11.039 Botschaft zum Bundesgesetz zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes) vom 22. Juni 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Herr Ständeratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf eines Bundesgesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät.

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

22. Juni 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2011-0134

5977

Übersicht Am 30. November 2008 stimmten Volk und Stände der Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» und damit dem neuen Artikel 123b der Bundesverfassung (BV) zu, in dem Folgendes festgehalten ist: «Die Verfolgung sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten sind unverjährbar.» In Anwendung von Artikel 195 BV trat dieser Artikel am Tag der Volksabstimmung in Kraft. Mit der Annahme dieser Initiative brachten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihren Willen zum Ausdruck, jungen Opfern sexuellen Missbrauchs die Möglichkeit einzuräumen, den Täter jederzeit strafrechtlich zu verfolgen, und zu vermeiden, dass sich ein Täter nach Ablauf einer gewissen Zeit der strafrechtlichen Verfolgung entziehen kann.

Während der Kampagne im Vorfeld der Volksabstimmung hatte der Bundesrat darauf hingewiesen, dass der Wortlaut von Artikel 123b BV ungenaue Begriffe enthält, wie beispielsweise «Kinder vor der Pubertät» oder «pornografische Straftaten», und dass die Anwendung des Artikels daher schwierig wäre. Um die Rechtssicherheit und eine effiziente und einheitliche Anwendung von Artikel 123b BV durch die Strafverfolgungsbehörden zu gewährleisten, schlägt der Bundesrat deshalb vor, den Inhalt dieser Bestimmung auf Gesetzesebene zu konkretisieren. So ist im Entwurf vorgesehen, in Artikel 101 Absatz 1 des Strafgesetzbuches (StGB) einen neuen Buchstaben e einzufügen, mit dem Verstösse gegen Artikel 187 Ziffer 1 (sexuelle Handlungen mit Kindern), 189 (sexuelle Nötigung), 190 (Vergewaltigung) und 191 StGB (Schändung) unverjährbar werden, sofern sie an Kindern unter zwölf Jahren begangen wurden. Zudem ist vorgesehen, die Unverjährbarkeit nur bei mündigen Tätern anzuwenden. Schliesslich sieht der Entwurf ausdrücklich vor, die Unverjährbarkeit auf strafbare Handlungen anzuwenden, die am Tag der Abstimmung noch nicht verjährt waren. Mit dieser Lösung wird sowohl dem Volkswillen als auch dem Völkerrecht Rechnung getragen. Wie gewohnt wird auch eine Änderung der entsprechenden Bestimmung im Militärstrafgesetz, d.h. von Artikel 59 Absatz 1, vorgeschlagen.

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Inhaltsverzeichnis 1 Grundzüge der Vorlage 1.1 Entstehung des Entwurfs 1.1.1 Annahme der Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» 1.1.2 Auftrag im Anschluss an die Volksabstimmung 1.1.3 Ausarbeitung des Vorentwurfs 1.1.4 Vernehmlassungsverfahren 1.2 Rechtliche Ausgangslage 1.2.1 Die strafrechtliche Verjährung vor der Annahme von Artikel 123b BV 1.2.2 Weitere Anliegen im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verjährung 1.2.3 Rechtsvergleichender Überblick 1.3 Umsetzung der Initiative 1.3.1 Die direkte Anwendbarkeit von Artikel 123b BV 1.3.2 Notwendigkeit, eine Ausführungsgesetzgebung zu erarbeiten 1.3.3 Bei der Umsetzung zu berücksichtigende Voraussetzungen

5981 5981 5981 5982 5982 5982 5983 5983 5984 5985 5989 5989 5990 5991

2 Erläuterungen 2.1 Überarbeitung des Vorentwurfs nach der Vernehmlassung 2.2 Artikel 101 StGB als Ort der Umsetzung 2.3 Die Konkretisierung des Begriffs «Kinder vor der Pubertät» 2.4 Die Konkretisierung des Begriffs «sexuelle und pornografische Straftaten an Kindern» 2.4.1 Allgemeines 2.4.2 Der Unverjährbarkeit zu unterstellende Straftaten 2.4.3 Von der Unverjährbarkeit ausgeschlossene Straftaten 2.5 Der Kreis der Täter, für die Unverjährbarkeit gilt 2.6 Die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe 2.7 Die Übergangsbestimmung (Rückwirkung) 2.8 Aufhebung des indirekten Gegenvorschlags 2.9 Andere Punkte, die geprüft wurden 2.9.1 Strafmilderung 2.9.2 Möglichkeit des Opfers, sich nach der Mündigkeit einem Strafverfahren zu widersetzen 2.9.3 Straftaten vor und nach dem 12. Altersjahr des Opfers 2.9.4 Die allfällige Änderung weiterer Gesetze 2.10 Parallele Änderung des Militärstrafgesetzes

5994 5994 5994 5994 5998 5998 6000 6001 6003 6005 6005 6007 6008 6008

3 Auswirkungen 3.1 Allgemeines 3.2 Für den Bund 3.3 Für die Kantone

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4 Verhältnis zur Legislaturplanung

6015

6009 6010 6011 6014

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5 Rechtliche Aspekte 5.1 Verhältnis zum internationalen Recht 5.2 Verfassungsmässigkeit

6015 6015 6016

Anhang

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Bundesgesetz zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät (Änderung des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzes und des Jugendstrafgesetzes) (Entwurf)

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Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Entstehung des Entwurfs

1.1.1

Annahme der Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern»

Am 30. November 2008 nahm die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger (51,9 %) und der Stände (20) die Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» (Unverjährbarkeitsinitiative) an. Dementsprechend wurde die Bundesverfassung1 (BV) mit einem neuen Artikel 123b ergänzt, der den folgenden Wortlaut hat: Art. 123b

Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe bei sexuellen und bei pornografischen Straftaten an Kindern vor der Pubertät

Die Verfolgung sexueller oder pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten sind unverjährbar.

Gemäss Artikel 195 BV und Artikel 15 des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 19762 über die politischen Rechte trat diese neue Bestimmung am Tag der Volksabstimmung, d.h. am 30. November 2008, in Kraft.

Im Vorfeld der Abstimmung hatten der Bundesrat und die eidgenössischen Räte diese Initiative bekämpft und zur Ablehnung empfohlen. Sie machten im Wesentlichen geltend, die Unverjährbarkeit gehe über den Rahmen hinaus, der für das Erreichen des angestrebten Ziels erforderlich sei, und der vorgelegte Verfassungsartikel enthalte allzu ungenaue Begriffe. Gleichzeitig räumten sie jedoch ein, dass die Fristen für die Verfolgungsverjährung, wie sie in Artikel 97 Absatz 2 Strafgesetzbuch (StGB)3 vorgesehen sind, zu kurz sind. Deshalb schlugen sie im Rahmen eines indirekten Gegenvorschlags vor, die Fristen für die Verfolgungsverjährung bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten an Kindern unter 16 Jahren zu verlängern4.

