Pairs und Katalogbräute.

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1.4

Die schweizerische Position

Die durch das Übereinkommen verfolgten Ziele decken sich mit den Interessen und der deklarierten Haltung der Schweiz. Die Schweiz unterstützte deshalb das Vorhaben des Europarates und beteiligte sich durch Vertreter des Bundesamtes für Justiz aktiv an der Ausarbeitung des Konventionstextes. Mehrere Amtsstellen legten die Verhandlungsposition der schweizerischen Delegation fest. Die Schweiz begrüsste die Tatsache, dass die Europaratskonvention durch verbindlichere Bestimmungen namentlich im Bereich des Opferschutzes, der Prävention und bei der Überwachung der Umsetzung durch die Signatarstaaten einen Mehrwert gegenüber den bestehenden internationalen vertraglichen Instrumenten schafft. In diesem Sinn wurde am 17. Dezember 2008 eine von Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer eingereichte Motion überwiesen, welche die Unterzeichnung und die umgehende Einleitung der Ratifizierung und der nötigen Umsetzungsmassnahmen forderte (08.3401, Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels. Unterzeichnung und Ratifikation). Zudem wurde am 13. Februar 2009 zwei Standesinitiativen Folge gegeben, welche die Unterzeichnung und Ratifizierung der Konvention forderten 16 .

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Auch wurde vom Verein «Kampagne Euro 08 gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution» am 11. September 2008 mit 71 980 Unterschriften eine Petition «Mehr Schutz für die Opfer von Frauenhandel» eingereicht, in welcher unter anderem die Ratifizierung der Konvention gefordert wird.

1.5

Art der völkerrechtlichen Bestimmungen

Die Wirkungen der Ratifikation völkerrechtlicher Konventionen sind je nach monistischem oder dualistischem System des jeweiligen Staates unterschiedlich. Die Schweiz gehört zu den Staaten mit einer monistischen Tradition. Daher wird die Konvention wie alle anderen völkerrechtlichen Verträge mit ihrem Inkrafttreten automatisch Bestandteil der schweizerischen Rechtsordnung. Welche Wirkung die Bestimmungen im innerstaatlichen Verhältnis im Einzelnen entfalten, hängt jedoch vom Grade ihrer Bestimmtheit ab. Eine Bestimmung kann vor den Behörden direkt vorgebracht werden und von diesen unmittelbar angewandt werden, wenn sie inhaltlich hinreichend klar und bestimmt ist, um im Einzelfall Grundlage für einen Entscheid bilden zu können (Self-executing-Charakter)17 . Eine derartige Norm muss zudem dem Einzelnen Rechte und Pflichten einräumen. Hingegen ist eine völkerrechtliche Bestimmung nicht direkt anwendbar und damit nicht justiziabel, wenn sie bloss ein Programm umschreibt, Richtlinien für die Gesetzgebung der Vertragsstaaten aufstellt oder sich ausschliesslich an die politischen Behörden wendet (Non-selfexecuting-Charakter). Es ist Sache der rechtsanwendenden und rechtsprechenden Behörden, im konkreten Fall über die Justiziabilität der Bestimmungen zu entscheiden .

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Standesinitiativen des Kantons Bern vom 11.09.2006 (07.300) und des Kantons BaselStadt vom 15.11.2006 (07.3010). Der Kanton Basel-Landschaft verzichtete auf Grund der fortgeschrittenen Arbeiten zur Ratifikation auf die Einreichung einer Standesinitiative.

Den Standesinitiativen von Bern und Basel- Stadt wurde am 13. Februar 2009 Folge gegeben.

Vgl. dazu Pra 62 (1973) Nr. 88, S. 286 ff.

Mit Blick auf das vorliegende Übereinkommen kann gesagt werden, dass der Wortlaut von zahlreichen Bestimmungen der Konvention zu wenig bestimmt ist, um direkt anwendbar zu sein. Mehrere Bestimmungen wenden sich zudem ausdrücklich an die politischen Behörden, was deren Justiziabilität ebenfalls ausschliesst. Dies gilt beispielsweise für jene Bestimmungen, in welchen explizit eine Umsetzung der Bestimmung durch die Vertragsstaaten gefordert wird («jeder Vertragsstaat stellt sicher») und es den Vertragsstaaten überlassen wird, die Art und Weise dieser Sicherstellung festzulegen. Ob von den übrigen Bestimmungen einzelne für die rechtsanwendenden Behörden direkt als Entscheidgrundlage werden Anwendung finden können, wird im Rahmen der gerichtlichen Prüfung des konkreten Einzelfalles zu beurteilen sein.

1.6

Das Vernehmlassungsverfahren

Die Vernehmlassung zur Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarats gegen Menschenhandel und zum Vorentwurf zu einem Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz wurde vom Bundesrat am 27. November 2009 eröffnet. Die Vernehmlassung dauerte bis 15. März 2010. Das EJPD erhielt in diesem Zeitraum insgesamt 66 Stellungnahmen, welche sich inhaltlich zum Vernehmlassungsgegenstand äusserten.

Die überwiegende Mehrheit der Kantone, Parteien und interessierten Kreise begrüsst ausdrücklich die Absicht des Bundesrates, die Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels zu ratifizieren und den ausserprozessualen Zeugenschutz gesetzlich zu normieren.

Nach Einschätzung verschiedener Vernehmlassungsteilnehmer besteht in der Schweiz, abgesehen von der fehlenden Regelung des ausserprozessualen Zeugenschutzes, noch weiterer Umsetzungsbedarf, insbesondere im Ausländerrecht. Was die Kritikpunkte zum unterbreiteten Vernehmlassungsentwurf des ZeugSG angeht, so wurde vorrangig dessen Anwendungsbereich als zu eng beurteilt. Nach Meinung einer starken Minderheit der Vernehmlassungsteilnehmer sollte der Kreis der Personen, welche in ein Zeugenschutzprogramm aufzunehmen sind, erheblich ausgeweitet werden und nicht auf wichtige Zeugen beschränkt sein. Eine allzu starke Erweiterung würde zu mehr Fällen und somit zu höheren Kosten führen. 13 Kantone haben sich aber bereits mit dem engen Anwendungsbereich des Vernehmlassungsentwurfs mehr oder weniger kritisch zum unterbreiteten Finanzierungsmodell und ihrer finanziellen Beteiligung am Zeugenschutz geäussert. Eine starke, Kosten erhöhende Ausdehnung des gesetzlichen Anwendungsbereichs würde daher zu einer Verstärkung des Widerstandes der Kantone in der Finanzierungsfrage führen. Die Vorlage kann aufgrund dieser diametralen Kritiken als Kompromissvorschlag angesehen werden.

Auf die wesentlichen kritischen Stellungnahmen zur innerstaatlichen Umsetzung der Europaratskonvention und zum vorgeschlagenen ZeugSG wird jeweils bei der Erörterung der betreffenden Bestimmungen eingegangen.

13

2

Die Bestimmungen des Übereinkommens und ihr Verhältnis zum schweizerischen Recht

2.1

Präambel

Die Präambel ist eine rechtlich unverbindliche Einleitung in die nachfolgenden Bestimmungen. Sie betont die menschenrechtlichen und gleichstellungspolitischen Aspekte des Menschenhandels sowie die besondere Berücksichtigung der Rechte des Kindes. Weiter stellt die Präambel die Konvention in den Kontext der bisherigen Initiativen des Europarates in diesem Bereich sowie in das übrige internationale normative Umfeld.

2.2

Art. 1

Kapitel I: Zweck, Geltungsbereich, Nichtdiskriminierung und Begriffsbestimmungen (Art. 1­4) Zweck des Übereinkommens

Das Übereinkommen bezweckt die Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels unter Gewährleistung der Gleichstellung von Mann und Frau. Die Wahrung der Menschenrechte sowie die Schaffung eines umfassenden Rahmens für den Schutz und die Unterstützung der Opfer sowie Zeuginnen und Zeugen werden ausdrücklich hervorgehoben. Weitere Ziele des Übereinkommens sind die Sicherstellung wirksamer Ermittlungen und einer effizienten Strafverfolgung sowie die Förderung der internationalen Zusammenarbeit zur Verwirklichung der erwähnten Ziele. Um die Erfüllung des Übereinkommens durch die Vertragsparteien zu gewährleisten, wird ein Überwachungsmechanismus (vgl. Art. 36­38) eingeführt.

Art. 2

Geltungsbereich

Der Geltungsbereich des Übereinkommens erstreckt sich auf alle Formen des Menschenhandels, sei er innerstaatlich oder zwischenstaatlich und unabhängig davon, ob eine Verbindung zur organisierten Kriminalität besteht oder nicht. Dieser Geltungsbereich geht über die Definition in Artikel 3 des VN-Zusatzprotokolls hinaus.

Die von der Europaratskonvention erfassten Formen des Menschenhandels werden in der Schweiz durch Artikel 182 StGB (Menschenhandel) unter Strafe gestellt. Der Geltungsbereich dieser Gesetzesbestimmung, der keine Unterscheidung macht, ob die Straftat grenzüberschreitenden Charakter hat oder nicht und ob eine Verbindung zur organisierten Kriminalität besteht, stimmt mit jenem von Artikel 2 der Konvention überein. Er verletzt das in der Schweiz geltende Territorialitätsprinzip nicht.

Art. 3

Nichtdiskriminierungsgrundsatz

Der Grundsatz verpflichtet die Vertragsstaaten, bei der Umsetzung der Konvention die Opfer des Menschenhandels ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politische Anschauung, Herkunft etc. gleich zu behandeln. Der Nichtdiskriminierungsgrundsatz wird im schweizerischen Recht angewendet.

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Gemäss Artikel 8 Absatz 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV)18 darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Die Schweiz erfüllt damit die vertragsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 3.

Der Nichtdiskriminierungsgrundsatz findet sich an zahlreichen Orten des internationalen Rechts: namentlich in der EMRK (Art. 14)19, in der UNO-Charta (Art. 1 Abs. 3)20, und in den beiden UNO-Menschenrechtspakten von 1966 (Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 UNO-Pakt I21 und Art. 2 Abs. 1 UNO-Pakt II22), dem Übereinkommen zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung der Frau (CEDAW)23 sodann in weiteren universell gültigen Konventionen, die sich ganz spezifisch bestimmter Diskriminierungsprobleme annehmen. Von besonderer Bedeutung ist hier namentlich das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD)24, dem die Schweiz seit 1994 angehört. Diese Konvention beinhaltet ­ auf internationaler Ebene erstmalig ­ eine umfassende Definition der Rassendiskriminierung.

Seit dem 29. Dezember 2008 ist in der Schweiz das Fakultativprotokoll zum CEDAW (OP-CEDAW)25 in Kraft, welches das Recht auf Individualmitteilung an den CEDAW-Ausschuss begründet. Die Schweiz hat ebenfalls die Zuständigkeit des UNO-Ausschusses gegen Rassendiskriminierung anerkannt (Art. 14 ICERD), Mitteilungen von Einzelpersonen gegen die Schweiz wegen rassistischer oder fremdenfeindlicher Diskriminierung und Intoleranz zu behandeln. Betroffene können demnach auf internationaler Ebene behauptete Diskriminierungen nicht nur beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sondern auch auf universeller Ebene geltend machen.

Art. 4

Begriffsbestimmungen

Die Definition von Menschenhandel der Europaratskonvention stimmt mit jener in Artikel 3 des VN-Zusatzprotokolls überein. Der Begriff des Menschenhandels der Europaratskonvention deckt sich weitgehend mit der Definition von «Verkauf von Kindern» in Artikel 2 des VN-Fakultativprotokolls.

Die Schweiz hat 2006 das VN-Zusatzprotokoll und das VN-Fakultativprotokoll ratifiziert. Im Rahmen der Ratifizierung des VN-Fakultativprotokolls wurde der Tatbestand des Menschenhandels, Artikel 182 StGB, revidiert und an die internatio-

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SR 101 SR 0.101 SR 0.120 SR 0.103.1 SR 0.103.2 SR 0.108 SR 0.104 SR 0.108.1

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nale Definition des Tatbestandes angepasst 26 . Das Schweizerische Recht erfüllt somit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 4 Buchstaben a­d.

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Im Gegensatz zum VN-Zusatzprotokoll und zum VN-Fakultativprotokoll enthält die Europaratskonvention auch eine Definition des Begriffes «Opfer». Gemäss Artikel 4 Buchstabe e ist darunter jede natürliche Person zu verstehen, die dem Menschenhandel nach der Begriffsbestimmung in den Buchstaben a­d ausgesetzt ist. Es muss sich um eine Person handeln, die im Moment der Identifizierung noch von Menschenhandel betroffen ist. Namentlich aus der Formulierung «Person, die dem Menschenhandel ... ausgesetzt ist» (in der Präsens-Form) ergibt sich ein enger zeitlicher und örtlicher Bezug zum Delikt und zum Einflussbereich der Täterschaft.

Das bedeutet, dass die Straftat zumindest teilweise im Vertragsstaat begangen worden und strafrechtlich verfolgbar sein muss. Diese Definition entspricht dem in der Schweiz herrschenden Territorialitätsprinzip.

2.3

Kapitel II: Verhütung, Zusammenarbeit und sonstige Massnahmen (Art. 5­9)

Art. 5

Verhütung des Menschenhandels

Artikel 5 zählt verschiedene präventive Massnahmen auf, welche von den Vertragsstaaten zu treffen oder zu verstärken sind. Dazu zählen mitunter die Verstärkung der innerstaatlichen Koordination zwischen den relevanten Stellen sowie die Ausarbeitung und Durchführung von Kampagnen zur Bewusstseinsschärfung, Bildung, Forschung und Programme speziell für potentielle Opfer.

Die Schweiz ist in verschiedenen der genannten Bereichen bereits aktiv: Im Sinn von Absatz 1 sind alle in der Bekämpfung des Menschenhandels tätigen Stellen in der KSMM vertreten. Sie gewährleistet die Vernetzung aller Akteure und die nationale Koordination aller Massnahmen in den Bereichen Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung. Im Sinn von Absatz 6 sind in der KSMM auch spezialisierte Nichtregierungsorganisationen vertreten. Auf die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft wird grosser Wert gelegt.

Die Bestimmungen in Absatz 2 betreffend die Information und Sensibilisierung von potentiellen Opfern sind vor allem in den Herkunftsländern des Menschenhandels umzusetzen. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) unterstützt im Rahmen der 2003 verabschiedeten «Leitlinien für aussenwirksame Massnahmen zur Prävention des Menschenhandels sowie zum Schutz seiner Opfer» zahlreiche Aufklärungskampagnen in Herkunfts- und Transitländern von Menschenhandel. Zudem unterstützt die Schweiz in diesen Ländern spezifische Massnahmen zum Opferschutz, mitunter im Zusammenhang mit der Rückkehr und sozialen Reintegration von Opfern des Menschenhandels. Die Projekte sind der

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Vgl. Bundesbeschluss vom 24. März 2006 über die Genehmigung und die Umsetzung des Fakultativprotokolls vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie (AS 2006 5437 5440). Es sei auch auf die diesbezügliche Botschaft vom 11. März 2005 verwiesen (BBl 2005 2807).

Förderung der Menschenrechte und der Gleichstellung von Mann und Frau verpflichtet (Abs. 3).

Die Pflicht zur genauen Informationsverbreitung über legale Migrationsmöglichkeiten gemäss Absatz 4 steht im Einklang mit der Praxis des Bundesamtes für Migration (BFM). Die aktuellen Bedingungen für eine legale Einreise und den legalen Aufenthalt werden laufend publiziert und können im Internet konsultiert werden. An besonders gefährdete Personen werden spezielle Informationsbroschüren abgegeben, welche auf die Risiken und Hilfeangebote in Notsituationen hinweisen.

Die Schweiz geht auch im Inland präventiv gegen den Menschenhandel vor.

Namentlich hat der Bund eine Anschubfinanzierung für eine öffentliche Sensibilisierungskampagne gegen Frauenhandel vor und während der Fussball-Europameisterschaft 2008 in der Schweiz gesprochen 27 Auch gewährt der Bund in Anwendung von Artikel 31 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG )28 Finanzhilfen zur Förderung der Fachausbildung des Personals, der Beratungsstellen und der mit der Opferhilfe Betrauten. Der Bund hat zudem die Produktion einer Aufklärungsbroschüre des Europarates, welche an schweizerischen Mittelschulen eingesetzt wird, finanziell unterstützt. Verschiedene andere Projekte werden von der Zivilgesellschaft durchgeführt . Erwähnenswert ist u.a. eine Wanderausstellung der drei Basler Landeskirchen zu Frauenhandel und Zwangsprostitution, welche seit September 2006 in zahlreichen Kantonen gezeigt wird.

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Was die Schaffung eines schützenden Umfeldes für Kinder betrifft (Absatz 5), bilden der Bericht «Kindsmisshandlung in der Schweiz» von 1992 und die dazu gehörige Stellungnahme des Bundesrates von 1995 29 die Grundlagen für die Informations- und Präventionsarbeit der Behörden in der Schweiz. Weiter hat der Bundesrat im August 2008 einen strategischen «Bericht für eine schweizerische Kinderund Jugendpolitik» verabschiedet, welcher verschiedene Beteiligungsmassnahmen in den Bereichen Kindesschutz, Kinderrechte sowie Kinder- und Jugendpolitik vorschlägt. Diese Arbeit erfolgt nicht nur im Hinblick auf die Problematik des Menschenhandels, sondern vielmehr gesamtheitlich zum Thema Kindsmisshandlung und Kinderrechte. Im August 2010 ist ebenfalls eine neue Verordnung über Massnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie Stärkung der Kinderrechte30 in Kraft getreten, welche es erlaubt, die diesbezüglichen Aktivitäten zu regeln und auszubauen. Diese Massnahmen haben dazu beizutragen, die Kinder vor jeder Form von Gewalt, einschliesslich der sexuellen Gewalt, und auch vor den Gefahren, welche mit den modernen Medien zusammenhängen, zu schützen. Die Verordnung regelt ebenfalls die finanzielle Unterstützung von Programmen und Projekten.

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Auf Bundesebene übt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) gewisse koordinierende Funktionen im Bereich des Kinderschutzes und der Kinderrechte aus. Das BSV subventioniert gesamtschweizerisch tätige oder Dachverbände, welche in den Bereichen Kindheit, Jugend oder Familie aktiv sind, und unterstützt 27 T

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Weitere Informationen des Trägervereins zur Kampagne unter http://www.frauenhandeleuro08.ch.

SR 312.5 Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung. Bericht Kindsmisshandlungen in der Schweiz, Bern, Juni 1992 mit Stellungnahme des Bundesrates vom 27. Juni 1995.

SR 311.039.1

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dabei verschiedene Präventionskampagnen zu den Themen Kindsmisshandlung und Kindsmissbrauch, einschliesslich der sexuellen Ausbeutung von Kindern zu kommerziellen Zwecken; dies zumeist in Zusammenarbeit mit den NGO's. Gleichwohl sei daran erinnert, dass die Zuständigkeit für den Kindesschutz vorrangig bei den Kantonen liegt.

Mit diesen auch inskünftig geltenden Massnahmen erfüllt die Schweiz die Bestimmungen von Artikel 5.

Art. 6

Massnahmen um der Nachfrage entgegenzuwirken

Der Artikel sieht vor, dass die Vertragsparteien durch gesetzgeberische, administrative, erzieherische, soziale, kulturelle oder sonstige Massnahmen der Nachfrage nach allen Formen des Menschenhandels entgegenwirken.

Verschiedene Projekte in der Schweiz verfolgen nachfragebezogene Ziele und entsprechen somit dem Grundgedanken von Artikel 6. Namentlich führte die von den Kantonen finanzierte Stiftung «Schweizerische Kriminalprävention» (SKP) von 2005­2008 eine Kampagne gegen Pädokriminalität und Internet-Kinderpornographie durch, welche explizit die Nachfrageseite einbezog. Die AIDS-Hilfe Schweiz unterhält die Website «Don Juan», welche sich an Freier richtet und die Gesundheitsvorsorge sowie die Respektierung der Würde von Prostituierten zum Ziel hat.

Darin wird auch für die Problematik der Zwangsprostitution und des Menschenhandels sensibilisiert. Schliesslich hat sich die bereits in den Erläuterungen zu Artikel 5 erwähnte Kampagne «Euro 08 gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution» gezielt an die Kunden von Prostituierten gerichtet mit dem Ziel, diese hinsichtlich Menschenhandel und Zwangsprostitution zu sensibilisieren und zu verantwortlichem Handeln anzuhalten. Die Bereitschaft des Bundesrates, Öffentlichkeitskampagnen gegen Menschenhandel zu unterstützen ist auch in Zukunft vorhanden. Konkrete Projektvorschläge von privater oder staatlicher Seite, denen eine kriminalpräventive Zielsetzung zu Grunde liegt, können vom Bund im Rahmen von Artikel 386 Absatz 2 StGB finanziell unterstützt werden.

Als Plattform für die Vernetzung und den Austausch von Informationen und bewährten Praktiken auf nationaler und internationaler Ebene dient die KSMM.

Massnahmen der Forschung zu bewährten Praktiken, Methoden und Strategien im Sinne von Buchstabe a können im Rahmen der KSMM initiiert und vom Bund unterstützt werden. So wurde zum Beispiel im 2009 auf Beschluss des KSMMSteuerungs-organs die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit der Forschungs-studie «A Study On The Right To Residence For Trafficked Persons: A Comparative Assessment» beauftragt.

Was die Pflicht zu vorbeugenden Massnahmen im Sinn von Buchstabe d betrifft, so sind die kantonalen Lehrprogramme an den öffentlichen Schulen im Allgemeinen darauf ausgerichtet, die Achtung der Menschenrechte, die Nichtdiskriminierung aufgrund des
Geschlechts und die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu vermitteln. Zur Rolle der Berichterstattung durch die Medien (Bst. b) ist anzumerken, dass hier der staatliche Einfluss gering ist. In ihrer eigenen Medien- und Öffentlichkeitsarbeit treten die Behörden des Bundes für eine sachliche und die Würde der Opfer berücksichtigende Berichterstattung ein.

Mit diesen Massnahmen erfüllt die Schweiz die Bestimmungen von Artikel 6.

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Art. 7

Massnahmen an den Grenzen

In Anlehnung an Artikel 11 VN-Zusatzprotokoll umfasst Artikel 7 eine Reihe von Präventivmassnahmen in Bezug auf den grenzüberschreitenden Verkehr. Dabei gelten verstärkte Kontrollmassnahmen nach wie vor als wirksames Mittel zur Verhütung und Aufdeckung des Menschenhandels. Absatz 1 verpflichtet die Vertragsparteien, ihre Grenzkontrollen so weit als möglich zu verstärken. Diese müssen aber, was den Binnenverkehr betrifft, mit dem Freizügigkeitsrecht der Europäischen Gemeinschaft im Einklang stehen. Nach Absatz 2 haben die Vertragsparteien gesetzgeberische und andere Massnahmen zu treffen, um den Missbrauch der Transportmittel von gewerblichen Beförderungsunternehmern für den Menschenhandel zu unterbinden. Vorgesehen ist insbesondere die Verpflichtung der Transportunternehmen, sich zu vergewissern, dass alle beförderten Personen die für die Einreise in den Aufnahmestaat erforderlichen Reisedokumente besitzen. Völkerrechtliche Übereinkommen bleiben ausdrücklich vorbehalten. Absatz 4 verpflichtet die Vertragsparteien zur Verabschiedung von Massnahmen, damit die Zuwiderhandlungen gegen die in Absatz 3 vorgesehenen Bestimmungen durch straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen geahndet werden können. Personen, die an der Begehung einer nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftat beteiligt sind, muss die Einreise verweigert oder ein allenfalls bereits ausgestelltes Visum annulliert werden (Abs. 5). Schliesslich sind die Vertragsparteien nach Absatz 6 aufgefordert, die Zusammenarbeit zwischen ihren Grenzkontrollbehörden, insbesondere durch die Einrichtung direkter Nachrichtenverbindungen, zu verstärken.

Artikel 7 legt nur den minimalen Aktionsrahmen fest und lässt den Vertragsparteien einen relativ grossen Gestaltungsspielraum. In Bezug auf die erforderlichen gesetzgeberischen und anderen Massnahmen kann auf die Botschaft des Bundesrats vom 26. Oktober 200531 über die Genehmigung des VN-Zusatzprotokolls gegen Menschenhandel verwiesen werden. Die Pflichten und Sanktionen betreffend die Beförderungsunternehmen werden in den Artikeln 92­95 AuG geregelt. Das BFM wird mit weiteren Luftverkehrsunternehmen Vereinbarungen über die Zusammenarbeit bei der Dokumentenkontrolle abschliessen . Im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen der Internationalen Zivilluftfahrtsorganisation (ICAO) 32 umfasst diese Kontrolle auch die Prüfung der Gültigkeit und Echtheit der erforderlichen Reisedokumente.

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Im Rahmen der Weiterentwicklung der Assoziierungsabkommen Schengen/Dublin 33 wurden weitere Gesetzesanpassungen im AuG und im Asylgesetz vom 26. Juni 199834 (AsylG) vorgenommen. Diese betreffen insbesondere die Übernahme des Schengener Grenzkodex 35 sowie die Verpflichtung und Sanktionierung von Personenbeförderungsunternehmen 36 . Darüber hinaus können die Vertragsparteien weiTF

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BBl 2005 6693 (vgl. S. 6757f. Kommentar zu Artikel 11 des Zusatzprotokolls vom 15. November 2000).

Vgl. Annex 9 zum Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt, Twelfth Edition, July 2005, §§ 3.31­3.33.

Vgl. BBl 2004 6458­6471 (Schengen); BBl 2004 6481 (Dublin).

SR 142.31 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex; ABl. L 105 vom 13.4.2006, S. 1).

Umsetzung der Richtlinie 2004/82 (EG) des Rates vom 29. April 2004 über die Verpflichtung von Beförderungsunternehmen, Angaben über die beförderten Personen zu übermitteln (ABl. L 261 vom 6.8.2004, S. 24).

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tergehende grenzüberschreitende Kooperationsformen (einschliesslich grenzüberschreitende Observation und Nacheile) vorsehen.

Das vorliegende Übereinkommen berücksichtigt in diesem Zusammenhang, dass die Europäische Gemeinschaft hinsichtlich der Kontrolle und Überwachung der Aussengrenzen bereits ein umfassendes gemeinschaftliches Massnahmenpaket entwickelt hat. Die Schweiz ist aufgrund ihrer Assoziierung an Schengen und Dublin weitgehend in diese Massnahmen eingebunden.

Um die grenzüberschreitende Kriminalität, den internationalen Terrorismus und die illegale Migration (einschliesslich Menschenhandel und -schmuggel) wirksamer zu bekämpfen, hat die Schweiz schon in den 1990er-Jahren unter anderem mit den Nachbarstaaten Deutschland37, Frankreich38, Italien39, Liechtenstein und Österreich40 entsprechende Abkommen abgeschlossen, welche die direkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit regeln.

Die Einreiseverweigerung und Visumannullierung sind im AuG geregelt. Ausländische Personen, die sich einer kriminellen Handlung im Sinn des vorliegenden Übereinkommens schuldig gemacht haben, werden in der Regel weggewiesen (Art. 64 ff.

AuG) und je nach Schwere des Verschuldens mit einem Einreiseverbot (Art. 67 AuG) belegt.

Die in der Vernehmlassung verschiedentlich angesprochene Notwendigkeit der Sensibilisierung und Weiterbildung der Grenzbehörden im Bereich Menschenhandel wurde von den zuständigen Stellen erkannt: Seit 2010 ist daher das Thema Menschenhandel in die Ausbildung der Grenzwachtbehörden integriert. Auch die seit 2007 stattfindenden Lehrgänge «Bekämpfung des Menschenhandels» des Schweizerischen Polizei-Institutes (SPI) richten sich an Angehörige der Grenzwachtbehörden. Die Ausgestaltung der fremdenpolizeilichen Massnahmen ist demgegenüber ­ entgegen anderslautenden Einschätzungen verschiedener Vernehmlassungsteilnehmer ­ nicht Gegenstand des Artikels 7.

Das Schweizerische Recht erfüllt somit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 7.

Art. 8

Sicherheit und Kontrolle von Dokumenten

Gemäss Artikel 8 ist jede Vertragspartei verpflichtet, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Qualität der von ihr ausgestellten Reiseoder Identitätsdokumente so beschaffen ist, dass sie nicht leicht missbraucht und

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Vertrag vom 27. April 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die grenzüberschreitende polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit (Schweizerisch-deutscher Polizeivertrag; SR 0.360.136.1).

Abkommen vom 11. Mai 1998 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Justiz-, Polizei- und Zollsachen. Dieses wurde inzwischen erneuert durch das Abkommen vom 9. Oktober 2007, welches am 1. Juli 2009 in Kraft getreten ist (SR 0.360.349.1).

Abkommen vom 10. September 1998 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Italienischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden (SR 0.360.454.1).

Vertrag vom 27. April 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Sicherheits- und Zollbehörden (SR 0.360.163.1).

nicht ohne weiteres gefälscht oder auf rechtswidrige Weise verändert, vervielfältigt oder ausgestellt werden können.

Die schweizerischen Reisedokumente weisen eine hohe Qualität auf und erfüllen somit die Anforderungen von Buchstabe a. Durch die auf das Bundesgesetz vom 22. Juni 200141 über die Ausweise für Schweizer Staatsangehörige (AWG) und die Verordnung vom 20. Dezember 200042 über die Einführung des Passes 2003 gestützte Einführung der neuen Ausweise (Schweizerpass, Identitätskarten, Reiseausweise für Flüchtlinge, Pass für ausländische Personen und Identitätsausweise) wurde die Qualität nochmals gesteigert.

In dem Bestreben, die Sicherheitsbestimmungen zu harmonisieren und weiterzuentwickeln, hat die Europäische Union mit der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 des Rates vom 13. Dezember 2004 über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in den von Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten Mindestsicherheitsnormen und einheitliche Sicherheitsstandards für Pässe und Reisedokumente zum Schutz vor Fälschungen festgelegt. Künftig wird in Reisepässen die Speicherung eines Bildes des Passinhabers als primäres biometrisches Merkmal verpflichtend vorgeschrieben. Zusätzlich wurde am 25. Oktober 2004 im Zug des Rates der Justiz- und Innenminister der Europäischen Union beschlossen, dass neben dem Lichtbild der Fingerabdruck des Passinhabers als zweites biometrisches Merkmal vorgesehen werden soll. In Anlehnung an die europäischen Vorgaben wurde auf 1. März 2010 auch in der Schweiz der Pass mit elektronisch gespeicherten Daten eingeführt . Zudem sollen künftig auch die Reiseausweise für anerkannte Flüchtlinge und Staatenlose biometrische Daten enthalten.

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Elektronisch gespeicherte Daten erhöhen die Sicherheit von Reisedokumenten und erschweren deren missbräuchliche Verwendung, weil sie eine verlässliche Verbindung zwischen dem Dokument und dessen rechtmässigem Inhaber bzw. dessen rechtmässiger Inhaberin herstellen. Die Integrität und Sicherheit der Dokumente nach Buchstabe b ist zudem durch einen klar geregelten Ausstellungsprozess mit verschiedenen Kontrollen und der Verpflichtung, persönlich bei der antragstellenden Behörde zu erscheinen, sichergestellt. Dies trifft auch für die schweizerische Visumvignette zu, welche den massgebenden formalen und sicherheitsrelevanten Anforderungen der ICAO entspricht.

Mit diesen Massnahmen hat die Schweiz den Inhalt von Artikel 8 bereits heute umfassend umgesetzt.

Art. 9

Rechtmässigkeit und Gültigkeit von Dokumenten

Der Inhalt von Artikel 9 soll sicherstellen, dass sich Staaten, wie bereits heute zunehmend üblich, bei der Verifikation von Reisedokumenten gegenseitig unterstützen, um so Missbrauch bis hin zur Verwendung im Rahmen von kriminellen Machenschaften vorzubeugen. Die in dieser Bestimmung geforderte Überprüfung auf Rechtmässigkeit und Gültigkeit der Reise- und Identitätsdokumente findet in der Schweiz bereits heute statt. Zu diesem Zweck dient namentlich die umfassend genutzte Interpol-Datenbank über gestohlene oder verloren gegangene Reisedokumente (SLTD), welche eine schnelle Überprüfung ausländischer Reisedokumente 41 42

SR 143.1 SR 143.21

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ermöglicht. Auch im Schengenraum ist eine Überprüfung von Reisedokumenten mittels des Schengen Informationssystems (SIS) möglich und wird weithin genutzt.

2.4

Kapitel III: Massnahmen zum Schutz und zur Förderung der Rechte der Opfer unter Gewährleistung der Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 10­17)

Kapitel III beinhaltet Bestimmungen zur Opferidentifizierung, zum Opferschutz und zur Opferhilfe. Einige dieser Massnahmen finden auf alle Opfer von Menschenhandel Anwendung (Art. 10, 11, 12, 15 und 16). Andere beziehen sich nur auf Opfer, die über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen (Art. 13 und 14). Einzelne Massnahmen sind auf Personen anwendbar, die noch nicht formell als Opfer identifiziert worden sind, bei denen jedoch glaubhafte Anhaltspunkte für ihre Opfereigenschaft bestehen (Art. 10 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 und 2 sowie Art. 13).

Art. 10

Identifizierung der Opfer

Um Opfer des Menschenhandels schützen und unterstützen zu können, ist es von grösster Wichtigkeit, diese korrekt zu identifizieren. Fehler in der Opferidentifikation können unter Umständen bewirken, dass das Opfer in seinen Grundrechten verletzt wird und der Strafverfolgung in der Folge ein notwendiger Zeuge, bzw. eine wichtige Zeugin zur Überführung eines Menschenhändlers, resp. einer Menschenhändlerin fehlt. Um dies zu vermeiden, verpflichtet Artikel 10 Absatz 1 die Vertragsparteien, ihre zuständigen Behörden mit Personen auszustatten, die für die Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels, die Opferidentifizierung und -unterstützung ­ einschliesslich der Kinder ­ geschult und qualifiziert sind. Die Vertragsparteien haben ebenfalls sicherzustellen, dass die beteiligten Behörden (u.a.

Polizei, Zollbehörden, Einwanderungsbehörden, Konsulate und Botschaften) untereinander sowie mit den zuständigen Hilfsorganisationen zusammenarbeiten.

Die Vertragsparteien haben nach Artikel 10 Absatz 2 die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Massnahmen zu treffen, damit Opfer des Menschenhandels als solche identifiziert werden können. Insbesondere haben die Vertragsparteien sicherzustellen, dass eine Person nicht ausgewiesen wird, wenn die Behörden konkrete Anhaltspunkte zur Annahme haben, dass es sich um ein Opfer von Menschenhandel handelt. Während des Identifizierungsprozesses ist sicherzustellen, dass das Opfer Unterstützungsleistungen nach Artikel 12 Absätze 1 und 2 erhält.

Absatz 3 befasst sich mit dem Problemkreis, wenn das Alter eines Opfers unbekannt ist und Anlass zur Annahme besteht, dass es sich um ein Kind handeln könnte.

