07.483, 07.484, 07.485 Parlamentarische Initiativen Stärkung der Hausarztmedizin Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 21. Januar 2011

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetzes vom 18. März 19941 über die Krankenversicherung (KVG). Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

21. Januar 2011

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Thérèse Meyer

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SR 832.10

2011-0314

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Übersicht In seinen zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) erbrachten Leistungen muss sich der Leistungserbringer auf das Mass beschränken, das im Interesse des Versicherten liegt und das für den Behandlungszweck erforderlich ist.

Die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung obliegt den Krankenversicherern.

Im Zusammenhang mit der politischen Forderung nach Besserstellung der ärztlichen Grundversorger wird seitens der Ärzteschaft moniert, dass vor allem jenen Ärztinnen und Ärzten, die viele Patientinnen und Patienten mit schweren, chronischen und komplexen Krankheiten behandeln, aus der von den Versicherern verwendeten Methode zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit ein Nachteil erwächst.

Zudem sei die verwendete Methode nicht transparent.

Der Kritik der Ärzteschaft soll Rechnung getragen werden. Die aktuell von den Versicherern entwickelte und angewandte Methode soll durch eine partnerschaftlich vereinbarte Methode ersetzt werden. Die Methode soll gesamtschweizerisch verbindlich sein. Dies setzt voraus, dass die Versicherer ihr Berechnungsmodell zur Diskussion stellen und das Vorgehen im Rahmen der einzelnen Verfahrensschritte offen legen Die Leistungserbringer bringen ihrerseits jene Daten ein, die für die Verfeinerung der Überprüfungsmethode notwendig sind. Das Ziel ist eine qualitative Wirtschaftlichkeitsbeurteilung unter Berücksichtigung der Morbidität des jeweils massgebenden Patientenkollektivs.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Vor dem Hintergrund der Stärkung der Hausarztmedizin wird mittels drei parlamentarischer Initiativen (07.483 Bea Heim, 07.484 Thérèse Meyer, 07.485 Cassis) die Optimierung des Verfahrens zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungen gefordert. Am 17. Oktober 2008 prüfte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) die drei parlamentarischen Initiativen vor und gab ihnen mit 14 zu 5 Stimmen bei 3 Enthaltungen Folge. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates stimmte diesem Entscheid am 27. Januar 2009 mit 8 zu 5 Stimmen zu. Am 4. Mai 2009 lagen der SGK-NR zwei Anträge vor, von denen der eine die Stärkung der Hausarztmedizin über die Förderung von Managed Care erreichen wollte, der andere über eine Revision von Artikel 56 Bundesgesetz über die Krankenversicherung vom 18. März 1994 (KVG; SR 832.10 [Wirtschaftlichkeitsprüfung]). Die Kommission beauftragte die Subkommission «KVG»2, sich vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen. In einer ersten Priorität erarbeitete die Subkommission einen Vorschlag für die Förderung integrierter Versorgungsnetze (Vorlage 04.062 Managed Care), der am 16. Juni 2010 vom Nationalrat als Zweitrat beraten und angenommen wurde. Die Beratung der drei parlamentarischen Initiativen wurde am 19. Februar 2010 wieder aufgenommen und am 11. Mai 2010 abgeschlossen. In der Folge erarbeitete das Kommissionssekretariat zusammen mit der Verwaltung einen Erlassentwurf und den begleitenden Bericht. Diese wurden der Subkommission KVG der SGK-NR am 16. September 2010 noch einmal unterbreitet und zuhanden der SGK-NR verabschiedet. Gleichzeitig wurden santésuisse und die FMH zu einer schriftlichen Stellungnahme eingeladen. Die SGK-NR verabschiedete den Erlassentwurf mit 15 zu 6 Stimmen bei 3 Enthaltungen und den Bericht am 21. Januar 2011 ohne Gegenstimme zuhanden ihres Rates und zuhanden des Bundesrates für dessen Stellungnahme.