Dieser indirekte Gegenvorschlag wurde am 13. Juni 2008 vom Parlament verabschiedet5.

1 2 3 4

5

SR 101 SR 161.1 SR 311.0 Siehe die Botschaft des Bundesrates vom 27. Juni 2007 zur Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern» und das Bundesgesetz über die Verfolgungsverjährung bei Straftaten an Kindern (Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes), BBl 2007 5369, sowie die Beratungen des Nationalrates (AB 2008 N 123) und des Ständerates (AB 2008 S 349).

AB 2008 N 1025, AB 2008 S 533. Der Wortlaut des Gegenvorschlags wurde im BBl 2008 5261 veröffentlicht.

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1.1.2

Auftrag im Anschluss an die Volksabstimmung

Am Abend des Abstimmungstages erklärte die damalige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), der neue Artikel 123b BV müsse im Strafgesetzbuch konkretisiert werden, damit die Rechtssicherheit und eine einheitliche Anwendung dieser Bestimmung gewährleistet seien6. Am 23. Februar 2009 empfing sie Vertreterinnen und Vertreter des Initiativkomitees, damit diese die verschiedenen Begriffe im Verfassungsartikel erläutern konnten. Nach Abschluss dieser Sitzung entschied sie, dass die Einsetzung einer Expertengruppe nicht nötig ist, und beauftragte das Bundesamt für Justiz mit der Erarbeitung des Vorentwurfs und des erläuternden Berichts.

1.1.3

Ausarbeitung des Vorentwurfs

Aufgrund des Auftrags der Vorsteherin des EJPD arbeitete das Bundesamt für Justiz einen Vorentwurf zur Änderung von Artikel 101 StGB (Unverjährbarkeit) aus, wonach bei strafbaren Handlungen gemäss den Artikeln 187 Ziffer 1, 189­191, die an Kindern unter 10 Jahren begangen werden, keine Verjährung eintritt. Der Vorentwurf sah zudem die Aufhebung des indirekten Gegenvorschlags noch vor seinem Inkrafttreten und die rückwirkende Geltung der Unverjährbarkeit auf Straftaten vor, die am 30. November 2008 noch nicht verjährt waren (Tag der Annahme von Art. 123b BV)7. Der Vorentwurf wurde vom 26. Mai bis zum 4. Oktober 2010 in die Vernehmlassung geschickt.

1.1.4

Vernehmlassungsverfahren

Der Vorentwurf wurde von den Vernehmlassungsteilnehmern generell sehr gut aufgenommen8. 52 von 54 Teilnehmern anerkannten, dass eine Ausführungsgesetzgebung erforderlich ist; von diesen 52 unterstützten 31 den Vorentwurf vorbehaltlos, und 21 machten Änderungsvorschläge. Neben den 52 Teilnehmern, die sich für die Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes aussprachen, gab es eine Organisation, die die Vorlage ablehnte, und eine andere machte lediglich allgemeine Bemerkungen dazu, ohne zu sagen, ob sie mit dem Vorentwurf einverstanden ist oder nicht.

Auf die punktuelle Kritik am Vorentwurf wird in Ziffer 2 der Botschaft (Erläuterungen) eingegangen. Hier sei aber schon erwähnt, dass die Änderungsvorschläge vor allem das Schutzalter der Opfer betrafen, das von gewissen Teilnehmern als zu tief angesehen wurde, sowie den Katalog der unverjährbaren Straftaten. Abgesehen

6 7

8

Siehe ihre Erklärung vom 30. November 2008 unter: http://www.bj.admin.ch/bj/de/home/ themen/kriminalitaet/gesetzgebung/unverjaehrbarkeit/abstimmungskommentar.html.

Siehe EJPD, Erläuternder Bericht zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung über die Unverjährbarkeit sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät, Bern, Mai 2010.

Für weitere Angaben siehe EJPD, Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) und des Militärstrafgesetzes (MStG) zur Umsetzung von Artikel 123b der Bundesverfassung, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens, Bern, November 2010.

5982

davon wurde der Vorentwurf praktisch einstimmig begrüsst; er wurde deshalb nur geringfügig geändert.

1.2

Rechtliche Ausgangslage

1.2.1

Die strafrechtliche Verjährung vor der Annahme von Artikel 123b BV

Das schweizerische Recht unterscheidet zwischen der Verfolgungsverjährung, mit deren Eintritt kein Anspruch mehr auf die Verfolgung einer Straftat besteht, und der Vollstreckungsverjährung, die dem Anspruch auf Vollzug eines rechtskräftigen Strafurteils ein Ende setzt. Die Fristen dieser beiden Verjährungsarten sind für mündige Täter im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 13. Juni 19279 (MStG) und für unmündige Täter im Jugendstrafgesetz vom 20. Juni 200310 (JStG) festgelegt.

Wenn der Täter mündig ist, verjährt die Strafverfolgung je nach Strafe, mit der die strafbare Handlung bedroht ist, nach 30, 15 oder 7 Jahren (Art. 97 Abs. 1 StGB und Art. 55 Abs. 1 MStG). Was die Strafe anbelangt, so verjährt diese abhängig von der ausgesprochenen Strafe nach 30, 25, 20, 15 oder 5 Jahren (Art. 99 StGB und Art. 57 MStG). Ist der Täter unmündig, gelten erheblich kürzere Fristen. Diese betragen bei der Verfolgungsverjährung fünf, drei oder ein Jahr(e) (Art. 36 Abs. 1 JStG) und bei der Vollstreckungsverjährung je nach der ausgesprochenen Strafe vier oder zwei Jahre (Art. 37 Abs. 1 JStG). Diese deutlich kürzeren Fristen sind im Wesentlichen auf den Umstand zurückzuführen, dass im Jugendstrafgesetz der Schwerpunkt in erster Linie auf der pädagogischen Wirkung einer Massnahme oder Strafe liegt. Vor diesem Hintergrund muss die Reaktion der Behörden sehr rasch erfolgen. Denn je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger ist es, die strafbare Handlung als Grund für die Verhängung einer erzieherischen Massnahme oder Strafe geltend zu machen11.