In diesen Fällen ist das Opfer vermutungsweise wie ein Kind zu behandeln und es sind ihm bis zur Feststellung seines Alters in Übereinstimmung mit der UNOKinderrechtskonvention 43 besondere Schutzmassnahmen zu gewähren.

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Absatz 4 sieht vor, welche Massnahmen zu treffen sind, wenn ein unbegleitetes Kind als Opfer identifiziert worden ist. Unter Berücksichtigung des Kindswohls ist die Vertretung des Kindes durch einen Vormund, eine Organisation oder eine Behörde sicherzustellen (Bst. a). Zudem sind die erforderlichen Massnahmen zu 43 T

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Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107).

ergreifen, um die Identität und Nationalität des Kindes festzustellen (Bst. b). Es sind ausserdem alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Familie des Kindes ausfindig zu machen (Bst. c). Das Ausfindigmachen der Familie des Kindes ist jedoch nur angezeigt, wenn dies dem Wohl des Kindes dient, denn es ist zu bedenken, dass die Familie des Kindes am Menschenhandel beteiligt sein könnte.

Die schweizerische Rechtsordnung und Praxis entspricht den Bestimmungen von Artikel 10. Im Hinblick auf die ausländerrechtlichen Verpflichtungen in Absatz 2 wird auf die Ausführungen zu Art. 12 und 13 betreffend Bestimmungen zu Opfern und Zeuginnen/Zeugen von Menschenhandel verwiesen. Namentlich die Gewährung einer Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen stellt sicher, dass die betreffende Person nicht weg gewiesen wird, wenn begründete Hinweise auf ihre Opfereigenschaft vorliegen. Der Anspruch auf Unterstützungsleistungen im Sinn einer Nothilfe ist während dieser Zeit durch das Schweizerische Recht gewährleistet .

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Im Übrigen gehört die Verbesserung der Opferidentifizierung im Vollzug zu den prioritären Massnahmen im Rahmen der Bekämpfung des Menschenhandels. Sie bildet den zentralen Inhalt des vom Schweizerischen Polizei-Institut (SPI) zusammen mit der KSMM entwickelten und im April 2007 erstmals durchgeführten Lehrgangs «Bekämpfung des Menschenhandels». Der Lehrgang richtet sich auch an Angehörige des Grenzwachtkorps und der kantonalen Migrationsbehörden. In der Vernehmlassung wurde von verschiedener Seite bemängelt, dass diese spezifische Ausbildung noch in den Kinderschuhen stecke. Dank des Lehrgangs verfügen die meisten kantonalen Polizeikorps inzwischen über ausgebildete Spezialisten für die Bearbeitung der Fälle. Trotzdem ist es notwendig, die Schulung von Fachleuten fortzusetzen und den Adressatenkreis sukzessive auszuweiten. Der aktuelle Stand der Schulungsangebote in der Schweiz hindert die Ratifikation jedoch nicht. Die Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und öffentlichen wie privaten Beratungsstellen bei der Opferidentifizierung und -betreuung bildet zudem eines der Hauptthemen an den kantonalen Runden Tischen gegen Menschenhandel. Zur Unterstützung der operationellen Stellen veröffentlichte die KSMM im Rahmen ihres Leitfadens «Kooperationsmechanismen gegen Menschenhandel» eine Checkliste mit Indikatoren zur Identifizierung von Opfern des Menschenhandels . Ende 2009 waren in der Schweiz in insgesamt 13 Kantonen Runde Tische aktiv oder in Vorbereitung. Die KSMM ermuntert und berät die Kantone auch weiterhin bei der Errichtung von Runden Tischen, und ist bemüht, diese Form der Zusammenarbeit vermehrt auch in der Westschweiz zu etablieren.

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Der in der Vernehmlassung geäusserten Kritik, es fehle an verbindlichen Standards für alle Kantone zur Identifikation und den Schutz der Opfer, ist entgegenzuhalten, dass die diesbezüglichen verbindlichen rechtlichen Grundlagen (für die Betreuung, den Aufenthalt und den Schutz der Opfer von Menschenhandel) vorliegen und auch anzuwenden sind: Das OHG und die Vollzugsverordnungen regeln die Betreuung und Unterstützung bundesweit. Weitere Bestimmungen finden sich im AuG, in der VZAE und in den Weisungen des Bundesamtes für Migration. Eine einheitliche Praxis in den Kantonen, in welcher die Situation der Opfer von Menschenhandel angemessen berücksichtigt wird, ist demgegenüber durch Massnahmen auf Vollzugsebene, durch Weisung, Instruktion und Sensibilisierung der Behörden, sicherzustellen. Dazu können namentlich die kantonalen Koordinationsmechanismen (Runde Tische) sowie die Ausbildung und Sensibilisierung der Behörden beitragen. Auch von einer willkürlichen Handhabung des Opferschutzes ­ wie in der Vernehmlassung gerügt ­ kann nicht gesprochen werden, weil sich das Handeln der kantonalen 23

Behörden regelmässig in Form beschwerdefähiger Verfügungen konkretisiert und somit auf seine Rechtskonformität hin überprüfbar ist.

Was die besonderen Bestimmungen zur Identifizierung von minderjährigen Opfern in den Absätzen 3 und 4 betrifft, sei darauf hingewiesen, dass die Schweiz die UNOKinderrechtskonvention , an welche sich die genannten Bestimmungen teilweise anlehnen, ratifiziert hat. Konkret stellt Artikel 368 Absatz 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches44 (ZGB) sicher, dass jede unmündige Person, die sich nicht unter der elterlichen Sorge befindet, unter Vormundschaft gestellt wird. Nach Artikel 368 Absatz 2 ZGB sind Strafverfolgungsbehörden und Verwaltungsbehörden angehalten, entsprechende Fälle umgehend der Vormundschaftsbehörde zu melden. Diese bestimmt einen Vormund oder einen Beistand, der das Kind in rechtlichen Angelegenheiten vertritt und alle weiteren Abklärungen zur Zusammenführung mit der Familie unternimmt oder veranlasst. Das Kindeswohl hat jeweils Vorrang. In gewissen Kantonen bestehen spezialisierte Einrichtungen für die Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen. Bezüglich Artikel 10 Absatz 3 der Konvention gilt in der Schweiz die gängige Praxis, dass bei unbekanntem Alter eines Opfers von Menschenhandel und wenn Anlass besteht, dass es sich dabei um eine minderjährige Person handeln könnte, diese bis auf Weiteres als minderjährig zu betrachten ist .

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Das Schweizerische Recht und die getroffenen Massnahmen im Vollzug erfüllen somit die aus Artikel 10 herrührenden Verpflichtungen.

Art. 11

Schutz des Privatlebens

Absatz 1 verpflichtet die Vertragsparteien, das Privatleben und die Identität der Opfer nach Massgabe des Übereinkommens Nr. 108 des Europarats vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten zu schützen. Die Schweiz geht mit ihrem Bundesgesetz vom 19. Juni 199245 über den Datenschutz (DSG) und ihrer Verordnung vom 14. Juni 199346 zum Bundesgesetz über den Datenschutz (VDSG) in mehrfacher Hinsicht über diese Vorgaben hinaus. Ausserdem ist die Schweiz durch die Schengen-Assoziierungsabkommen an den dort festgelegten ebenso hohen Schutzstandard gebunden. Der in Artikel 11 geforderte Schutz ist im Übrigen ebenfalls gestützt auf die EMRK (u.a.

Art. 8) zu gewährleisten. Im DSG und VDSG sowie in den Schengener Abkommen werden Personendaten von besonders schützenswerten Personendaten unterschieden.

Für die Letzteren ist das Schutzniveau noch deutlich höher. Daten von Person, die diese als Opfer des Menschenhandels ansprechen, fallen unter den Begriff der besonders schützenswerten Personendaten und unterstehen folglich einem besonders hohen Schutzniveau.

Absatz 2 fordert von den Vertragsparteien Massnahmen, um den Identitätsschutz von Kindern, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, sicherzustellen. Artikel 9 DSG hält die Einschränkungen des Auskunftsrechts im Allgemeinen und Artikel 10 DSG diejenigen für Medienschaffende fest. Artikel 19 DSG regelt die Bekanntgabe von Personendaten durch Bundesbehörden sowie die diesbezüglichen Schutzmechanismen. Artikel 20 DSG schliesslich statuiert ein Sperrungsrecht der 44 45 46

24

SR 210 SR 235.1 SR 235.11

Bekanntgabe durch betroffene Personen, die ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft machen.

Aus Absatz 3 fliesst die Pflicht der Vertragsstaaten, Massnahmen zu ergreifen, damit die Medien das Privatleben und die Identität der Opfer schützen. Von staatlicher Seite ist dies durch die erwähnten nationalen Erlasse DSG und VDSG gewährleistet.

Ausserdem verfügt die Schweiz mit dem Presserat über ein weit entwickeltes Selbstregulierungsorgan der Medienschaffenden mit medienethischen Standards, die teilweise sogar über die gesetzliche Regelung hinausgehen.

Die Schweiz erfüllt somit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 11.

Art. 12

Unterstützung der Opfer

Wenn es Opfern von Menschenhandel gelingt, der Kontrolle und der Ausbeutung durch die Täterschaft zu entkommen, befinden sie sich in aller Regel in sehr unsicheren Situationen und sind äusserst verletzlich. Artikel 12 verpflichtet deshalb die Vertragsparteien, Mindestmassnahmen zur Unterstützung der Opfer vorzusehen. Der Artikel unterscheidet zwischen Leistungen im Sinn einer Nothilfe, welche allen Opfern ­ namentlich auch solchen, bei denen der Identifizierungsprozess nach Artikel 10 noch nicht abgeschlossen ist ­ zu gewähren sind (Abs. 1 und 2) und weiter gehenden Unterstützungsmassnahmen, die jenen Opfern vorbehalten sind, die über einen legalen Aufenthaltstitel verfügen (Abs. 3 und 4). In Absatz 5 wird den Vertragsstaaten empfohlen, bei der Unterstützung der Opfer die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen und interessierten Teilen der Zivilgesellschaft zu suchen. Die Unterstützungsleistungen sind zudem auf der Grundlage fundierter Information und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen in einer besonderen Lage sowie der Rechte von Kindern zu erbringen (Abs. 7). Artikel 12 des Übereinkommens konkretisiert somit zumindest teilweise positive Schutzpflichten, welche der EGMR aus den Artikeln 2 und 4 EMRK abgeleitet hat.

Zu der allen Opfern zustehenden Nothilfe im Sinn von Artikel 12 Absatz 1 gehören eine sichere Unterkunft sowie angemessene psychologische und materielle Hilfe, medizinische Notversorgung, Information über die den Opfern zustehenden Rechte und Dienste in einer für die betroffene Person verständlichen Sprache, juristischer Beistand in einem allfälligen Strafverfahren sowie für Minderjährige der Zugang zum Schulwesen. Die Bedürfnisse der Opfer nach Schutz und Sicherheit sind dabei gebührend zu berücksichtigen (Abs. 2). Die den Opfern mit legalem Aufenthaltstatus vorbehaltenen Unterstützungsmassnahmen in Artikel 12 Absätze 3 und 4 umfassen, soweit erforderlich, weitere Unterhaltshilfen und medizinische Versorgung sowie die Regelung des Zuganges zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem. Die erwähnte Hilfe bzw. Unterstützung darf nicht von der Mitwirkung des Opfers im Strafverfahren abhängig gemacht werden (Abs. 6). Die Vertragsstaaten dürfen aber nach Artikel 14 der Konvention die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ­ und damit verbunden die Ansprüche auf weiter gehende Unterstützungsleistungen nach Artikel 12 Absätze 3 und 4 ­ jenen Opfern vorbehalten, die mit den Strafverfolgungsbehörden kooperieren 47 .

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Vgl. dazu den erläuternden Bericht zur Konvention: Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings ­ Explanatory Report, Absatz 169.

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Im schweizerischen Recht werden die meisten der in Artikel 12 verlangten Leistungen bereits durch das OHG geregelt. Mit dieser für die Kantone verbindlichen bundesrechtlichen Grundlage soll gesamtschweizerisch auch die Finanzierung der Opferhilfe sichergestellt werden. So haben die Kantone, um die besonderen Bedürfnisse der Opfer des Menschenhandels berücksichtigen zu können, gemäss Artikel 9 Absatz 1 OHG dafür zu sorgen, dass fachlich selbstständige öffentliche oder private Beratungsstellen zur Verfügung stehen, welche den besonderen Bedürfnissen verschiedener Opferkategorien Rechnung tragen. Der Bundesrat hat in seiner Botschaft vom 9. November 200548 zum OHG darauf hingewiesen, dass insbesondere die Opfer von Menschenhandel eine spezifische Betreuung und Beratung benötigen.

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Für Opfer von Menschenhandel im Sinn des OHG werden damit die Minimalanforderungen von Artikel 12 Absätze 1, 2 und 6 der Europaratskonvention weitgehend erfüllt.

Ein Vorbehalt besteht hinsichtlich Personen, welche Opfer von Menschenhandel im Sinn der Europaratskonvention, jedoch nicht im Sinn des OHG sind. Davon betroffen könnten Personen sein, die dem Menschenhandel ausgesetzt sind, dadurch jedoch nicht oder nur geringfügig direkt in ihrer physischen, psychischen oder sexuellen Integrität beeinträchtigt wurden, sondern z.B. vor allem finanzielle Einbussen erlitten haben. Solche Fälle, welche sich in der Praxis sehr selten ereignen dürften und daher eher theoretischer Natur sind, sind aber unter Artikel 12 BV zu subsumieren. Das Recht auf Nothilfe sichert jeder sich in der Schweiz aufhaltenden Person das für ein menschenwürdiges Dasein erforderliche Minimum zu. Es handelt sich um ein Grundrecht und ist deshalb an keinerlei Bedingungen geknüpft, womit auch hier Artikel 12 Absatz 6 der Europaratskonvention (kein Konnex zur Mitwirkungspflicht am Strafverfahren) erfüllt ist. Die Bestimmung spricht ausdrücklich von einem «Anspruch auf Hilfe und Betreuung» 49 . Das Recht auf minimale fachliche Unterstützung und Information zur Wahrnehmung der Rechte als Opfer ­ in einer der Person verständlichen Sprache ­ gehört zu dem für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichen Minimum und ist damit enthalten 50 . Im Weiteren entspringt ein Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und einen unentgeltlichen Rechtsbeistand auch aus Artikel 29 Absatz 3 BV.

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Eine weitere Diskrepanz bezüglich Abdeckung der Leistungsansprüche gemäss der Europaratskonvention und gemäss OHG besteht bezüglich Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe f (Zugang zum Bildungssystem für minderjährige Opfer von Menschenhandel). Das OHG begründet keinen Anspruch auf Schulbildung. Auch hier greift aber subsidiär die BV. Artikel 19 BV garantiert den Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht als Grundrecht. Dies wird auch durch verschiedene von der Schweiz ratifizierte internationale Abkommen gewährleistet, namentlich durch Artikel 13 Absatz 2, Buchstabe a des UNO-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 51 und durch Artikel 28 der UNO-Kinderrechtskonvention. Nach gängiger Praxis werden Kinder ungeachtet von Nationalität und aufenthaltsrechtlichem Status in der Schweiz eingeschult.

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BBl 2005 7165, 7209 Vgl. dazu: Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997, Bd. I, S. 149 ff.

Vgl. dazu: J.P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 172.

SR 0.103.1

Die Unterstützungsansprüche nach Artikel 12 Absätze 3 und 4 der Europaratskonvention, welche Opfern von Menschenhandel vorbehalten sind, die über einen legalen Aufenthaltsstatus im Vertragsstaat verfügen, werden durch das kantonale Sozialhilferecht sowie durch das Ausländerrecht erfüllt. Sie gelten unabhängig von einer Mitwirkung der betroffenen Person in einem allfälligen Strafverfahren. Bei den Absätzen 2, 5 und 7 handelt es sich um generelle Prinzipien oder um unverbindliche Empfehlungen, mit denen die schweizerische Praxis vereinbar ist.

Die schweizerische Gesetzeslage und Praxis erfüllen damit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 12.

Art. 13

Erholungs- und Bedenkzeit

Das Übereinkommen (Art. 13) bestimmt, dass jede Vertragspartei in ihrem nationalen Recht die Einräumung einer Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen vorsieht. Während dieser Zeit soll das Opfer insbesondere eine Entscheidung darüber treffen, ob es mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten will.

Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe e AuG gibt dem Bundesrat die Kompetenz, von den allgemeinen Zulassungsvoraussetzungen abzuweichen, um den Aufenthalt von Opfern und Zeuginnen und Zeugen zu regeln. Die VZAE sieht in Artikel 35 folgende Regelungen zur Erholungs- und Bedenkzeit vor: Bestehen begründete Hinweise, dass es sich bei einer Ausländerin oder bei einem Ausländer ohne geregelten Aufenthalt um ein Opfer, eine Zeugin oder einen Zeugen von Menschenhandel handelt, so gewährt die kantonale Ausländerbehörde eine Bedenkzeit, während der sich die betroffene Person erholen kann und einen Entscheid über die weitere Zusammenarbeit mit den Behörden treffen muss. Während der Bedenkzeit wird von ausländerrechtlichen Vollzugshandlungen abgesehen. Die Dauer der von der kantonalen Behörde angesetzten Bedenkzeit richtet sich nach den Bedürfnissen im Einzelfall; sie beträgt mindestens 30 Tage (Art. 35 Abs. 1 VZAE).

Die Bedenkzeit endet bereits vor Ablauf der angesetzten Frist, wenn die betroffene Person ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Behörden bekundet und bestätigt, alle Verbindungen zu den verdächtigten Tätern abgebrochen zu haben (Art. 35 Abs. 2 VZAE).

Die Bedenkzeit endet zudem (Art. 35 Abs. 3 VZAE), wenn die betroffene Person: a.

erklärt, dass sie zu einer Zusammenarbeit mit den Behörden nicht bereit ist;

b.

den Kontakt mit den verdächtigten Tätern freiwillig wieder aufgenommen hat;

c.

gemäss neuen Erkenntnissen kein Opfer oder keine Zeugin oder kein Zeuge von Menschenhandel ist; oder

d.

in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstösst.

Mit dieser Regelung werden die Vorgaben des Übereinkommens eingehalten.

27

Art. 14

Aufenthaltsbewilligung

Artikel 14 des Übereinkommens betrifft die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen an die Opfer von Menschenhandel. Bewilligungen sollen erteilt werden, wenn die zuständige Behörde der Auffassung ist, dass der Aufenthalt des Opfers aufgrund seiner persönlichen Situation oder für eine Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bei den Ermittlungen oder Strafverfahren erforderlich ist.

Die für die polizeilichen Ermittlungen oder ein Gerichtsverfahren zuständigen Behörden teilen der kantonalen Ausländerbehörde vor Ablauf der Bedenkzeit mit, ob und wie lange eine weitere Anwesenheit erforderlich ist (Art. 36 Abs. 1 VZAE).

Die kantonale Ausländerbehörde erteilt für die voraussichtliche Dauer der polizeilichen Ermittlung oder des Gerichtsverfahrens eine Kurzaufenthaltsbewilligung (Art. 36 Abs. 2 VZAE). Die Bewilligung kann aus den in Artikel 35 Absatz 3 VZAE genannten Gründen widerrufen oder nicht verlängert werden (Art. 36 Abs. 3 VZAE).

Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit (Art. 36 Abs. 4 VZAE) kann bewilligt werden, wenn: a.

das Gesuch eines Arbeitgebers nach Artikel 18 Buchstabe b AuG vorliegt;

b.

die Lohn- und Arbeitsbedingungen nach Artikel 22 AuG eingehalten werden;

c.

die Gesuchstellerin oder der Gesuchsteller über eine bedarfsgerechte Wohnung nach Artikel 24 AuG verfügt.

Läuft die Bedenkzeit ab oder besteht keine Notwendigkeit mehr für einen weiteren Aufenthalt im Rahmen des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens, muss die betroffene Person die Schweiz verlassen (Art. 36 Abs. 5 VZAE).

Ein weiterer Aufenthalt (Art. 36 Abs. 6 schwerwiegender persönlicher Härtefall Situation von Opfern sowie Zeuginnen berücksichtigen. Vorbehalten bleibt die (Art. 83 AuG).

VZAE) kann bewilligt werden, wenn ein vorliegt (Art. 31 VZAE). Die besondere und Zeugen von Menschenhandel ist zu Anordnung einer vorläufigen Aufnahme

Entgegen der anderslautenden Kritik im Rahmen der Vernehmlassung besteht somit mit den geltenden Regelungen des Ausländerrechts die Möglichkeit, einem Opfer von Menschenhandel unabhängig von der Aussagebereitschaft den Aufenthalt in der Schweiz zu bewilligen. Liegt ein schwerwiegender persönlicher Härtefall vor, besteht gemäss Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AuG i.V.m. Artikel 31 VZAE die Möglichkeit, eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Die Erläuterung dieser Möglichkeit ist zu finden unter Ziffer 5.6.2.2.5.4 der Weisung des Bundesamtes für Migration zum Ausländergesetz mit dem Titel «Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit, aus wichtigen öffentlichen Interessen und als schwerwiegender persönlicher Härtefall».

Die rechtlichen Grundlagen, um die Situation der Opfer von Menschenhandel angemessen zu berücksichtigen und den Aufenthalt unabhängig von der Aussagebereitschaft zu gewähren, genügen und entsprechen dem Standard, der durch die Europaratskonvention gesetzt wird. In seiner Stellungnahme vom 29. Mai 2002 zum Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe «Menschenhandel» vom September

28

200152 hält der Bundesrat denn auch fest, dass von einer abgestuften Aufenthaltsregelung, die den Opfern unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt garantiert, abgesehen werde. Vielmehr sollen durch Entscheide im Einzelfall angemessene Lösungen gefunden werden, dies insbesondere auch in Anbetracht der Möglichkeit einer Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfe für Opfer von Menschenhandel. Die Migrationsbehörden sollen und müssen dem Einzelfall angemessene Entscheide treffen können, weshalb ausländerrechtliche Bewilligungen regelmässig in deren Ermessen gestellt werden. In diesem Sinn wurde auch am 28. Mai 2009 vom erstbehandelnden Nationalrat eine von der Kommission für Rechtsfragen eingereichte Motion abgelehnt, welche unter anderem einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung für Opfer von Frauenhandel geforderte hatte (09.3011, Verstärkter Schutz für die Opfer von Frauenhandel). Ein solcher Anspruch wird im Übrigen auch von der Konvention nicht gefordert.

Was die in der Vernehmlassung zum Teil als willkürlich gerügte Vollzugspraxis der Kantone betrifft, so kann darauf verwiesen werden, dass die Entscheide der kantonalen Behörden regelmässig in Form von beschwerdefähigen Verfügungen ergehen und somit auf allfällige Rechtsfehler der Ermessensausübung hin überprüfbar sind.

Mit dieser Regelung werden die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 14 erfüllt. Zusätzlich wird, dem Sinn der Menschenhandelskonvention entsprechend, im Rahmen der Erarbeitung des Ausführungsrechts zum unterbreiteten ZeugSG auch eine allfällige formelle (z.B. terminologische) Anpassung der nationalen Regelungen überprüft, welche deren Anwendung erleichtern soll.

Art. 15

Entschädigung und Rechtsschutz

Nach Absatz 1 besteht gegenüber dem Opfer ab dem ersten Kontakt mit den Behörden eine Informationspflicht über die in Betracht kommenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Wie bereits in Artikel 12 Buchstaben c und d erwähnt, erstreckt sich die Pflicht nötigenfalls auch auf die notwendigen Übersetzungs- und Dolmetscherdienste. Eine allgemeine Informationspflicht (Abs. 1) ist, was das Strafverfahren angeht, in der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 200753 (StPO) , welche auf 1. Januar 2011 in Kraft treten wird, enthalten Gemäss ständiger Lehre und Praxis sind zudem alle im Strafverfahren tätigen Behörden (Gerichte, Staatsanwaltschaft, Polizei) verpflichtet, die Verletzten über ihre Rechte im Strafverfahren zu belehren, soweit dies nach den Umständen erforderlich erscheint. Auch für den Anwendungsbereich des OHG ist in Artikel 8 eine allgemeine Informationspflicht vorgesehen. Diese legt fest, dass die Polizei das Opfer bei der ersten Einvernahme über die Beratungsstellen informiert und mit dem Einverständnis des Opfers der Beratungsstelle Name und Adresse des Opfers übermittelt. Voraussetzung für die Wahrnehmung der Verfahrensrechte ist weiter, dass die Opfer Beratung und Information in einer für sie verständlichen Sprache erhalten. Insbesondere sind sie über ihre Rechte im Strafverfahren sowie über die Möglichkeit, Entschädigungen oder Hilfeleistungen zu erlangen, aufzuklären.

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In Erfüllung der in ein Postulat umgewandelten, von Nationalrätin Ruth-Gaby VermotMangold am 15. März 2000 eingereichten Motion 00.3055 ­ Frauenhandel. Schutzprogramm für Betroffene SR 312.0

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Gemäss Absatz 2 legt jede Vertragspartei in ihrem nationalen Recht den Anspruch auf Rechtshilfe und unentgeltliche Prozesskostenhilfe für die Opfer basierend auf den nationalen Rechtsvorschriften fest. Mit den Bestimmungen des OHG und den in den Prozessordnungen vorgesehenen Vorschriften über die unentgeltliche Rechtspflege sind diese Anforderungen erfüllt. Zu erwähnen ist, dass die Bestimmungen des OHG betreffend den Schutz und die besonderen Rechte im Strafverfahren (Art. 34­44) in die StPO überführt werden.

Das Übereinkommen sieht in Absatz 3 das Recht der Opfer auf Entschädigung durch die Täterschaft vor. Diese Bestimmung ist in der Schweiz ­ abgesehen von den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen für das Strafverfahren ­ insofern umgesetzt, als sich Menschenhandelsopfer gemäss Artikel 38 OHG mit ihren privatrechtlichen Ansprüchen dem Strafverfahren anschliessen können und dadurch Privatkläger werden. Im Fall einer Verurteilung hat das Strafgericht zugleich über die privatrechtlichen Ansprüche zu entscheiden. Einzig wenn die vollständige Beurteilung der Zivilansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern würde, kann es die Ansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im Übrigen an das Zivilgericht verweisen. Erfahrungsgemäss lässt sich eine volle Entschädigung der Opfer von Menschenhandel durch die Täterschaft selten erwirken. Nach Absatz 4 haben die Vertragsparteien deshalb gesetzgeberische oder andere Massnahmen zu treffen, um nach Massgabe des nationalen Rechts eine staatliche Entschädigung der Opfer zu gewährleisten. Durch die Regelung der entschädigungsberechtigten Personen und der örtlichen Anknüpfung in Artikel 3 OHG entspricht die Schweiz auch in diesem Punkt den Anforderungen der Konvention.

Art. 16

Repatriierung und Rückführung der Opfer

Artikel 16 enthält Bestimmungen sowohl zur freiwilligen wie zur unfreiwilligen Repatriierung von Opfern des Menschenhandels, wobei sich die Absätze 1­4 an die Bestimmungen von Artikel 8 des VN-Zusatzprotokolls anlehnen. Absatz 1 nimmt das international anerkannte Prinzip der Verpflichtung der Staaten auf, ihre eigenen Staatsangehörigen sowie Personen, die zum Zeitpunkt der Einreise ein Recht auf ständigen Wohnsitz auf ihrem Territorium besitzen, wieder im Land aufzunehmen.

Absatz 2 bestimmt, dass im Fall der Rückführung die Sicherheit der betreffenden Person, ihre Würde und ihre Rechte sowie der Stand des Gerichtsverfahrens gebührend berücksichtigt werden müssen. Vorzugsweise erfolgt die Rückführung freiwillig. Die Absätze 3 und 4 regeln praktische Fragen dazu.

Die Absätze 5­7 enthalten Bestimmungen, die über jene des VN-Zusatzprotokolls hinausgehen. Absatz 5 verpflichtet die Vertragsstaaten, Repatriierungsprogramme einzurichten mit dem Ziel zu verhindern, dass repatriierte Opfer im Heimatland erneut Opfer von Menschenhandel werden. Dazu gehört unter anderem die Pflicht, den Opfern Kontaktinformationen über Anlaufstellen für rechtliche und soziale Beratung und Unterstützung im Heimatland zur Verfügung zu stellen (Abs. 6).

Absatz 7 folgt dem in Artikel 3 der UNO-Kinderrechtskonvention verankerten Prinzip, dass beim Entscheid über die Rückführung von Kindern deren Wohl vorrangig berücksichtigt werden muss. Die Vertragsparteien müssen eine Risiko- und Sicherheitsbeurteilung durchführen, bevor Rückführungsmassnahmen gesetzt werden.

Zu den Absätzen 1 bis 4 ist anzumerken, dass bei Wegweisungen, die nicht möglich, nicht zulässig oder nicht zumutbar sind, das BFM als Ersatzmassnahme eine vorläu30

fige Aufnahme verfügt (Art. 83 AuG). Die Zuständigkeit für die Rückführung von Opfern des Menschenhandels liegt bei den Kantonen. Im Asyl- und Ausländerbereich unterstützt der Bund die Kantone im Rahmen der Papierbeschaffung und organisiert die Ausreisen auf dem Luftweg im Auftrag der Kantone. Unter der Voraussetzung, dass die für die Ausreiseorganisation zuständige Stelle über die entsprechenden Informationen verfügt, werden in Zusammenarbeit mit der IOM die notwendigen Vorkehrungen im Hinblick auf die Rückkehr getroffen (Begleitung während und nach dem Flug, medizinische Betreuung usw.).

Die Absätze 5 und 6 werden durch das AuG erfüllt. Basierend auf Artikel 60 AuG können Leistungen der Rückkehr- und Wiedereingliederungshilfe an bestimmte Personenkategorien im Ausländerbereich, namentlich auch Opfer von Menschenhandel, ausgerichtet werden. Die begünstigten Personengruppen erhalten Zugang zum Rückkehrhilfeangebot für Personen im Asylbereich. Das Angebot umfasst eine individuelle Rückkehrhilfe (finanzielle und materielle Hilfe) oder die Teilnahme an einem länderspezifischen Rückkehrhilfeprogramm sowie medizinische Rückkehrhilfe.

Gestützt auf die neuen gesetzlichen Grundlagen hat das BFM in Zusammenarbeit mit der IOM und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) ein Pilotprojekt durchgeführt. Das Projekt richtete sich an Opfer und Zeuginnen und Zeugen von Menschenhandel sowie an Cabaret-Tänzerinnen und -Tänzer, die in der Schweiz ausgebeutet wurden. Ziel war es, anspruchsberechtigte Personen bei der freiwilligen Rückkehr und bei der Reintegration in ihrem Herkunftsstaat zu unterstützen um auch einem erneuten Menschenhandel (Re-Trafficking) entgegen zu wirken. Die Pilotphase dauerte vom 1. April 2008 bis 31. März 2010. Aufgrund der Ergebnisse hat das BFM entschieden, das Pilotprojekt per 1. April 2010 in ein unbefristetes Rückkehrhilfeangebot zu überführen.

Was das in Absatz 7 vorgesehene Absehen von der Rückführung von Minderjährigen anbetrifft, deren Kindeswohl im Heimatland gefährdet ist, wird darauf hingewiesen, dass die Schweiz die EMRK, auf deren Artikel 3 die Bestimmung basiert, ratifiziert hat. Das Durchführen einer Risiko- und Sicherheitsbeurteilung entspricht der gängigen Praxis in der Schweiz.

Die schweizerische Regelung erfüllt damit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 16.

Art. 17

Gleichstellung von Mann und Frau

Dieser Artikel sieht vor, dass bei jeder Massnahme gemäss Kapitel III die Gleichstellung von Mann und Frau gefördert und das Konzept des Gender Mainstreaming bei der Ausarbeitung, Umsetzung und Bewertung dieser Massnahmen angewendet werden soll.

Die Schweiz hat sich politisch und rechtlich verpflichtet, die Strategie des Gender Mainstreaming umzusetzen . Als internationale Rechtsgrundlage dafür gilt u.a. das CEDAW. Nationale Grundlage ist Artikel 8 BV, insbesondere Absatz 3, wonach Mann und Frau gleichberechtigt sind. In Ausführung und Konkretisierung dieser Verfassungsmaxime sorgt das Bundesgesetz vom 24. März 199554 über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz, GlG) für die rechtliche und TF

54

SR 151.1

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tatsächliche Gleichstellung, vor allem in der Familie, Ausbildung und Arbeit. Zudem setzt sich das Eidgenössische Büro für Gleichstellung von Frau und Mann in Anwendung von Artikel 16 GlG für die Beseitigung jeglicher Form von direkter oder indirekter Diskriminierung ein.

2.5 Art. 18

Kapitel IV: Materielles Strafrecht (Art. 18­26) Kriminalisierung des Menschenhandels

Artikel 18 verpflichtet die Vertragsstaaten, die nach Artikel 4 vorsätzlich begangenen Tathandlungen als Straftaten zu umschreiben. Die Definition des Tatbestandes des Menschenhandels entspricht dabei jener des VN-Zusatzprotokolls. Die Anforderung von Artikel 4 werden von der Schweiz mit dem revidierten Straftatbestand des Menschenhandels (Art. 182 StGB) erfüllt.

Das schweizerische Strafrecht erfüllt damit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 18.

Art. 19

Kriminalisierung der Nutzung der Dienste des Opfers

Gemäss Artikel 19 erwägen die Vertragsstaaten, im Einklang mit dem nationalen Recht die wissentliche Nutzung der Dienste von Opfern des Menschenhandels als Straftat zu umschreiben. Mit einem solchen Tatbestand würden etwa Freier kriminalisiert, die im Wissen, dass es sich bei einer Prostituierten um ein Opfer des Menschenhandels handelt, die Dienste derselben in Anspruch nehmen. Der Hauptgrund für die Aufnahme dieser Bestimmung in die Konvention war der Wunsch, eine der Antriebskräfte des Menschenhandels, nämlich die Nachfrage nach leicht ausbeutbaren Menschen, zu mindern und potentielle Täter entsprechend abzuschrecken.

Artikel 19 stellt keine für die Vertragsstaaten verpflichtende Norm dar, sondern hat empfehlenden Charakter. Das schweizerische Strafrecht kennt keine spezielle Kriminalisierung der wissentlichen Nutzung von Diensten von Opfern des Menschenhandels. Der Nachweis seitens der Strafverfolgung, dass der betreffende Nutzniesser wusste, dass es sich bei der diensterbringenden Person um ein Opfer des Menschenhandels handelt (Vorsatz), ist schwierig zu erbringen, weshalb eine solche Strafbestimmung kaum praktikabel wäre. Unter gewissen Umständen sind jedoch Nutzniesser des Menschenhandels auf der Nachfrageseite in der Schweiz bereits nach bestehenden Strafbestimmungen strafbar. So präzisiert der revidierte Gesetzestext von Artikel 182 StGB, dass sowohl Anbieter, Vermittler wie auch Abnehmer als Menschenhändler erfasst werden können. Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist, dass die betreffende Person eine tragende Rolle bei der Abwicklung des Geschäfts gespielt hat, d.h. ein gewisses Mass an Tatherrschaft hatte. Untergeordnete Tatbeiträge sind nach den allgemeinen strafrechtlichen Regeln als Gehilfenschaft strafbar.