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Grundzüge der Vorlage

2.1

Ausgangslage

Artikel 56 KVG hält in Absatz 1 und 2 fest, dass sich der Leistungserbringer bei seinen Leistungen auf das Mass beschränken muss, das im Interesse des Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist. Für Leistungen, die über dieses Mass hinausgehen, kann die Vergütung verweigert werden. Vom Versicherer zu Unrecht bezahlte Vergütungen können zurückgefordert werden. Die Kontrolle der Einhaltung der Wirtschaftlichkeit stellt eine der zentralen Aufgaben der Krankenversicherer dar und ist eine öffentlich-rechtliche Aufgabe.

Die von den Versicherern vorgenommene Überprüfung der Wirtschaftlichkeit gab in der Vergangenheit oft Anlass zu Kritik und Klagen seitens der Ärzteschaft. Viele Ärztinnen und Ärzte üben Kritik an der von den Versicherern verwendeten Überprü2

Humbel Näf (Präsidentin), Baettig, Borer, Bortoluzzi, Cassis, Gilli, Fehr Jacqueline, Rossini, Ruey, Stahl, Weibel.

2521

fungsmethode, welche als intransparent bezeichnet wird. Beanstandet wurde auch das Verhalten der Versicherer gegenüber den Leistungserbringern. Die Notwendigkeit einer Wirtschaftlichkeitskontrolle wird von den Leistungserbringern nicht bestritten.

Wegen des Kontrolldrucks und des Aufwands, überdurchschnittlich hohe Kosten rechtfertigen zu müssen, gibt es Ärztinnen und Ärzte, die schliesslich darauf verzichten, Patientinnen und Patienten mit schweren, chronischen und komplexen Krankheiten anzunehmen und zu behandeln. Diese werden dann an Spezialisten oder an Spitäler weiter gewiesen. Negativ betroffen aus Sicht der Patientinnen und Patienten sind vor allem ältere, chronisch kranke, polymorbide, schwer und psychisch kranke Menschen.

2.2

Kontrolle der Wirtschaftlichkeit heute

Für die statistische Vorselektion der so genannten «auffälligen Leistungserbringer» werden die Rechnungen der im ambulanten Bereich tätigen Ärztinnen und Ärzte seit dem Jahr 2004 vom Dachverband der Versicherer (santésuisse) auf der Grundlage der Anova-Methode (analysis of variance) überprüft. Bei der Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringer handelt es sich um einen mehrstufigen Prozess.

Im ersten Schritt werden die Faktoren Facharztgruppe, Alter und Geschlecht der Patienten und Standort (Kanton) berücksichtigt. Dadurch wird ein standardisiertes und transparentes Verfahren gewährleistet. Die Standardisierung hat den Vorteil, dass Facharztgruppen mit ungünstiger Patientenstruktur nicht systematisch benachteiligt werden. Das Seminar für Statistik der ETH Zürich kam in seinem Gutachten vom September 2005 zum Schluss, dass die von santésuisse verwendete AnovaMethode auf anerkannten statistischen Methoden beruht.

Liegen die Kosten eines Leistungserbringers 30 Prozent und mehr über den vergleichbaren Durchschnittskosten, gilt dies als Anhaltspunkt für eine Überarztung und gibt Anlass zur Einleitung der weiteren Schritte. Die mit der so genannten Anova-Methode herausgefilterten «auffälligen» Leistungserbringer werden in einem zweiten Schritt von santésuisse in Zusammenarbeit mit den Krankenversicherern analysiert. Falls keine Begründung für die hohen Kosten eruiert werden kann, wird der Leistungserbringer entweder mit einem Warnbrief auf seine hohen Indices aufmerksam gemacht, oder aber das Gespräch wird gesucht. Kann der Leistungserbringer die überhöhten Kosten nicht glaubhaft begründen und wird keine einvernehmliche Lösung gefunden, wird ein gerichtliches Verfahren eingeleitet.