Es wurde jedoch eine Ausnahmeregelung für jene Fälle geschaffen, in denen der Täter ­ ob mündig oder unmündig ­ Sexual- oder Gewaltstraftaten an Kindern unter 16 Jahren begangen hat. Für diese Fälle hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass die Verfolgungsverjährung in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers dauert (Art. 97 Abs. 2 StGB, Art. 55 Abs. 2 MStG und Art. 36 Abs. 2 JStG). Diese Verlängerung ist angesichts der Tatsache gerechtfertigt, dass missbrauchte Kinder in den meisten Fällen emotional oder wirtschaftlich vom Täter abhängig sind und erst viele Jahre nach dem Missbrauch Strafanzeige erstatten können, nachdem sie sich von dieser Abhängigkeit befreit haben12. In der Praxis gelangt diese Regelung nur zur Anwendung,
wenn der Missbrauch an Kindern unter 10 Jahren begangen wurde. Ist das Missbrauchsopfer älter als 10 Jahre, so ist die ordentliche Verjährungsfrist von 15 Jahren nach der Begehung der strafbaren Hand9 10 11

12

SR 321.0 SR 311.1 Für weitere Einzelheiten siehe Botschaft vom 21. September 1998 betreffend die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 1979, S. 2216 ff.

Zur Notwendigkeit, bei strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern längere Verjährungsfristen vorzusehen, siehe BBl 2007 5369 (Fussnote 4), S. 5388, und zitierte Verweise.

5983

lung die bessere Lösung13. Diese Ausnahmeregelung bezieht sich nicht auf die Fristen der Vollstreckungsverjährung. So verjährt eine Strafe, die im Anschluss an eine Straftat gegen die sexuelle Integrität eines Kindes unter 16 Jahren ausgesprochen wurde, entsprechend den ordentlichen Bestimmungen, die in Artikel 99 Absatz 1 StGB, Artikel 57 Absatz 1 MStG und Artikel 37 Absatz 1 JStG vorgesehen sind.

Die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe existiert im schweizerischen Recht, doch sie ist im Strafgesetzbuch gegenwärtig nur für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und terroristische Handlungen vorgesehen (Art. 101 StGB)14. Sie gilt gemäss dem Verweis auf Artikel 101 StGB in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe j JStG nicht nur für mündige, sondern auch für unmündige Täter. Diese ausserordentliche Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen der Verjährung im Erwachsenen- und im Jugendstrafrecht lässt sich mit der aussergewöhnlichen Schwere der betreffenden Straftaten rechtfertigen.

1.2.2

Weitere Anliegen im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verjährung

Am 20. März 2009 beschloss der Nationalrat, die parlamentarische Initiative Glasson15 abzuschreiben. Mit dieser Initiative war das Ziel verfolgt worden, das organisierte Verbrechen an Unmündigen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen und es damit zu einer unverjährbaren Straftat im Sinn von Artikel 101 StGB zu erklären. Mit diesem Entscheid folgte der Nationalrat seiner Kommission für Rechtsfragen, welche die Auffassung vertreten hatte, die Ziele dieser parlamentarischen Initiative seien grösstenteils bereits realisiert oder bildeten Gegenstand von künftigen Gesetzesentwürfen. Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) wies im Übrigen darauf hin, dass das Ziel, das organisierte Verbrechen an Unmündigen jederzeit als Verbrechen verfolgen zu können, im Rahmen der Umsetzung der «Unverjährbarkeitsinitiative» geprüft wird16.

13

14

15 16

Dies lässt sich anhand der folgenden beiden Beispiele veranschaulichen, wobei vom Grundsatz ausgegangen wird, dass die Verjährung der betreffenden Straftat nach 15 Jahren eintritt: Ein Kind, das im Alter von fünf Jahren missbraucht wurde, kann die spezielle Regelung in Art. 97 Abs. 2 StGB in Anspruch nehmen und somit bis zum Alter von 25 Jahren Anzeige erstatten. Würde in einem solchen Fall die ordentliche Regelung angewandt, könnte das Missbrauchsopfer nur bis zum Alter von 20 Jahren entsprechende Massnahmen einleiten (5 + 15). Wird hingegen ein Kind im Alter von zwölf Jahren missbraucht, muss es sich nicht auf Art. 97 Abs. 2 StGB berufen können, weil es ausgehend von der ordentlichen Verjährungsfrist bis zum Alter von 27 Jahren Anzeige erstatten kann (12 + 15).

Im Rahmen der Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs wurde der bis dahin im Schweizer Strafrecht unbekannte Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit in das Strafgesetzbuch und das Militärstrafgesetz aufgenommen.

Zudem wurden Kriegsverbrechen, die bisher nur in einer Bestimmung im Militärstrafgesetz mit Verweis auf das geltende Völkerrecht behandelt wurden, genauer definiert (siehe Bundesgesetz über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs [AS 2010 4963]).

Parlamentarische Initiative Glasson (03.430; Das organisierte Verbrechen an Kindern ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit).

Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 13. Februar 2009 zur parlamentarischen Initiative Glasson (03.430).

5984

Am 25. Oktober 2007 verabschiedete der Europarat das Übereinkommen über den Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch. Es wurde bis jetzt von 42 Staaten unterzeichnet und von 10 Staaten ratifiziert; es trat am 1. Juli 2010 in Kraft. Abgesehen davon, dass das Übereinkommen von den Mitgliedstaaten die strafrechtliche Ahndung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern verlangt, ist in Artikel 33 des Übereinkommens vorgesehen, dass die Vertragsparteien die erforderlichen Massnahmen treffen müssen, um sicherzustellen, dass die Verjährungsfrist bei den Straftaten, die in den Artikeln 18 (sexueller Missbrauch), 19 Absatz 1 Buchstaben a und b (Straftaten im Zusammenhang mit Kinderprostitution) und 21 Absatz 1 Buchstaben a und b (Straftaten betreffend die Mitwirkung eines Kindes an pornografischen Darbietungen) des Übereinkommens umschrieben sind, ausreichend lang ist, um die tatsächliche Einleitung der Strafverfolgung zu ermöglichen, nachdem das Opfer mündig geworden ist. Die Umsetzung von Artikel 123b BV ist zwar nicht darauf ausgerichtet, allfällige Änderungen des schweizerischen Strafrechts zu berücksichtigen, die dieses Übereinkommen hervorrufen könnte. Trotzdem ist darauf zu achten, dass sie nicht zu einer Lage führt, die offensichtlich im Widerspruch zu den Bestimmungen im Übereinkommen steht.