Eine Tatbeteiligung am Handeltreiben wäre z.B. gegeben, wenn ein Arbeitgeber einem Anbieter bzw. Vermittler einen Geldbetrag auszahlt oder in Aussicht stellt, um sich ausländische Arbeitskräfte zum Zweck der Ausbeutung zu beschaffen. Die blosse Vermutung oder das Wissen um die Migrationsumstände eines Opfers von Menschenhandel reichen hingegen nicht aus, um einen Nutzniesser von dessen

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Diensten nach Artikel 182 StGB zu bestrafen 55. Arbeitgeber, die vorsätzlich ausländische Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerinnen illegal beschäftigen und ausbeuten, sind aber unabhängig von einem allfälligen Tatbeitrag zum Menschenhandel nach dem Ausländerrecht 56 und unter Umständen nach anderen Strafbestimmungen des StGB (Nötigung, Freiheitsberaubung, Ausnützung einer Notlage, Förderung der Prostitution) strafbar. Freier, welche die Dienste von gehandelten Prostituierten in Anspruch nehmen, gehen hingegen nach jetziger Rechtslage straffrei aus, soweit sie keinen kausalen Tatbeitrag zum Menschenhandel leisten oder gegenüber der sich prostituierenden Person andere Straftaten begehen.

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Das schweizerische Recht erfüllt somit die Empfehlungen in Artikel 19 teilweise.

Aufgrund seines fakultativen Charakters erwachsen aus Artikel 19 jedoch keine vertragsrechtlichen Verpflichtungen, die einer Ratifizierung entgegenstehen würden.

Art. 20

Kriminalisierung von Handlungen im Zusammenhang mit Reise- oder Identitätsdokumenten

Nach Artikel 20 sind Massnahmen zur Kriminalisierung von Handlungen im Zusammenhang mit Reise- oder Identitätsdokumenten zu treffen, wenn diese Handlungen vorsätzlich und zum Zweck der Ermöglichung von Menschenhandel begangen werden. Die Bestimmungen der Buchstaben a, b und c sind in der Schweiz durch die Artikel 251­255 StGB abgedeckt.

Art. 21

Versuch und Beihilfe oder Anstiftung

Der Verpflichtung in Absatz 2, den Versuch einer Straftat nach den Artikeln 18 und 20 Buchstabe a zu kriminalisieren, wird mit Artikel 22 StGB entsprochen. Anstiftung und Gehilfenschaft gemäss Absatz 1 sind gestützt auf Artikel 24 und 25 StGB strafbar. Die Schweiz erfüllt damit die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 21.

Art. 22

Verantwortlichkeit juristischer Personen

Gemäss Artikel 22 der Konvention sollen juristische Personen für strafbare Handlungen im Sinne der Konvention haftbar gemacht werden können, die zu ihren Gunsten von einer natürlichen, eine leitende Position im Unternehmen innehabenden Person begangen werden (Abs. 1). Die Unternehmung soll ebenso haften für die Begehung einer Straftat im Sinne der Konvention, ausgeführt zu ihren Gunsten durch eine Person unter ihrer Führung, wenn eine mangelhafte Kontrolle von Seiten einer leitenden Person nachgewiesen wird (Abs. 2).

Die Haftung kann zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Natur sein (Abs. 3) und soll der allfälligen Strafbarkeit einer natürlichen Person, welche die Straftat begangen hat, nicht entgegen stehen (Abs. 4).

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Vgl. Botschaft über die Genehmigung des UNO-Übereinkommens gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, des Zusatzprotokolls zur Verhinderung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, und des Zusatzprotokolls gegen die Schlepperei auf dem Land-, See- und Luftweg vom 26. Oktober 2005, BBl 2005 6693, S. 6750.

Artikel 117 AuG H

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33

Zahlreiche internationale Strafrechtsübereinkommen der letzten Jahre kennen ähnliche, zum Teil identische Regelungen der Verantwortlichkeit von Unternehmen. So sieht etwa die Strafrechtskonvention des Europarates vom 27. Januar 199957 über die Korruption ebenfalls die Verantwortlichkeit für Unternehmen vor, ohne jedoch ausdrücklich auf den zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlichen Aspekt einzugehen Der ­ trotz einer gegenläufigen internationalen Tendenz ­ nach wie vor verbreitete Grundsatz, wonach sich Unternehmen nicht strafbar machen können, wird durch die Übereinkommen geschützt. Jedoch müssen die Staaten sicherstellen, dass auch juristische Personen angemessenen Sanktionen oder Massnahmen, darunter Geldsanktionen, unterliegen.

Die strafrechtliche Unternehmungshaftung wurde am 1. Oktober 2003 mit den Artikeln 102 und 102a StGB in das Schweizer Recht eingefügt. Eine primäre Verantwortlichkeit des Unternehmens besteht für eine beschränkte Zahl bestimmter Deliktskategorien, wenn dem Unternehmen vorzuwerfen ist, dass es nicht alles Erforderliche und Zumutbare vorgekehrt hat, um eine solche Straftat zu verhindern.

Die durch die Europaratskonvention umfassten Straftaten fallen nicht unter die erwähnten Deliktskategorien.

In die Schweizer Rechtsordnung wurde gleichzeitig auch eine allgemeine subsidiäre strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person eingeführt für den Fall, dass die Tat im Rahmen des Unternehmenszwecks begangen wurde und wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugeordnet werden kann. Die Strafe ist Busse bis zu fünf Millionen Franken. Diese strafrechtliche Haftung bezieht sich auf die Gesamtheit der Verbrechen und Vergehen gemäss schweizerischer Rechtsordnung und deckt alle Delikte gemäss Konvention ab, sofern sie zwingend formuliert sind. Sie geht, im Vergleich zum Konventionstext, in dem Sinne weiter, als dass dieser sich auf Straftaten beschränkt, die zum Vorteil der juristischen Person und durch einen Vertreter des Managements begangen werden, während die Haftung gemäss StGB bei jedem Verbrechen oder Vergehen, begangen im Rahmen des Unternehmungszwecks durch eine Person in Ausübung einer geschäftlichen Verrichtung, greift. Gemäss Artikel 102 Absatz 1 StGB ist jedoch die Bestrafung der juristischen Person grundsätzlich
nur dann möglich, wenn das Verhalten keiner natürlichen Person zugerechnet werden kann.

Artikel 22 Absatz 4 der Konvention statuiert in diesem Zusammenhang, dass die Strafbarkeit der juristischen Person nicht die Verantwortlichkeit des Täters berühren soll. Es stellt sich die Frage, ob damit die Verpflichtung der Staaten zu einer parallelen strafrechtlichen Haftung eingeführt wird. Der Erläuternde Bericht zum Übereinkommen gibt hierzu keine weiteren Hinweise.

Die subsidiäre Verantwortlichkeit der juristischen Person im Schweizer Recht steht der Strafbarkeit der natürlichen Person nicht entgegen, verhindert diese also nicht.

Sie findet dann Anwendung, wenn der Täter aufgrund der mangelhaften Organisation des Unternehmens nicht einer Bestrafung zugeführt werden kann. Artikel 102 Absatz 1 StGB steht daher nicht im Widerspruch zu Artikel 22 Absatz 4 der Konvention, weil die strafrechtliche Haftung der handelnden natürlichen Personen durch die subsidiäre Unternehmenshaftung nicht ausgeschlossen wird. Dies verdeutlicht die folgende Konstellation: Wird die fehlbare natürliche Person und ihr Verhalten nach Verurteilung der Unternehmung doch noch festgestellt und lag der 57 T

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SEV 173, Art. 18; SR 0.311.55.

Grund für die zunächst unmögliche Zurechnung in der Organisation der Unternehmung, so steht einer Bestrafung beider Parteien ­ der natürlichen sowie der juristischen Person ­ grundsätzlich nichts entgegen58.

Neben der strafrechtlichen Haftung steht zudem das Instrument der verwaltungsrechtlichen Haftung und die entsprechenden Sanktionen zur unmittelbaren Verhütung zukünftiger Schädigungen, beispielsweise durch Entzug einer Bewilligung oder der Verweigerung der Zulassung einer Unternehmung in einem Marktsegment oder Tätigkeitsbereich, zur Verfügung. Die Schweizer Rechtsordnung kennt verschiedene solcher Mechanismen, welche jedoch nicht umfassend auf alle Unternehmungen angewendet werden können und auch nur in gewissen Bereichen des Marktes und der Wirtschaft bedeutsam sind. So können gegen Unternehmen, die einer staatlichen Aufsicht unterstellt sind, verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden.

Daneben können Personenverbindungen und Anstalten mit unsittlichem oder widerrechtlichem Zweck das Recht der Persönlichkeit nicht erlangen. Entsprechend sind sie aufzuheben, und ihr Vermögen fällt dem Gemeinwesen zu59. Schliesslich stehen zivilrechtliche Mittel und Instrumente zur Verfügung, damit Unternehmen, zu deren Gunsten ein leitender Angestellter Straftaten verübt oder seine Aufsichtspflichten bezüglich der Tatbegehung durch einen Angestellten vernachlässigt hat, für den eingetretenen Schaden haftbar gemacht werden können.

Es kann daher gesamthaft betrachtet davon ausgegangen werden, dass das schweizerische Recht den Anforderungen von Artikel 22 der Konvention genügt. Die geltenden Regelungen der subsidiären strafrechtlichen Verantwortlichkeit gehen zum Teil weiter als durch das Übereinkommen gefordert und stellen sicher, dass Verbrechen und Vergehen, begangen im Rahmen des Zwecks einer Unternehmung, auch dann nicht ungesühnt bleiben, wenn die Tat keiner natürlichen Person zugerechnet werden kann. Von einer Aufnahme der Delikte gemäss Konvention in den erwähnten Deliktskatalog der primären strafrechtlichen Unternehmungshaftung im Schweizer Recht oder einer generellen Ausweitung des Katalogs kann daher abgesehen werden.

Art. 23

Sanktionen und Massnahmen

Der erste Satz von Absatz 1 sieht vor, dass die in den Artikeln 18­21 umschriebenen Straftaten durch wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen bestraft werden. Menschenhandel ist gemäss Artikel 182 Absatz 1 StGB mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht. Handelt es sich beim Opfer um eine unmündige Person oder handelt der Täter gewerbsmässig, so ist die angedrohte Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Die Höchstdauer der Freiheitsstrafe beträgt in beiden Fällen gemäss Artikel 40 StGB 20 Jahre. Nach Artikel 182 Absatz 3 StGB ist immer auch eine Geldstrafe auszusprechen. Für Versuch und Gehilfenschaft gelten die Bestimmungen von Artikel 22 ff. StGB. In Anbetracht dieses Strafrahmens ist auch die zweite Verpflichtung von Artikel 23 Absatz 1 erfüllt.

Die in Absatz 2 enthaltene Verpflichtung, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen für juristische Personen vorzusehen, wird mit Artikel 102 ff.

StGB umgesetzt.

58 59 T

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Vgl. Niggli/Gfeller, Basler Kommentar, Basel 2007, N 113 zu Artikel 102.

Artikel 52 und Artikel 57 ZGB.

35

Tatmittel für und Erträge aus Straftaten gemäss Artikel 18 und Artikel 20 Buchstabe a oder Eigentum, das dem Wert der Erträge entspricht, sind nach Absatz 3 zu konfiszieren oder anderweitig zu entziehen. Dieser Verpflichtung wird in der Schweiz durch Artikel 69 ff. StGB vollumfänglich entsprochen.

Absatz 4 enthält die Verpflichtung, die Möglichkeit vorzusehen, Einrichtungen, die zum Menschenhandel genutzt wurden, vorübergehend oder endgültig zu schliessen.

Ausserdem müssen der Täterschaft vorübergehend oder ständig die Ausübung der Tätigkeit, bei der die Straftat begangen wurde, verboten werden können. Beide Aspekte werden durch Artikel 67 StGB erfüllt.

Art. 24

Strafverschärfungsgründe

Die in Artikel 24 genannten Strafverschärfungsgründe werden in der Schweiz grundsätzlich vom Richter im Rahmen der Strafzumessung entsprechend berücksichtigt (Art. 47 StGB).

Der Handel mit einer unmündigen Person, resp. mit einem Kind (Bst. b) gilt in Anwendung von Artikel 182 Absatz 2 StGB als qualifizierter Fall von Menschenhandel und ist mit einer erhöhten Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug bedroht. Sofern Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung vorliegt, sind Konkurrenzen mit den Artikeln 187 ff. StGB, im Falle der Gefährdung des Lebens des Opfers (Bst. a) mit Art. 129 StGB, und im Falle der Beteiligung einer kriminellen Organisation (Bst. d) mit Artikel 260ter StGB, zu prüfen. Die Strafe wird vom Richter entsprechend erhöht (Art. 49 StGB). Wird die Straftat in Verletzung der Amts- oder Berufspflicht begangen (Bst. c), können gegebenenfalls Artikel 312 StGB oder Artikel 13 ff. des Bundesgesetzes vom 14. März 195860 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (VG), zur Anwendung kommen.

Die Anforderungen von Artikel 24 werden somit vom schweizerischen Recht insgesamt erfüllt.

Art. 25

Vorstrafen

Die Verpflichtung zur Berücksichtigung rechtskräftiger Strafurteile anderer Vertragsparteien wird durch Artikel 47 StGB abgedeckt.

Art. 26

Bestimmung über das Absehen von Bestrafung

Artikel 26 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Möglichkeit vorzusehen, Opfer für ihre Beteiligung an rechtswidrigen Handlungen straffrei zu lassen, wenn sie zu dieser Beteiligung gezwungen wurden.

Das schweizerische Strafrecht ist als Schuldstrafrecht konzipiert und daher vom Grundsatz geprägt, dass sich ­ trotz tatbestandsmässigen Handelns ­ jemand nur dann strafbar machen kann, wenn er schuldhaft handelt (Art. 19 StGB). Die Artikel 52 ff. StGB statuieren zudem die Voraussetzungen, unter welchen Straffreiheit gewährt oder ein Strafverfahren eingestellt werden kann.

60

36

SR 170.32

Begeht ein Menschenhandelsopfer eine mit Strafe bedrohte Tat, um einen unmittelbar drohenden Nachteil von sich oder jemand Anderem abzuwenden, sind jeweils die Notwehr- und Notstandsvoraussetzungen nach Artikel 15 ff. StGB, insbesondere das Vorliegen eines Nötigungsnotstandes (Art. 17 StGB), zu prüfen.

Den Anforderungen des Artikels 26 wird durch das schweizerische Recht Genüge getan.

2.6

Art. 27

Kapitel V: Ermittlungen, Strafverfolgung und Verfahrensrecht (Art. 27­31) Verfolgung auf Antrag oder von Amtes wegen

Die Strafverfolgung von Straftaten der Konvention ist gemäss Absatz 1 in Übereinstimmung mit Artikel 7 Absatz 1 des EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels nicht von der von einem Opfer erstatteten Anzeige oder einem Strafantrag abhängig zu machen. Diese Bestimmung ist durch die Ausgestaltung von Artikel 182 StGB als Offizialdelikt bereits umgesetzt.

Was die Verzeigung von in anderen Vertragsstaaten begangenen Straftaten betrifft (Abs. 2), so ist ebenfalls bereits heute im Rahmen der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit vorgesehen, dass in der Schweiz erstattete Strafanzeigen den Behörden des zuständigen Staates übermittelt werden.

Gemäss Absatz 3 von Artikel 27 haben die Vertragsstaaten zusätzlich dafür Sorge zu tragen, dass Stiftungen, nichtstaatliche Organisationen und andere Vereinigungen, welche die Bekämpfung des Menschenhandels oder den Schutz der Menschenrechte zum Ziel haben, den Opfern von Menschenhandel in Strafverfahren beistehen können. Diese Unterstützungsmöglichkeit, welche dem Grundgedanken der schweizerischen Opferhilfekonzeption entspricht, ist in Artikel 12 Absatz 1 OHG statuiert, wonach die Beratungsstellen das Opfer und seine Angehörigen zu beraten und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren zu unterstützen haben. Darüber hinaus sieht Art. 152 Absatz 2 StPO vor, dass die Opfer für Befragungen eine Vertrauensperson beiziehen können, welche konsequenterweise regelmässig für eine Organisation im Sinne des Artikel 27 tätig ist. Die jeweilige Opferhilfeorganisation erhält durch diese Beteiligung jedoch keine eigentliche Parteistellung. Bei Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit kann sich ein Opfer gemäss Artikel 70 Absatz 2 StPO von 3 Vertrauenspersonen begleiten lassen.

Die Schweiz erfüllt damit die Anforderung der Konvention.

Art. 28

Schutz von Opfern, Zeugen beziehungsweise Zeuginnen und Personen, die mit Justizbehörden zusammenarbeiten

Gemäss Artikel 28 der Europaratskonvention sind die erforderlichen gesetzgeberischen oder anderen Massnahmen zu ergreifen, um in einem Strafverfahren gegen Menschenhandel aussagende Personen insbesondere während und nach den Ermittlungen einen wirksamen und angemessenen Schutz vor möglicher Vergeltung oder Einschüchterung zu gewähren.

37

Den Opfern im Kindesalter sollen unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Kindswohls besondere Schutzmassnahmen gewährt werden. Ebenfalls sollen Gruppen, Vereine oder NGO's, welche die Bekämpfung des Menschenhandels oder den Schutz der Menschenrechte zum Ziel haben, angemessen Schutz vor möglicher Vergeltung oder Einschüchterung erhalten. Zudem hat jede Vertragspartei den Abschluss von Übereinkünften mit anderen Staaten zur Durchführung dieser Konventionsbestimmung in Erwägung zu ziehen.

Entgegen der Auffassung, die in der Vernehmlassung verschiedentlich geäussert wurde, setzt der von der Euroratskonvention vorgeschriebene ausserprozessuale Zeugenschutz eine Mitwirkung des Opfers in der Strafverfolgung voraus, sei es zum Zweck des Beweises oder durch blosses Liefern von Informationen für Ermittlungen.

Der prozessuale Zeugenschutz ist in der Schweiz bereits ausreichend normiert und durch die StPO abschliessend geregelt. Gemäss Artikel 149 StPO kann die Verfahrensleitung besondere Schutzmassnahmen zugunsten von Zeugen, Auskunftspersonen, Beschuldigten, Sachverständigen und Übersetzerinnen und Übersetzern anordnen . Zwar sind Anzeiger in der Aufzählung von Artikel 149 StPO nicht explizit aufgeführt; regelmässig wird es sich dabei aber um Zeugen handeln. Zu den Schutzmassnahmen gehören die Zusicherung der Anonymität, die Durchführung von Einvernahmen unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit, die Feststellung der Personalien unter Ausschluss der Parteien oder der Öffentlichkeit, die Veränderung des Aussehens oder der Stimme der zu schützenden Person, allenfalls deren Abschirmung und die Einschränkung des Akteneinsichtsrechts der Parteien.

F

Das Gesetz sieht weiter besondere Schutzmassnahmen für jugendliche und erwachsene Opfer vor (Art. 152ff. StPO). Vor allem bei Kindern soll dadurch eine schwere psychische Belastung vermieden werden. Dementsprechend ist z.B. von einer Gegenüberstellung mit den Beschuldigten abzusehen, wenn es sich beim Opfer um ein Kind handelt oder eine Straftat gegen die sexuelle Integrität aufzuklären ist.

Was den Schutz ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen betrifft, stützt sich dieser primär auf den polizeilichen Schutzauftrag der Kantone zur Abwehr unmittelbar drohender Gefahren für Leib und Leben ab. Entsprechende Formulierungen in Bezug auf diesen Schutzauftrag der Polizei sind in den Aufgabenkatalogen der kantonalen Polizeigesetze verankert.

Für Zeugen und Opfer von Menschenhandel wurde mit dem neuen AuG eine wichtige Voraussetzung für weitere Schutzmassnahmen geschaffen: Für diese Personenkategorie kann bei der Aufenthaltsregelung von den üblichen Zulassungsbedingungen abgewichen werden (Art. 30 Abs. 1 Bst. e AuG).

Das OHG verpflichtet im Weiteren die Kantone zur Errichtung von Beratungsstellen. Die Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), hat Anspruch auf medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe (Art. 2 und 14 Abs. 1 OHG). Opfer haben zudem Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung (Art. 19 ff. OHG).

Spezifische Rechtsgrundlagen und staatliche Strukturen, welche unter bestimmten Voraussetzungen die Durchführung von besonderen Massnahmen des Zeugenschutzes erlauben würden, wie z.B. die Verschaffung einer neuen Identität oder die Umsiedelung einer Person mit Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitsplatz38

suche, fehlen heute. Diese Problematik wurde vom Bundesrat bereits in seinem Bericht vom 9. Juni 2006 «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen»61 festgestellt. Mit dem vorgeschlagenen Gesetzesentwurf wird diese Lücke gefüllt.

Aufgrund der angeführten, bereits bestehenden prozessualen sowie sicherheitspolizeilichen Schutzmechanismen auf Kantons- und Bundesebene, ergänzt durch das unterbreitete Zeugenschutzgesetz für besondere Fälle, erfüllt die Schweiz die Anforderungen des Artikels 28 der Konvention.

Art. 29

Spezialisierte Behörden und Koordinationsstellen

Der Artikel verlangt, dass die Vertragsparteien für die Spezialisierung der mit der Bekämpfung des Menschenhandels und dem Schutz der Opfer beauftragten Personen besorgt sind (Abs. 1). Sie haben die Koordinierung der Tätigkeit der verschiedenen involvierten Stellen sicherzustellen, gegebenenfalls durch die Einrichtung von Koordinationsstellen (Abs. 2). In diesem Zusammenhang ist von den Vertragsparteien die Schulung der zuständigen Behörden zu gewährleisten (Abs. 3). Den Vertragsstaaten wird darüber hinaus die Einsetzung nationaler Berichterstatter oder anderer Mechanismen zur Überwachung des Vorgehens der staatlichen Institutionen bei der Bekämpfung des Menschenhandels empfohlen (Abs. 4).

Die Schweiz verfolgt bei der Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels bereits seit Jahren einen integrierten Ansatz im Sinn von Artikel 29 Absatz 2. Im Jahr 2003 wurde unter Federführung des EJPD eine nationale Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel (KSMM) eingerichtet, welche alle in den Bereichen Prävention, Strafverfolgung und Opferschutz tätigen Behörden aus Bund und Kantonen vereinigt. Die KSMM besitzt eine ständige Geschäftsstelle bei fedpol, welche die Massnahmen koordiniert und begleitet. Einer der Schwerpunkte liegt im Bereich der spezialisierten Ausbildung, womit Artikel 29 Absätze 1 und 3 angesprochen sind.

Eine Spezialisierung im Sinn von Absatz 1 fand auch auf operativer Ebene statt.

Komplexe Ermittlungen mit internationalem und interkantonalem Bezug wurden seit 2004 durch das Kommissariat Pädophilie, Menschenhandel, Menschenschmuggel (PMM) bei der BKP unterstützt und koordiniert. Im Rahmen der Strukturanpassung vom 1. Juli 2007 wurde das Kommissariat im Sinne der bestehenden Zentralstellen in ein Kommissariat Pädophilie, Pornografie (PP) und in ein Kommissariat Menschenhandel, Menschenschmuggel (MM) aufgeteilt und personell gestärkt. Als nationale Zentralstellen der BKP sind die Kommissariate in ihrem Fachbereich zuständig für den Aufbau eines nationalen und internationalen Verbindungsnetzes, wirken in Arbeitsgruppen des In- und Auslandes mit und stellen den kriminalpolizeilichen Informationsaustausch zwischen den Kantonen und Interpol, Europol sowie nationalen Diensten sicher.

Absatz 4 empfiehlt die Ernennung eines nationalen Berichterstatters, resp. einer nationalen
Berichterstatterin oder eines Mechanismus zur Überwachung der staatlichen Aktivitäten gegen Menschenhandel. Eine eindeutige Definition einer Berichterstattungsstelle zu Menschenhandel gibt es auf europäischer Ebene nicht. Auch ist die 61 T

T

Bericht in Erfüllung des Postulates der Sicherheitspolitischen Kommission SR (05.3006) vom 21. Februar 2005, BBl 2006 5693.

39

Einsetzung eines nationalen Berichterstatters respektive einer nationalen Berichterstatterin, mit Monitoringfunktion für die Mitgliedstaaten fakultativ. In der schweizerischen Praxis ist die KSMM das diesbezügliche Gremium, in dem Probleme und allfällige Missstände aufgedeckt und besprochen werden können und der Handlungsbedarf festgelegt wird. Aufgrund seines fakultativen Charakters erwächst aus Absatz 4 keine vertragsrechtliche Verpflichtung, die einer Ratifizierung entgegenstehen würde. Von der Ernennung eines nationalen Berichterstatters in Form einer eigenständigen Stelle kann somit abgesehen werden.

Mit diesen Massnahmen erfüllt die Schweiz die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 29.

Art. 30

Gerichtsverfahren

Die StPO enthält eine Reihe von Opferbestimmungen, die zum Zweck der Umsetzung des Übereinkommens, d.h. für Strafverfahren im Zusammenhang mit Menschenhandel, herangezogen werden können. Diese gesetzlichen Grundlagen genügen den Anforderungen der Konvention. Die gesetzlichen Grundlagen für die Ergreifung von Massnahmen zum Schutze von Zeugen ausserhalb von gerichtlichen Verfahren fehlen hingegen.

Art. 31

Gerichtsbarkeit

Die Voraussetzungen von Artikel 31 betreffend die Gerichtsbarkeit sind durch die geltenden Bestimmungen von Artikel 1 ff. StGB, Artikel 4 des Bundesgesetzes vom 23. September 195362 über die Seeschifffahrt unter Schweizerflagge und Artikel 97 Absatz 1 des Bundesgesetzes vom 21. Dezember 194863 über die Luftfahrt grösstenteils erfüllt. Einzig Auslandtaten staatenloser Personen nach Absatz 1 Buchstabe d, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben, können (mit Ausnahme von Menschenhändlern minderjähriger Opfer) unter keine der genannten Bestimmungen subsumiert werden, welche eine Gerichtsbarkeit der Schweiz zu begründen vermögen. Absatz 2 von Artikel 31 räumt jedoch die Möglichkeit ein den Vorbehalt zu formulieren, die in Absatz 1 Buchstaben d und e oder in Teilen davon enthaltenen Vorschriften nicht oder nur beschränkt anzuwenden. Es wird daher die Erklärung eines Vorbehalts vorgeschlagen, wonach Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d auf staatenlose Personen keine Anwendung findet.

Gemäss Artikel 7 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 (IRSG)64 über Rechtshilfe in Strafsachen darf kein Schweizer Bürger ohne seine schriftliche Zustimmung einem fremden Staat ausgeliefert oder zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung übergeben werden. Diesbezüglich sieht Absatz 3 die Verpflichtung zur Begründung der Gerichtsbarkeit in jenen Fällen vor, in denen sich die Täterschaft auf dem Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei befindet und nur deshalb nicht ausgeliefert wird, weil sie deren Staatsangehörigkeit besitzt. Dieser Verpflichtung wird durch Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b StGB entsprochen.

FT

62 63 64

40

SR 747.30 SR 748.0 SR 351.1

2.7

Kapitel VI: Internationale Zusammenarbeit und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft (Art. 32­35)

Art. 32

Allgemeine Grundsätze und Massnahmen der internationalen Zusammenarbeit

Artikel 32 bekräftigt das Prinzip der internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung auf der Basis der einschlägigen internationalen und regionalen Abkommen in diesem Bereich. Die Schweiz hat die meisten der angesprochenen internationalen oder europäischen Übereinkommen namentlich in den Bereichen Auslieferung, Rechtshilfe, Geldwäscherei und Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität ratifiziert und umgesetzt. Somit verfügt sie bereits über eine solide Basis im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Menschenhandels. Mit der Anbindung an Schengen hat sie zudem eine zusätzliche Basis für eine enge Zusammenarbeit mit dem Schengenraum geschaffen, die auch dem Bereich der Strafverfolgung im Falle von Menschenhandel zugute kommt. Auf globaler Ebene besteht durch die Ratifikation und Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität65 und seiner Zusatzprotokolle gegen Menschenhandel66 und die Schleusung von Migranten67 eine weitere Basis zur internationalen Zusammenarbeit.

Art. 33

Massnahmen im Zusammenhang mit gefährdeten oder vermissten Personen

Häufig werden Opfer von Menschenhandel mit der Drohung eingeschüchtert, dass ihren Angehörigen in ihrer Heimat Schaden zugefügt werde, wenn sie zu fliehen versuchten oder gegen ihre Peiniger aussagen würden. Artikel 33 Absatz 1 besagt, dass jede Vertragspartei verpflichtet ist, eine andere Vertragspartei umgehend zu informieren, wenn sich eine unter Artikel 28 Absatz 1 genannte, gefährdete Person auf deren Hoheitsgebiet befindet. Die Vertragspartei, welche eine solche Information erhält, trifft die geeigneten Massnahmen nach Artikel 28, um den Schutz der betreffenden Personen zu gewährleisten. In Absatz 2, der keinen verpflichtenden Charakter hat, können die Vertragsparteien eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Suche von Vermissten erwägen, insbesondere wenn es sich um Kinder handelt, von denen man annehmen muss, dass sie Opfer von Menschenhandel geworden sind.

TF

Der schnelle Austausch von Informationen bezüglich Opfer oder Zeugen von Menschenhandel ist bereits jetzt durch die enge Zusammenarbeit auf bilateraler Ebene sowie im Rahmen von Schengen, Europol und Interpol gesichert. Dies trifft nicht nur für den unter Absatz 1 genannten Bereich (gegenseitige Information über potenziell gefährdete Personen) zu, sondern auch für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit unter Absatz 2. Die Schweiz kann demnach die kompetenten Stellen im Ausland über die potentielle Gefährdung von Personen orientieren.

Umgekehrt wird eine solche Information an die zuständigen kantonalen Behörden 65 66 67

SR 0.311.54 SR 0.311.542 SR 0.311.541

41

weitergeleitet. Aufgrund der mangelnden Regelung für den ausserprozessualen Zeugenschutz ist ein institutionalisiertes ausserprozessuales Zeugenschutzprogramm jedoch nicht möglich.

Im Rahmen von Interpol kann schliesslich weltweit anhand der «yellow notices» nach vermissten Personen, auch Kindern, gesucht werden. Diesbezüglich arbeitet die Schweiz mit Partnerstaaten aufgrund von Artikel 351 Absatz 3 StGB zusammen, welcher den Informationsaustausch des Bundesamtes für Polizei zur Verhütung und Bekämpfung von Straftaten sowie zur Suche nach Vermissten und Identifizierung von Unbekannten regelt. Auch im Rahmen von Schengen ist die Zusammenarbeit bei der Suche nach Vermissten und zum Zwecke des Schutzes von gefährdeten Personen aufgrund von Artikel 97 des Schengener Durchführungsübereinkommens möglich.

PF

In Bezug auf den Schutz von Kindern ist die Schweiz ebenfalls gut ausgerüstet. Mit der Ratifikation diverser einschlägiger Rechtsinstrumente, unter anderen der UNOKinderrechtskonvention und seines Fakultativprotokolls betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie68 hat die Schweiz bereits auf den besonderen Schutz von Kindern und die diesbezüglichen Massnahmen hingewirkt.

Art. 34

Informationen

Artikel 34 regelt den Austausch von Informationen zwischen den Vertragsparteien.

Laut Absatz 1 informiert die um Unterstützung ersuchte Vertragspartei die Ersuchende umgehend über die Massnahmen, welche unter Kapitel VI getroffen wurden.

Dieser Absatz hat demnach einen verpflichtenden Charakter, welcher sich auch in Artikel 4 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen69 widerspiegelt. Gemäss diesem Artikel informiert der ersuchte Staat den ersuchenden Staat auf dessen ausdrückliches Verlangen über die getroffenen Massnahmen.

FT

Laut Absatz 2 von Artikel 34 kann eine Vertragspartei vorbehaltlich ihres internen Rechts auch unaufgefordert relevante Informationen übermitteln, wenn sie der Auffassung ist, dass diese der empfangenden Vertragspartei ermöglichen, ein eigenes Verfahren zu eröffnen oder voranzutreiben. Diese Möglichkeit wird auch explizit im II. Zusatzprotokoll zum Rechtshilfeabkommen und im Übereinkommen über Geldwäscherei sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten70 anerkannt. Der Absatz verpflichtet jedoch nicht zur spontanen Übermittlung von Informationen. Zu beachten ist hier, dass es sich um den Austausch von Informationen über alle getroffenen Massnahmen unter Kapitel VI handelt, d.h.

nicht nur über den kriminellen Aspekt des Menschenhandels, sondern auch über die Prävention und den Schutz von Opfern und Zeugen.

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TH

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Der Aspekt des Datenschutzes wird unter Absatz 3 aufgenommen, welcher besagt, dass die übermittelnde Partei die Verwendung der Informationen an Bedingungen knüpfen oder um vertrauliche Behandlung ersuchen kann. Falls die empfangende Partei diesen Bedingungen nicht nachkommen kann, so informiert sie die übermit-

68 69 70 T

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42

SR 0.107.2 SR 0.351.1 SR 0.351.12, Artikel 11 und SR 0.311.53, Artikel 10.

telnde Partei umgehend. Diese kann dann entscheiden, ob sie die Informationen dennoch übermitteln will oder nicht.

Absatz 4 sieht die unverzügliche Übermittlung von Informationen in Zusammenhang mit den Artikeln 13, 14 und 1671 an die betroffene Vertragspartei vor, sofern diese darum ersucht und die Informationen benötigt werden, um die in den Artikeln genannten Rechte zu gewähren. Dies muss jedoch zu jeder Zeit unter Berücksichtigung des in Artikel 11 garantierten Schutzes der Privatsphäre und Identität der Opfer geschehen.

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Die Möglichkeit des Informationsaustausches besteht in der Schweiz nicht nur aufgrund der bilateralen Polizeikooperationsverträge, die sie mit Partnerstaaten abgeschlossen hat sowie der Rechtshilfeabkommen, sondern auch aufgrund der multilateralen Verpflichtungen, welche die Schweiz im Rahmen von Interpol und Europol eingegangen ist. Der aufgrund dieser Verpflichtungen stattfindende Informationsaustausch steht jedoch immer unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts. So ist beispielsweise die unaufgeforderte Übermittlung von Beweismitteln und Informationen mit den entsprechenden Voraussetzungen in Artikel 67a IRSG statuiert.

Ein weiterer Meilenstein ist die Möglichkeit des Informationsaustausches im Rahmen von Schengen (Art. 39 und 46 SDÜ). Die geltende Rechtslage genügt den Anforderungen der Konvention.