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Santésuisse verfügt über ein nationales Kompetenzzentrum für Wirtschaftlichkeitsverfahren, das Vorgehen ist landesweit einheitlich. Für den Zeitraum 2004­2008 sehen die Zahlen wie folgt aus (Quelle: santésuisse):

Anzahl statistisch auffällige Ärzte Informationswarnbrief

2004

2005

2006

2007

2008

2335 11,87 %

2655 13,50 %

2599 13,21 %

2524 12,83 %

2515 12,79 %

884 4,49 %

717 3,65 %

596 3,03 %

475 2,42 %

341 1,73 %

339

248

227

113 0,57 %

124 0,63 %

113 0,57 %

74

66

37

130 0,66 %

62 0,32 %

64 0,33 %

76

38

47

davon Grundversorger (1) Gespräch

63 0,32 %

130 0,66 %

davon Grundversorger Eingabe (Vergleich/PVK/Gericht) davon Grundversorger

52 0,26 %

163 0,83 %

(1) als Grundversorger zählen: Allgemeinmediziner, praktische Ärzte, Internisten, Pädiater

2.3

Zur Kritik an der Wirtschaftlichkeitsprüfung

Von ärztlicher Seite wird vor allem kritisiert, dass das Wirtschaftlichkeitsverfahren von santésuisse kein eigentliches Wirtschaftlichkeitsverfahren, sondern lediglich ein Durchschnittskostenvergleichsverfahren ist. Zudem sei die von santésuisse angewendete Anova-Methode nicht in jeder Beziehung nachvollziehbar. Insbesondere seien die Algorhithmen, die einzelnen Verfahrensschritten hinterlegt sind, nicht transparent und damit die Berechnungen für die Leistungserbringer nicht nachvollziehbar.

Die Anova-Methode stützt sich auf die Daten, die den Versicherern heute zur Verfügung stehen. Weil Angaben über den Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten nicht systematisch vom Leistungserbringer an den Versicherer übermittelt werden, ist es nicht möglich, ein exaktes Riskoprofil des Patientenkollektivs der einzelnen Ärztinnen und Ärzte genau zu bestimmen. Nötig wären diesbezüglich mehr Angaben über die Morbidität und insbesondere der Einbezug der Diagnosen in die Überprüfungsmethode. Die Übermittlung von Diagnosen im Rahmen der Rechnungstellung ist in Artikel 59 Absatz 1 Buchstabe c und in Artikel 59 Absatz 2 KVV geregelt und unterliegt strengen Anforderungen in Bezug auf den Datenschutz.

Neben der methodischen Dimension monieren die Leistungserbringer den grossen administrativen Aufwand, der für sie mit der heutigen Wirtschaftlichkeitsprüfung verbunden ist. Diese Kritik bezieht sich auf jene Fälle, in denen der Versicherer beim Leistungserbringer vorstellig wird, in denen der Aufwand also auch dann anfällt, wenn dem Leistungserbringer kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden kann.

2523

Der Druck auf die Leistungserbringer kann zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität führen, nämlich im Fall, in dem Ärztinnen und Ärzte nicht mehr alle Kranken annehmen, sondern die Patientinnen und Patienten mit aufwändigen Behandlungen weiterschieben. Dies erfolgt ungeachtet dessen, dass die im Rahmen der Anova-Methode vorgenommene Standardisierung der Kostenstruktur innerhalb der Facharztgruppe der Benachteiligung von Ärztinnen und Ärzten mit ungünstiger Patientenstruktur entgegenwirkt.