Aufgrund der parlamentarischen Initiative Roth-Bernasconi17 arbeitete die RK-N einen Entwurf für einen neuen Artikel 124 StGB aus, der die gezielte Strafverfolgung weiblicher Genitalverstümmelung ermöglicht18. Der Entwurf sieht auch vor, dass bei der neuen Bestimmung die längere Verjährungsfrist gemäss Artikel 97 Absatz 2 StGB gelten soll. Die RK-N erklärte hingegen, dass die Frage der allfälligen Unverjährbarkeit von Straftaten gemäss dieser neuen Bestimmung im Rahmen des Entwurfs zur Umsetzung von Artikel 123b BV zu klären sei19.

Am 12. Juni 2009 reichte die Fraktion der Schweizerischen Volkspartei20 (SVPFraktion) im Parlament eine Motion ein. Die SVP-Fraktion möchte einen zweiten Satz zu Artikel 123b BV hinzufügen: «Die Unverjährbarkeit gilt für Verbrechen, die sowohl vor als auch nach dem 30. November 2008 begangen/erlitten wurden und vor diesem Datum noch nicht verjährt waren.» Da der Bundesrat wusste, dass er die Frage der Rückwirkung im Rahmen der Arbeiten für die Umsetzung von Artikel 123b BV behandeln würde, beschloss er, die Antwort auf diesen parlamentarischen Vorstoss aufzuschieben.

1.2.3

Rechtsvergleichender Überblick

Wir werden weiter unten sehen, dass Artikel 123b BV interpretierbare Begriffe enthält, die mit dem vorliegenden Entwurf konkretisiert werden sollen. Im Rahmen dieses Prozesses kann die Analyse von ausländischen Gesetzgebungen eine wertvolle Hilfe sein.

17 18 19 20

Parlamentarische Initiative Roth-Bernasconi (05.404; Verbot von sexuellen Verstümmelungen).

Parlamentarische Initiative, Verbot von sexuellen Verstümmelungen, Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats, BBl 2010 5651.

Bericht der Kommission für Rechtsfragen vom 12. Februar 2009, S. 19 f.

Motion der Fraktion der Schweizerischen Volkspartei (09.3681; Konsequente Anwendung der Unverjährbarkeit).

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Der Bundesrat hat bereits zweimal eine rechtsvergleichende Analyse der strafrechtlichen Verjährung von strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern vorgenommen21. Um Wiederholungen zu vermeiden, beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen darauf, die wichtigsten Elemente in Erinnerung zu rufen und veraltete Informationen auf den neuesten Stand zu bringen.

In Deutschland ist in § 78b Absatz 1 Ziffer 1 des Strafgesetzbuches22 vorgesehen, dass die Verjährung bei Straftaten nach den §§ 174­174c und §§ 176­179 bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres des Opfers ruht. In den §§ 174­174c werden sexuelle Handlungen an abhängigen Personen unter 18 Jahren (Personen in Ausbildung, Gefangene, Patienten, sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung oder eines Vertrauensverhältnisses usw.) geahndet, während in den §§ 176­179 sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 Jahren, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen geahndet werden. Die Frist der Verfolgungsverjährung beträgt je nach angedrohter Strafe 5, 10, 20 oder sogar 30 Jahre. Die Unverjährbarkeit ist nur für Mord im Sinne von § 211 vorgesehen. Die Frist der Vollstreckungsverjährung beträgt ­ abhängig von der ausgesprochenen Strafe ­ zwischen 3 und 25 Jahren (§ 79 Abs. 3 StGB). Gemäss § 79 Absatz 2 StGB ist die Strafe unverjährbar, wenn es sich bei der ausgesprochenen Strafe um eine lebenslange Freiheitsstrafe handelt (im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen mit einem Kind ist dies möglich, wenn diese Handlungen den Tod des Kindes zur Folge hatten).

In Österreich ist in der neuen Version von § 58 des Strafgesetzbuches23, die am 1. Juni 2009 in Kraft getreten ist, vorgesehen, dass die Verfolgungsverjährung von strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung bis zur Vollendung des 28. Lebensjahres des Opfers ruht, wenn das Opfer zur Zeit der Tatbegehung weniger als 18 Jahre alt war. Bei den strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung geht es insbesondere um pornografische Darstellungen Minderjähriger (§ 207a), um sexuellen Missbrauch von Jugendlichen unter 16 Jahren (§ 207b), um die sittliche Gefährdung von Personen unter 16 Jahren (§ 208), um Inzest (§ 211), um den
Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses (§ 212), um Kuppelei (§ 213), um die entgeltliche Vermittlung von Sexualkontakten mit Minderjährigen (§ 214), um die Förderung der Prostitution und pornografischer Darbietungen Minderjähriger (§ 215a) und um den grenzüberschreitenden Prostitutionshandel (§ 217). Die Frist der Verfolgungsverjährung hängt von der jeweiligen Strafe ab. Sie beträgt 10 Jahre bei schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und 20 Jahre in qualifizierten Fällen (wenn der Missbrauch eine schwere Körperverletzung oder eine Schwangerschaft zur Folge hatte). Strafbare Handlungen, die den Tod des Opfers zur Folge hatten und mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, verjähren gemäss § 57 Absatz 1 nicht. Was die Strafe anbelangt, so verjährt diese abhängig von der ausgesprochenen Strafe nach 5, 10 oder 15 Jahren; lebenslange Freiheitsstrafen verjähren nicht (§ 59).

21

22 23

Botschaft vom 10. Mai 2000 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität/ Verjährung bei Sexualdelikten an Kindern und Verbot des Besitzes harter Pornografie), BBl 2000 2943, S. 2959 f.; BBl 2007 5369 (Fussnote 4), S. 5371.

Das deutsche Strafgesetzbuch ist verfügbar unter: http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf.

Das österreichische Strafgesetzbuch ist verfügbar unter: http://www.sbg.ac.at/ssk/docs/stgb/stgb_index.htm.

5986

Im Fürstentum Liechtenstein wurde der in der Botschaft aus dem Jahr 200024 erwähnte Änderungsentwurf verabschiedet und trat in der Folge in Kraft. So beginnt gemäss Artikel 58 Absatz 3 Ziffer 3 des Strafgesetzbuches25 die Verfolgungsverjährung bei strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Minderjährigen erst, wenn das Opfer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Abhängig von der ausgesprochenen Strafe verjährt die Strafe nach 1, 3, 5, 10 oder 20 Jahren.