Art. 35

Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft

Nach dieser Bestimmung haben die Vertragsparteien die staatlichen Behörden zur Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen (NGO) und Mitgliedern der Zivilgesellschaft anzuhalten. Ziel sollte der Aufbau von strategischen Partnerschaften zur Verwirklichung des Zwecks der Konvention sein.

In der Schweiz besteht sowohl auf strategischer wie auf operationeller Ebene eine enge Zusammenarbeit zwischen den Behörden und NGO, die im Bereich des Menschenhandels und insbesondere des Schutzes der Opfer tätig sind. Dies äussert sich unter anderem darin, dass zwei NGO, die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich und die Stiftung Kinderschutz Schweiz mit der Fachstelle ECPAT, ständige Mitglieder in der KSMM sind. Damit ist die Mitwirkung von NGO bei der Entwicklung von Strategien und Instrumenten gegen Menschenhandel auf nationaler Ebene gegeben. Weitere NGO werden punktuell für einzelne Fachgruppen oder Projekte beigezogen. Die FIZ und andere NGO sind ebenfalls an den kantonalen Runden Tischen gegen Menschenhandel vertreten. In verschiedenen Kantonen bestehen Leistungsvereinbarungen mit NGO betreffend der Beratung und Begleitung von Opfern des Menschenhandels.

Mit dieser Politik und diesen Massnahmen erfüllt die Schweiz die konventionsrechtlichen Voraussetzungen von Artikel 35.

T71T

Artikel 13: Bedenk-und Erholungszeit von 30 Tagen für Opfer; Artikel 14: Gewährung eines Aufenthaltstitels unter bestimmten Umständen; Artikel 16: Unterstützung bei der Repatriierung der Opfer.

43

2.8

Kapitel VII: Überwachungsmechanismus (Art. 36­38)

Die Einführung eines wirksamen Mechanismus zur Sicherstellung der Umsetzung des Übereinkommens in den Mitgliedstaaten bildete von Anfang an ein zentrales Element der diesbezüglichen Arbeiten des Europarates. Der vorgesehene Überwachungsmechanismus basiert institutionell auf zwei Pfeilern: a)

der unabhängigen Expertengruppe für die Bekämpfung des Menschenhandels (GRETA), bestehend aus 10­15 Mitgliedern, die vom Ausschuss der Vertragsparteien für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt werden. Dabei ist auf eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter und eine ausgewogene geographische Verteilung sowie auf Multidisziplinarität zu achten. Die Mitglieder von GRETA gehören dem Gremium in ihrer persönlichen Eigenschaft an und handeln unabhängig und unparteiisch (Art. 36), und

b)

dem Parteienausschuss, der aus Vertretern der Vertragsparteien besteht und innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der Konvention durch den Generalsekretär des Europarates einzuberufen ist. Der Ausschuss wählt die Mitglieder von GRETA und stellt die Mitwirkung der Vertragsparteien an den Entscheidungsprozessen und an der Überwachung des Übereinkommens sicher (Art. 37).

Artikel 38 regelt das eigentliche Bewertungsverfahren und das Zusammenspiel von GRETA und dem Parteienausschuss. GRETA bestimmt die Kadenz, Dauer, Schwerpunkte und Mittel der Länderevaluationen, welche vor allem auf Fragebögen an die Vertragsstaaten sowie auf Länderbesuche basieren sollen. GRETA kann auch die Zivilgesellschaft um Informationen ersuchen (Abs. 1­4). Auf dieser Grundlage erstellt GRETA einen Entwurf des Evaluationsberichtes samt Vorschlägen und Anregungen, zu dem die Vertragspartei Stellung nehmen kann. GRETA ist verpflichtet, diese Stellungnahme zu berücksichtigen. Der definitive Bericht und die Schlussfolgerungen von GRETA werden der Vertragspartei und dem Parteienausschuss übermittelt. Sie werden gegebenenfalls zusammen mit einer Stellungnahme der betroffenen Vertragspartei veröffentlicht (Abs. 5 und 6). Gemäss Absatz 7 kann der Parteienausschuss auf der Grundlage des Berichts von GRETA Empfehlungen an die Vertragspartei abgeben und erforderlichenfalls innerhalb einer festzusetzenden Frist Auskünfte über deren Umsetzung verlangen.

Durch den beschriebenen Überwachungsmechanismus werden die Vertragsstaaten einem regelmässigen unabhängigen Evaluationsverfahren unterzogen. Dies ist im Rahmen der internationalen Vertragswerke gegen den Menschenhandel einmalig und stellt daher einen Mehrwert gegenüber dem VN-Zusatzprotokoll und dem VN-Fakultativprotokoll dar. GRETA und der Parteienausschuss sind aber keine juristischen Instanzen und vom Überwachungsmechanismus wird keine judikative Wirkung ausgehen. Vielmehr wird von den öffentlichen Berichten von GRETA sowie gegebenenfalls von den Empfehlungen des Parteienausschusses ein politischer Druck auf die Vertragsstaaten ausgehen, bei der Gesetzgebung und im Vollzug die Verpflichtungen der Konvention einzuhalten. Die erste Sitzung des neu konstituierten Gremiums fand Ende Februar 2009 in Strassburg statt.

Ein solches Instrument ist geeignet, die tatsächliche Umsetzung der Konvention in den Mitgliedstaaten zu fördern. Die Schweiz hat ein grosses Interesse daran, dass die Bestimmungen der Konvention nicht tote Buchstaben bleiben. Als Zielland des 44

Menschenhandels wird die Schweiz von einer besseren Verhütung in den Herkunftsund Transitstaaten (Art. 5), von der internationalen Harmonisierung der strafrechtlichen Bestimmungen (Art. 27­31) sowie von einer stärkeren zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung und beim Opferschutz (Art. 32­34), inklusive der Repatriierung und Resozialisierung der Opfer (Art. 16), direkt profitieren.

Im Fall einer Ratifizierung des Übereinkommens wird auch die Schweiz regelmässigen Evaluationsverfahren unterzogen. Dies beinhaltet die Pflicht zur schriftlichen Auskunftserteilung, zur Ernennung von Kontaktpersonen und Fachleuten anlässlich von Länderbesuchen des unabhängigen Expertengremiums sowie nötigenfalls zur Stellungnahme zu Berichtsentwürfen von GRETA. In der Bundesverwaltung wird gegebenenfalls die Geschäftsstelle der KSMM diese Evaluationsverfahren koordinieren.

2.9

Kapitel VIII: Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften (Art. 39 und 40)

Art. 39

Verhältnis zum Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität

Artikel 39 regelt das Verhältnis der Konvention zum Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 15. November 2000 angenommen wurde. In der Schweiz wurde dieses Zusatzprotokoll am 26. November 200672 in Kraft gesetzt. Darüber hinaus erfüllt das schweizerische Recht bereits heute verschiedene Anforderungen, die das Zusatzprotokoll als fakultative Weiterentwicklung der landesrechtlichen Gesetzgebung postuliert.

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Art. 40

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Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften

Artikel 40 regelt das Verhältnis des Übereinkommens zu anderen völkerrechtlichen Regelungen, insbesondere im Bereich des Menschenhandels (Abs. 1), des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte und der Rechtsstellung der Flüchtlinge (Abs. 4). Absatz 3 enthält die so genannte Entkoppelungsklausel («disconnecting clause»), wonach EU-Mitgliedstaaten ­ unbeschadet des Ziels und Zwecks dieses Übereinkommens und seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber den anderen Vertragsparteien ­ untereinander die einschlägigen EG- und EU-Vorschriften anwenden, soweit es für die betreffende Frage entsprechende Vorschriften der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union gibt, die auf den konkreten Fall anwendbar sind. Da die Eidgenossenschaft keinen bilateralen Vertrag mit der EG oder EU abgeschlossen hat, der sie entsprechend verpflichten würde, vermag die Entkoppelungsklausel für sie keine Rechtswirkung zu entfalten.

72 T

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SR 0.311.542

45

2.10

Kapitel IX: Änderungen des Übereinkommens (Art. 41)

Laut Artikel 41 der Konvention sind alle Vertragsparteien ermächtigt, Änderungvorschläge an dem Übereinkommen anzubringen. Diese werden an den Generalsekretär des Europarates übermittelt, welcher sie an die Mitgliedstaaten des Europarates, die Vertragsparteien, die europäische Gemeinschaft, jeden zur Unterzeichnung und zum Beitritt eingeladenen Staat sowie an GRETA weiterleitet.

Letztere unterbreitet dem Ministerkomitee ihre Stellungnahme zum jeweiligen Änderungsvorschlag. Nach Prüfung des Vorschlages und Stellungnahme kann das Ministerkomitee die Änderung beschliessen. Der Wortlaut der Änderung wird wiederum den Vertragsparteien zur Annahme übermittelt. Die Änderung tritt erst in Kraft, wenn alle Vertragsparteien dem Generalsekretär ihr Einverständnis mitgeteilt haben.

T

Diese aufwändige Prozedur sichert die Beteiligung aller Vertragsparteien an der Gestaltung der Konvention und verhindert, dass sie aufgrund von undurchsetzbaren Änderungen an Bedeutung verliert.

2.11

Kapitel X: Schlussbestimmungen (Art. 42­47)

Die Schlussbestimmungen betreffen die üblichen Modalitäten hinsichtlich Unterzeichnung und Inkrafttreten (Art. 42), Beitritt (Art. 43), räumlicher Geltungsbereich (Art. 44), Vorbehalte (Art. 45), Kündigung (Art. 46) und Notifikation (Art. 47). Das Übereinkommen steht nicht nur den Mitgliedstaaten des Europarates und jenen Nicht-Mitgliedstaaten, die an dessen Ausarbeitung beteiligt waren, sondern auch Drittstaaten offen. Sie können der Konvention auf Einladung des Ministerkomitees des Europarates beitreten. Vorbehalte zur Konvention sind grundsätzlich nicht erlaubt. Nur territoriale Beschränkungen der Gerichtsbarkeit nach Artikel 31 Absatz 2 sind möglich. Wie in den Ausführungen zum betreffenden Artikel erläutert, wird die Erklärung eines Vorbehalts vorgeschlagen, wonach Artikel 31 Absatz 1 Buchstabe d auf staatenlose Personen nicht anzuwenden ist.

Die Konvention kann mit dreimonatiger Frist gekündigt werden.

Das Übereinkommen ist am 1. Februar 2008 in Kraft getreten, d.h. 30 Tage nachdem 10 Staaten die Ratifikationsurkunde hinterlegt hatten. Unter ihnen mussten sich mindestens acht Mitgliedstaaten des Europarates befinden. Es wurde bis Ende November 2010 von 30 Staaten ratifiziert und weiteren 13 unterzeichnet.

3

Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG): Grundzüge der Vorlage

3.1

Einleitung

3.1.1

Was ist Zeugenschutz?

Beim Zeugenschutz geht es darum, Personen zu schützen, die in einem Strafverfahren über einen von ihnen wahrgenommenen Sachverhalt aussagen sollen und deswegen gefährdet sind. Ein Schutzbedarf besteht, wenn sie oder Angehörige mit 46

Drohungen, Angriffen gegen Leib und Leben oder anderen Mitteln unter Druck gesetzt werden. Das Ziel der Einschüchterungen und Repressionen ist jeweils, Aussagen zu verhindern oder zu beeinflussen und die beschuldigte Person möglichst der Strafverfolgung zu entziehen. Solches Verhalten ist zwar nicht neu, hat sich aber ­ namentlich in den Bereichen des organisierten Verbrechens und der Schwerstkriminalität ­ in den letzten Jahren verschärft. Je wichtiger bestimmte Zeugen für den Nachweis einer Straftat sind, umso grösser ist die Gefahr, dass versucht wird, sie an der Aussage zu hindern und so die Strafverfolgung zu behindern.

Zeugenschutz und Zeugenbeeinflussung ist generell überall dort ein zunehmendes Problem, wo die Strafverfolgungsbehörden mangels anderer Beweismittel besonders stark auf Zeugenaussagen angewiesen sind73. Dies ist neben den Hauptanwendungsbereichen organisierte Kriminalität und Terrorismusbekämpfung auch im Bereich des Menschenhandels der Fall. Die Erfahrungen im In- und Ausland zeigen, dass eine erfolgreiche Bekämpfung von terroristischer Gewaltkriminalität, organisierter Kriminalität oder anderer vergleichbarer schwerer Kriminalität mangels Sachbeweisen häufig nur mit Hilfe von Zeugenaussagen möglich ist. Erfahrungen der Polizei zeigen, dass potentielle Zeugen aus Angst oder nach massiven Drohungen nicht bereit sind, belastende Aussagen ohne adäquaten Schutz zu machen. Die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft gefährdeter Zeugen kann daher oft nur durch die Gewährung entsprechender Schutzmassnahmen erreicht werden.

Ziel und Zweck von Zeugenschutzmassnahmen sind daher zum einen der Schutz von Personen, die wegen ihrer Aussage oder ihrer Beteiligung oder ihrer Nähe zum Verfahren an Leib und Leben, Gesundheit, Freiheit oder wesentlichen Vermögenswerten gefährdet sind und andererseits die Sicherung der Strafverfolgung durch Herstellung und Aufrechterhaltung der Aussagebereitschaft74.

Der Begriff des Zeugen ist nicht eng im strafprozessualen Sinn zu verstehen, sondern umfasst neben gefährdeten Angehörigen sämtliche Personen, welche entweder über Wahrnehmungen zum Sachverhalt aussagen können (z.B. auch der prozessrechtlich als Auskunftsperson behandelte Mitbeschuldigte) oder an der Aussage im Verfahren mitwirken (z.B. als Polizist, Übersetzender oder
Sachverständiger)75.

Dieser erweiterte Zeugenbegriff wird auch vom Ministerkomitee des Europarates, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und von den internationalen Strafgerichten verwendet.

73 T

74 T

75 T

T

Vgl. die Botschaft zur Revision des Militärstrafprozesses (Zeugenschutz) vom 22.1.2003, BBl 2003 767 ff.

Vgl. Bericht des Bundesrates vom 9. Juni 2006 in Erfüllung des Postulates der Sicherheitspolitischen Kommission SR (05.3006) vom 21. Februar 2005, «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen», BBl 2006 5693, 5721; s. in diesem Zusammenhang auch die Empfehlung des Europarates vom 10. September 1997 (Recommandation R (97) 13 sur la protection des témoins contre toute manoeuvre d'intimidation et les droits de la défense).

Vgl. BGE 125 I 127, 132 E 6a.

47

3.1.2

Unterscheidung prozessualer und ausserprozessualer Zeugenschutz

Zeugenschutzmassnahmen lassen sich in prozessuale sowie ausserprozessuale Massnahmen unterteilen. Beim prozessualen Zeugenschutz handelt es sich um Massnahmen, welche die Mitwirkung der Zeugen im Verfahren durch besondere verfahrensrechtliche Bestimmungen regeln. Dazu zählen neben Zeugnisverweigerungsrechten insbesondere Massnahmen zur teilweisen oder vollständigen Geheimhaltung der Identität im Verfahren. Im schweizerischen Recht räumten bisher die verschiedenen kantonalen Strafprozessordnungen sowie einzelne Spezialgesetze den Zeugen allgemein oder bestimmten Zeugenkategorien eine Reihe prozessualer Schutzrechte ein. Diese Schutzrechte finden sich neu in Artikel 149ff. der am 1. Januar 2011 in Kraft tretenden StPO.

Die prozessualen Schutzrechte, wie sie heute im schweizerischen Recht bereits eingeführt worden sind, stellen einen wichtigen Teil des Zeugenschutzes dar. Sie genügen jedoch z.B. dann nicht mehr, wenn die beschuldigte Person aufgrund des Inhalts der Aussage erkennen kann, wer der Zeuge ist bzw. dessen Identität sonst wie in Erfahrung gebracht hat.

Aus Sicht der Strafverfolgung ist zudem zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des EGMR die anonyme Zeugenaussage nicht den einzigen oder nicht einen entscheidenden Beitrag zum Schuldspruch leisten darf76. Das Bundesgericht äussert sich zwar kritisch zu dieser Praxis, welche dazu führe, dass anonyme Zeugen nur in Verfahren zugelassen werden, in welchen sie für die Beweisführung letztlich überflüssig seien, lässt aber bislang noch offen, ob und unter welchen Bedingungen eine anonymisierte Zeugenaussage, welche tatsächlich einzige oder entscheidende Voraussetzung für eine Verurteilung bilde, für einen Schuldspruch genüge77.

Sowohl aus Sicht eines effektiven Schutzes als auch aus Sicht einer effizienten Strafverfolgung können sich deshalb im Falle drohender Einschüchterungs- bzw.

Racheakte gegen die aussagende Person oder ihr Nahestehende angemessene ausserprozessuale Schutzmassnahmen (Massnahmen ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen sowie nach Abschluss des Verfahrens) häufig allein als geeignet erweisen, damit die Person ihre Aussage aufrecht hält.

Ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen bezwecken den Schutz einer gefährdeten Person ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen, d.h. während und nach Abschluss eines Verfahrens. Im
Gegensatz zu den prozessualen Schutzrechten tangieren diese Massnahmen die Partei- und Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person nicht. Beispiele sind Massnahmen wie Verhaltensberatung, Bereitstellung von Hilfsmitteln wie neuer Mobiltelefonnummern oder einer Notfallnummer, Personenschutz, vorübergehendes Unterbringen an einem sicheren Ort bis hin zu spezifischen Massnahmen wie Datensperren, Beschaffung einer neuen Identität, Umsiedelung an einen neuen Wohnort, Finden einer neuen Arbeitsstelle, einschliesslich Sicherung des Lebensunterhaltes. Als Zeugenschutzprogramm wird die von den Behörden mit der geschützten Person vereinbarte individuelle Zusammenstellung solcher Schutzmassnahmen bezeichnet.

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48

Vgl. Urteile Doorson, Recueil CourEDH 1996-II S. 446, Ziff. 69; van Mechelen, Recueil CourEDH 1997-VII S. 2426 [=RUDH 1997 S. 209]; Krasniki vom 28.2.2006, Ziff. 76.

Vgl. BGE 133 I 33, besprochen in ZBJV 2008, 811 f. und SJZ 103 2007 411 f. sowie die Besprechung von BGE 132 I 127 in ZBJV 2007, 712 ff.

Prozessuale und ausserprozessuale Zeugenschutzmassnahmen können sich ergänzen.

Ein Zeuge mit einer neuen Identität wird zwar unter seiner alten Identität vor Gericht aussagen, muss aber Angaben zu neuem Namen sowie Wohn- oder Arbeitsort verweigern können. Der Verzicht auf solche Angaben kann, soweit entsprechende Regelungen vorhanden sind, durch Beantragung von prozessualem Zeugenschutz oder aber durch Zeugnisverweigerung wegen Gefährdung erreicht werden.

3.1.3

Abgrenzung von der Kronzeugenregelung

Vom Begriff Zeugenschutz abzugrenzen ist die aus dem angloamerikanischen Rechtskreis stammende Kronzeugenregelung. Diese hat nicht den Schutz der Zeugin und des Zeugen zum Zweck, sondern zielt allein auf die Förderung der Wahrheitsfindung und ist eine eigentliche Strafzumessungsregelung: Mitangeschuldigte sollen unter Zusicherung der Straffreiheit oder anderer prozessualer Vorteile dafür gewonnen werden, gegen Mitbeteiligte auszusagen. Zeugenschutzmassnahmen werden jedoch zur notwendigen Voraussetzung einer Kronzeugenregelung und Bedingung für eine Aussage, wenn sich die Zeugen durch ihre Aussage der Gefahr von Racheakten aussetzen. Die Einführung der Kronzeugenregelung im Sinne einer möglichen Strafbefreiung wurde im Rahmen der Vereinheitlichung des schweizerischen Strafprozessrechts geprüft und wegen schwerwiegender rechtsstaatlicher Bedenken sowie der Tatsache, dass in der schweizerischen Praxis kein konkretes Bedürfnis festgestellt werden konnte, verworfen78. Zu berücksichtigen ist, dass bereits im heute geltenden Recht Anreize zu kooperativem Verhalten vorgesehen sind: Bemühungen zur Verhinderung weiterer verbrecherischer Tätigkeit einer kriminellen Organisation können gemäss Artikel 260ter StGB strafmildernd berücksichtigt werden79. Des Weiteren wird die Kooperation eines Angeschuldigten regelmässig und in Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in erheblichem Masse strafmindernd gewürdigt. Wie bei der Kronzeugenregelung kommt der Anreiz solcher Strafmilderungen aber wohl erst im Zusammenspiel mit ausserprozessualen Schutzmassnahmen zum Tragen, d.h. wenn der Staat dem Zeugen, welcher sich mit seinem kooperativen Verhalten einer Gefährdung aussetzen würde, auch einen angemessenen Schutz anbieten kann.

3.2

Ausgangslage

3.2.1

Recht

Im Bereich des bürgerlichen Strafrechts gibt es heute weder auf Bundes- noch auf kantonaler Ebene Rechtsnormen, welche spezifisch und umfassend die Voraussetzungen und Durchführung ausserprozessualer Schutzmassnahmen bzw. eigentlicher Zeugenschutzprogramme regeln.

Die Durchführung von ausserprozessualen Schutzmassnahmen stützt sich deshalb auf den allgemeinen polizeilichen Schutzauftrag der Kantone zur Abwehr unmittel78 T

79 T

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Vgl. «Aus 29 mach 1», Konzept einer eidg. Strafprozessordnung, Bericht der Expertenkommission, EJPD Juni 2001, S. 53 ff.

In Österreich wird eine ähnliche Regelung als «kleine Kronzeugenregelung» bezeichnet, vgl. dessen § 41a StGB.

49

bar drohender Gefahren für Leib und Leben. Entsprechende allgemeine Formulierungen sind in den Aufgabenkatalogen der kantonalen Polizeigesetze verankert. Des Weiteren lässt sich nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung als Korrelat zu der Zeugnispflicht eine positive Schutzpflicht des Staates aus Artikel 10 BV bzw. Artikel 2 EMRK, für Personen ableiten, welche aufgrund ihrer Aussage gefährdet sind.80 Für Zeugen von Menschenhandel wurde mit dem neuen AuG eine wichtige Voraussetzung für Schutzmassnahmen geschaffen: Für diese Personenkategorie kann bei der Aufenthaltsregelung von den üblichen Zulassungsbedingungen abgewichen werden (Art. 30 Abs. 1 Buchstabe e AuG).

Im ausserprozessualen Bereich verpflichtet das OHG im Weiteren die Kantone zur Errichtung von Beratungsstellen. Die Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), hat Anspruch auf medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe (Art. 2 und 14 Abs. 1 OHG). Die Beratungsstellen können z.B. dem Opfer oder seinen Angehörigen bei Bedarf eine Notunterkunft besorgen (z.B. für Opfer einer Gewalttat in einem Frauenhaus). Opfer haben zudem Anspruch auf Entschädigung und Genugtuung (Art. 19 ff. OHG). Es ist jedoch zu beachten, dass das OHG aufgrund seines eigenen Regelungszwecks nur bestimmte Teilaspekte der Unterstützung abdecken kann. Auch gilt das OHG nur subsidiär, d.h. Leistungen der Opferhilfe werden nur endgültig gewährt, wenn der Täter oder die Täterin oder eine andere verpflichtete Person oder Institution keine oder keine genügende Leistung erbringt (Art. 4 Abs. 1). Zudem ist eine Zeugin oder ein Zeuge nicht in jedem Fall ein Opfer im Sinne des OHG.

In der StPO wird ausdrücklich auf eine Regelung des ausserprozessualen Zeugenschutzes verzichtet. Nach dem rein deklaratorisch konzipierten Artikel 156 StPO können Bund und Kantone Massnahmen zum Schutz von Personen ausserhalb eines Verfahrens vorsehen. Ansatzweise enthält jedoch auch die StPO selber Regelungen, die darauf ausgerichtet sind, verschiedenen Zeugenkategorien nach Abschluss eines Verfahrens Schutz angedeihen zu lassen. So dauert die Zusicherung der Anonymität gegenüber einer zu schützenden Person über das Strafverfahren hinaus; die Personalien dieser Personen werden im Verfahren nicht bekannt gegeben und die wahre Identität erscheint auch nicht in den Verfahrensakten.

3.2.2

Praxis

Mangels speziell auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteter Rechtsnormen werden in der Schweiz heute keine eigentlichen Zeugenschutzprogramme durchgeführt. Es wurden gestützt auf ausländische Ersuchen bereits Personen aus dem Ausland in die Schweiz verbracht und auf kantonaler Ebene sind Fälle bekannt, in denen gefährdete Personen durch das Zusammenwirken verschiedener Stellen vorübergehend oder gar unter neuem Namen länger in einem anderen Kanton untergebracht werden konnten. Hier handelt es sich jedoch um Einzelfälle, welche in rechtlicher Hinsicht gestützt auf die allgemeinen Schutzaufgaben des Staates vorgenommen wurden. Von einem institutionalisierten Zeugenschutz kann auch in diesen Fällen nicht gesprochen werden.

80

50

Vgl. dazu BGE 1A.32/1999 vom 13.9.1999, publiziert in EuGRZ 2000, 451

Das Fehlen einer spezifisch auf den ausserprozessualen Zeugenschutz ausgerichteten gesetzlichen Regelung führt in der Praxis zu folgenden Rechtsunsicherheiten bzw.

Problemfeldern: ­ U

Fehlende sachliche Aufgabenzuweisung: Zeugenschutzmassnahmen nehmen einen speziellen Status ein. Sie dienen zwar der Gefahrenabwehr, gehen aber über den sicherheitspolizeilichen Auftrag der Polizei hinaus. Im Ausland wurden für diese Aufgabe bei den Polizeikorps spezialisierte Zeugenschutzstellen eingerichtet. Ohne Institutionalisierung des ausserprozessualen Zeugenschutzes und entsprechende Befugnisse können solche Stellen und damit das nötige und spezifische Knowhow jedoch nicht aufgebaut werden. Dies gilt auf Stufe Bund umso mehr für die mit der Verfolgung von Schwerstkriminalität betraute BKP, welche heute nicht über einen mit dem kantonalen Polizeirecht vergleichbaren sicherheitspolizeilichen Auftrag verfügt.

U

P

­

Teilweise Unklarheit bezüglich örtlicher Zuständigkeit: Bei Zeugenschutzmassnahmen handelt es sich einerseits um Massnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr, andererseits stehen sie in engem Zusammenhang mit einem Strafverfahren. Die Frage nach der örtlichen Zuständigkeit für die Durchführung der ausserprozessualen Zeugenschutzmassnahmen gibt ohne gesetzliche Regelung immer wieder Anlass zu Diskussionen (Behörden des Gerichtsstandes oder Behörden am ­ nicht immer gegebenen ­ Wohnsitz der zu schützenden Person?).

­

Fehlen besonderer Befugnis-, bzw. Verpflichtungsnormen: Für das Ergreifen von spezifischen Schutzmassnahmen wie Datensperren bei privaten und öffentlichen Stellen oder Herstellung und Ausgabe von Tarnpapieren für bedrohte Personen sind hinreichend konkrete gesetzliche Grundlagen nötig.

Öffentliche wie private Stellen können ohne gesetzliche Grundlage nicht zu einer Mitwirkung verpflichtet werden. Ohne gesetzliche Institutionalisierung sind aber auch den bereits weniger eingreifenden Schutzmassnahmen (z.B.

Verhaltensberatung, Personen- und Objektschutz, Unterbringung an einem sicheren Ort) ressourcenbedingt von vorneherein Grenzen gesetzt.

­

Erschwerte nationale Koordination: Zur Zielerreichung ist ein koordiniertes und strukturiertes Vorgehen der beteiligten Stellen erforderlich, gerade auch angesichts der kleinräumigen Verhältnisse der Schweiz und deren föderalistischen Strukturen. Eine enge Zusammenarbeit unter den Justiz- und Polizeibehörden von Bund, Kantonen und Gemeinden aber auch weiteren öffentlichen Institutionen und Ämtern (z.B. Ausländerbehörden, Sozialämtern, Fachstellen) ist wichtig für eine erfolgreiche Arbeit im Zeugenschutz. Das Fehlen von Zuständigkeits- und Befugnisnormen erschwert die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Stellen.

­

Erschwerte internationale Kooperation: Eine enge internationale Kooperation ist von Bedeutung, da die Schweiz in Fällen erheblicher Gefährdung einer Person zu klein ist, um die Sicherheit des bedrohten Zeugen im Alleingang zu garantieren. Schutzbedürftige Personen könnten bei Notwendigkeit vorübergehend oder längerfristig ins Ausland verbracht werden. Die internationale Zusammenarbeit beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Viele Länder übergeben ihre Zeugen wegen der Komplexität der Zeugenschutzmaterie jedoch nur an Länder, welche über eine Zeugenschutzstelle mit entsprechender Erfahrung und Knowhow verfügen. Das Fehlen rechtlicher

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51

Grundlagen und einer spezifisch mit Zeugenschutzaufgaben betrauten Dienststelle erschwert bzw. verunmöglicht somit die internationale Zusammenarbeit.

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3.2.3

Konsequenzen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien für den Zeugenschutz

3.2.3.1

Datenbearbeitung der Verwaltung

Zur Abwehr der Gefahr muss eine zu schützende Person zu Beginn der Schutzmassnahmen regelmässig aus ihrem bisherigen Lebensumfeld herausgelöst und an einem anderen Ort untergebracht werden. Ziel ist eine konsequente Abschottung, so dass der Gefährder nicht an die zu schützende Person herantreten kann. Handelt es sich bei der Umsiedelung nicht nur um eine kurzfristige Massnahme sondern soll die Person dort neu Fuss fassen, muss sie entsprechend in den normalen Alltag und damit auch in das soziale und behördliche System integriert werden.

Eine Person tritt unter normalen Umständen gegenüber einer Vielzahl von öffentlichen Stellen und Privaten in Erscheinung. Auf Gemeindeebene ist bei der Einwohnerkontrolle der Zu- und Wegzug zu melden, es erfolgt der Eintrag in das Steuerregister. Je nach der konkreten persönlichen Situation sowie den Bedürfnissen der zu schützenden Person sind weitere Behördenkontakte nötig, z.B. mit der AHVIV Zweigstelle oder dem Sozialamt. Allfällige Zivilstandsänderungen sind dem Zivilstandsamt zu melden, ein neuer Fahrausweis muss beim kantonalen Strassenverkehrsamt beantragt werden, die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung beim kantonalen Ausländeramt usw.

Die bei all diesen Vorgängen bearbeiteten Daten sind heute weitgehend elektronisch erfasst und werden zunehmend auch vernetzt. So vorteilhaft der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien für eine effiziente, ökonomische und bürgernahe Abwicklung der Verwaltungstätigkeit ist, so nachteilig ist er für den Schutz einer gefährdeten Person. Die folgenden Beispiele neuester Entwicklungen zeigen auf, wie schwierig es künftig sein wird, eine Person ohne Veränderung von Namen und weiteren Identifikationsmerkmalen an einem neuen Wohnort in der Schweiz so unterzubringen, dass ein Gefährder diese Person durch berechtigte oder unberechtigte Nachfrage bei Behörden nicht mehr auffinden würde: ­

81

52

Registerharmonisierung: Heute werden in den Personenregistern auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene eigene, nicht koordinierte Personennummerierungen geführt. Am 1. Januar 2008 ist das Bundesgesetz vom 23. Juni 200681 über die Harmonisierung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Personenregister (Registerharmonisierungsgesetz, RHG) in Kraft getreten. Ziel des Gesetzes sind u.a. Vereinfachungen beim gesetzlich geregelten Datenaustausch zwischen amtlichen Personenregistern des Bundes und der Kantone. Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes sieht zudem vor, dass die neue Versichertennummer, welche die heutige AHV-Nummer ablösen wird, als gemeinsames Merkmal in den vom RHG bezeichneten Personenregistern auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene geführt werden soll (vgl. unten).

SR 431.02

Damit können die Datenkommunikationsprozesse zwischen amtlichen Personenregistern vereinfacht werden.

­

AHV-Nummer als Identifikationsmerkmal: Seit dem 1. Juli 2008 arbeiten die Durchführungsorgane der 1. Säule (AHV, IV und Erwerbsersatzordnung EO) mit der neuen 13-stelligen AHV-Nummer. Die neue AHV-Versicherungsnummer wurde u.a. zur Vermeidung von doppelt und mehrfach geführten «Konten» im Sozialversicherungsbereich eingeführt. Sie ist vollständig anonym, eindeutig einer Person zugeordnet, wird möglichst früh zugeteilt und ändert über das ganze Leben einer Person nicht. Die neue Nummer wird über die AHV/IV hinaus auch in anderen Sozialversicherungen und Organisationen (z.B. die Krankenversicherer für die Ausgabe der Versichertenkarte, vgl. unten) eingesetzt werden.

­

Neue Versichertenkarte: Mit dem Projekt e-health soll die elektronische Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen gefördert werden. Wesentliches Merkmal ist die neue Versichertenkarte. Wenn die Versicherten Leistungen bei Ärzten, Spitälern oder Apotheken beziehen und über die Krankenversicherung abrechnen wollen, müssen sie die neue Versichertenkarte vorweisen. Die Verordnung über die Versichertenkarte für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (VVK)82 legt fest, dass die neue AHV-Versichertennummer als sichtbare Information auf die Versichertenkarte gedruckt und im Mikroprozessor elektronisch gespeichert wird.

­

Infostar: Das Informatisierte Standesregister Infostar löst seit 2004 die herkömmlichen papiernen Register im Zivilstandswesen ab. Erfasst in Infostar sind alle Schweizerinnen und Schweizer sowie ausländische Personen ab dem Zeitpunkt eines für den Eintrag ins Register bedeutsamen Ereignisses (Heirat, Geburt eines Kindes etc.). Die Vernetzung und gemeinsame Datenhaltung im Infostar bedeutet, dass mit dem formellen Abschluss einer Registrierung die Daten ohne weitere Überprüfung sogleich von allen Zivilstandsbeamten der ganzen Schweiz, sowie je nach Berechtigung von weiteren Behörden eingesehen werden können. Das Register hat Schnittstellen zur nationalen Ausweisdatenbank ISA und zur Zentralen Ausgleichskasse (die AHV-Versicherungsnummer wird bei neuen Einträgen direkt dem Infostar-Eintrag zugewiesen). Weitere Schnittstellen bestehen unter anderem zu RIPOL, den Einwohnerkontrollen sowie zu ZEMIS.

Die Erfahrung im Zeugenschutz im Ausland hat gezeigt, dass die für den Schutz verantwortliche Stelle den technologischen Entwicklungen immer einen Schritt hinterher hinkt und das Arbeiten allein mit Datenbekanntgabesperren sich in Fällen schwerer Gefährdung als lückenhaft erweisen kann. Die Zeugenschutzstelle, welche dafür zu sorgen hat, dass keine Rückschlüsse zwischen bisherigem und neuem Aufenthaltsort und allenfalls neuer und ursprünglicher Identität gezogen werden, kann nie ganz sicher sein, wohin welche Daten gehen und was mit einer Mutation bei einer Behörde ausgelöst wird. Die Behörden im Ausland greifen deshalb zunehmend auf das Mittel einer neuen Identität zurück, weil eine Person nur losgelöst von bisherigem Namen und Identifikationsmerkmalen für den Gefährder nicht mehr ohne weiteres auffindbar gemacht werden kann.