2.4

Partnerschaftliches Vorgehen als neue Lösung

Wegen der seitens der Ärzteschaft vorgebrachten Kritik am Überprüfungsverfahren soll das Vorgehen zur Bestimmung der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung neu geregelt werden. Die Methode zur Wirtschaftlichkeitsprüfung soll künftig von santésuisse und den Leistungserbringern gemeinsam erarbeitet werden. Die Methode soll gesamtschweizerisch verbindlich sein. Das setzt voraus, dass santésuisse sein Berechnungsmodell zur Diskussion stellt und das Vorgehen in den einzelnen Verfahrensschritten und die den einzelnen Schritten hinterlegten Algoriythmen vollständig offen legt. Die Leistungserbringer stellen ihrerseits sicher, dass die erforderlichen Angaben zur Verfügung gestellt werden und dass insbesondere die Daten zur Morbidität in den Prozess einfliessen. Damit soll eine qualitative Wirtschaftlichkeitsbeurteilung möglich werden, die die Morbidität der jeweiligen Patientenkollektive abbildet. Der Einbezug von Daten, die im Rahmen der Rechnungstellung anfallen, bewirkt, dass der administrative Aufwand für den einzelnen Leitungserbringer geringer wird oder gar wegfällt. In einzelnen Kantonen sind bereits Ansätze zu einer besseren Kooperation von santésuisse und den Leistungserbringern vorhanden.

3

Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

Art. 56 Abs. 6 Der neue Absatz 6 von Artikel 56 verpflichtet die Leistungserbringer und Versicherer, gemeinsam eine Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle zu bestimmen. Damit wird die von den Leistungserbringern verlangte Transparenz bezüglich der Kontrollmethode und der einzelnen Verfahrensschritte sichergestellt. Der neue Absatz 6 enthält keine Spezifizierung oder exemplarische Aufzählung von Kriterien, die bei der Durchführung der Kontrolle zu berücksichtigen sind. Die Bestimmung der Kriterien liegt somit allein in der Kompetenz der Leistungserbringer und der Versicherer. Festzuhalten ist, dass diese Aufgabe für alle Kategorien der Leistungserbringer zu erfüllen ist, d.h. nicht nur Ärzte und Ärztinnen, sondern auch Spitäler, Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen, Chiropraktoren und Chiropraktorinnen, etc.

Die Wirtschaftlichkeitskontrolle liegt indessen weiterhin vollständig in der Kompetenz der Versicherer, was bis anhin auch nie bestritten war.

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Übergangsbestimmung Falls sich die Leistungserbringer gemäss Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe a (Ärzte und Ärztinnen) und die Versicherer innerhalb von 12 Monaten nach der Gesetzesänderung nicht auf eine Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle einigen können, wird diese vom Bundesrat bestimmt. So lange die neue Methode nicht feststeht, ist die alte anwendbar. Mit dieser Übergangsbestimmung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es bei der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung Probleme vor allem im Verhältnis zwischen Versicherern und Ärztinnen und Ärzten gibt.

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die bestehende Situation vollständig fortgeführt, so dass mit dem Vorschlag keine finanziellen und personellen Auswirkungen verbunden sind.

4.2

Vollzugstauglichkeit

Zur Sicherstellung der Transparenz bezüglich der Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle sind die Leistungserbringer und Versicherer gehalten, gemeinsam eine Kontrollmethode zu bestimmen. Sollten die Verhandlungen scheitern, bestimmt der Bundesrat nach Ablauf von 12 Monaten seit Inkrafttreten dieser Bestimmung eine Methode.

4.3

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

Das europäische Recht (Recht der Europäischen Gemeinschaft und Recht des Europarates) enthält keine Normen, die den Vorschlag betreffen. Die Staaten können die zu diesem Bereich gehörenden Aspekte nach eigenem Ermessen bestimmen.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungs- und Gesetzmässigkeit

Die Vorlage beruht auf Artikel 117 der Bundesverfassung, die dem Bund eine umfassende Kompetenz zur Einrichtung der Krankenversicherung gibt.

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6.2

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Für den Fall, dass sich die Leistungserbringer gemäss Artikel 35 Absatz 2 Buchstabe a (Ärzte und Ärztinnen) und die Versicherer nicht auf eine Methode zur Wirtschaftlichkeitsprüfung einigen können, sieht eine Übergangsbestimmung vor, dass der Bundesrat 12 Monate nach Inkrafttreten dieser Änderung die Kompetenz erhält, eine Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle festzusetzen.

6.3

Erlassform

Dieses Gesetz wird nach Artikel 164 der Bundesverfassung erlassen.

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