In Frankreich beträgt die Frist der Verfolgungsverjährung gemäss Artikel 7 der französischen Strafprozessordnung bei den in Artikel 706-47 der Strafprozessordnung und in Artikel 222-10 des Strafgesetzbuches26 aufgeführten Verbrechen 20 Jahre und beginnt erst mit der Mündigkeit des Opfers, wenn dieses zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung unmündig war. Bei den betreffenden Verbrechen handelt es sich um Vergewaltigung, andere Sexualstraftaten, Kuppelei mit Unmündigen unter 15 Jahren, Förderung der Prostitution von Unmündigen (einfach und qualifiziert), Verführung von Unmündigen, gewaltfreie sexuelle Übergriffe auf Unmündige über 15 Jahren und Gewalttaten, die für einen besonders schutzbedürftigen Menschen eine Verstümmelung oder eine dauernde Behinderung zur Folge hatten. Abhängig von der ausgesprochenen Strafe verjährt die Strafe nach 3, 5 oder 20 Jahren (Art. 133-2 bis 133-4 des Strafgesetzbuches). Die Unverjährbarkeit der Strafe ist gemäss Artikel 214-1 ff. des Strafgesetzbuches nur für Verbrechen im Zusammenhang mit der Eugenik und mit reproduktivem Klonen vorgesehen.

In Italien verabschiedete die Abgeordnetenkammer am 14. Juli 2009 einen Gesetzesentwurf mit dem Titel «Bestimmungen im Bereich sexuelle Gewalt»27. Dieser Entwurf für eine Gesetzesänderung ist insbesondere darauf ausgerichtet, die vorgesehenen Strafen für strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern unter 14 Jahren bzw. von unter 10 Jahren zu erhöhen (Art. 1 des Gesetzesentwurfs).

Mit dem Gesetzesentwurf wird ausserdem vorgesehen, dass die Strafe nicht weniger als acht Jahre betragen darf, wenn das Opfer eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperlichen Integrität erlitten hat, und nicht weniger als zehn Jahre, wenn für das Opfer eine sehr schwere («gravissima») Beeinträchtigung der körperlichen Integrität resultierte (Art. 2 des Gesetzesentwurfs). Im
Weiteren soll der Geltungsbereich von Artikel 157 Absatz 6 des Strafgesetzbuches28, in dem für bestimmte Fälle eine Verdoppelung der ordentlichen Verjährungsfristen vorgesehen ist, auf die Artikel 609-bis (sexuelle Gewalt), 609-quater (sexuelle Handlungen mit Unmündigen) und 609-octies (sexuelle Gewalt in einer Gruppe) des Strafgesetzbuches ausgedehnt werden. Da die ordentlichen Verjährungsfristen für diese Straftaten 10 Jahre betragen, würde die Verjährung in diesen Fällen nach 20 Jahren eintreten.

In allen Fällen beginnt die Verjährungsfrist nach der Begehung der strafbaren Handlung (Art. 158).

24 25 26

27 28

BBl 2000 2943 (Fussnote 21), S. 2951.

Das liechtensteinische Strafgesetzbuch ist verfügbar unter: http://www.recht.li/sys/1988037.html.

Die französische Strafprozessordnung ist verfügbar unter: http://www.droit.org/jo/copdf/CPP.pdf und das französische Strafgesetzbuch unter: http://www.droit.org/jo/copdf/Penal.pdf.

Der italienische Gesetzesentwurf ist verfügbar unter: http://www.ads.altalex.com/index.php?idstr=144&idnot=42189.

Das italienische Strafgesetzbuch ist verfügbar unter: http://www.usl4.toscana.it/dp/isll/lex/cp.htm#Top.

5987

In Grossbritannien gibt es keine Verjährung. Eine Strafverfolgung ist somit jederzeit möglich. Daraus ist indessen nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, der Verlauf der Zeit spiele im Rahmen eines Strafverfahrens überhaupt keine Rolle. Nach ständiger Rechtsprechung gilt die Theorie des Abuse of Process, mit welcher der Zeitpunkt festgelegt wird, ab dem die Verfolgung einer Straftat im Widerspruch zur Billigkeit steht und daher vom Richter eingestellt werden muss29. Was den sexuellen Missbrauch von Kindern anbelangt, kann die Anwendung dieser Theorie somit die Einstellung einer Strafverfolgung nach sich ziehen. So stellte das Berufungsgericht mit einem Entscheid vom 11. Februar 2003 ein Verfahren ein, das wegen Sexualstraftaten eröffnet worden war, die ein Schwiegervater in den Siebzigerjahren an seiner Schwiegertochter begangen hatte. Das Berufungsgericht vertrat die Auffassung, der Beklagte könne sich nicht verteidigen, da es aufgrund der verstrichenen Zeit sehr schwierig war, entsprechende Beweise beizubringen. Die Richter hielten fest, es sei zwar wichtig, dass das Opfer und die Anklage Gerechtigkeit erführen, doch noch wichtiger sei, dass der Beklagte keine Ungerechtigkeit erleide: Mit anderen Worten: «Möglicherweise gehen schuldige Personen straffrei aus, doch dafür werden Unschuldige nicht zu Unrecht verurteilt»30 (freie Übersetzung).

In Schweden traten am 1. April 2005 revidierte Bestimmungen zu den Straftaten gegen die sexuelle Integrität in Kraft31. Bei den in Kapitel 6 Artikel 4­6 und 8 des Strafgesetzbuches aufgeführten strafbaren Handlungen (Vergewaltigung, sexuelle Ausbeutung, sexueller Missbrauch und Ausnutzung der sexuellen Zurschaustellung von Kindern unter 15 Jahren) beginnt die Verjährungsfrist erst mit der Mündigkeit des Opfers (Kap. 35 Art. 4 Abs. 2). Diese Frist beträgt je nach Strafe, die für die betreffende strafbare Handlung vorgesehen ist, zwischen 2 und 15 Jahren (Kap. 35 Art. 1). Abhängig von der ausgesprochenen Strafe verjährt die Strafe nach 10, 20 oder 30 Jahren (Kap. 35 Art. 8).

In Norwegen ist in Artikel 68 des Strafgesetzbuches32 für die in den Artikeln 195 (sexuelle Handlungen mit einem Kind unter 14 Jahren) und 196 (sexuelle Handlungen mit einem Kind unter 16 Jahren) des Strafgesetzbuches aufgeführten Straftaten ebenfalls vorgesehen, dass die Verjährungsfrist
erst mit der Mündigkeit des Opfers beginnt. Diese Frist beträgt je nach Strafe, die für die betreffende strafbare Handlung vorgesehen ist, zwischen 10 und 25 Jahren (Art. 67). Abhängig von der ausgesprochenen Strafe verjährt die Strafe nach 15, 20 oder 30 Jahren (Art. 71).