82

SR 832.105

53

3.2.3.2

Konsequenzen des Internets

Suchmaschinen greifen durch die Bearbeitung von personenbezogenen Daten in die Privatsphäre von Internetnutzern ein, und zwar sowohl bei der Auswertung der Suchanfragen als auch bei der Bereitstellung von Suchergebnissen.

Aus Zeugenschutzperspektive lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Problembereiche im Umgang mit Suchmaschinen identifizieren. Der erste betrifft das Zusammenführen von Informationen, welche sich auf verschiedenen, voneinander unabhängigen Internetseiten befinden und durch die Suchmaschine im Rahmen der Anzeige der Treffer dem User zugänglich gemacht werden. Zum anderen sammeln Suchmaschinen unter Registrierung der IP-Adresse sämtliche Anfragen, Ergebnisse und Trefferabrufe der Benutzer und können so Personenprofile von Suchenden anlegen, auswerten und nutzen83.

Sobald im Internet Daten über eine bestimmte Person verfügbar sind, kann man diese über Suchmaschinen nahezu beliebig finden. Suchmaschinen ermöglichen es, auch noch so verstreute Informationen zusammenzuführen und an einem Ort abzurufen. Vor diesem Hintergrund müssen Internetnutzer sehr sorgfältig abwägen, welche Informationen sie über sich ins Internet stellen. Die Verfügbarkeit von Daten auf dem Internet ist aber nicht nur vom Betroffenen selbst abhängig und betrifft auch nicht nur private Aktivitäten. Es werden zunehmend Informationen von öffentlichen und privaten Stellen ins Internet gestellt, ohne dass sich der Betroffene dessen zunächst bewusst ist. Rückschlüsse auf den aktuellen Wohnsitz sind direkt oder indirekt rasch möglich. Während der Betroffene in gewissen Bereichen selbst aktiv werden kann, um eine Entfernung zu beantragen (Bsp. Swisscom Directories), gibt es Bereiche, wo dies im Nachhinein unmöglich oder sich sonst als sehr aufwändig erweisen würde (z.B. Taufe mit Namen aller Beteiligten im online aufgeschalteten Kirchgemeindeblatt).

Bezogen auf die Erfordernisse des Zeugenschutzes kann das Risiko der ungewollten Preisgabe einer Information im Internet stark verringert werden, wenn eine stark gefährdete Person nicht weiterhin ihren bisherigen Namen verwendet.

3.3

Geplante Neuregelung

Mit der Vorlage sollen die Grundlagen für die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen und für die im Zeugenschutz mitwirkenden Stellen die nötigen Aufgabenund Befugnisnormen geschaffen und damit Rechtssicherheit hergestellt werden.

Inhaltlich hätte die Materie als sicherheitspolizeiliche und zugleich ermittlungsunterstützende Aufgabe im geplanten neuen Bundesgesetz über die polizeilichen Aufgaben des Bundes integriert werden können. Da es sich jedoch beim ausserprozessualen Zeugenschutz um eine eigenständige, in sich abgeschlossene Regelungsmaterie handelt, die auch der Umsetzung von internationalem Recht dient, und sich der Geltungsbereich auf Personen richtet, welche in einem Strafverfahren des Bundes oder der Kantone mitwirken, wurde das Gesetz als separate Vorlage ausgearbei83 T

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54

Vgl. die Artikel, Referate und Empfehlungen auf der Homepage des Eidg. Datenschutzund Öffentlichkeitsbeauftragten, z.B. Verräterische Datenspuren, erschienen in: Natürlich, Nr. 2, 2003, http://www.edoeb.admin.ch/dokumentation/00898/00904/index.html?lang=de.

tet. Zudem wurde in diversen parlamentarischen Vorstössen sowie in einer Petition wiederholt die möglichst rasche Ratifizierung der Europaratskonvention gefordert.

Der ausserprozessuale Zeugenschutz wird daher den eidgenössischen Räten als eigenständiges Spezialgesetz überwiesen.

Die Neuregelung äussert sich im Wesentlichen zu folgenden Punkten: ­

Gegenstand und Geltungsbereich (1. Kapitel); Zielgruppe eines Zeugenschutzprogramms nach diesem Entwurf sind Personen, welche aufgrund ihrer Mitwirkung bei Strafverfahren des Bundes oder der Kantone einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt sind und ohne deren Angaben die Strafverfolgung unverhältnismässig erschwert wäre.

Diese Fokussierung ist unter dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu betrachten. Die Bedeutung einer Aussage muss den Aufwand und Kosten für ein Schutzprogramm und insbesondere auch die teils beträchtlichen Einschränkungen für die betroffene Person in der weiteren Lebensgestaltung rechtfertigen. Soweit eine Person nicht in ein Zeugenschutzprogramm des Bundes aufgenommen wird und trotz Verzicht auf Aussage weiterhin gefährdet bleibt, greifen nach wie vor die kantonalen Zuständigkeiten zum Schutz von gefährdeten Personen gemäss kantonaler Polizeihoheit. Hier sieht der Entwurf jedoch vor, dass die Kantone die spezialisierte Stelle beim Bund (vgl. unten) im Einzelfall um Beratung und Unterstützung angehen können.

­

Verfahren für die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm und die Beendigung, einschliesslich der Aufnahmekriterien (2. Kapitel): Besonders geregelt sind der Antrag um Aufnahme in den Zeugenschutz, der Entscheid und die Beendigung. Der Entwurf weist den Entscheid über die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm dem Direktor des Bundesamtes für Polizei zu. Wesentlich ist das Einverständnis des Zeugen, er wird erst mit der Unterzeichnung einer Vereinbarung in das Programm aufgenommen. Im Übrigen sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG)84 anwendbar.

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­

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Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und Privaten (2. Kapitel): Hier geht es um die Einführung von Ermächtigungs- und Verpflichtungsnormen zur Unterstützung der Zeugenschutzstelle, insbesondere: ­ Datenbekanntgabesperre und Mitteilung von Nachforschungs- und Ausspähversuchen; ­ Möglichkeit für den Aufbau einer neuen Identität für den erforderlichen Zeitraum. Hierfür müssen echte Dokumente und Einträge auf den neuen Namen erstellt werden können; ­ Aufenthaltsrechtliche Belange; ­ Zeugenschutz im Strafvollzug und bei sonstigen freiheitsentziehenden Massnahmen.

84 T

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SR 172.021

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­ U

Rechte und Pflichten der zu schützenden Personen und Regelung ihrer Erreichbarkeit im Rechtsverkehr (2. Kapitel); Dritte, wie etwa private und öffentliche Gläubigerinnen oder Gläubiger, dürfen aufgrund von Zeugenschutzmassnahmen nicht in ihrer Rechtsposition beeinträchtigt werden. Andererseits muss auch die geschützte Person selbst ihr zustehende Ansprüche ohne Gefährdung ihres Schutzes geltend machen können. Im Ausland nimmt hierfür die Zeugenschutzstelle eine wichtige Mittlerfunktion ein. Der Entwurf enthält entsprechende Regelungen zur Erreichbarkeit der zu schützenden Person im Rechtsverkehr und zur Durchsetzung von Ansprüchen der Person selbst.

Für die Leistungen an die zu schützende Person (z.B. für den Unterhalt bis zur Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit) gilt der Grundsatz, dass durch die Aufnahme ins Programm zwar der Lebensunterhalt der Person gesichert wird, dass sie dadurch aber keine ungerechtfertigten finanziellen Vorteile erfährt. Das Gesetz normiert Zweck und Rahmen dieser Leistungen.

­

Schaffung einer Zeugenschutzstelle und Regelung der Aufgaben und Befugnisse der Zeugenschutzstelle (3. Kapitel); Der Entwurf weist die Kompetenz zur Durchführung der Zeugenschutzprogramme für Zeugen aus Bundesverfahren wie für Zeugen aus kantonalen Verfahren und aus dem Ausland zentral einer nationalen Zeugenschutzstelle zu. Dies erweist sich angesichts der vergleichsweise geringen Anzahl Zeugenschutzfälle, der nötigen interkantonalen und oft wohl internationalen Zusammenarbeit sowie der anzustrebenden Effizienz und Professionalität der mit dem Schutz beauftragten Personen als einzig sinnvoll.

Der Entwurf regelt Aufgaben und Befugnisse der Zeugenschutzstelle. Zur Abwehr der Gefahr wird eine zu schützende Person zu Beginn der Schutzmassnahmen in der Regel aus ihrem bisherigen Lebensumfeld herausgelöst und an einem anderen Ort getarnt untergebracht werden. Die erforderlichen Massnahmen dienen sowohl ihrer psychischen Stabilisierung als auch der konsequenten Abschottung. Sie sind regelmässig aufwendig und komplex.

In Betracht kommen z.B. Verhaltensberatung, psychologische Betreuung, vorübergehende Sicherung des Lebensunterhaltes, Arbeitsplatzsuche, Kinderbetreuung und Schutzobservationen. Falls es sich bei der zu schützenden Person um ein Kind handelt, ist dessen Bedürfnissen speziell Rechnung zu tragen.

­ U

Durchführung und Finanzierung der Zusammenarbeit mit dem Ausland (4. Kapitel); Gerade für die kleinräumigen Verhältnisse in der Schweiz wird die internationale Zusammenarbeit zur Unterbringung von Zeugen im Ausland nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit eine Rolle spielen.

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Geheimhaltungspflichten und Strafbarkeit (5. Kapitel); Die getroffenen Massnahmen sollen der Geheimhaltung unterliegen. Der Zeuge soll zur Verschwiegenheit über alle Massnahmen und Tatsachen des Zeugenschutzes verpflichtet werden. Diese Verpflichtung muss auch nach Beendigung des Zeugenschutzprogramms weiter bestehen bleiben.

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­

Regelung der Aufsicht (6. Kapitel); Ein spezifisches und wesentliches Merkmal der Zeugenschutzarbeit ist das Geheimhaltungserfordernis, um die Sicherheit der Zeugen im Programm gewährleisten zu können. Diesem Interesse ist bei der Wahrnehmung der verwaltungsinternen und parlamentarischen Kontroll- und Aufsichtstätigkeit und auch der Rechnungsprüfung Rechnung zu tragen. Eine Berichterstattungspflicht zu ausgewählten und wesentlichen Punkten der Zeugenschutztätigkeit an die Leitung des EJPD ist im Entwurf ausdrücklich verankert.

­

Regelung der Finanzierung der Zeugenschutzprogramme, insbesondere Aufteilung zwischen Bund und Kantonen (7. Kapitel); Die Lebenshaltungskosten der zu schützenden Personen sowie die laufenden Kosten für besondere Zeugenschutzmassnahmen im Rahmen von Zeugenschutzprogrammen nach diesem Gesetz Tträgt der Bund oder der Kanton, der das Strafverfahren leitet. Am Betrieb der Zeugenschutzstelle haben sich die Kantone zur Hälfte zu beteiligen.

3.4

Vorarbeiten

3.4.1

Bericht des Bundesrates «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen»

Im Rahmen des Postulates der Sicherheitspolitischen Kommission SR (05.3006) vom 21. Februar 2005, «Effizientere Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen»85, wurde u.a. kritisiert, dass Zeugen in der Schweiz grundsätzlich nur bis zum Urteil geschützt werden und ein weiter gehender Schutz nicht vorgesehen sei. Der Bundesrat unterzog in der Folge den Bereich des ausserprozessualen Zeugenschutzes einer Analyse und kam zum Schluss, dass diesem Schutz in der Praxis eine wichtige Bedeutung zukommt, das geltende Recht jedoch ungenügende Grundlagen für dessen Wahrnehmung bietet86. Er beauftragte deshalb das EJPD mit der Erarbeitung von Vorschlägen zum ausserprozessualen Zeugenschutz im Bundesrecht87.

3.4.2

Vorkonsultation zum Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels und zur Modellwahl beim ausserprozessualen Zeugenschutz

Da Massnahmen des ausserprozessualen Zeugenschutzes direkt die kantonale Zuständigkeit berühren wurde 2007 beim Bundesamt für Justiz ein Gutachten über die Zulässigkeit einer bundesweiten Regelung eingeholt. Eine Bundeslösung im Sinne einer einheitlichen Regelung für kantonale und Bundesstrafverfahren ist gemäss dem Gutachten verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Ausgestaltung des ausserprozessualen Zeugenschutzes eine Dimension erreicht, die eine Koordination

85 86 87 T

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BBl 2006 5693 BBl 2006 5693, 5726 BBl 2006 5693, 5728

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unter Einbezug des Bundes als unerlässlich erscheinen lässt88. Auf Antrag des EJPD wurde Ende 2007 durch die Regierungskonferenzen KKJPD (Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren) und SODK (Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren) bei den Kantonen abgeklärt, ob sie eine Ratifizierung der Europaratskonvention begrüssen und wie eine allfällige Zeugenschutzregelung aussehen könnte. Den Kantonen wurde das Modell von je separaten Regelungen von Bund und Kantonen ­ mit der Möglichkeit eines Konkordats unter den Kantonen ­ und das Modell einer bundesweiten Regelung vorgestellt, nach welchem den Bundesbehörden die Kompetenz im Zeugenschutzbereich übertragen würde, um gerade in der kleinräumigen Schweiz eine koordinierte, einheitliche und auf die internationale Zusammenarbeit ausgerichtete Arbeit zu ermöglichen.

Das Ergebnis der kantonalen Konsultation brachte einerseits klar zum Ausdruck, dass die Kantone die Unterzeichnung der Konvention des Europarates gegen Menschenhandel befürworten. Zudem zeigte sie eine Favorisierung des Bundesmodells, wonach der Bund die spezifischen Massnahmen zum ausserprozessualen Zeugenschutz einheitlich für Bundesverfahren und kantonale Verfahren regeln und vollziehen soll89.

3.5

Rechtsvergleich

Es gibt kein multilaterales Übereinkommen, das die Umsiedlung von Zeugen und die internationale Zusammenarbeit beim Zeugenschutz allgemein regelt. Hingegen gibt es auf internationaler Ebene zahlreiche unverbindliche Empfehlungen sowie Berichte in Bezug auf die Schaffung der administrativen und rechtlichen Grundlagen zur Durchführung von Zeugenschutzprogrammen.

3.5.1

Allgemein

Die ersten Vorschriften und Praktiken zum ausserprozessualen Zeugenschutz in Europa sind kaum 20 Jahre alt (Italien, 1991, für Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten [pentiti]). Die Entwicklung polizeilicher Zeugenschutzprogramme in Europa war wie zuvor auch schon in den Vereinigten Staaten auf die verstärkte strafrechtliche Ahndung der organisierten Kriminalität zurückzuführen. Mit der Erkenntnis, dass die Straftaten krimineller Organisationen ohne Zeugen und Informanten, welche über direkte Informationen verfügen, nur schwer nachzuweisen sind, wurden im Ausland die Durchführung umfassender Schutzmassnahmen und letztlich die Einführung spezifischer Strukturen, d.h. die Schaffung von speziellen Dienststellen zur Wahrnehmung dieser Schutzaufgaben in Gang gesetzt90. Die jährlichen Lagebilder und Statistiken z.B. von Deutschland bestätigen, dass sich die 88 T

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EJPD, Bundesamt für Justiz, Aussergerichtlicher Zeugenschutz, VPB 2007, S. 336­351 (nachfolgend: Gutachten BJ) Schreiben der KKJPD vom 9. April 2008.

Vgl. UNO, Good practices for the protection of witnesses in criminal proceedings involving organized crime, United Nations Office on Drugs and Crime, Vienna, 2008, S. 93; Buggisch Walter, Zeugenbedrohung und Zeugenschutz in Deutschland und den USA, Berlin 2001, 303, sowie die Angaben zu einzelnen Ländern im Gutachten über Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen vom 16.12.2005, SIR, Avis 05-161.

Zeugenschutzarbeit in der Verfolgung der organisierten und terroristischen Kriminalität bewährt. Heute führen die meisten EU-Mitgliedstaaten, darunter Länder mit vergleichbarer Grösse bzw. Bevölkerungszahl wie die Schweiz, Zeugenschutzprogramme durch91. In einigen Ländern sind die Zeugenschutzprogramme in eigenen Gesetzen geregelt, in anderen nicht. Gewisse Länder sehen im Zeugenschutz in erster Linie eine Aufgabe der Polizei92, während andere der Judikative und den Ministerien eine tragende Rolle zuweisen93. In einigen Ländern gibt es ein nationales Zeugenschutzprogramm, während andere, v.a. grosse Länder, über mehrere Programme auf substaatlicher Ebene verfügen. Die einschneidendste Massnahme der zumindest vorübergehenden Identitätsänderung ist in den meisten Ländern, welche Zeugenschutzprogramme durchführen, möglich. Gewisse Länder lassen einen definitiven Identitätswechsel zu, nach welchem die bisherige Person nicht mehr existiert. In anderen Ländern handelt es sich bei der neuen Identität um eine vorübergehende unter Beibehaltung der ursprünglichen Identität94.

Die Länder tauschen in der Praxis untereinander informell Erfahrungen mit Zeugenschutzregelungen aus und orientieren sich an den Grundsätzen, die Europol und der Europarat entwickelt haben. Es gibt daher über die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen und den Grundprinzipien des Verwaltungsaufbaus der Mitgliedstaaten hinaus gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Zeugenschutzregelungen, die in den vergangenen Jahren eingeführt worden sind95: 1.

Das Zeugenschutzprogramm ist auf eine relative kleine Anzahl von entscheidenden Zeugen fokussiert, welche bereit sind, mit der Strafverfolgung zusammenzuarbeiten96;

2.

Als äusserstes Mittel zur Gewährung der Sicherheit werden die Massnahmen der Umsiedelung und der Verleihung einer neuen Identität ergriffen. Kriterien dafür, dass eine solche Massnahme getroffen wird, sind die Art des Delikts und das Mass der Bedrohung, die Eignung des Zeugen sowie das Einverständnis des Zeugen zur Mitwirkung unter den entsprechenden Auflagen97.

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Z.B. Deutschland, Italien, Österreich, Spanien, Belgien, Holland, Tschechien, England, Norwegen, Schweden.

Die Zeugenschutzdienststelle oder der Polizeichef entscheiden in folgenden Ländern: Deutschland, Österreich, Schottland, Grossbritanien, Norwegen, Polen, Litauen, Slowakei, Australien und Kanada.

In Holland entscheidet das Board of Procurator Generals, in Belgien und Italien eine Spezialkommission.

Z.B. Deutschland und Österreich.

Arbeitsdokument der Kommission über die Durchführbarkeit einer EU-Regelung für den Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten, COM(2007)693 vom 13.11.2007, S. 9. Auch die UNO stellte in ihrem Bericht von 2008 fest, dass trotz unterschiedlicher geografischer Lage, Rechtssystem und sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung Ähnlichkeiten in Bezug auf die erwähnten Punkte bestehen, vgl. UNO, Good practices, S. 93f.

Beim grössten Teil der Zeugen handelt es sich um tatbeteiligte Zeugen, welche bereit sind, mit der Justiz zu kooperieren und die «Seite wechseln».

Vgl. UNO, Good Practices, Kap. X.D. Admission criteria, S. 95.

59

3.5.2

UNO

Es gibt zwar keine eigenständige, verbindliche oder nicht verbindliche UN-Regelung, die allein den Zeugenschutz betrifft, doch besteht in den letzten Jahren die Tendenz, in UN-Konventionen einen Hinweis auf den Zeugenschutz aufzunehmen (z. B. UN-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (UNTOC, 2001)98 und UN-Übereinkommen gegen Korruption (UNCAC, 2003)99.

In den Übereinkommen werden die Vertragsstaaten aufgefordert, in Übereinstimmung mit ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung und im Rahmen ihrer Möglichkeiten geeignete Massnahmen zu treffen, um Zeugen, die zu Straftaten im Sinne dieser Übereinkommen aussagen, wirksam zu schützen. Um den UN-Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Übereinkommen behilflich zu sein, begann das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) 2005 mit der Ausarbeitung von Leitlinien für den Zeugenschutz. Konsultiert wurden dabei mehr als 60 Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen wie Europol, Eurojust, Internationaler Strafgerichtshof, Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda, Interpol, SECI Regionales Zentrum für Südost-Europa, Sierra Leone Special Court sowie UNAFEI100 und UNICRI101. Im Januar 2008 wurden in Wien schliesslich die «Good Practices for the Protection of Witnesses in Criminal Proceedings Involving Organized Crime» herausgegeben. Sie zeichnen ein umfassendes Bild der vorhandenen Massnahmen zum Schutz der Zeugen und bieten praktische Optionen für die Anpassung und Einbindung in das Rechtssystem, für die operativen Verfahren und für besondere soziale, politische und wirtschaftliche Umstände der UN-Mitgliedstaaten.

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Die Schwere der Bedrohung sowie des Delikts sind für die UNO die Hauptaufnahmekriterien neben der Bedeutung der Zeugenaussage für das Verfahren, dem Einverständnis und der Eignung in psychischer, mentaler und medizinischer Hinsicht.

In Bezug auf die notwendigen gesetzlichen Grundlagen empfiehlt die UNO in den Good Practices als Mindestinhalt der Gesetzgebung die Verankerung der möglichen Schutzmassnahmen, der Aufnahmekriterien für das Programm, des anzuwendenden Verfahrens, der für die Umsetzung des Programms nötigen Behörde, der Gründe für die Beendigung des Programms, der Rechte und Pflichten der Parteien sowie der Vertraulichkeit der Abläufe.102 T

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In Anbetracht der nötigen internationalen Zusammenarbeit zur Umsiedelung von Zeugen ins Ausland empfiehlt die UNO zur Förderung des Austausches eine Harmonisierung der gesetzlichen Grundlagen und vereinfachte Zulassungsverfahren.

3.5.3

Internationale Strafgerichtshöfe

Im internationalen Strafrecht gibt es keine Zeugendefinition und keinen Anhaltspunkt dafür, welches Mass an Schutz ein Zeuge in einem Strafverfahren erwarten darf. Die Erfahrung mit Strafverfahren vor internationalen Strafgerichten wie dem 98 99 100

Artikel 24: Zeugenschutz.

Artikel 32: Zeugen-, Sachverständigen- und Opferschutz.

The United Nations Asia and Far East Institute for the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders.

101 The United Nations Interregional Crime and Justice Research Institute.

102 UNO, Good Practices, Kap. V.B., S. 44.

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Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) oder dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) haben aber gezeigt, dass der Schutz von gefährdeten Personen, an deren Aussagen ein öffentliches Interesse besteht, besonders beachtet wird. Die Sicherheit der Zeugen während und nach Abschluss eines Strafverfahrens gehört zu den Prioritäten der internationalen Strafgerichte. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, gehen die Strafgerichte unter anderem mit Staaten sogenannte Relokationsabkommen ein. Diese sind in der Regel als Rahmenübereinkommen ausgestaltet, worin sich die betreffenden Staaten verpflichten, die Aufnahme von gefährdeten Zeugen und deren Familie im Einzelfall nach bestimmten Modalitäten zu prüfen. Auch legen sie eine Höchstzahl an Personen fest, die der Staat grundsätzlich aufzunehmen bereit ist, deren Aufnahme er jedoch verweigern kann, falls er dies für notwendig erachtet. Je mehr Staaten solche Relokationsabkommen abschliessen, desto leichter kann im Einzelfall eine adäquate Lösung gefunden werden. Diese Aufgabe wird somit fairer verteilt und bietet letztlich den grösstmöglichen Schutz für die Zeugen. Das Vorhandensein von institutionalisierten Strukturen zum Zeugenschutz ist zwar nicht eine Voraussetzung für die Aufnahme von Zeugen, wäre aber von Vorteil.

Vor diesem Hintergrund wurde auch die Schweiz von internationalen Strafgerichten angefragt, ob sie bereit wäre, mit ihnen Relokationsabkommen abzuschliessen. Im Fall des Abschlusses eines vertraulichen Abkommens werden die Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte informiert103.

3.5.4

EU

3.5.4.1

Generell

Die geltenden EU-Instrumente ­ Entschliessung über den Schutz von Zeugen im Rahmen der Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität (1995)104 und Entschliessung über Personen, die im Rahmen der Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität mit den Justizbehörden zusammenarbeiten (1996)105 ­ sind rechtlich nicht verbindlich und von ihrem Anwendungsbereich her begrenzt, da sie nur den Bereich der organisierten Kriminalität anvisieren. In verbindlichen Rechtsakten wie dem Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung106 und dem Rahmenbeschluss des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren107 ist daneben die Möglichkeit der Strafmilderung im Austausch gegen Informationen bzw. ein Recht des Opfers auf Schutz vorgesehen108.

Die EU-Kommission hat 2007 die Durchführbarkeit einer EU-Regelung für den Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten, geprüft. Sie kam dabei u.a. zu folgenden Ergebnissen:109

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Vgl. die Antwort des Bundesrates vom 21.9.2007 zum Postulat Somaruga, 07.3329, Internationale Strafjustiz. Schutz für Zeugen und Angehörige geständiger Täter.

ABl. C 327 vom 7.12.1995, S. 5.

ABl. C 10 vom 11.1.1997, S. 1.

ABl. L 164 vom 22.6.2002, S. 3, Artikel 6.

ABl. L 82 vom 22.3.2001, S. 1, Artikel 8.

COM(2007)693 vom 13.11.2007.

COM(2007)693 vom 13.11.2007, S. 6f.

61

­

Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Kampf gegen oft äusserst professionell arbeitende kriminelle Vereinigungen wird durch die erheblichen Unterschiede im innerstaatlichen Strafrecht behindert.

­

Besonders schwierig erweist sich die grenzüberschreitende Zusammenarbeit beim Zeugenschutz mit Ländern, die keinen rechtlichen und/oder administrativen Rahmen für den Zeugenschutz und Zeugenschutzprogramme haben ­ auch wenn sie solche Leistungen für ihre eigenen Staatsbürger im Inland erbringen.

­

Länder, in denen der Zeugenschutz aufgrund geografischer (kleines Staatsgebiet) oder demografischer (hohe Bevölkerungsdichte) Besonderheiten in der Praxis problematisch ist, oder Länder, in denen kriminelle Organisationen besonders aktiv sind, sind immer häufiger mit dem Problem konfrontiert, dass sie geschützte Personen in andere Länder umsiedeln müssen.

Nach Ansicht der Kommission erscheint es durchaus möglich, auf EU-Ebene ein harmonisiertes Zeugenschutzsystem auf der Grundlage einheitlicher verbindlicher Mindeststandards einzuführen, die den bestehenden Rechtsinstrumenten und Praktiken Rechnung tragen. Da der Zeugenschutz ein komplexer Bereich sei, der eine Vielzahl sensibler und komplizierter Aspekte beinhalte (z.B. gerade im Bereich Identitätswechsel), sollen jedoch vorgängig weitere Untersuchungen angestellt werden, um nach akzeptablen Lösungen für eine europaweite Zusammenarbeit beim Zeugenschutz zu suchen. Auch neue für den Zeugenschutz relevante Entwicklungen wie der Einsatz der Biometrie sollen aufmerksam verfolgt werden

3.5.4.2

Insbesondere Europol

Europol (Europäisches Polizeiamt) ist die europäische Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag. Sie ist eine unabhängige Einrichtung der Europäischen Union, die zum Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gehört und die Arbeit der nationalen Polizeibehörden Europas im Bereich der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität (OK) koordinieren und den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden fördern soll.

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Im Jahr 2000 wurde das European Liaison Network ins Leben gerufen. Dieses Netzwerk, in dem die Leitungen der Spezialeinheiten für den Zeugenschutz auf freiwilliger Basis zusammengeschlossen sind, wird von Europol koordiniert, das allerdings nicht über ein konkretes Mandat verfügt. Im Laufe der Jahre hat sich das Netz zu einem weltumspannenden Fachforum entwickelt, das sich über alle fünf Kontinente erstreckt. Die Zusammenkünfte innerhalb des Netzwerks dienen dem Informationsaustausch und der Erarbeitung von Regeln und Leitlinien, haben aber keinen Bezug zu operativen Tätigkeiten110.

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Die Diskussionen innerhalb des Europol-Netzwerks mündeten in zwei Dokumente, die als verbreitet wurden: Die Grundprinzipien der polizeilichen Zusammenarbeit in der Europäischen Union beim Zeugenschutz («Basic principles of European Union police cooperation in the field of Witness Protection») betreffen in erster Linie die internationale Zusammenarbeit bei einem Wohnortwechsel, während in den gemeinsamen Kriterien für die Aufnahme eines Zeugen in ein 110 T

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COM (2007) 693 vom 13.11.2007, S. 6 f.

Schutzprogramm («Common Criteria for taking a witness into a Protection Programme») die Voraussetzungen festgelegt sind, unter denen ein Zeugenschutzprogramm in Anspruch genommen werden kann.

3.5.5

Europarat

Der Europarat beschäftigt sich seit Mitte der 90er-Jahre mit der Zeugenschutzproblematik und hat dazu auch Empfehlungen ausgesprochen: In der Empfehlungen des Ministerkomitees vom 10. September 1997 über die Einschüchterung von Zeugen und die Rechte der Verteidigung111 sowie vom 20. April 2005 zum Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten112, wird auf eine Vielzahl unterschiedlicher Situationen Bezug genommen, in denen Zeugen unter Umständen Schutz benötigen. Die Empfehlungen enthalten Definitionen, Grundsätze für die Zeugenschutzarbeit sowie Kriterien in Bezug auf die Aufnahme von Personen in Zeugenschutzprogrammen.

Zu erwähnen sind daneben eine Reihe weiterer Empfehlungen des Europarats113, die einschlägige Schutzvorschriften enthalten.

3.5.6

Einzelne Länder

3.5.6.1

Deutschland

Das dem Bundesinnenministerium angehörende Bundeskriminalamt ist gemäss § 6 und 26 des Bundeskriminalamtgesetzes114 grundsätzlich zuständig zum Schutz von Zeugen und deren Angehörigen in den eigenen Ermittlungsverfahren des Bundes. Im Übrigen obliegt der Zeugenschutz den Bundesländern gestützt auf die Generalklauseln zur Gefahrenabwehr in den Polizeigesetzen.

Besondere Befugnisse und Verpflichtungen im Bereich des Zeugenschutzes ergeben sich für Bund und Länder aus dem Bundesgesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen vom 11. Dezember 2001 (ZSHG)115. Der Anwendungsbereich beschränkt sich auf Personen, ohne deren Angaben in einem Strafverfahren die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts der beschuldigten Person aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Sie können mit ihrem Einverständnis nach Massgabe des ZSHG geschützt werden, wenn sie aufgrund ihrer Aussagebereitschaft einer Gefährdung von Leib, Leben, Gesundheit, Freiheit oder 111 T

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Recommendation No. R (97) 13 of the Committee of Ministers to Member States concerning Intimidation of Witnesses and the Rights of the Defence.

Recommendation Rec (2005) 9 of the Committee of Ministers to member states on the protection of witnesses and collaborators of justice and explanatory memorandum, Strasbourg, 2005.

Empfehlung Rec (2001) 11 über Grundsätze zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität; Empfehlung 1325 (1997) zu Frauenhandel und Zwangsprostitution in den Mitgliedstaaten des Europarats; Empfehlung Nr. R (2000) 11 zu Massnahmen gegen den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung; Strafrechtsübereinkommen über Korruption (SEV-Nr.: 173 vom 27.1.1999).

Gesetz über das Bundeskriminalamt und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (BKAG) vom 7. Juli 1997 (BGBl. I S. 1650).

Gesetz zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen (ZSHG) vom 11. Dezember 2001 (BGBl. I 3510).

63

wesentlicher Vermögenswerte ausgesetzt sind und sich für Zeugenschutzmassnahmen eignen.

§ 5 des ZSHG enthält die Ermächtigung für öffentliche Stellen sowie Private, auf Verlangen der Zeugenschutzstelle des Bundes oder der Länder Tarndokumente für die Schutzperson oder Angestellte der Dienststelle zu erstellen und auch entsprechende Registereinträge vorzunehmen. Änderungen im Personenstandsregister, welches in Deutschland noch nicht zentralisiert ist, dürfen nicht vorgenommen werden. Hingegen können für beschränkte Zwecke veränderte Auszüge aus dem Register erstellt werden. Zur Abwehr der Gefahr wird eine zu schützende Person zu Beginn der Schutzmassnahmen regelmässig aus ihrem bisherigen Lebensumfeld herausgelöst und an einem anderen Ort getarnt untergebracht. Als weitere Schutzmassnahmen im Rahmen eines Programms kommen z.B. Verhaltensberatung, psychologische Betreuung, vorübergehende Sicherung des Lebensunterhaltes, Arbeitsplatzsuche, Kinderbetreuung und Schutzobservationen in Betracht116. Der Entscheid zur Aufnahme einer Person in das Schutzprogramm und den notwendigen Massnahmen gemäss ZSHG liegt bei der Leitung der Zeugenschutzstelle117.

3.5.6.2

Österreich

1998 wurde in Österreich ein nationales Zeugenschutzbüro als Zentralstelle im Bundesministerium des Inneren (BMI) eingerichtet. Es ist im Bundeskriminalamt in der Abteilung Kriminalpolizeiliche Assistenzdienste angesiedelt118. Österreich verfügt nicht über ein besonderes Zeugenschutzgesetz. Die Tätigkeit des Büros legitimiert sich aus dem in § 22 Absatz 1 Ziffer 5 des österreichischen Sicherheitspolizeigesetzes (SPG)119 formulierten Schutzauftrag für Personen, die über einen gefährlichen Angriff oder eine kriminelle Verbindung Auskunft erteilen können und deshalb besonders gefährdet sind, in Verbindung mit der Möglichkeit zur ausserordentlichen Strafmilderung nach § 41a des österreichischen Strafgesetzbuches120 für Personen, welche im Bereich der OK mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.

Eine Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm des Bundesministerium des Inneren kommt in der Praxis dann in Betracht, wenn Grund zur Annahme besteht, dass eine Person, die durch sachdienliche Hinweise zur Aufklärung von Verbrechen, vor allem aber zur Aufklärung von Delikten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität beiträgt oder beigetragen hat, mit gefährlichen Angriffen auf Leben, Gesundheit, Freiheit, Sittlichkeit oder der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz bedroht

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Vgl. die Erläuterungen zum deutschen ZSHG.

Weitere Länder, in welchen die Polizei (Zeugenschutzdienststelle oder Polizeichef) Entscheidkompetenz hat, sind z.B.: Österreich, Grossbritanien, Schottland, Norwegen, Polen, Litauen, Slowakei, Australien und Kanada.

118 In dieser Abteilung sind auch die Observation, Verdeckte Ermittlung, Computerkriminalität und Zielfahndung angesiedelt; vgl. die öffentlich zugängliche Website: http://www.bmi.gv.at/cms/BK/wir_ueber_uns/abteilung_5/Buero_5_4.aspx 119 Bundesgesetz über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz , SPG), BGBl. Nr. 566/1991.