In den Vereinigten Staaten haben die einzelnen Bundesstaaten hinsichtlich der strafrechtlichen Verjährung sehr unterschiedliche Regelungen. In einigen Bundesstaaten ist grundsätzlich keine strafrechtliche Verjährung vorgesehen (beispielsweise in Kentucky, North Carolina, South Carolina und West Virginia). Andere unterstellen nur bestimmte Straftaten der Unverjährbarkeit, darunter die strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität (beispielsweise Alabama, Alaska, Maine, Rhode Island und Texas). Teilweise ist als Voraussetzung für die Unverjährbarkeit die 29

30 31 32

Für weitere Einzelheiten siehe A. Miham, Contribution à l'étude du temps dans la procédure pénale: Pour une approche unitaire du temps dans la réponse pénale, Paris 2007, S. 411 ff.

Dies entspricht dem Fazit aus diesem Entscheid von A. Miham, op. cit. (Fussnote 29), S. 416.

Die Gesetzesänderung ist verfügbar unter: http://www.notisum.se/rnp/sls/sfs/20050090.PDF.

Eine englische Version des norwegischen Strafgesetzbuches ist verfügbar unter: http://www.ub.uio.no/ujur/ulovdata/lov-19020522-010-eng.pdf.

5988

Verfügbarkeit von DNA-Material festgelegt (Georgia und Illinois). In den übrigen Bundesstaaten ist die Verjährung unterschiedlich geregelt. Es ist jedoch festzuhalten, dass in den meisten Bundesstaaten die Verjährungsfrist erst ab dem Zeitpunkt beginnt, in dem das Opfer ein bestimmtes Alter erreicht (16, 18, 21 oder sogar 31 Jahre)33.

Aus dieser Übersicht über die ausländische Gesetzgebung lässt sich der Schluss ziehen, dass die Tendenz besteht, die Verjährungsfrist bei strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern zu verlängern. Selten sind hingegen jene Fälle, in denen sich diese Verlängerung auch auf Strafbestimmungen bezieht, mit denen andere Rechtsgüter geschützt werden (strafbare Handlungen gegen Leib und Leben), oder auf Strafbestimmungen, die keinen direkten Körperkontakt zwischen dem Täter und dem Opfer voraussetzen (Kuppelei, Ausnutzung der sexuellen Zurschaustellung usw.).

1.3

Umsetzung der Initiative

1.3.1

Die direkte Anwendbarkeit von Artikel 123b BV

Gemäss der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Verfassungsbestimmung direkt anwendbar, wenn sie ausreichend genau ist und wenn die Behörden die Bestimmung im Rahmen der Verfahren und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln anwenden können, ohne die funktionellen Grenzen ihrer Kompetenz zu überschreiten34. A contrario ist eine Bestimmung nicht direkt anwendbar, wenn sie dem Gesetzgeber nur einen Auftrag erteilt oder Kompetenz- und Verfahrensregeln festlegt35. Ausgehend von der Definition des Bundesgerichts ist Artikel 123b BV direkt anwendbar. Dies gilt unabhängig von der Tatsache, dass mit diesem Artikel einige Auslegungsschwierigkeiten verbunden sind.

Diese Einschätzung wurde in der Vernehmlassung vom Kanton Zürich und dem Verein Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) abgelehnt. Sie vertraten die Auffassung, dass Artikel 123b BV nicht direkt anwendbar sei36, machten dafür aber unterschiedliche Gründe geltend. Der Kanton Zürich erklärte, dass strafrechtliche Normen dem Bestimmtheitsgebot gerecht werden müssten, was bei Artikel 123b BV nicht erfüllt sei. Dies zeige auch die Tatsache, dass die Bestimmung unterschiedlich ausgelegt werden kann. Nach Ansicht des Kantons Zürich ist Artikel 123b BV deshalb eine Delegationsnorm. Die DJS gehen noch weiter: Ihrer Meinung nach ist Artikel 123b BV zu wenig genau bestimmt und daher nicht direkt umsetzbar; er enthalte zudem auch keinen Auftrag an den Gesetzgeber. Die DJS kommen deshalb zum Schluss, dass der Vorentwurf des EJPD verfassungswidrig ist und dass Artikel 123b BV faktisch nicht anwendbar ist. Gemäss den DJS habe sich das Initiativkomitee diese Konsequenz wegen des unklaren Wortlautes der Initiative letztlich selber zuzuschreiben.

33 34 35 36

Eine detaillierte Liste ist über den folgenden Link verfügbar: http://law.jrank.org/pages/11805/Criminal-Statutes-Limitation.html.

Siehe sinngemäss BGE 121 I 367, E. 2c und zitierte Verweise.

W. Moser, Unterschätzte Bundesverfassung?, Basel 1986, S. 16 ff.

Siehe EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 8.

5989

Dieser Einschätzung kann nicht gefolgt werden. Wie bereits weiter oben erwähnt, kann aus der Tatsache, dass die Verfassungsbestimmung mit einigen Auslegungsschwierigkeiten verbunden ist, nicht geschlossen werden, dass sie nicht direkt anwendbar ist. Ausserdem wäre es stossend, wenn man die Position der DJS übernehmen würde, da damit der Volkswille missachtet würde. Das Abstimmungsergebnis hat zweifelsfrei gezeigt, dass das Volk die Unverjährbarkeit schwerer Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Kindern will. Diesem Willen muss Rechnung getragen werden.

1.3.2

Notwendigkeit, eine Ausführungsgesetzgebung zu erarbeiten

Da Artikel 123b BV entsprechend den obigen Erläuterungen direkt anwendbar ist, kann man sich mit Recht fragen, ob es notwendig ist, eine Ausführungsgesetzgebung vorzusehen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Bundesrat bereits während der Abstimmungskampagne mehrmals erklärt hatte, Artikel 123b BV müsse auf Gesetzesebene konkretisiert werden, sofern die Volksinitiative in der Abstimmung angenommen werde. Diese Haltung ist nach wie vor zutreffend. Denn in Bezug auf eine Lösung, bei der die Anwendung dieser Bestimmung den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten überlassen wird, ist Folgendes zu kritisieren: ­

Sie könnte zu einer sehr unterschiedlichen Praxis in den einzelnen Kantonen führen. Im Extremfall könnte diese Lösung die für die Rechtsanwendung zuständigen Behörden sogar veranlassen, diese Bestimmung ganz einfach nicht anzuwenden. Daraus würden eine Rechtsunsicherheit und Ungleichbehandlung resultieren, die im Bereich der strafrechtlichen Ahndung von strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern nur schwer hingenommen werden könnten.

­

Eine solche Lösung würde die Opfer in eine sehr unangenehme Lage bringen, denn diese wüssten nicht von vornherein, ob die von ihnen erlittenen strafbaren Handlungen unverjährbar sind oder nicht. Eine solche Ausgangslage stünde in einem klaren Widerspruch zu einem der Hauptziele der Initiative: Dem Opfer soll nämlich genügend Zeit für den Entscheid eingeräumt werden, ob es Strafanzeige erstatten soll.

­

Diese Lösung würde dem Grundsatz des «Bestimmtheitsgebots» widersprechen. Jede Strafnorm muss ausreichend genau sein, damit die Adressaten wissen, welche Handlungen mit Strafe bedroht sind und welche Sanktionen solche Handlungen nach sich ziehen37. Vor diesem Hintergrund würde eine Ausführungsgesetzgebung einem potenziellen Täter erlauben, a priori zu wissen, dass er aufgrund seiner Handlungen lebenslang verfolgt werden kann.

Die Umsetzung des Artikels 123b BV auf Gesetzesstufe beseitigt die Unsicherheiten, die sich aus dieser Bestimmung ergeben, und zeigt den Willen des Gesetzgebers das Thema abschliessend zu regeln. Aufgrund von Artikel 190 BV ist diese Konkretisierung der Verfassungsbestimmung durch den Gesetzgeber für die rechtsanwen37

Siehe dazu J. Hurtado Pozo, Droit pénal, partie générale, Genf, Zürich, Basel 2008, S. 50 f.

5990

denden Behörden massgebend. Sie können sich nicht unter Berufung auf die direkte Anwendbarkeit der Verfassungsbestimmung darüber hinwegsetzen.

1.3.3

Bei der Umsetzung zu berücksichtigende Voraussetzungen

1.3.3.1

Berücksichtigung des Willens des Verfassungsgebers

Es versteht sich von selbst, dass eine Ausführungsgesetzgebung von Artikel 123b BV nur unter strenger Berücksichtigung des Willens des Verfassungsgebers erarbeitet werden kann. Um diesen Willen zu bestimmen, muss der Sinn eruiert werden, den der Verfassungsgeber diesem Artikel zum Zeitpunkt der Volksabstimmung vernünftigerweise geben konnte. Dies kann mit Hilfe der aus Artikel 1 des Zivilgesetzbuchs38 (ZGB) abgeleiteten klassischen Auslegungsregeln erfolgen, die auch bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen zur Anwendung kommen.

Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Verfassungsbestimmungen «grundsätzlich nach denselben Regeln zu interpretieren wie Normen des einfachen Gesetzesrechts»39. Zudem gilt: «Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Kontextes, des Zwecks, des Geistes und des Willens des Gesetzgebers, wie er sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung ergibt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht in allen Teilen den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt und zu Ergebnissen führt, die der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann und die gegen das Gerechtigkeitsgefühl oder den Grundsatz der Gleichbehandlung verstösst. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 134 I 184 E. 5.1 S. 193; BGE 131 I 394 E. 3.2 S. 396 und zitierte Verweise)» (freie Übersetzung)40.

Bei der grammatikalischen Auslegung wird die Bedeutung der im Gesetz enthaltenen Begriffe eruiert. Sie setzt die gleichwertige Berücksichtigung der drei amtlichen Versionen (deutsch, französisch und italienisch)41 und die Bestimmung der natürlichen Bedeutung der verwendeten Begriffe voraus. Die systematische Auslegung erlaubt es, den Sinn des Gesetzes durch seinen rechtlichen Kontext festzulegen und Widersprüche zwischen bestimmten Rechtsnormen oder -instituten zu verhindern.

Bei der historischen Methode wird die Absicht des Gesetzgebers zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzestexts eruiert, und die teleologische Methode beruht auf der Vorstellung, dass jede gesetzliche Bestimmung zwangsläufig einen Zweck hat,

38 39 40 41

SR 210 BGE 128 I 288, E. 2.4, zitiert nach Pra (2003) Nr. 80.

BGE 135 IV 113, E. 2.4.2 H. Honsell, in: Honsell/Vogt/Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1­456 ZGB, 4. Aufl., Basel 2010, Art. 1 Nr. 7; U. Häfelin/W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Aufl., Zürich, Basel, Genf, 2005, S. 32.

5991

der ihren Sinn erläutert42. Selbstverständlich kommen diese Kriterien in erster Linie bei der Anwendung des Gesetzes durch den Richter zum Tragen. Sie behalten indessen im Rahmen der Umsetzung ihre gesamte Stichhaltigkeit, wobei sie etwas auf das spezielle Verfahren der Annahme einer Volksinitiative angepasst werden müssen43.

So sind beispielsweise die Diskussionen im Vorfeld der Abstimmung sowie die Erklärungen der Initiantinnen und Initianten, des Bundesrates und der politischen Parteien von besonderer Bedeutung.

Diese Auslegungsarbeit hat einen dreifachen Zweck: 1.

Bestimmung der klaren Begriffe,

2.

Konkretisierung der ungenauen Begriffe,

3.

Beseitigung allfälliger Lücken im Verfassungsartikel.

Bei den letzteren beiden Aufgaben verfügt der Gesetzgeber über einen gewissen Spielraum.

1.3.3.2

Berücksichtigung der Verfassung und des internationalen Rechts

Der Grundsatz der Unverjährbarkeit an sich ist mit dem Völkerrecht nicht unvereinbar. Bei den schwersten Straftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen und terroristischen Handlungen sehen die meisten europäischen Staaten keine strafrechtliche Verjährung vor. Im schweizerischen Recht ist die Unverjährbarkeit in Artikel 101 StGB ausdrücklich vorgesehen. Was hingegen die strafbaren Handlungen im ordentlichen Strafrecht anbelangt, kann zwischen den Ländern, deren Recht auf dem römischen Recht beruht und die grundsätzlich die strafrechtliche Verjährung vorsehen44, und jenen Ländern unterschieden werden, die dem Common Law unterstehen und keine strafrechtliche Verjährung kennen45.