120 Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch, StGB), BGBl Nr. 1974/60.

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ist.121 Weitere Voraussetzung ist die Zuverlässigkeit und Eignung der Schutzperson, welche die sicherheitsrelevanten Auflagen verstehen und danach handeln können muss. Die Leitung der Zeugenschutzstelle kann die notwendigen Schutzmassnahmen anordnen. Die Schutzperson sowie die Angestellten des Büros können mit einer veränderten Identität ausgestattet werden. Die Verpflichtung der Behörden zur Erstellung von Urkunden auf Verlangen des Bundesministers für Inneres ist in § 54a des SPG enthalten.

Auf April 2010 wurde der Aufgabenbereich des Zeugenschutzbüros auf den Schutz höchstgefährdeter Opfer (VHR = Victims at Highest Risk) erweitert. Zur Zielgruppe des neu installierten VHR gehören unter anderem gefährdete Opfer, die in einem Gerichtsverfahren gegen Mitglieder krimineller Verbindungen aussagen, jedoch den Voraussetzungen der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm nicht genügen (z.B.

wegen mangelnden relevanten Wissens). Eine weitere Zielgruppe stellen Personen dar, die extremen Bedrohungsszenarien aufgrund ethnisch/kulturell bedingter Straftaten («Ehrenmorde») oder sonstiger schwerster Eingriffe in die Menschenrechte ausgesetzt sind.

Personen, welche nicht in die Schutzprogramme des BMI aufgenommen werden, sind ­ soweit schutzbedürftig ­ durch die Polizeien der Bundesländer zu schützen.

3.5.6.3

Italien

Italien war das erste Land Europas, welches eine Zeugenschutzregelung einführte.

Der erste Gesetzesakt 82/1991 trat am 15. März 1991 in Kraft und sah besondere Schutzmassnahmen für Personen, welche mit der Justiz kooperierten vor (neue Identität, Umsiedelung, finanzielle Unterstützung und Resozialisierungsunterstützung). Die besonderen Schutzmassnahmen sind möglich für kooperierende Mitangeschuldigte und Zeugen, deren Aussagen für das Strafverfahren verwendet werden.

Der Entscheid über die Vornahme dieser Schutzmassnahmen wird auf Antrag des Staatsanwalts durch ein interdisziplinär zusammengesetztes Komitee gefällt, welches u.a. die akute und schwere Gefährdung und das Ungenügen allgemeiner polizeilicher Schutzmassnahmen beurteilt122. Die Durchführung des Schutzes obliegt der speziell geschaffenen Zeugenschutzstelle im Ministerium des Inneren.

3.5.6.4

Frankreich

Seit dem 9. März 2004 enthält die französische Strafprozessordnung mit Artikel 706-63-1 eine Bestimmung zum Schutz von reuigen Mitangeschuldigten, welche zur Aufklärung einer Straftat beitragen. Diese sieht unter anderem vor, dass die zu schützenden Personen mit einer veränderten Identität ausgestattet werden können.

Abgesehen von dieser, nur auf die Mittäterschaft fokussierten Spezialregelung, fehlen in Frankreich gesetzliche Grundlagen und staatliche Strukturen zur gezielten und längerfristig angelegten Durchführung von ausserprozessualen Zeugenschutz121

Vgl. die Erläuterungen zur Unterzeichnung der Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel. 1565 der Beilagen XXII.GP-Staatsvertrag, S. 21.

122 Under-Secretary of State at the Ministry of the Interior, two judges/prosecutors and five officials and officers.

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massnahmen. Zum Schutz der Zeugen in einem Strafverfahren sind gesetzlich einzig prozessuale Vorkehren vorgesehen, wie beispielsweise die Möglichkeit einer anonymisierten Zeugenaussage.123

3.6

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Am 17. Dezember 2008 wurde vom zweitbehandelnden Ständerat eine von Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer eingereichte Motion überwiesen, welche die Unterzeichnung der Menschenhandelskonvention sowie die umgehende Einleitung der Ratifizierung und der nötigen Umsetzungsmassnahmen forderte (08.3401, Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels. Unterzeichnung und Ratifikation). Gestützt auf die Ausführungen der vorliegenden Botschaft kann die Abschreibung dieses Vorstosses beantragt werden.

4

ZeugSG: Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

4.1

Erstes Kapitel: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Gegenstand

Mit der geplanten Regelung wird auf Stufe Bund eine Zeugenschutzstelle errichtet, welche Zeugenschutzprogramme zum Schutz von Personen durchführt, die aufgrund ihrer Mitwirkung bei der Aufklärung von Straftaten gefährdet sind. Zeugenschutzprogramme stellen einen schweren Einschnitt in das Leben der Betroffenen dar und sind aufwändig und kostenintensiv. Die Verwendung von Zeugenaussagen bei schwerer Gefährdung soll deshalb vorrangig nur dort erfolgen, wo Delikte der schweren und Schwerstkriminalität aufzuklären sind und der Zeuge zu deren Aufklärung auch substantiell beitragen kann. Ist dies nicht der Fall, so ist auf die entsprechende Zeugenaussage zu verzichten, wodurch sich regelmässig auch die Gefährdungslage entschärft.

Soweit Schutzmassnahmen nicht auf der Grundlage dieses Gesetzes erfolgen, z. B.

weil die nachfolgend festgelegten Voraussetzungen nicht gegeben sind, erfolgt der Schutz weiterhin nach allgemeinem Gefahrenabwehrrecht der Kantone. Unabhängig vom Bestehen eines Zeugenschutzprogramms können für gewisse Teilaspekte auch die Unterstützungsmöglichkeiten nach OHG Anwendung finden. Diese sind jedoch stets subsidiär zu den Schutz- und Unterstützungsmassnahmen nach ZeugSG (Art. 4 Abs. 1 OHG).

Unbenommen bleibt dem Zeugen auch sein Zeugnisverweigerungsrecht, auf welches er sich gemäss Artikel 169 Absatz 3 StPO jederzeit berufen kann, wenn er aufgrund seiner Aussage oder Aussagebereitschaft einer erheblichen Gefahr von Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt ist.

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Diese prozessualen Schutzmassnahmen finden sich in den Artikel 706-57ff. im 21. Titel («De la protection des témoins») der französischen Strafprozessordnung.

Art. 2

Geltungsbereich

Das Gesetz gilt für Personen, welche aufgrund ihrer Mitwirkung oder Mitwirkungsbereitschaft in einem Strafverfahren des Bundes oder der Kantone einer erheblichen Gefahr von Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt sind oder sein können und ohne deren Angaben die Aufklärung schwerer Straftaten unverhältnismässig erschwert wäre (Abs. 1).

Der von einem Strafverfahren unabhängige Schutz von Personen, z.B. im Vorfeld eines Strafverfahrens, gehört demgegenüber auch weiterhin zur allgemeinen, der kantonalen Polizeihoheit unterstehenden Gefahrenabwehr. Die teilweise in der Vernehmlassung geäusserten Forderungen nach einer Vorverlagerung des Zeugenschutzes oder gar nach einer vollständigen Abkoppelung von einem Strafverfahren, wurden nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkten Regelungskompetenz des Bundes nicht berücksichtigt. Den Kantonen ist es indes nicht verwehrt, im Vorfeld eines Strafverfahrens Abklärungen über die Schutzbedürftigkeit eines Opfers zu treffen und diese nach Eröffnung des Verfahrens für die Begründung des Zeugenschutzes zu verwenden.

Zielgruppe der Vorlage sind gefährdete Personen, die in Ermittlungsverfahren der schweren und Schwerstkriminalität, insbesondere organisierte Kriminalität und terroristische Gewaltkriminalität über Wissen verfügen, das zum Verfahrensausgang beiträgt. Es handelt sich um Personen, bei denen im Interesse der Strafverfolgung die Verweigerung der Aussage (gestützt auf das Zeugnisverweigerungsrecht oder z.B. bei Auskunftspersonen wegen fehlender Aussagepflicht) verhindert werden soll.

Für die daraus resultierende Gefährdung der Person hat der Staat die erforderlichen und angemessenen Schutzmassnahmen zu ergreifen.

Wie auch im Bereich des prozessualen Zeugenschutzes124 ist der Begriff des Zeugen nicht eng im strafprozessualen Sinn zu verstehen, sondern umfasst sämtliche Personen, welche entweder über Wahrnehmungen zum Sachverhalt aussagen können oder an der Aussage im Verfahren mitwirken und insofern den Gang des Verfahrens beeinflussen können125. Ins Visier von Einschüchterungs- und Racheakten können somit Zufallszeugen und geschädigte Zeugen fallen, aber auch tatbeteiligte Zeugen, welche formell als Auskunftspersonen einvernommen werden126. Weiter sind sogenannte professionelle Zeugen wie Polizisten und verdeckte Ermittler, die in
Ausübung ihrer Tätigkeit verfahrensrelevante Wahrnehmungen gemacht haben, einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Racheakten zu werden. Dasselbe gilt für andere berufsmässig in Strafverfahren involvierte Personen, die durch ihre Mitwirkung Einfluss auf den Gang des Verfahrens ausüben können (Sachverständige, Übersetzer). Ein institutionalisierter Schutzauftrag des Staates zur Abwehr von Gefahren muss sich notwendigerweise auch auf diese Personenkategorien erstrecken. Nicht vom Geltungsbereich erfasst sind wie beim prozessualen Zeugenschutz Staatsanwälte sowie Richter.

Neben der zu schützenden Person gemäss Absatz 1 sollen gemäss Absatz 2 auch deren Angehörige oder ihr sonst nahestehende Personen unter den Geltungsbereich

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Vgl. die Artikel 98a MStP und 149 StPO.

Der erweiterte Zeugenbegriff wird auch vom Ministerkomitee des Europarates, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und von den internationalen Strafgerichten verwendet; vgl. BGE 125 I 127, 132 E. 6a.

126 Zu den Zeugenkategorien vgl. auch die Botschaft zur Änderung des Militärstrafprozesses vom 22. Januar 2003, BBl 2003 767, 775 ff.

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des Gesetzes fallen. Der Grund für diese Erweiterung liegt darin, dass ein Zeuge oder eine beschuldigte Person, selbst wenn er oder sie bereit wäre, auf Kosten der eigenen Sicherheit auszusagen, häufig nicht mehr aussagebereit sein dürfte, wenn die Gefahr nahe stehenden Personen droht. Die Durchführung von Zeugenschutzmassnahmen kann somit im Einzelfall den Einbezug von Angehörigen oder sonst nahe stehenden Personen erforderlich machen. Dies kann beispielsweise bei der Wohnsitzverlagerung einer ganzen Familie der Fall sein. Für die Bestimmung der Nähe des Verhältnisses wird auf Artikel 168 Absätze 1­3 der StPO verwiesen. Darin ist eine abschliessende Aufzählung der Personen enthalten, welche auf Grund ihrer Nähe zur beschuldigten Person die Aussage verweigern dürfen und deren Gefährdung einen Zeugen berechtigt, prozessuale Schutzmassnahmen zu beantragen.

Das Gesetz gilt gemäss Absatz 3 schliesslich für Personen, welche in einem Zeugenschutzprogramm eines ausländischen Staates oder eines internationalen Strafgerichtshofs aufgenommen wurden und aus Sicherheitsgründen in die Schweiz verbracht werden. Hier gilt Kapitel 2 Abschnitte 4 und 5 dieses Gesetzes soweit ein Staatsvertrag keine abweichenden Bestimmungen enthält.

4.2

Zweites Kapitel: Zeugenschutzprogramm

4.2.1

Erster Abschnitt: Begriff, Zweck und Inhalt

Art. 3

Begriff

Ein Zeugenschutzprogramm wird in einem besonderen Verfahren von der dafür zuständigen Behörde individuell erstellt und bedarf der Zustimmung der betroffenen Person.

Ausserprozessuale Schutzmassnahmen greifen in der Regel dann, wenn prozessuale Schutzmassnahmen nicht genügen, weil der Täter die aussagende Person kennt oder aufgrund der Aussage ohne Weiteres erkennen kann. Dennoch spielen prozessuale Schutzmassnahmen, wie sie in der StPO vorgesehen sind, auch im Zeugenschutzprogramm eine Rolle: Wenn die Person eine neue Identität erhält, muss sie diesen Namen sowie Angaben, welche Rückschlüsse auf den neuen Wohn- und Aufenthaltsort zulassen, im Strafverfahren geheim halten können. Hierzu kann die Person prozessualen Schutz beantragen oder sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen (vgl. hierzu Art. 16).

Art. 4

Zweck

Der Zweck eines Zeugenschutzprogramms ist der Schutz der gefährdeten Person sowie ihr nahestehende Personen im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 für die Dauer ihrer Gefährdung. Diese Personen sind gefährdet, weil sie bereit sind, oder waren in einem Strafverfahren auszusagen und mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Der Zeugenschutz dient insofern der Sicherung des staatlichen Strafverfolgungsanspruches, als der Staat verhindern will, dass sich die gefährdete Person auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht beruft.

Da die Person in aller Regel aus ihrem bisherigen Lebensalltag herausgelöst, konsequent abgeschottet und an einem örtlich und sozial veränderten Umfeld wieder integriert werden muss, ist ein weiterer Zweck des Zeugenschutzprogramms die 68

Beratung und Unterstützung der Person bei der Erledigung ihrer persönlichen Angelegenheiten und der Wahrung ihrer vermögensrechtlichen Interessen. Dazu gehört die Unterstützung bei Behördengängen und bei der Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber Privaten oder öffentlichen Stellen127, Hilfe bei der Suche eines Arbeitsplatzes oder einer Wohnung, psychologische Betreuung sowie weitere Hilfe, welche sich als Folge der Teilnahme in das Zeugenschutzprogramm als nötig erweist.

Art. 5

Inhalt

Ausserprozessuale Schutzmassnahmen im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms bezwecken den Schutz einer gefährdeten Person ausserhalb eigentlicher Verfahrenshandlungen, und zwar nicht nur während, sondern auch nach Abschluss eines Verfahrens. Darunter fallen Massnahmen wie Verhaltensberatung, Bereitstellung von Hilfsmitteln wie neuer Nummern von Mobiltelefonen oder eines Alarmsystems, Personenschutz, Unterstützung bei einem Umzug, bei der Errichtung von Sperrvermerken, vorübergehendes Unterbringen an einem sicheren Ort, Hilfe bei einer Namensänderung (Art. 30 ZGB), Aufbau einer vorübergehenden neuen Identität etc.

Die Bestimmung zählt zur Veranschaulichung die wesentlichen Massnahmen auf.

Vorübergehende neue Identitäten werden für den erforderlichen Zeitraum geschaffen. Damit ist sichergestellt, dass solche Massnahmen auch längerfristig bestehen können, solange der Schutz es erfordert (vgl. Art. 19).

4.2.2 Art. 6

Zweiter Abschnitt: Ausarbeitung eines Zeugenschutzprogramms Antrag

Der Antrag auf Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm wird von der zuständigen Strafverfahrensleitung gestellt, welche sich dabei in der Regel auf vorangehende Abklärungen und entsprechende Empfehlungen der ermittelnden Polizeibehörde stützt (Abs. 1). Zeugenschutz wird in den meisten Fällen schon vor dem Haupt- oder Rechtsmittelverfahren relevant, weshalb es sich bei der Antragstellerin vorrangig um die zuständige Staatsanwaltschaft handeln wird. Soweit diese nicht von sich aus aktiv wird, hat die aussagende Person oder ihre anwaltliche Vertretung Antrag an die Staatsanwaltschaft zu stellen. Für den Fall, dass die Verfahrensleitung es ablehnt, Antrag um Aufnahme in ein Schutzprogramm zu stellen, kann die betroffene Person gegen diesen Entscheid die im Strafprozess vorgesehenen Rechtsmittel ergreifen. Zu denken ist dabei vorrangig an eine Beschwerde gemäss Artikel 393ff. StPO. Aufgrund der prozessual vorgesehenen Überprüfbarkeit kann von einer Erweiterung des förmlichen Antragsrechts auf die zu schützende Person oder andere Beteiligte, wie dies teilweise in der Vernehmlassung gefordert wurde, abgesehen werden. Dazu kommt, dass einzig die Verfahrensleitung über die notwendigen Informationen verfügt, um die Notwendigkeit einer Antragstellung im Hinblick auf die zweckmässige Führung ihres Verfahrens beurteilen zu können.

127

Vgl. dazu Artikel 13f.

69

In der Praxis wird es wichtig sein, dass weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft einer gefährdeten Person Versprechungen im Hinblick auf die Aufnahme in ein Schutzprogramm machen.

In seltenen Fällen kann die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm auch erst nach Abschluss des Strafverfahrens notwendig werden. Dies kann z.B. dann angezeigt sein, wenn nach einer durch die Zeugenaussage ermöglichten Verurteilung Racheakte des Verurteilten oder seiner Angehörigen angedroht werden. In solchen Fällen, in denen sich erst nach Beendigung des Verfahrens die Gefährdung manifestiert, ist diejenige Behörde für die Antragsstellung zuständig, welche den verfahrensabschliessenden Entscheid gefällt hat (Abs. 2). Dies wird in der Regel das urteilende Gericht sein.

Der Antrag ist zu begründen und äussert sich insbesondere zum Interesse der Öffentlichkeit an der Aufklärung der verfolgten Straftat, zu der Bedeutung der Aussage für das Strafverfahren und zur Gefährdungslage (Abs. 3). Die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm nach Massgabe dieses Gesetzes setzt voraus, dass die Erforschung des Sachverhaltes oder die Ermittlung von Beschuldigten nicht ohne die Aussage der zu schützenden Person erreicht werden kann oder unverhältnismässig erschwert wäre (vgl. Art. 2, Geltungsbereich). Die Verfahrensleitung hat dies in ihrem Antrag darzulegen. Relevant ist die Bedeutung der Aussage bei Antragstellung. Auch wenn später die Aussage der Person im Laufe des Verfahrens aufgrund weiterer Beweise ihre Wichtigkeit verliert, kann die Person Schutz nach diesem Gesetz beanspruchen, sofern sie weiterhin gefährdet ist. Auf einen Katalog mit möglichen Delikten, bei welchen die Durchführung von Zeugenschutzprogrammen ausschliesslich möglich sein soll, wird verzichtet. Die Durchführung eines Zeugenschutzprogramms soll grundsätzlich für alle Verbrechens- und Vergehenstatbestände denkbar sein und der Entscheid soll unter Wahrung der Grundsätze der Verhältnismässigkeit und Subsidiarität gefällt werden.

Eine Einschränkung ist insofern nötig, als die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm nur für Verbrechens- und Vergehenstatbestände zugelassen werden soll, an deren Aufklärung ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, insbesondere terroristische Delikte, organisierte Kriminalität und sonstige Schwerstkriminalität.

Die im Antrag
festgehaltene Beurteilung der Gefährdungssituation soll der Zeugenschutzstelle als Grundlage für die Einstufung der Gefährdung dienen. Sie kann selber weitere Abklärungen tätigen.

Der Antrag und der damit zusammenhängende Schriftverkehr sind nicht Bestandteil der Akten des Strafverfahrens (Abs. 4). Damit soll verhindert werden, dass dem Angeklagten Informationen zukommen, welche die aussagebereite Person einer noch grösseren Gefährdung aussetzen.

Ändert sich die Gefährdungslage, treten neue Gefährdungsumstände ein oder fallen diese weg, soll die Zeugenschutzstelle aber auch im Laufe des weiteren Verfahrens unverzüglich und unaufgefordert benachrichtigt werden.

Der Bundesrat regelt in einer Verordnung die Einzelheiten der Antragsstellung und des Schriftverkehrs (Abs. 5).

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Art. 7

Prüfung des Antrags

Vor dem Entscheid über die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm führt die Zeugenschutzstelle ein umfassendes Prüfverfahren durch, in welchem sie insbesondere die Eignung der zu schützenden Person und die weiteren Kriterien gemäss Absatz 1 prüft: a.

Erheblichkeit der Gefährdung: Voraussetzung für die Anordnung von Schutzmassnahmen ist die Annahme, dass die direkt betroffene Person oder ihre Angehörigen einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben oder einem andern schweren Nachteil ausgesetzt sind. Mögliche Gefährdungstypen sind verbale Androhungen, schriftliche Androhungen wie etwa Morddrohungen, tätliche Angriffe und Misshandlungen, Bedrohung von Angehörigen, Übersendung von Gegenständen mit Symbolcharakter etc.). Die Gefährdung bestimmt sich nicht abstrakt, sondern es werden tatsächliche Anhaltspunkte, die den Eintritt des Schadens für die genannten Rechtsgüter wahrscheinlich erscheinen lassen, vorausgesetzt. In jedem Einzelfall ist eine Gefährdungsanalyse vorzunehmen.

b.

Eignung der Person: Die Person muss sich zur Durchführung von Zeugenschutzmassnahmen eignen. An der Eignung kann es beispielsweise fehlen, wenn eine zu schützende Person nicht bereit ist, die Schutzmassnahmen mitzutragen und Anweisungen zu befolgen, falsche Angaben macht, Zusagen nicht einhält, nicht zur Geheimhaltung bereit ist oder Straftaten begeht. Zur Prüfung der Eignung können von der Zeugenschutzstelle Fachpersonen beigezogen werden, sofern das notwendige Expertenwissen, z.B. für psychologische Beurteilungen, nicht bei den Mitarbeitenden selbst vorhanden ist.

c.

Das Vorliegen von Vorstrafen oder anderen Umständen, welche ein Risiko für die öffentliche Sicherheit oder von entgegenstehenden Interessen Dritter darstellen könnten, wenn die Person in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen würde: Eine vorgängige Delinquenz steht einer Aufnahme einer Person ins Programm nicht per se entgegen, hingegen muss im Einzelfall geprüft werden, ob das damals zur Frage stehende Verhalten ein Hinderungsgrund für die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm wäre. Dem möglichen Missbrauch der Rolle als geschützter Zeuge ist generell durch eine enge Begleitung des Zeugen durch die Zeugenschutzstelle entgegenzutreten (z.B. bei der Auswahl der neuen Arbeitsstelle).

d.

Ungenügen von Massnahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr durch die Kantone oder der Gewährung von prozessualen Zeugenschutzmassnahmen nach Artikel 149­151 der StPO: Bevor die meist einschneidenden und aufwendigen Zeugenschutzmassnahmen im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms nach diesem Gesetz aufgenommen werden, sind andere in Betracht kommende Schutzmöglichkeiten durch die Verfahrensleitung auszuschöpfen. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die Kompetenz zum Ergreifen solcher Massnahmen auch bei Dritten liegen kann (z.B. Kantonspolizei oder Zwangsmassnahmengericht). Die diesbezüglich unternommenen Schritte sind im Antrag darzulegen.

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e.

Erhebliches öffentliches Interesse an der Strafverfolgung: Ein wesentliches Element zur Beurteilung der Verhältnismässigkeit des ausserprozessualen Zeugenschutzes stellt das öffentliche Interesse an der Aufklärung des Delikts dar, für welche die gefährdende Mitwirkung einer Person in Anspruch genommen werden soll. Das vorausgesetzte erhebliche Interesse an der Strafverfolgung liegt vorrangig dann vor, wenn es sich um schwere Straftaten handelt. Ein erhebliches öffentliches Interesse ist jedoch auch bei leichteren Straftaten denkbar, deren erfolgreiche Verfolgung und Aufklärung beispielsweise aus politischen Gründen angezeigt ist. Handelt es sich trotz erheblicher Gefährdung nicht um ein solches Delikt, so ist zu Gunsten der Sicherheit der Zeugin oder des Zeugen auf eine Aussage zu verzichten.

Auch ist auf eine Verwertung der Aussage zu verzichten, wenn dieser keine massgebliche Bedeutung für das Strafverfahren zukommt, wodurch sich regelmässig ebenfalls die Gefährdung reduziert.

Die Eignungsprüfung wird mehrere Schritte umfassen (Gespräch, Fragebogen, psychologische Beurteilung) und bei Bedarf unter Beizug von Fachpersonen oder besonders geschultem Person durchgeführt werden. Insbesondere wird auch die finanzielle Situation einer Person geklärt (Fähigkeit zur Selbstversorgung, offene Schulden etc.).

Im Rahmen dieser Gespräche ist es unerlässlich, dass die Zeugenschutzstelle die zu schützende Person über die Möglichkeiten, Grenzen und Bedingungen des Schutzes klar und deutlich informiert. Der zu schützenden Person ist aufzuzeigen, in welchem Rahmen Schutz möglich ist und welche Mitarbeit und welche Einschränkungen hierfür aber auch von Seiten der zu schützenden Person nötig ist (z.B. Aufgabe der bisherigen Kontakte, kein Begehen von Straftaten etc.).

Bereits während des sorgfältig durchzuführenden Prüfverfahrens kann es notwendig werden, dass die Zeugenschutzstelle die ersten dringlichen Sofortmassnahnen selbständig an die Hand nimmt (Abs. 3). Unter Umständen werden solche Massnahmen von den verfahrensführenden Strafbehörden bereits vor der Antragstellung ergriffen, so dass die Zeugenschutzstelle in der Folge allenfalls nur Beratung und Unterstützung zu leisten hat (Art. 23 Abs. 1 Bst. e). Weil durch diese Sofortmassnahmen bereits eine Entschärfung der Gefährdungslage und damit auch eine Verringerung der zeitlichen Dringlichkeit erreicht wird, kann von der Einführung einschränkender gesetzlicher Prüfungs- und Entscheidfristen zur Behandlung eines Antrages abgesehen werden.

Art. 8

Entscheid

Der Entscheid über die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm wird durch die Direktorin oder den Direktor des Bundesamts für Polizei auf Antrag der Zeugenschutzstelle hin gefällt (Abs. 1). Diese gibt in ihrem Antrag gestützt auf die Ergebnisse des Prüfverfahrens und nach pflichtgemässem Ermessen eine zustimmende oder ablehnende Empfehlung ab.

Beim Entscheid über die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm sind gemäss Absatz 2 insbesondere diejenigen Kriterien zu berücksichtigen, welche die Zeugenschutzstelle im Rahmen ihres Prüfverfahrens nach Artikel 7 Absatz 1 bereits beurteilt hat.

72

Der Entscheid der Direktorin oder des Direktors des Bundesamtes für Polizei stellt gemäss Absatz 3 eine Verfügung im Sinne des Artikels 5 VwVG dar und ist zu begründen. Die Formvorschriften, namentlich der Rechtsmittelweg, richten sich nach dem VwVG. Neben der ohnehin beschwerten betroffenen Person als Verfügungsadressat wird aufgrund ihrer zentralen Interessenlage auch der antragstellenden Behörde spezialgesetzlich ein Beschwerderecht eingeräumt.

Zum Schutz der betroffenen Person sind diese Akten nicht Teil der Akten des Strafverfahrens (vgl. Art. 6). Einzig die Information darüber, dass nach dem zustimmenden Entscheid ein Schutzprogramm tatsächlich durchgeführt wird, darf aus den Akten des Strafverfahrens ersichtlich sein.

Art. 9

Zustimmung und Beginn des Zeugenschutzprogramms

Für die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm ist die Zustimmung der zu schützen Person oder ihres gesetzlichen Vertreters erforderlich. Das Erfordernis des Einverständnisses stellt klar, dass Schutzmassnahmen nach diesem Gesetz gegen den Willen der zu schützenden Person nicht zulässig sind. Der Zeuge muss bereit sein, die getroffenen Massnahmen aktiv zu unterstützen und am Erfolg derselben mitzuwirken. Unberührt bleibt die Entscheidung des Zeugen auf jederzeitige und freiwillige Beendigung des Zeugenschutzprogramms und der damit verbundenen Massnahmen.

Die Zustimmung setzt voraus, dass die zu schützende Person über den Ablauf des Zeugenschutzprogramms, die entsprechenden Rechte und Pflichten (z.B. keine weitere Delinquenz) sowie über die Folgen bei deren Verletzung aufgeklärt worden ist.

Mit seiner Zustimmung zur Aufnahme bestätigt die zu schützende Person, gemäss Absatz 1 der Bestimmung informiert worden zu sein. Wenn die zu schützende Person selbst keine rechtsgültige Zustimmung abgeben kann, z.B. weil es sich um ein Kind handelt, so erfolgt diese über die gesetzliche Vertretung.

Art. 10

Änderungen im Zeugenschutzprogramm

Die Änderung bestimmter Zeugenschutzmassnahmen kann unter Umständen sehr einschneidende Auswirkungen auf die Lebenssituation der zu schützenden Person haben. Aufgrund dieser Tragweite wird die Entscheidbefugnis über wesentliche Änderungen im Zeugenschutzprogramm der Direktorin respektive dem Direktor des Bundesamtes für Polizei zugewiesen.

4.2.3

Art. 11

Dritter Abschnitt: Beendigung des Zeugenschutzprogramms und Fortführung über das Ende eines Strafverfahrens hinaus Beendigung

Absatz 1 der Bestimmung legt fest, unter welchen Voraussetzungen der Zeugenschutz beendet werden kann. Neben dem Wegfall der Gefährdung kann das Zeugenschutzprogramm unter Wahrung der Verhältnismässigkeit auch bei schwerwiegen73

der Verletzung der Vereinbarung und den darin festgehaltenen Bedingungen beendet werden. Abgesehen davon, dass massiv pflichtwidriges Verhalten zur Verunmöglichung des Zeugenschutzes führt, wird dadurch allenfalls auch die Sicherheit der Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle gefährdet. Beispiele für eine Beendigung gemäss Buchstabe b können kriminelles Verhalten während der Schutzmassnahme oder die erneute Kontaktnahme mit dem kriminellen Milieu sein.

Bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens kann das Zeugenschutzprogramm nur nach Rücksprache mit der zuständigen Verfahrensleitung beendet werden. Während eines hängigen Verfahrens sind die Entscheidungen über den Zeugenschutz massgeblich für die Entwicklung des Verfahrens, für die die Verfahrensleitung die Verantwortung trägt. Bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens ist deshalb eine enge Zusammenarbeit mit der Verfahrensleitung nötig. Ab dem Stadium des erstinstanzlichen Hauptverfahrens ist aufgrund ihrer Interessenlage zusätzlich die Staatsanwaltschaft zu konsultieren (Abs. 2). Ungeachtet dessen liegt die abschliessende Entscheidkompetenz für die Belange des ausserprozessualen Zeugenschutzes, inklusive dessen Beendigung, bei der Direktorin oder dem Direktor des Bundesamtes für Polizei.

Besteht nach Beendigung des Zeugenschutzprogramms nach diesem Gesetz weiteres Schutzbedürfnis, richten sich die Massnahmen nach der allgemeinen polizeilichen Gefahrenabwehr durch den zuständigen Kanton.

Das Zeugenschutzprogramm ist gemäss Absatz 3 in jedem Fall auf ausdrückliches Verlangen der zu schützenden Person zu beenden. Der Ausstieg aus dem Programm soll jedoch nicht gestützt auf eine vorübergehende Stimmungsschwankung vollzogen werden, sondern erst nach gründlicher und detaillierter Aufklärung über die Auswirkungen und nach einer Bedenkzeit erfolgen. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten des Vorgehens bei der Beendigung des Zeugenschutzprogramms (Abs. 4).

Art. 12

Fortführung über das Ende des Strafverfahrens hinaus

Zeugenschutzmassnahmen werden solange über die Beendigung des Strafverfahrens hinaus aufrecht erhalten, wie die Gefahrenlage fortbesteht und die Zustimmung zur Mitwirkung im Zeugenschutzprogramm weiterhin vorliegt.

4.2.4 Art. 13

Vierter Abschnitt: Rechte und Pflichten der geschützten Person Ansprüche Dritter gegenüber der zu schützenden Person

Massnahmen des Zeugenschutzes dürfen nicht dazu führen, dass Dritte in ihrer Rechtsposition beeinträchtigt werden. Die Durchsetzung berechtigter Ansprüche Dritter, wie z.B. eines privaten Gläubigers aber auch der Steuerbehörden, muss weiterhin möglich sein. Die Zeugenschutzstelle hat dafür zu sorgen, dass die Erreichbarkeit der zu schützenden Person im Rechtsverkehr nicht durch Zeugenschutzmassnahmen vereitelt wird. In der Vernehmlassung wurde die Frage aufgeworfen, ob diese Regelung genügen wird, um Konflikte zwischen den Dritten und dem Zeugenschutz zu vermeiden. Hierzu ist festzuhalten, dass die Zeugenschutzstelle angesichts der mannigfaltigen Lebenssachverhalte auch bei einer detaillierteren Regelung nach wie vor dem Einzelfall angepasst vorgehen muss. In Anbe74

tracht der unzähligen möglichen Konstellationen und unter Berücksichtigung des notwendigen Handlungsspielraums der Zeugenschutzstelle kann somit auf eine höhere Regelungsdichte verzichtet werden. Gestützt wird diese Lösung auch durch die im Ausland gemachten positiven Erfahrungen mit ähnlichen Regelungen.

Vor der Aufnahme einer Person in den Zeugenschutz muss sich die Zeugenschutzstelle einen Überblick über die rechtliche und finanzielle Situation der zu schützenden Person verschaffen. Dies wird ihr ermöglicht durch ihre Befugnisse zur Datenerhebung gemäss Artikel 26 und 27 des Gesetzes. Die Mitwirkungspflicht der zu schützenden Person in Bezug auf die Klärung und Regelung von Drittansprüchen ist zudem in Absatz 1 dieses Artikels ausdrücklich statuiert.

Es ist zu beachten, dass die Zeugenschutzstelle in Bezug auf die Durchsetzung der Ansprüche nur als Informationsmittler tätig werden kann (z.B. Bestellung eines Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle als Zustellungsbevollmächtigen). Die Gläubiger einer zu schützenden Personen sollen und können durch den Zeugenschutz aber nicht besser gestellt werden; insbesondere kann die Zeugenschutzstelle nicht für die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen einstehen.

Art. 14

Ansprüche der geschützten Person gegenüber Dritten

Absatz 1 soll verdeutlichen, dass Ansprüche der zu schützenden Person gegenüber Dritten, z.B. Sozialversicherungen, privaten Versicherungen und privaten Schuldnern von den Zeugenschutzmassnahmen nach dem vorliegenden Gesetz nicht berührt werden. Die Gewährung von Sozialhilfe, Versicherungsleistungen oder sonstigen Leistungen (z.B. Familienzulagen des Arbeitgebers) richtet sich nach den jeweiligen Leistungsvoraussetzungen und wird auch von den entsprechenden Leistungsträgern geprüft.

Die Zeugenschutzstelle kann gegenüber Dritten unter entsprechender Bevollmächtigung im Namen und im Auftrag der zu schützenden Person auftreten und muss dabei nicht zwingend die Tatsache bekanntgeben, dass sich eine Person unter Zeugenschutz befindet. Der Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen und andere Leistungen kann aber an bestimmte faktische Voraussetzungen geknüpft sein, die unter Umständen aufgrund eines wegen dem Zeugenschutz vorgenommenen Wohnsitzoder Arbeitsplatzwechsels nicht erfüllt sind. Ansprüche könnten dann auch durch eine bevollmächtigte Person nicht geltend gemacht werden. Absatz 2 soll verhindern, dass eine Person nicht von Leistungen profitieren kann, wenn allein aufgrund der vorgenommenen Zeugenschutzmassnahmen die Voraussetzungen auf eine Leistung nicht erfüllt sind. Die Zeugenschutzstelle muss hierfür gegenüber allfälligen Leistungsträgern jene Tatsachen darlegen und bestätigen, die für die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen der Unterstützung benötigt werden.

Zur Beantwortung der in der Vernehmlassung geäusserten Frage, ob diese Regelung ausreichend ist, kann auf die entsprechenden Ausführungen zu Artikel 13 verwiesen werden: In Anbetracht der unzähligen möglichen Anwendungsfälle und des notwendigen Handlungsspielraums der Zeugenschutzstelle ist auch hier auf eine höhere Regelungsdichte zu verzichten.

Art. 15

Finanzielle Leistungen der Zeugenschutzstelle

Der Wechsel des Lebensmittelpunkts einer zu schützenden Person nimmt ihr in der Regel zumindest vorübergehend die Erwerbsgrundlage. Die Sicherung des Lebens75

unterhalts bildet jedoch eine unabdingbare Voraussetzung des Zeugenschutzes. Bis die zu schützende Person in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, bedarf sie unter Umständen wirtschaftlicher Unterstützung.

Soweit und solange die zu schützende Person eigene Mittel nicht einsetzen kann oder Leistungen im Sinne von Artikel 14 von anderen Leistungsträgern (noch) nicht zur Verfügung stehen, schafft Absatz 1 die Möglichkeit einer vorübergehenden wirtschaftlichen Unterstützung durch die Zeugenschutzstelle. Sie ist in dem Umfang zu gewähren, als dies zum Zwecke des Zeugenschutzes und für die Kosten der Lebenshaltung erforderlich ist. Den Zeugen trifft eine Mitwirkungspflicht, indem er über sein Einkommen und seine Vermögenswerte oder familiären Verhältnisse Auskunft zu geben hat, zudem kann auch die Zeugenschutzstelle selber gemäss Artikel 27 des Gesetzes Daten erheben.

Für die Höhe der zu entrichtenden Leistungen gilt der Grundsatz, dass durch die Aufnahme ins Programm zwar der Lebensunterhalt der Person gesichert wird, dass sie dadurch aber keinen ungerechtfertigten finanziellen Vorteil erfahren darf. Damit wird auch dem möglichen Vorwurf vorgebeugt, die Aussage der zu schützenden Person sei durch die Gewährung unzulässiger Vorteile sozusagen «erkauft» worden.

Die Unterstützung richtet sich folglich in der Höhe maximal nach dem bisherigen legalen Einkommen, den familiären Unterstützungspflichten sowie den Sicherheitsbedürfnissen (z.B. Wohnung, welche aus Sicherheitsgründen besser ausgestattet sein muss). Die Dauer der Unterstützung wird auf den notwendigen Zeitraum begrenzt.

Leistungen im Zusammenhang mit Angehörigen werden nur dort geleistet, wo ein ständiges Zusammenleben vorliegt oder gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen bestehen. Sollten dem Zeuge Ausgaben entstehen, denen eine Abweichung von Absprachen und Vereinbarungen zugrunde liegt, hat er diese selbst zu tragen.

Obwohl den zu schützenden Personen aufgrund ihrer Mitwirkung im Verfahren kein finanzieller Schaden entstehen sollte, wird in denjenigen Fällen von finanziellen Beiträgen abgesehen, in denen die Zeugen ihren Lebensunterhalt aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse ohne Einschränkungen selbst bestreiten können.

Auch bei besonders hohem rechtmässigem Einkommen der zu schützenden Person und
entsprechend hohen Lebenshaltungskosten können solche aus Gründen der Verhältnismässigkeit nicht ersetzt werden. Als Massstab für die untere Grenze der Unterstützung sollen demgegenüber die Ansätze der Sozialhilfe des letzten Aufenthaltsortes zur Anwendung kommen, wodurch auch bei bisher fehlendem rechtmässigem Einkommen eine Sicherung der wirtschaftlichen Existenz gewährleistet ist (Abs. 2).

Absatz 3 stellt klar, dass Zuwendungen der Zeugenschutzstelle, die eine zu schützende Person auf unlautere Art und Weise (z.B. durch wissentlich unwahre Angaben über die Lebensumstände) erschlichen hat, zurückgefordert werden können.

Art. 16

Mitwirkung in Verfahren

In Gerichts- und Verwaltungsverfahren von Bund, Kantonen und Gemeinden, in welche die geschützte Person involviert ist, muss sichergestellt werden, dass die allfälligen neuen Personalien, unter denen die zu schützende Person zu diesem Zeitpunkt lebt, sowie ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort nicht offengelegt werden muss und damit eine Erhöhung ihrer Gefährdung herbeigeführt wird. Eine Person mit einer neuen Identität wird zwar unter ihrer alten Identität vor Gericht aussagen, muss aber Angaben zum neuen Namen sowie Wohn- oder Aufenthaltsort verwei76

gern können. Der Verzicht auf solche Angaben kann, soweit entsprechende Regelungen vorhanden sind, durch Beantragung von prozessualem Zeugenschutz und ­ wo dieser Schutz nicht genügt ­ durch Zeugnisverweigerung wegen Gefährdung ermöglicht werden. Entsprechende Regelungen sind in der StPO enthalten (Art. 149 und 169 Abs. 3) und auch im Militärstrafprozess vom 23. März 1979128. Wo prozessualer Zeugenschutz sowie Zeugnisverweigerungsrechte ausdrücklich geregelt sind, sind die jeweiligen Verfahrensbestimmungen anwendbar. Für die übrigen Verfahren kann sich der Zeuge auf Artikel 16 des Zeugenschutzgesetzes berufen.

Gemäss Absatz 1 ist eine geschützte Person deshalb berechtigt, Angaben zur Person nur über ihre frühere Identität zu machen und unter Hinweis auf den Zeugenschutz Angaben, die Rückschlüsse auf die gegenwärtigen Personalien sowie den Wohnund Aufenthaltsort erlauben, zu verweigern.

An der Stelle des Wohn- oder Aufenthaltsorts ist die Adresse der Zeugenschutzstelle zu benennen (Abs. 2).

4.2.5

Fünfter Abschnitt: Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und Privaten

Personenbezogene Informationen sind heute in einer Vielzahl von Datensammlungen gespeichert, die auch mehr und mehr miteinander verknüpft sind. Häufig sind Informationen aus solchen Datensammlungen einer Vielzahl von Behörden, Institutionen und auch Privaten zugänglich. Durch Auskünfte aus diesen Datensammlungen kann unter Umständen der Aufenthaltsort einer zu schützenden Person festgestellt werden.

Die umfangreiche Datenverarbeitung im privaten Bereich, wie z.B. bei Versicherungen und Banken oder im Telekommunikationswesen, eröffnet ebenso Möglichkeiten zur Ausspähung. Effektiver Zeugenschutz erfordert deshalb auch den Einbezug privater Stellen so dass diese ebenfalls zur Mitwirkungen und zur Geheimhaltung verpflichtet werden können.

Die Regelung der Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und Privaten dient nicht nur dem Schutz der gefährdeten Person, sondern soll der Zeugenschutzstelle auch helfen, ihre Rolle bei der Durchsetzung von Ansprüchen Dritter gegen die zu schützende Person wahrzunehmen.

Zu den öffentlichen Stellen zählen die zentralen und dezentralen Verwaltungsträger von Bund, Kantonen und Gemeinden (d.h. auch öffentlich-rechtliche Körperschaften, Anstalten und Stiftungen) wie auch privatrechtliche Verwaltungsträger mit öffentlichen Aufgaben (z.B. gemischtwirtschaftliche Unternehmungen oder spezialgesetzliche Aktiengesellschaften wie die Swisscom oder die SBB).

In der Vernehmlassung wurde verschiedentlich die Wichtigkeit der engen Zusammenarbeit zwischen der Zeugenschutzstelle und den privaten Opferhilfeorganisationen hervorgehoben, welche oft bereits im Vorfeld eines allfälligen Zeugenschutzprogramms Schutz und Betreuung gewährleisten. Diesbezüglich wurde in der Vernehmlassung auch der Vorschlag geäussert, die entsprechende Zusammenarbeit 128 T

T

SR 322.1

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vertraglich oder gesetzlich zu regeln und zu entgelten. Tatsächlich werden die von der Zeugenschutzstelle zu schützenden Personen teilweise bereits vorgängig von einer privaten Opferhilfeorganisation betreut sein, so dass die Übernahme der Schutzaufgabe in enger Absprache mit diesen Stellen zu erfolgen haben wird.

Art. 17

Sperre der Bekanntgabe von Daten

Mit dieser Bestimmung wird eine Grundlage für die Verpflichtung öffentlicher Stellen und Privater geschaffen, auf Anordnung der Zeugenschutzstelle personenbezogene Daten nicht bekanntzugeben oder Daten, welche einen Rückschluss auf den aktuellen oder bisherigen Wohnort erlauben, gemäss Angaben der Zeugenschutzstelle zu bearbeiten (z.B. Adresse der Zeugenschutzstelle). Die Verpflichtung besteht nur insoweit, als dies technisch auch möglich ist (z.B. durch Beschränkung der Zugriffsberechtigung auf diese Daten).

Betroffen von dieser Regelung sind v.a. öffentliche Datensammlungen und Register z.B. bei den Gemeinden (Einwohnerkontrolle, Grundbuch etc.), kantonalen Ämtern (Fahrzeugausweis) oder Bundesämtern (Ausweis-Informationssystem, Sozialversicherungen, Armee etc.), aber auch private Datensammlungen.

Art. 18

Mitteilungs- und Aushändigungspflicht

Gemäss dieser Bestimmung sollen die öffentlichen und privaten Stellen, die von der Zeugenschutzstelle ins Vertrauen gezogen werden, dieser unverzüglich eine Mitteilung machen, wenn sie eine Anfrage in Bezug auf gesperrte oder nicht gesperrte Daten zur geschützten Person feststellen (Abs. 1). Eine Pflicht, hierfür besondere technische Vorkehrungen einzurichten, wird aber nicht begründet.

Kann ein Informationssystem bereits heute Abfrageprotokolle für Zugriffe auf eine bestimmte Person generieren, sollen diese auf Verlangen an die Zeugenschutzstelle herausgegeben werden (Abs. 2).

Diese Verpflichtungen verfolgen zwei Zwecke: Sie sollen einerseits dem Erkennen und Verhindern von Ausspähversuchen durch den Gefährder dienen. Zum anderen ermöglichen sie der Zeugenschutzstelle, ihre Rolle bei der Durchsetzung von Ansprüchen Dritter gegen die zu schützende Person wahrzunehmen (z.B. weil ein Gläubiger die Person sucht).

Damit die Ausspähversuche eines Gefährders auch nicht indirekt, nämlich über die gegen aussen in Erscheinung tretenden Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle erfolgen können, gilt die Mitteilungs- respektive Aushändigungspflicht auf Aufforderung der Zeugenschutzstelle hin zusätzlich für Nachforschungen bezüglich ihrer Mitarbeitenden (Abs. 3).

Mit Blick auf die möglichen Folgen einer Nichtweitergabe von Informationen prüft die Zeugenschutzstelle in jedem Einzelfall in Rücksprache mit der angefragten Stelle, ob eine Weitergabe erfolgen kann oder welche Massnahme zu ergreifen ist.

Art. 19

Aufbau einer neuen Identität für den erforderlichen Zeitraum

Der Aufbau einer wirksamen neuen Identität erweist sich häufig als unverzichtbar für wirkungsvollen Zeugenschutz. Hierfür sind auch Dokumente mit Tarnpersonalien erforderlich. Die zu schützende Person muss mit Urkunden und Nachweisen ausgestatten werden, mit denen der für die Tarnung angenommene Lebenslauf 78

nachvollzogen werden kann. In dieses Abschottungssystem müssen auch die für die neue Identität bedeutsamen Datensammlungen und Register miteingebunden werden. Zwecks Erreichung dieses Zieles sind die öffentlichen Stellen zu verpflichten, auf Ersuchen der Zeugenschutzstelle Dokumente und Urkunden herzustellen oder zu verändern sowie die geänderten Daten zu bearbeiten, d.h. die Person wird unter der neuen Identität im Register erfasst. Auch private Stellen sind zu verpflichten, den Begehren der Zeugenschutzstelle nachzukommen, denn auch im privaten Bereich werden Ausweise, Zeugnisse, Bestätigungsschreiben sowie ähnliche Dokumente ausgestellt.

Gemäss Absatz 2 sind beim Aufbau einer vorübergehenden neuen Identität öffentliche oder private schützwürdige Interessen zu berücksichtigen. Damit wird klargestellt, dass das Erstellen und Gebrauchen von falschen Identitätsdokumenten als erheblicher Eingriff in die Rechtsordnung nur unter Einhaltung der Verhältnismässigkeit zu erfolgen hat und dass der Aspekt des Zeugenschutzes nicht ohne Einschränkung und kritiklos über entgegenstehende öffentliche oder private Interessen gestellt wird. Bei einem Teil der geschützten Personen wird es sich um Personen mit Vorstrafen handeln, auch können Einträge im Betreibungsregister oder anderen Registern mit ähnlicher Funktion vorhanden sein. Die Bestimmung schliesst an Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c an, nach welchem bei erheblich entgegenstehenden Interessen bereits die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm abgelehnt werden kann.

Nach Beendigung des Zeugenschutzprogramms sind nach Absatz 3 die Einträge auf die neue Identität mit den Einträgen der ursprünglichen Identität zusammenzuführen und dann zu löschen. Dies erfordert eine manuelle Nachführung in Zusammenarbeit mit den betroffenen Stellen und die Einziehung der ausgestellten Ausweise. Die Zeugenschutzstelle sorgt für die Einziehung und Vernichtung der benutzten Dokumente.

Eine Person, welche mehrere Jahre unter dem neuen Namen gelebt hat und so bekannt ist, möchte unter Umständen nach Ende des Zeugenschutzprogramms den vorübergehend angenommenen Namen behalten. Sie kann hierfür eine definitive Namensänderung nach Artikel 30 ZGB beantragen. Gemäss Artikel 30 ZGB kann die Regierung des Wohnsitzkantons einer Person die Änderung des Namens bewilligen, wenn wichtige Gründe
vorliegen. Ein solcher Grund wird in den Zeugenschutzprogrammfällen in der Regel gegeben sein. Die Namensänderung wird ­ wie auch sonst üblich ­ im Zivilstandsregister entsprechend vermerkt. In der Vernehmlassung wurde die Forderung geäussert, dass auch im Rahmen des Zeugenschutzgesetzes die Möglichkeit einer dauerhaften Identitätsänderung vorgesehen werden soll. Angesichts dessen, dass eine vorübergehende neue Identität ohnehin stets für den erforderlichen Zeitraum, d.h. bis zum Wegfall der Gefährdung verliehen wird, kann aus Gründen der Verhältnismässigkeit von einer zum vorneherein als dauerhaft festgesetzten Identitätsänderung abgesehen werden.

Hingegen kann es erforderlich sein, auch die Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle vorübergehend mit einer anderen Identität auszustatten. Offenes Auftreten der mit dem Zeugenschutz befassten Behörden als Angehörige des Bundesamtes für Polizei kann das Interesse Dritter wecken und damit das Risiko für die zu schützende Person oder die Behörden selber unnötig erhöhen. Die Möglichkeit des in Absatz 4 verankerten Handelns unter Tarnnamen für Angestellte der Zeugenschutzstelle ist aber auch zum Selbstschutz wichtig. Als Informationsträger ist der Angestellte insofern gefährdet, als Zielpersonen mittel Druckausübung auf die Zeugenschützer versu79

chen, an die Zeugen zu gelangen. Auch bei selbstverschuldetem Ausscheiden eines Zeugen aus dem Zeugenschutzprogramm ist es von Vorteil, wenn der Zeuge nicht die Echtpersonalien der Zeugenschützer kennt.

Art. 20

Anhörung bei Aufenthaltsregelung für Ausländerinnen und Ausländer

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist wesentliche Voraussetzung für den Schutz ausländischer Zeugen. Daher ist es notwendig, dass die Anliegen der Zeugenschutzstelle bereits im entsprechenden Verwaltungsverfahren eingebracht werden können, wenn die verfügende Behörde einen ablehnenden Entscheid in Betracht zieht. Auch für den Fall eines geplanten Widerrufs einer bereits erteilten Aufenthaltsbewilligung eines Zeugen in einem Programm ist es wichtig, dass die Interessen des Zeugenschutzes und der Strafverfolgung (die Person als wichtigen Zeugen noch verfügbar zu haben) mitberücksichtigt werden können und so ­ wenn die sich gegenüberstehenden Interessen dies rechtfertigen ­ eine Ausweisung aufgeschoben werden kann.

Die in Artikel 20 festgelegte Anhörungspflicht setzt voraus, dass die zuständige kantonale Ausländerbehörde vorgängig über die Durchführung eines Zeugenschutzprogramms in Kenntnis gesetzt worden ist. In Fällen der vorläufigen Aufnahme ist der Ansprechpartner das BFM und wenn die Verhängung eines Einreiseverbotes nach Artikel 67 AuG im Raum steht, entweder das BFM (Art. 67 Abs.1) oder fedpol (Art. 67 Abs. 2). Aufgrund der notwendigerweise engen Zusammenarbeit zwischen den Ausländerbehörden und der Zeugenschutzstelle wird diese Orientierung in der Regel stattgefunden haben. Ist dies nicht der Fall, muss die Zeugenschutzstelle spätestens nach Zustellung des Entscheids der Ausländerbehörde mit der verfügenden Behörde oder nach Einreichen einer Beschwerde mit der Beschwerdeinstanz Kontakt aufnehmen.

Art. 21

Abstimmung bei freiheitsentziehenden Massnahmen

Bei in ein Schutzprogramm aufgenommenen Zeugen, die sich aufgrund ihrer Mittäterschaft oder aufgrund der Begehung eines anderen Deliktes vor Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm in Untersuchungshaft befinden und später zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, ist eine enge Zusammenarbeit mit den Vollzugsbehörden notwendig. Die Abstimmung mit der jeweiligen Strafvollzugsbehörde stellt sicher, dass die im Sicherheits- und Organisationsbereich der Vollzugsanstalt möglichen Gefährdungen beherrscht werden können. Im Rahmen der Untersuchungshaft mag unter Umständen bereits der Hinweis genügen, dass eine Person unter keinen Umständen mit gewissen anderen Personen zusammengeführt werden darf.

Die Zeugenschutzstelle wird daher verpflichtet, die für den Zeugen zuständigen Strafvollzugsbehörden oder die Leitung der Vollzugsanstalt von Beginn und Ende des Zeugenschutzes zu unterrichten und die für den Schutz notwendigen Massnahmen nach Rücksprache mit der Vollzugsleitung und unter Berücksichtigung der Belange des Strafvollzugs zu treffen. Gleichzeitig ist die Zeugenschutzstelle aber auch darauf angewiesen, dass die Leitung der Vollzugseinrichtung die Zeugenschutzstelle über alle für die Ausgestaltung und Fortführung des Zeugenschutzes bedeutsamen Umstände informiert.

80

4.3

Drittes Kapitel: Zeugenschutzstelle

4.3.1

Erster Abschnitt: Organisation und Aufgaben

Art. 22

Organisation

Angesichts der relativ kleinen Anzahl erwarteter Zeugenschutzfälle und des nötigen Aufbaus und Erhalts von Knowhow und Professionalität dieser Stelle erscheint es für die Schweiz sinnvoll, die Durchführung der Zeugenschutzmassnahmen sowohl für Zeugen aus Bundesverfahren als auch für Zeugen aus kantonalen Verfahren zentral bei den Bundesbehörden anzusiedeln129. Erfahrungen aus der operativen Zeugenschutzarbeit zeigen eine derartige Komplexität der Materie, dass die anzustrebende Effizienz und Professionalität nur auf der Ebene einer bundesweiten zentralen Zeugenschutzstelle zu bewältigen ist. Hinzu kommen die kleinräumigen Verhältnisse in der Schweiz, welche eine interkantonale und oft wohl internationale Zusammenarbeit erforderlich machen.

Die Bestimmung weist die operative Arbeit nach Massgabe dieses Gesetzes einer noch zu schaffenden Zeugenschutzstelle zu. Der Fokus der dem Schutz einer Person dienenden Zeugenschutzarbeit liegt bei der Abschottung und Sicherung einer Person gegen aussen. Diese zentralen Fragen decken sich mit den Aufgaben, welche fedpol im Bereich der verdeckten Ermittlung vornimmt. Eine Ansiedelung der Dienststelle bei fedpol, erscheint unter den gegebenen Umständen sachlich gerechtfertigt und zweckmässig, da damit vom dort vorhandenen Knowhow und Kontakten zu Zeugenschutzstellen im Ausland profitiert werden kann. Die Zeugenschutzstelle ist zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit personell und organisatorisch von den Einheiten zu trennen, die gerichtspolizeiliche Ermittlungen führen.

Art. 23

Aufgaben und Ausbildung

Die Zeugenschutzstelle ist mit folgenden Aufgaben betraut:

129 T

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a.

Durchführung des Prüfverfahrens und Antragstellung an den Direktor oder die Direktorin fedpol zur Durchführung eines Zeugenschutzprogramms.

Dieses Verfahren richtet sich nach den Bestimmungen des 2. Kapitels, 2.

Abschnitt.

b.

Durchführung der im Einzelfall erforderlichen Massnahmen zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes. Einzelne Schutzmassnahmen sind stets in verhältnismässiger Weise anzuordnen: Sie müssen tatsächlich geeignet sein, das Eintreten einer Schädigung des Zeugen oder seiner Angehörigen zu verhindern. Es sind diejenigen Schutzmassnahmen anzuordnen, die dem Schutz so gut wie nötig dienen; es ist also die mildeste Erfolg versprechende Massnahme zu ergreifen. Die Direktorin oder der Direktor fedpol, der über die Aufnahme in das Programm entscheidet, wird damit gleichzeitig den Rahmen der Schutzmassnahmen beschliessen (z.B. Zulässigkeit des Aufbaus einer neuen Identität für den erforderlichen Zeitraum), die Durchführung dieser Massnahmen und Ausgestaltung im Einzelnen obliegt dann aber der Zeugenschutzstelle.

Vgl. Ergebnis der Anhörung der Kantone via KKJPD/SODK, Schreiben vom 9. April 2008.

81

Bei einer Person, die stark gefährdet ist, braucht es ein «Paket» aus verschiedenen Massnahmen, wobei zu Beginn sehr viele Massnahmen nötig sind, Schutz -und Betreuungsintensität dann mit der Zeit aber abflachen.

Hierzu zählen niederschwellige Massnahmen wie z.B. Verhaltensberatung, Bereitstellung von Hilfsmitteln (neue Telefonnummer, Einbau Alarmsystem), psychologische Betreuung, Personen- und Objektschutz und kurzfristige sichere Unterbringung und Einrichtung von Auskunftssperren bei Behörden und privaten Stellen bis zur einer effektiven Umsiedlung und vorübergehenden Sicherung des Lebensunterhaltes und schliesslich der Beschaffung von Tarndokumenten zur Annahme einer neuen Identität für den erforderlichen Zeitraum. Falls es sich bei der zu schützenden Person um ein Kind handelt, so muss im Rahmen der zu ergreifenden Massnahmen auch den diesbezüglichen speziellen Bedürfnissen Rechnung getragen werden.

Die einzelnen Massnahmen müssen im jeweiligen konkreten Fall individuell geprüft werden. Die Durchführung von Gefährdungsanalysen und die laufende Überprüfung der Gefährdungssituation sind zum Entscheid über die Notwendigkeit und Angemessenheit der Massnahmen unerlässlich.

Voraussetzung für die Durchführung von einzelnen Massnahmen ist die Beschaffung und Unterhaltung der erforderlichen Logistik durch die Zeugenschutzstelle.

c.

Allgemeine Beratung und Betreuung der geschützten Person sowie Unterstützung bei der Abwicklung persönlicher Angelegenheiten. Darunter fällt z.B. die zentrale Koordination der Zeugenschutzarbeit durch Zusammenarbeit mit den betroffenen Behörden (z.B. Einwohneramt, Fremdenpolizei, Opferhilfe, AHV-Zweigstelle etc.) und privaten Stellen (Vermieter, Telefonund Internetanbieter, private Versicherungen, Schuldner und Gläubiger etc.).

Die Zeugenschutzstelle nimmt hier eine wichtige Vermittlerfunktion ein. Sie hat sicherzustellen, dass keine Rückschlüsse vom alten auf den neuen Wohnort oder von einer alten auf die neue Identität gezogen werden können, muss aber gleichzeitig dafür sorgen, dass berechtigte Ansprüche von Dritten und gegenüber Dritten erfüllt werden können.

Zentraler Gedanke des Zeugenschutzes ist es auch, die Person so rasch als möglich und sinnvoll zu reintegrieren und der Selbständigkeit zuzuführen.

Die Zeugenschutzstelle bietet hier entsprechende Unterstützung, so z.B. bei der Beschaffung eines Arbeits- bzw. Ausbildungsplatzes oder einer Umschulung.

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82

d.

Koordination der ausserprozessualen Schutzmassnahmen nach diesem Gesetz mit den nötigen prozessualen Schutzmassnahmen gemäss Artikel 149 ff. StPO.

e.

Beratung und Unterstützung der inländischen Polizeibehörden bei Schutzmassnahmen zugunsten von Personen ausserhalb eines Zeugenschutzprogramms. Dazu gehören auch die Beratung und Unterstützung beim Ergreifen von Sofortmassnahmen für Personen, für die der Entscheid über die Aufnahme in den Zeugenschutz noch ausstehend ist, falls diese Sofortmassnahmen nicht unmittelbar von der Zeugenschutzstelle selbst an die Hand genommen werden (Art. 7 Abs. 3).

f.

Prüfung des Ersuchens eines ausländischen Staates oder eines internationalen Strafgerichtshofes zur Aufnahme einer Person in das innerstaatliche Schutzprogramm. Es handelt sich hier um Personen, die sich bereits in einem Zeugenschutzprogramm befinden und via Ersuchen der jeweiligen ausländischen Zeugenschutzstelle oder des internationalen Strafgerichtshofes in das innerstaatliche Schutzprogramm übernommen werden sollen.

g.

Koordination der internationalen Zeugenschutzarbeit durch Zusammenarbeit mit den Dienststellen im Ausland. Die Zusammenarbeit mit dem Ausland spielt schon alleine aufgrund der flächenmässig geringen Ausdehnung der Schweiz eine wichtige Rolle. Die Zusammenarbeit bezieht sich einerseits auf punktuelle Handlungen wie Hilfe bei Familienzusammenführungen, oder Transporten auf nationalem Gebiet. Der zweite und wichtige Pfeiler ist jedoch die eigentliche Übernahme von geschützten Personen, bei denen eine dauerhafte und sichere Unterbringung eines gefährdeten Zeugen nur im Ausland möglich ist.

h.

In der Vernehmlassung wurde verschiedentlich die Wichtigkeit der engen Zusammenarbeit zwischen der Zeugenschutzstelle und den Opferhilfeorganisationen hervorgehoben, welche oft bereits im Vorfeld eines allfälligen Zeugenschutzprogramms Schutz und Betreuung gewährleisten. Tatsächlich werden die von der Zeugenschutzstelle zu schützenden Personen teilweise schon vorgängig von Hilfsorganisationen betreut sein, so dass die Übernahme der Schutzaufgabe in enger Absprache mit diesen Stellen zu erfolgen haben wird. Die Koordinationstätigkeit durch die Zeugenschutzstelle lässt die bestehenden Aufgaben und finanziellen Verantwortlichkeiten der jeweiligen Organisation und ihrer Trägerschaft unangetastet. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass diesen Stellen zur Gewährleistung eines optimalen Schutzes bei Bedarf entgeltliche Aufträge erteilt werden können.

Gemäss Absatz 2 regelt der Bundesrat in einer Verordnung die Ausbildung der Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle. Das spezielle Fachwissen soll durch Teilnahme an Ausbildungen, Einsitznahme in den bestehenden internationalen operativen Expertengruppen und durch Austausch mit den zuständigen Dienststellen im Ausland erworben und weiterentwickelt werden. Zeugenschutzspezifische Ausbildungskurse werden derzeit nur im Ausland angeboten.

Art. 24

Aktenführung und Geheimhaltung

Alle im Rahmen des Zeugenschutzes getroffenen Massnahmen, wie z.B. die Aufnahme der zu schützenden Person und ihre Verpflichtungen, die Ausstellung von Tarndokumenten, finanzielle Leistungen oder die Beendigung des Zeugenschutzes müssen jederzeit nachvollzogen werden können. Die Zeugenschutzstelle ist deshalb zur lückenlosen Dokumentation verpflichtet (Abs. 1).

Die dabei entstehenden Unterlagen sind im Hinblick auf die Sicherheit der zu schützenden Person sowie wegen der in ihnen enthaltenen Informationen über das taktische Vorgehen der Polizei beim Zeugenschutz in besonderem Masse geheimhaltungsbedürftig. Deshalb werden die Akten nur von der Zeugenschutzstelle geführt und sind nicht Bestandteil der Akten des Strafverfahrens (Abs. 2).

Dem Gericht kann auf Verlangen ein Amtsbericht eingereicht werden. Zudem sind Mitarbeitende der Staatsanwaltschaft und der Zeugenschutzstelle im Strafverfahren 83

nach allgemeinen Grundsätzen als Zeugen zur Auskunft auch über den Zeugenschutz verpflichtet. Sie bedürfen dafür einer Aussageermächtigung ihrer vorgesetzten Behörde (vgl. Art. 320 Ziff. 2 StGB), die unter Berücksichtigung der Zwecke des Zeugenschutzes zu erteilen ist und gegebenenfalls beschränkt werden kann.

4.3.2 Art. 25

Zweiter Abschnitt: Datenbearbeitung Informationssystem

Um ihre gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen betreibt die Zeugenschutzstelle ein Informationssystem. Artikel 25 enthält die gesetzliche Grundlage für den Betreib des Systems. Dieses muss wegen der besonders schützenswerten Daten, die es enthält, besonders gesichert sein (Abs. 3). Zugriff mittels Abrufverfahren hat deshalb lediglich die für den Zeugenschutz zuständige Organisationseinheit (Abs. 4). Die weiteren notwendigen Regelungsgegenstände des Informationssystems (z.B. Löschfristen der gespeicherten Daten) werden im Ausführungsrecht bestimmt (Abs. 5).

Art. 26

Im System gespeicherte Daten

Für die dauernde Überprüfung der Gefährdungslage im Hinblick auf das Ergreifen der notwendigen Schutzmassnahmen aber auch für die Beurteilung der Geeignetheit einer Person zur Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm sind von der Zeugenschutzstelle Daten zu erheben.

Es handelt sich hier um Datenerhebungen in Bezug auf den Gefährder und dessen Umfeld, aber auch um Daten über die Lebensführung der zu schützenden Person, insbesondere über ihre engen persönlichen Beziehungen und familiären Verhältnisse (z.B. in Bezug auf Anzahl gefährdeter Nahestehender), ihre finanzielle Lage (z.B.

Schulden), ihren gesundheitlichen Zustand (z.B. Suchterkrankung) oder sonstige Aktivitäten, welche den Entscheid zur Aufnahme einer Person in ein Programm beeinflussen könnten (z.B. Gewalttätigkeit, Vorstrafen). Die Erhebung der Daten der zu schützenden Person erlaubt der Zeugenschutzstelle auch die Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber Dritten, da nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass die zu schützende Person alle nötigen und für die Interessenabwägung relevanten Angaben offenbart. Dies ist speziell bei Zeugen zu berücksichtigen, welche sich selber im kriminellen Umfeld bewegt haben und im Spannungsfeld zwischen Ausstieg und weiterer Delinquenz stehen oder finanzielle Probleme haben.

Die Details der Zustimmung der zu schützenden Person sind in Artikel 4 Absatz 5 des Datenschutzgesetzes geregelt. Keine Blankoermächtigung, sondern eine spezifische Zustimmung ist nötig für die Datenerhebung bei Privaten, welche dem Berufsgeheimnis gemäss Artikel 321 StGB unterstehen.

Art. 27

Datenbeschaffung

Zur Prüfung der Geeignetheit einer Person für die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm sowie zur Abklärung der Gefährdung soll die Zeugenschutzstelle über ein Abrufverfahren direkten Zugriff auf die in Absatz 1 Buchstabe a genannten Register und Datensammlungen haben. Das Zugriffsrecht ist in den für diese Datenbanken massgeblichen Spezialgesetzen zu verankern (siehe hinten, Änderungen bisherigen 84

Rechts). Bei den Zugriffen auf die polizeilichen Informationssysteme des Bundes und der Kurzabfrage des informatisierten Staatsschutz-Informations-System ist in den relevanten Gesetzen der Zugriff von fedpol im Allgemeinen bereits vorgesehen.

Für die Beschaffung weiterer Daten kann die Zeugenschutzstelle diese von den in Absatz 1 Buchstabe b­d genannten Behörden anfordern. Informationen von weiteren Behörden und privaten Stellen können mit der Zustimmung der zu schützenden Personen angefordert werden.

4.4

Viertes Kapitel: Zusammenarbeit mit dem Ausland

Die Zusammenarbeit mit dem Ausland in Einzelfällen spielt schon alleine aufgrund der flächenmässig geringen Ausdehnung der Schweiz eine wichtige Rolle. Die Zusammenarbeit bezieht sich einerseits auf punktuelle Handlungen wie Hilfe bei Familienzusammenführungen, oder Transporten auf nationalem Gebiet. Der zweite und wichtigere Pfeiler ist jedoch die eigentliche Übernahme von geschützten Personen, bei denen eine dauerhafte und sichere Unterbringung eines gefährdeten Zeugen nur im Ausland möglich ist.

Art. 28

Übergabe und Übernahme von zu schützenden Personen

Fedpol kann unter Einhaltung bestimmter Vorgaben selbständig die Übergabe oder Übernahme einer zu schützende Person ins respektive vom Ausland vornehmen (Abs. 1). Die in den Buchstaben a­g aufgeführten Voraussetzungen setzen hierfür einen engen und klaren gesetzlichen Rahmen: Zunächst muss es aus Sicherheitsgründen unerlässlich sein, dass eine Übergabe oder Übernahme durchgeführt wird (Bst. a). Zusätzlich muss die Partnerbehörde den benötigten Schutz auch gewährleisten können (Bst. b). Diese Voraussetzung beinhaltet zwei Aspekte: Einerseits beschränkt sich dadurch die Auswahl der zu ersuchenden ausländischen Partner auf Staaten, welche über einen professionellen und etablierten Zeugenschutz verfügen. Andererseits wird fedpol dadurch angewiesen nur Fälle zu übernehmen, für deren Bewältigung es über die notwendigen Ressourcen und Kapazitäten verfügt.

Was die zu schützende Person angeht, so muss diese einerseits der Übersiedelung in die Schweiz oder ins Ausland zustimmen (Bst. c); andererseits muss es sich um eine Person handeln, deren Aufenthalt in der Schweiz oder allenfalls auch deren Ausreise keine Bedrohung für die Sicherheitsinteressen der Schweiz darstellt (Bst. d).

Weiter dürfen keine politischen Gründe vorliegen, welche gegen eine polizeiliche Kooperation mit dem entsprechenden Staat sprechen (Bst. e). Auch muss gemäss Buchstabe f die Zusammenarbeit jederzeit, d.h. innert kürzester organisatorisch umsetzbarer Frist, abgebrochen werden können, beispielsweise wenn das Verhalten der übernommenen Person deren Schutz verunmöglicht. Diese Vorgabe an die Absprachen, welche fedpol mit dem Ausland zu treffen hat, soll verhindern, dass die Schweiz durch die Zusammenarbeit im Einzelfall tiefgreifende und längerfristige Verpflichtungen eingeht. Was abschliessend den Spielraum für finanzielle Verpflichtungen betrifft, so wird in Buchstabe g der grundsätzliche Rahmen für die Aufteilung der Kosten festgelegt, welche der ersuchten Stelle durch die Übernahme entstehen.

85

Die Zusammenarbeit im Bereich des Zeugenschutzes kann in grundsätzlicher Weise auch in bi- oder multilateralen Übereinkommen über die polizeiliche Zusammenarbeit vorgesehen werden.130 Ebenfalls denkbar sind Relokationsabkommen mit internationalen Strafgerichten, welche in der Regel als Rahmenübereinkommen ausgestaltet sind und somit unabhängig von einem bestimmten Einzelfall die Modalitäten der Übernahme von zu schützenden Personen regeln. Diese Abkommen sind vertraulich. Auch in der Schweiz haben zum Teil entsprechende Gespräche stattgefunden. Im Fall des Abschlusses eines vertraulichen Abkommens werden die Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte informiert.

Bevor eine Person aus dem Ausland übernommen werden kann, ist die für die Erteilung des dafür notwendigen Aufenthaltstitels zuständige (kantonale) Behörde um Zustimmung zu ersuchen (Abs. 2). Zusätzlich kann das BFM verlangen, dass ihm die entsprechenden kantonalen Entscheide zur Zustimmung unterbreitet werden (Art. 85 VZAE i.V.m. Art. 99 AuG).

Art. 29

Kostenteilung

Mit diesem Artikel wird der Rahmen für die Kostenaufteilung festgesetzt, wenn nach Artikel 28 zu schützende Personen übergeben oder übernommen werden.

Absatz 1 enthält die Vorgaben, nach welchen mit dem Ausland die Kostenteilung grundsätzlich zu erfolgen hat. Die in den Buchstaben a und b umschriebene Aufteilung entspricht der Empfehlung von Europol im Bereich der internationalen Zusammenarbeit im Zeugenschutz131.

Die Lebenshaltungskosten der zu schützenden Person sowie die laufenden Kosten für besondere Zeugenschutzmassnahmen werden von der ersuchenden Stelle getragen (Bst. a); die Personal- und Sachkosten der Zeugenschutzstelle sowie die Kosten für nicht mit der ersuchenden Stelle abgestimmte Kosten werden von der ersuchten Stelle getragen (Bst. b). Bei einer Übergabe ins Ausland werden die fallabhängigen Kosten dann, wie in Artikel 34 Absatz 1 vorgesehen, dem verfahrensführenden Gemeinwesen weiterbelastet.

Absatz 2 öffnet einen Handlungsspielraum für Länder, welche das von Europol empfohlene Prinzip nicht verfolgen und zusätzlich noch den Personalaufwand in Rechnung stellen. Gestützt auf das Prinzip der Gegenseitigkeit kann dann ausnahmsweise vereinbart werden, dass der für den konkreten Zeugenschutzfall anfallende Personalaufwand in Rechnung gestellt werden kann.

Vorbehalten bleiben abweichende Kostenvereinbarungen mit einer Dienststelle des Auslands oder einem internationalen Strafgericht gestützt auf einen Staatsvertrag.

Gedacht ist hier beispielsweise an Relokationsabkommen mit internationalen Strafgerichten. Das Prinzip des Haltens von Gegenrecht ist bei Übernahme von Fällen eines internationalen Strafgerichtshofes nicht möglich.

130

So geschehen in Art. 6 Ziffer 1 Buchstabe c des Abkommens vom 21. September 2005 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und dem Ministerrat der Republik Albanien über die polizeiliche Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Kriminalität (SR 0.360.123.1).

131 Europol, Basic principles of European Union police cooperation in the field owitness protection, Den Haag, September 2000 (verwaltungsinternes Dokument).

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86

4.5

Fünftes Kapitel: Geheimhaltung

Art. 30

Schweigepflicht

Die Aufrechterhaltung eines wirksamen Zeugenschutzes setzt unter anderem die Geheimhaltung der Zeugenschutzmassnahmen voraus. Der Artikel statuiert eine entsprechende Geheimhaltungspflicht für Personen, welche bei der Durchführung eines Zeugenschutzprogramms mitwirken (Bsp. Einwohnerkontrolle, Fremdenpolizei, externe Fachstellen wie das Fraueninformationszentrum Zürich). Die mitwirkenden Personen sind ausdrücklich über ihre Pflicht zur Verschwiegenheit in Kenntnis zu setzen und dabei auch auf die Strafandrohung von Artikel 31 bei Zuwiderhandlung hinzuweisen.

Die Geheimhaltungspflicht über Zeugenschutzprogramme gilt auch für die geschützte Person selbst. Diese soll insbesondere auch für Informationen gelten, welche die zu schützende Person über die Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle erlangt hat.

Art. 31

Strafdrohung für die Verletzung der Schweigepflicht

Für Personen, welche dem Amts- oder Berufsgeheimnis unterstehen gehen die Strafbestimmungen von Artikel 320 und 321 StGB vor. Falls eine zu schützenden Person beispielsweise aufgrund einer Verletzung des Amtsgeheimnisses zu Schaden kommen sollte, so würden allfällige Haftungsansprüche gegenüber dem Bund nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 14. März 1958132 über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten (Verantwortlichkeitsgesetz; VG) beurteilt.

4.6

Sechstes Kapitel: Aufsicht

Art. 32

Berichterstattung

Die Zeugenschutzstelle erstattet der Departementsvorsteherin oder dem Departementsvorsteher des EJPD zur Wahrnehmung der Aufsicht jährlich Bericht über die Tätigkeit der Zeugenschutzstelle.

Absatz 2 der Bestimmung umschreibt den Inhalt der Berichterstattungspflicht gegenüber dem Departement. Soweit es sich um Daten zu einzelnen Fällen handelt, geht es nicht um Rohdaten, sondern um statistische bzw. anonymisierte Angaben.

Art. 33

Einholung von Auskünften und Inspektion

Die Angaben zu den Zeugenschutzfällen unterliegen im Interesse der Gewährleistung eines effektiven Zeugenschutzes einer strengen Vertraulichkeit. Diese kann durch die Interessen der Aufsicht nicht einfach durchbrochen werden. Die Bestimmung lehnt sich an Artikel 30 des Bundesgesetzes über die Organisation der Strafbehörden des Bundes vom 19. März 2010133 (Strafbehördenorganisationsgesetz, StBOG) an. Personen, die im Rahmen der Oberaufsicht der eidgenössischen Räte

132 133

SR 170.32 SR 173.71, BBl 2010 2031

87

nach dem Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002134 (ParlG) oder der Aufsicht des Bundesrates oder des EJPD gemäss dem Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997135 (RVOG) mit der Einholung von Auskünften oder mit einer Inspektion betraut werden, dürfen gemäss Absatz 1 der Bestimmung die erlangten Informationen nur in allgemeiner und anonymisierter Form als Grundlage für ihre Berichterstattung und ihre Empfehlungen verwenden. Sie sollten insofern auch ihre Akten nur in allgemeiner und anonymisierter Form führen. Rückschlüsse auf schützenswerte Falldaten müssen verhindert werden. Für die Wahrnehmung der Aufsichtsaufgaben sollen fachlich ausgewiesene Personen betraut werden und bei regelmässigen Inspektionen soll auch für die nötige Kontinuität gesorgt werden.

Absatz 2 verdeutlicht die Pflicht der Zeugenschutzstelle, geeignete Massnahmen zu treffen, damit im Rahmen von Inspektionen jene Informationen, welche Aufschluss über den gegenwärtigen Aufenthaltsort oder die von einer geschützten Person benutzte Tarnidentität geben, nicht offengelegt werden ­ der Zweck der Aufsicht aber trotzdem erfüllt werden kann.

Transparenz ist ein wichtiger Grundsatz der öffentlichen Verwaltung und auch bei Zeugenschutzprogrammen ist für die verwendeten Gelder und die Tätigkeiten Rechenschaft abzulegen. Grundsätzlich muss die Finanzkontrolle deshalb Zugang zu allen ausgabenrelevanten Informationen haben. Hingegen ist zu berücksichtigen, dass einfache Belege, wie z.B. eine Hotelquittung oder ein Zug- oder Flugticket die neue Identität oder den gegenwärtigen Aufenthaltsort der zu schützende Person aufdecken können. Um die Vertraulichkeit der neuen Identität und des neuen Aufenthaltsorts zu gewährleisten ist es deshalb wichtig, dass Zeugenschutzprogramme angepassten Kontroll- und Berichterstattungsverfahren unterliegen.

4.7

Siebtes Kapitel: Kosten

Art. 34

Durchführung von Zeugenschutzprogrammen

Anfallende Kosten sind die Kosten des Aufbaus sowie des Betriebs der Zeugenschutzstelle und die fallabhängigen Kosten.

Die fallabhängigen Kosten (d.h. Lebenshaltungskosten der zu schützenden Personen sowie die laufenden Kosten für besondere Zeugenschutzmassnahmen) sind vom beantragenden Gemeinwesen, d.h. dem verfahrensleitenden Kanton oder dem Bund zu tragen. Die Höhe der fallabhängigen Kosten ist von Fall zu Fall unterschiedlich, bewegt sich jedoch in einem Rahmen von 5000.­ bis 150 000.­ Franken. Bei der Übernahme eines Zeugenschutzfalles wird jeweils ein Budgetrahmen erstellt. Die ausländischen Erfahrungen zeigen, dass die zu ergreifenden Massnahmen und auch die Kosten je nach Sachverhalt sehr variieren. In jedem Fall sieht das Budget anders aus und kann sich durch unerwartete Ereignisse auch stark verändern. Eine Arbeit mit Fallpauschalen wird dieser Situation nicht gerecht.

Der Bund und die Kantone beteiligen sich je zur Hälfte am Betrieb der Zeugenschutzstelle (Abs. 2). Unter Berücksichtigung der in der Vernehmlassung geäusser134 135 T

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88

SR 171.10 SR 172.010, Artikel 24 RVOG.

ten Forderung nach einer vorgängigen Konkretisierung der kantonalen Kostenbeteiligung und aufgrund der Wichtigkeit dieses Regelungsgegenstandes soll die Kostenteilung zwischen Bund und Kantonen auf Stufe Gesetz festgelegt werden. Die Höhe der Beteiligung der einzelnen Kantone wird in einer Verordnung festgelegt (Abs. 3).

Die hälftige Kostenbeteiligung der Kantone am Betrieb der Zeugenschutzstelle ergibt sich aus dem Umstand, dass die Zeugenschutzstelle mit dem ausserprozessualen Schutz gefährdeter Personen eine sicherheitspolizeiliche Aufgabe wahrnimmt, welche bei kantonalen Verfahren in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fällt.

Der in der Vernehmlassung geäusserten Forderung verschiedener Kantone nach einer stärkeren finanziellen Beteiligung des Bundes an der Zeugenschutzstelle wurde aber dadurch Rechnung getragen, dass der Bund nun die Kosten für den Aufbau alleine trägt.

Art. 35

Beratungs- und Unterstützungsleistungen an die Kantone

Die von der Zeugenschutzstelle getätigten Beratungs- und Unterstützungsleistungen zu Gunsten der kantonalen Polizeibehörden (Art. 23 Absatz 1 Bst. e) werden nicht in Rechnung gestellt, soweit sie sich im Rahmen der üblichen polizeilichen Amtshilfe bewegen. Neben der einfachen fachlichen Beratung, wie beispielsweise der Erteilung von Auskünften und der Durchführung von Erstberatungen, kann dies unter Umständen auch das Bereitstellen von Infrastruktur oder von Sachmitteln einschliessen. Hingegen sind der Zeugenschutzstelle umfangreiche Beratungs- und Unterstützungsleistungen zu vergüten. Der Bundesrat bestimmt im Ausführungsrecht, welche Leistungen aufgrund ihres zeitlichen oder finanziellen Aufwandes eine Vergütungspflicht auslösen. Die Höhe und die Modalitäten der Vergütung sind ebenfalls in einer Bundesratsverordnung zu bestimmen.

4.8

Achtes Kapitel: Änderungen bisherigen Rechts

1. Ausländergesetz vom 16. Dezember 2005 Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe e: Eine wichtige Voraussetzung für den Schutz ausländischer Personen ist deren geregelter Aufenthalt136. Es sind grundsätzlich zwei Konstellationen denkbar: 1. Eine ausländische Person ist wichtiger Zeuge in einem schweizerischen Strafverfahren und erfüllt die Voraussetzungen für die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm. 2. Eine ausländische Person wurde in einem Zeugenschutzprogramm des Auslands oder eines internationalen Strafgerichtshofes aufgenommen und soll aus Sicherheitsgründen in der Schweiz untergebracht werden.

Aus der Perspektive der Strafverfolgung und des Zeugenschutzes ist es nötig, dass die ausländische Person, sofern sie nicht bereits einen Aufenthaltstitel hat, für die Dauer des Zeugenschutzprogramms (d.h. auch über die Beendigung des Strafverfahrens hinaus, wenn die Gefährdung weiter besteht) einen gültigen Aufenthaltstitel haben kann. Die neue Bestimmung knüpft an den geltenden Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe e AuG an, nach welchem bei der Aufenthaltsregelung von Opfern oder Zeugen von Menschenhandel bereits heute von den üblichen Zulassungsbedingun136

Zur aufenthaltsrechtlichen Situation von Opfern des Menschenhandels siehe auch die Ausführungen zu Artikel 14 der Menschenhandelskonvention

89

gen abgewichen werden kann. Der Aufenthalt muss für die Dauer eines Strafverfahrens möglich sein, aber auch nach Beendigung des Strafverfahrens, solange sich die Person wegen ihrer Gefährdung noch in einem Zeugenschutzprogramm befindet.

Zur wirksamen Umsetzung der vorgesehenen Bewilligungsregelung ist zusätzlich eine entsprechende Anpassung im Ausführungsrecht vorgesehen, welche die Bestimmung der örtlich zuständigen Bewilligungsbehörde vereinfachen soll.

2. Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Informationssystem für den Ausländer- und den Asylbereich Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe j und Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe i: Die zusätzlichen Bestimmungen erlauben der Zeugenschutzstelle, zur Erfüllung ihrer Aufgaben durch ein Abrufverfahren Einsicht die vom BFM oder in dessen Auftrag im Informationssystem bearbeiteten Daten des Ausländerbereichs vom BFM zu nehmen. Der Zweck der Einsicht zur Erfüllung der Aufgaben wird in Artikel 26 des Bundesgesetzes über den ausserprozessualen Zeugenschutz konkretisiert.

3. Strafgesetzbuch Artikel 317bis Absatz 3: Die Bestimmung stellt wie auch für den Bereich der verdeckten Ermittlung in den Absätzen 1 und 2 klar, dass Personen, welche im Rahmen des Gesetzes über den ausserprozessualen Zeugenschutz auf Ersuchen der Zeugenschutzstelle Urkunden herstellen und verändern sowie Personen, die diese Urkunden gebrauchen, nicht nach den Artikeln 251, 252, 255 und 317 strafbar sind.

Artikel 367 Absatz 2 Buchstabe l und Absatz 4: Die Anpassungen erlauben der Zeugenschutzstelle, zur Erfüllung ihrer Aufgaben durch ein Abrufverfahren Einsicht in die Personendaten über Verurteilungen und hängige Strafverfahren (VOSTRA) zu nehmen. Der Zweck der Einsicht zur Erfüllung der Aufgaben wird in Artikel 26 des Bundesgesetzes über den ausserprozessualen Zeugenschutz konkretisiert.

5

Auswirkungen

5.1

Auswirkungen auf den Bund

5.1.1

Beitritt zum Übereinkommen

Ausser im Bereich des ausserprozessualen Zeugenschutzes für Verfahren in Bundeskompetenz hat ein Beitritt zum Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels für den Bund nur unwesentliche direkte Auswirkungen.

Die Schweiz würde nach einem Beitritt im Rahmen des Überwachungsmechanismus in regelmässigen Abständen einer Länderprüfung unterzogen werden.

Die jährliche Beantwortung von Fragebögen und das Verfassen von Stellungnahmen im Rahmen der regelmässigen Evaluationsverfahren sowie die Organisation und Durchführung der Besuche der GRETA-Experten in der Schweiz (ca. alle 3­4 Jahre)137 sind zwar neue Aufgaben. Diese können jedoch im Rahmen der ordent-

137 T

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So dargelegt an der «Conférence sur le mécanisme de suivi de la Convention du Conseil de l'Europe sur la lutte contre la traite des êtres humains», welche am 08./09.11.08 in Strassburg stattgefunden hat (http://www.coe.int/t/dg2/trafficking/campaign/docs/publications/default_FR.asp).

H

90

H

lichen Tätigkeit von fedpol bewältigt werden und haben daher keine namhaften finanziellen Auswirkungen.

5.1.2

Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG)

5.1.2.1

Fallzahlen und Grösse der Zeugenschutzstelle

Der Entwurf zum Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz sieht den Aufbau und Betrieb einer spezialisierten Zeugenschutzstelle bei fedpol vor. Diese hat neben der eigentlichen Betreuung der zu schützenden Personen auch zur Aufgabe, den Kantonen beratend zur Seite zu stehen. Das geschätzte Fallaufkommen dürfte sich bei vollem Betrieb im Rahmen von rund 10­15 Zeugenschutzfällen aus Bund und Kantonen und 140 Beratungen zugunsten der Kantone pro Jahr bewegen.

Diese Zahlen ergeben sich unter anderem aus Vergleichen mit den bearbeiteten Zeugenschutzfällen in Ländern ähnlicher Grösse. Hinzu kommen diejenigen Fälle, die gestützt auf Abkommen mit internationalen Strafgerichten übernommen werden.

Aufgrund der heutigen Einschätzungen ist bei fedpol für den Aufbau der Stelle mit einem zusätzlichen befristeten Stellenbedarf von 700 Stellenprozenten und für den ordentlichen Betrieb von 1000 Stellenprozenten zu rechnen.

5.1.2.2

Fallabhängige Kosten

Die Fallkosten sind abhängig vom Sachverhalt und damit der Art der angewendeten Massnahmen, der Dauer der Betreuung und der Anzahl mitzubetreuender Angehöriger und stellen bei der Interessenabwägung der Entscheidinstanz über die Aufnahme in ein Programm ein ausschlaggebendes Kriterium dar. Die Kosten sinken i.d.R. mit zunehmender «Laufzeit» des Falles, wenn der Zeuge selbständig wird und sich selber finanzieren kann. Für das jährliche Gesamtbudget der fallabhängigen Kosten aus Bundesstrafverfahren kann gestützt auf die zu erwartenden Fallzahlen von einem jährlichen Gesamtbetrag von 950 000.­ Franken ausgegangen werden.

Was die gestützt auf internationale Verpflichtungen mit internationalen Strafgerichtshöfen übernommenen Personen betrifft, liegt die finanzielle Verantwortung ebenfalls beim Bund, sofern diese Personen künftig der Zuständigkeit der Zeugenschutzstelle zugewiesen werden.

5.1.2.3

Kosten der Zeugenschutzstelle

Für den Aufbau und den Betrieb der Zeugenschutzstelle müssen einmalige und wiederkehrende Investitionen geplant werden, insbesondere auch für die verdeckt zu beschaffende Logistik. Aufgrund der Fallzahl, wie sie gestützt auf den Geltungsbereich der Vorlage zu erwarten ist, ist von Betriebskosten von ca. 260 000.­ Franken pro Jahr, wiederkehrenden Investitionskosten von 260 000.­ Franken alle 5­6 Jahre (Wechsel der Dienststelle) und 100 000.­ jährlich (Ersatzbeschaffungen) auszugehen. Bei geschätzten 1000 Stellenprozenten, würden sich diesfalls die Personalkosten auf 1.5 Mio. Franken jährlich belaufen. An den Betriebskosten haben sich die Kantone gemäss Gesetz hälftig zu beteiligen, wobei der Verteilschlüssel unter den 91

Kantonen in einer Verordnung festzulegen ist. Die Kosten für den Aufbau der Zeugenschutzstelle trägt das federführende EJPD.

Weitere Behörden des Bundes können von der Vorlage dann direkt betroffen sein, wenn sie von der Zeugenschutzstelle um Mitwirkung angegangen werden (z.B. BJ: Zivilstandsregister, Strafregister, EDI: AHV-Nummer, BFM: Aufenthaltsregelung).

Es ist heute noch nicht abzuschätzen, in welchem Umfang und in welcher Art die Mithilfe einzelner Behörden beansprucht wird. Angesichts der geringen Anzahl erwarteter Zeugenschutzfälle dürfte sich aber der im Einzelfall zu leistende Aufwand in Grenzen halten.

5.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

5.2.1

Beitritt zum Übereinkommen

Mit Ausnahme des ausserprozessualen Zeugenschutzes entsprechen sämtliche Bestimmungen des Übereinkommens des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels dem rechtlichen Ist-Zustand in der Schweiz. Ein Beitritt zum Übereinkommen wird ausser im Bereich des ausserprozessualen Zeugenschutzes für die Kantone keine direkten finanziellen Folgen bewirken.

5.2.2

Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG)

Der Geltungsbereich der Gesetzesvorlage erstreckt sich auf Personen aus Strafverfahren des Bundes und der Kantone. Soweit die beim Bund angesiedelte Zeugenschutzstelle umfangreiche Dienstleistungen zugunsten der kantonalen Strafverfolgungsbehörden erbringt, sind diese angemessen zu vergüten. Betroffen sind zwei Konstellationen: ­

Aufnahme einer Person aus einem kantonalen Strafverfahren in das Zeugenschutzprogramm gemäss diesem Gesetz (Art. 23 Buchstabe a i.V.m. Art. 34): Gemäss dem Gesetzesentwurf sind die fallabhängigen Kosten (d.h. Lebenshaltungskosten der zu schützenden Personen sowie die laufenden Kosten für besondere Zeugenschutzmassnahmen) vom Kanton zu tragen. Die Höhe dieser fallabhängigen Kosten ist von Fall zu Fall unterschiedlich, bewegt sich jedoch in einem Rahmen von 5000.­ bis 150 000 Franken ­ jährlich. Ein Zeugenschutzfall dauert durchschnittlich 2­5 Jahre. Die Kosten sinken i.d.R.

mit zunehmender «Laufzeit» des Falles (Der Zeuge wird selbständig und kann sich selber finanzieren). Bei der Übernahme eines Zeugenschutzfalles muss jeweils ein Budgetrahmen erstellt werden.

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Betreuung und Unterstützung der kantonalen Polizeibehörden zugunsten von Personen, welche die Voraussetzungen für ein Zeugenschutzprogramm nicht erfüllen (Art. 23 Buchstabe e i.V.m. Art. 35): Hier sieht das Gesetz vor, dass die Kantone der Zeugenschutzstelle umfangreiche Beratungs- und Unterstützungsleistungen im Sinne von Artikel 23 Buchstabe e vergüten. Die Bestimmung der vergütungspflichtigen Leistun-

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gen sowie die Höhe und die Modalitäten der Vergütung wird in einer Bundesratsverordnung erfolgen.

Am Betrieb der Zeugenschutzstelle beteiligen sich der Bund und die Kantone gemäss Gesetzesentwurf zu gleichen Teilen. Die Höhe der einzelnen Kantonsbeiträge ist in einer Verordnung festzulegen.

In der Vernehmlassung wurde von verschiedenen Kantonen ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes am ausserprozessualen Zeugenschutz gefordert, wobei vorrangig die Beteiligung der Kantone am Aufbau und Betrieb der Zeugenschutzstelle bemängelt wurde. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Zeugenschutzstelle mit dem ausserprozessualen Schutz gefährdeter Personen eine sicherheitspolizeiliche Aufgabe wahrnimmt, welche bei kantonalen Verfahren in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fällt. Somit erscheint vorliegend nicht nur eine zumindest hälftige Beteiligung der Kantone am Betrieb der Zeugenschutzstelle als geboten, sondern auch die Übernahme der fallabhängigen Kosten durch den verfahrensführenden Kanton. Den in der Vernehmlassung geäusserten Einwänden wurde jedoch in zweierlei Hinsicht Rechnung getragen: Zunächst übernimmt der Bund den Aufbau der Zeugenschutzstelle, so dass die Kantone sich nur mehr an deren Betrieb zu beteiligen haben. Ebenfalls wird die im Vernehmlassungsentwurf noch vorgesehene Kostenpflicht für jegliche Beratungs- und Unterstützungsleistungen auf diejenigen Anfragen reduziert, welche einen erheblichen Aufwand verursachen.

Weitere Behörden der Kantone und Gemeinden sind insofern direkt von der Vorlage betroffen, als sie von der Zeugenschutzstelle um Mitwirkung angegangen werden.

Es kann sich dabei um das Anliegen einer Datenbekanntgabesperre oder um das Ausstellen eines Dokumentes handeln. Es wird eine geringe Anzahl von Zeugenschutzfällen erwartet, so dass sich der im Einzelfall zu leistende Aufwand in Grenzen halten dürfte. Im Falle der Notwendigkeit eines erhöhten Unterstützungsaufwandes bei der praktischen Umsetzung, welcher die übliche Amtshilfe übersteigt, würde im Einzelfall eine Lösung gesucht werden.

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Verhältnis zur Legislaturplanung

Das hier beantragte Bundesgesetz ist in der Botschaft vom 23. Januar 2008138 über die Legislaturplanung 2007­2011 angekündigt. Die beantragte Genehmigung des Übereinkommens hat das Parlament in seinen Bundesbeschluss vom 18. September 2008139 über die Legislaturplanung 2007­2011 als Massnahme aufgenommen.

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BBl 2008 821 BBl 2008 8549

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Rechtliche Aspekte

7.1

Verfassungsmässigkeit

7.1.1

Bundesbeschluss zur Unterzeichnung des Übereinkommens

Die Verfassungsmässigkeit des Bundesbeschlusses zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels beruht auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV), welcher den Bund ermächtigt, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge zuständig.

Völkerrechtliche Verträge werden dem fakultativen Referendum unterstellt, wenn sie unbefristet und unkündbar sind, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen, wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder wenn ihre Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV). Das vorliegende Übereinkommen wird auf unbestimmte Zeit abgeschlossen, kann aber jederzeit gekündigt werden und sieht keinen Beitritt zu einer internationalen Organisation vor. Um den Verpflichtungen des Übereinkommens hinsichtlich des ausserprozessualen Zeugenschutzes nachzukommen, muss jedoch im innerstaatlichen Recht eine entsprechende gesetzliche Regelung geschaffen werden. Der Genehmigungsbeschluss wird deshalb dem fakultativen Staatsvertragsreferendum gemäss Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterstellt.

7.1.2

Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz (ZeugSG)

Auch wenn Zeugenschutz grundsätzlich dem Bereich der Gefahrenabwehr zuzurechnen ist, besteht ein enger Sachzusammenhang mit dem Strafverfahren. Die Sphäre Dritter, insbesondere der beschuldigten Person, kann durch Massnahmen des Zeugenschutzes berührt werden. Der Zeugenschutz dient der Sicherung des staatlichen Strafverfolgungsanspruches. Der Zeuge ist in aller Regel nur deswegen gefährdet, weil er bereit ist oder war, in einem Strafverfahren auszusagen und mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten.

Die umfassende Kompetenz des Bundes zum Erlass von Bestimmungen auf dem Gebiet des Strafprozessrechts gemäss Artikel 123 BV stellt allein keine genügende Grundlage für die Regelung des ausserprozessualen Zeugenschutzes in Bundesstrafverfahren dar140. Zwischen dem Strafprozessrecht und dem ausserprozessualen Zeugenschutz besteht zwar ein enger sachlicher Zusammenhang; bei den Bestimmungen zum ausserprozessualen Zeugenschutz handelt es sich aber vornehmlich um Bestimmungen materieller und nicht prozessualer Natur. Es erscheint aber aus verfassungsrechtlicher Sicht vertretbar, davon auszugehen, dass dem Bund eine implizite Kompetenz (implied power) zukommt, für seine eigenen Verfahren eine Regelung zum Schutz gefährdeter Personen zu treffen.

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EJPD, Bundesamt für Justiz, Aussergerichtlicher Zeugenschutz, VPB 2007.19, S. 336­351.

Eine Bundeslösung im Sinne einer einheitlichen Regelung für kantonale und Bundesstrafverfahren ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn die Ausgestaltung des ausserprozessualen Zeugenschutzes eine Dimension erreicht, die eine Koordination unter Einbezug des Bundes als unerlässlich erscheinen lässt (Art. 57 Abs. 2 BV).

Eine solche ist bei wenig eingreifenden Massnahmen (Beratung, Bereitstellung von Hilfsmitteln, Personenschutz, vorübergehende sichere Unterbringung) noch nicht gegeben. Angesichts der kleinräumigen Verhältnisse in der Schweiz überschreiten zwar auch geringfügigere Aktionen zum Schutz gefährdeter Zeuginnen und Zeugen schnell einmal die Kantonsgrenzen. Auch auf dieser Ebene liegt aber die Sorge für die Koordination noch in erster Linie bei den Kantonen, da der Grundsatz der primären Verantwortung der Kantone für die innere Sicherheit auf ihrem Gebiet auch den Bereich der Koordination umfasst.

Damit zusätzlich zu Artikel 123 BV aus der Koordinationskompetenz von Artikel 57 Absatz 2 BV eine Gesetzgebungsbefugnis des Bundes abgeleitet werden kann, müssen (weitere) Sachbereiche tangiert sein, die mindestens teilweise in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Ein ausgebauter ausserprozessualer Zeugenschutz mit tiefgreifenden Schutzmassnahmen berührt mehrere Kompetenzbereiche des Bundes, die ihm eine umfassende Rechtsetzungskompetenz verleihen. Es können hierbei folgende Bestimmungen herangezogen werden: die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten gemäss Artikel 54 BV (z.B.

für die vorübergehende oder dauernde Unterbringung von Zeugen im Ausland), im Ausweisrecht gemäss Artikel 38 Absatz 1 BV (z.B. in Bezug auf die Ausstellung von Tarnpapieren), im Bereich der Sozialversicherungen gemäss Artikel 111 Absatz 1, 116 Absätze 2 und 3 sowie Artikel 117 Absatz 1 (z.B. für die Konsequenzen bei einer neuen Identität), im Ausländerrecht gemäss Artikel 121 Absatz 1 (z.B.

Aufenthaltsregelung für ausländische Zeuginnen und Zeugen) und im Zivilrecht gemäss Artikel 122 Absatz 1 (z.B. in Bezug auf die Datenbekanntgabesperre).

Diese Bestimmungen können ebenfalls als kompetenzbegründende Verfassungsnormen herangezogen werden. Zusammen mit den beiden anderen Verfassungsbestimmungen ­ den Artikeln 123 und 57 Absatz 2 BV ­ ergibt sich für den Bund eine genügende Grundlage zum Erlass einer bundesweit verbindlichen Regelung des ausserprozessualen Zeugenschutzes.

7.2

Vereinbarkeit mit dem internationalen Recht

Es gibt kein multilaterales Übereinkommen, das die Umsiedlung von Zeugen und die internationale Zusammenarbeit beim Zeugenschutz allgemein regelt.

Die geltenden EU-Instrumente im Bereich des Schutzes von Personen, welche mit der Justiz zusammenarbeiten, sind wie vorne aufgezeigt rechtlich nicht verbindlich.

Die EU-Kommission hat zwar 2007 die Durchführbarkeit einer EU-Regelung für den Schutz von Zeugen und Personen, die mit der Justiz zusammenarbeiten, geprüft.

Sie kam zum Schluss, dass es durchaus möglich sei, auf EU-Ebene ein harmonisiertes Zeugenschutzsystem auf der Grundlage einheitlicher verbindlicher Mindeststandards einzuführen, die den bestehenden Rechtsinstrumenten und Praktiken Rechnung tragen. Da der Zeugenschutz ein komplexer Bereich sei, der eine Vielzahl sensibler und komplizierter Aspekte beinhalte (z. B. gerade im Bereich der neuen Identitäten), sollen jedoch vorgängig weitere Untersuchungen angestellt werden, um

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nach akzeptablen Lösungen für eine europaweite Zusammenarbeit beim Zeugenschutz zu suchen.141 Die Vorlage der Schweiz entspricht im Übrigen den internationalen Empfehlungen im Bereich des Zeugenschutzes und stimmt in den zentralen Punkten mit den Regelungen der EU-Mitgliedstaaten überein, welche ihrerseits in Bezug auf Organisation, Verfahren, Anwendungsbereich vielfältig sind.

7.3

Erlassform bzw. Umsetzungsgesetzgebung

Die Schaffung einer Zeugenschutzstelle und die Regelung der Durchführung von Zeugenschutzprogrammen zum Schutz von gefährdeten Personen in Strafverfahren des Bundes und der Kantone bedarf der Form eines Bundesgesetzes (Art. 163 Abs. 1 und Art. 164 Abs. 1 BV). Da der Genehmigungsbeschluss zur Menschenhandelskonvention dem fakultativen Referendum unterliegt, kann die Bundesversammlung in Anwendung von Artikel 141a Absatz 2 BV die Gesetzesänderungen, die zur Umsetzung der Konvention dienen, in den Genehmigungsbeschluss aufnehmen.

7.4

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

In folgenden Artikeln werden dem Bundesrat verschiedene neue Kompetenzen eingeräumt. Der Bundesrat regelt: ­

die Einzelheiten der Antragsstellung der Verfahrensleitung an die Zeugenschutzstelle (Art. 6);

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die Modalitäten für die Beendigung des Zeugenschutzprogramms (Art. 11);

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die Ausbildung der Mitarbeitenden der Zeugenschutzstelle (Art. 23);

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die Einzelheiten des Informationssystems der Zeugenschutzstelle (Art. 25);

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den Verteilschlüssel der finanziellen Beteiligung der Kantone untereinander (Art. 34);

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die zu vergütenden Beratungs- und Unterstützungsleistungen an die Kantone sowie die Höhe und die Modalitäten ihrer Vergütung (Art. 35).

Diese neuen Kompetenzen werden durch die Schaffung einer neuen Verordnung unter Einbezug der Kantone ausgeübt.

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COM (2007) 693 vom 13.11.2007, S. 6f.