Während mit der Einführung der Unverjährbarkeit als solche auf der Ebene des internationalen Rechts keine Probleme verbunden sind, verhält es sich im Zusammenhang mit deren zeitlicher Anwendung ganz anders. Gemäss dem Legalitätsprinzip, das in Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention46 (EMRK) verankert ist, kann niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand, dass «es aufgrund dieses Artikels grundsätzlich nicht möglich ist, Handlungen mit einer Strafe zu belegen, die durch die Wirkung der Verjährung nicht mehr strafbar sind» (freie Übersetzung); ein solches 42

43 44

45 46

F. Werro, in: P. Pichonnaz/B. Foëx (Hrsg.), Code civil I, Art. 1­359, Commentaire, Basel 2010, Art. 1 Nr. 65 ff.; H. Honsell, op. cit. (Fussnote 41), Art. 1 Nr. 8 ff.; siehe auch J. Hurtado Pozo, op. cit. (Fussnote 37), S. 56 f. und zitierte Rechtsprechung.

Zum Thema der Auslegung einer Volksinitiative siehe auch BGE 121 I 334, E. 2c.

Siehe indessen Ziff. 1.2.3: In einigen Ländern mit römischer Rechtstradition sind bestimmte strafbare Handlungen des ordentlichen Strafrechts unverjährbar, wie beispielsweise strafbare Handlungen, die den Tod des Opfers zur Folge hatten, in Österreich, Mord in Deutschland oder Eugenik und reproduktives Klonen in Frankreich.

Siehe Ziff. 1.2.3, insbesondere die Erläuterungen zu Grossbritannien.

SR 0.101

5992

Vorgehen stünde nach Auffassung des EGMR «im Widerspruch zu dem in Artikel 7 EMRK verankerten Grundsatzes der Vorhersehbarkeit» (freie Übersetzung)47. In einem anderen Urteil und unter Anwendung der gleichen Bestimmung räumte der EGMR jedoch ein, dass bei strafbaren Handlungen, die am Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes noch nicht verjährt waren, längere Verjährungsfristen angewandt werden können48.

1.3.3.3

Berücksichtigung der Kohärenz der schweizerischen Rechtsordnung

Eine neue Verfassungsbestimmung bezieht sich grundsätzlich nie ausschliesslich auf einen Bereich. Sie kann indirekt weitergehende Konsequenzen haben, als ursprünglich erwartet wurde. Die Umsetzung von Artikel 123b BV bildet diesbezüglich keine Ausnahme von der Regel und wirkt sich auf die folgenden Rechtsnormen aus: Obligationenrecht49 (OR) Gemäss Artikel 60 Absatz 2 OR gelten die Fristen der Verfolgungsverjährung auch für eine Schadenersatzklage und eine Klage auf Bezahlung eines bestimmten Betrags als Genugtuung, sofern diese Fristen länger als die in Artikel 60 Absatz 1 OR vorgesehenen Fristen sind. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt voraus, dass das Opfer einer unverjährbaren Straftat den Täter auch lebenslang auf die Erstattung des erlittenen Schadens verklagen kann. Die Zweckmässigkeit dieser Lösung sollte analysiert werden.

Opferhilfegesetz vom 23. März 200750 (OHG) Gemäss Artikel 25 Absatz 2 OHG kann das Opfer einer strafbaren Handlung bis zum vollendeten 25. Lebensjahr ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung stellen (a) bei Straftaten nach Artikel 97 Absatz 2 StGB und Artikel 55 Absatz 2 MStG sowie (b) bei versuchtem Mord an einem Kind unter 16 Jahren. Es muss somit festgelegt werden, ob diese Verweise mit der Einführung der Unverjährbarkeit von bestimmten strafbaren Handlungen nach wie vor angemessen sind.

Bestimmungen zur Registrierung der Urteile und der vollzogenen Strafen Mit der Einführung der Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe stellt sich in verstärktem Masse die Frage, ob die gegenwärtige Gesetzgebung einen Verurteilten, der seine Strafe verbüsst hat, in ausreichendem Masse vor dem ­ zweifellos sehr unwahrscheinlichen ­ Risiko schützt, dass auf der Grundlage des gleichen Sachverhalts ein Prozess eröffnet wird oder dass ein Dritter geltend macht, die betroffene Person habe ihre Strafe nie verbüsst.

47

48 49 50

Urteil Kononov gegen Lettland vom 24. Juli 2008, § 144­146; dieses Urteil wurde von der Grossen Kammer aufgehoben, ohne dass aber der Grundsatz in Frage gestellt wurde, dass eine verjährte Handlung nicht mehr Gegenstand einer Strafverfolgung werden kann (Urteil Kononov gegen Lettland vom 17. Mai 2010).

EGMR, Urteil Coëme und andere gegen Belgien vom 22. Juni 2000, § 149.

SR 220 SR 312.5

5993

2

Erläuterungen

2.1

Überarbeitung des Vorentwurfs nach der Vernehmlassung

Der Vorentwurf wurde wie bereits erwähnt51 sehr gut aufgenommen und wurde deshalb nur geringfügig geändert. Die Gründe für die Nichtübernahme gewisser Vorschläge werden jeweils unter der entsprechenden Überschrift erläutert.

2.2

Artikel 101 StGB als Ort der Umsetzung

Wie bereits oben erläutert wurde52, besteht die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe im schweizerischen Strafrecht bereits. Diese ausserordentliche Regelung ist in Artikel 101 StGB und Artikel 59 MStG vorgesehen. Aus systematischer Sicht sind diese beiden Bestimmungen im Zusammenhang mit der Umsetzung von Artikel 123b BV ideal. Man könnte höchstens einige Einwände zum Umstand vorbringen, dass strafbare Handlungen des ordentlichen Strafrechts in der gleichen Bestimmung aufgeführt sind wie Straftaten von internationalem Ausmass (Völkermord, Kriegsverbrechen, terroristische Handlungen). Daraus könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass diese Verbrechen auf die gleiche Stufe gestellt werden. Dabei handelt es sich indessen nur um eine scheinbare Gleichstellung. Die oben erwähnten Verbrechen entsprechen in der Schweiz eindeutig nach wie vor den schwersten Straftaten, insbesondere weil sie mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bedroht sind, weil bereits die Vorbereitungshandlungen für solche Straftaten strafbar sind (Art. 260bis StGB) und weil sie praktisch weltweit verfolgt werden können (Art. 6 und 7 StGB). Aus diesen Gründen ist es nicht notwendig, die Unverjährbarkeit strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern in einem anderen Artikel als in Artikel 101 StGB festzulegen. Daher ist im vorliegenden Entwurf vorgesehen, Artikel 101 Absatz 1 StGB zu ergänzen, indem ein neuer Buchstabe e hinzugefügt wird. Hier werden die strafbaren Handlungen aufgeführt, die im Sinn von Artikel 123b BV unverjährbar sind.

2.3

Die Konkretisierung des Begriffs «Kinder vor der Pubertät»

Einleitend müssen die Gründe in Erinnerung gerufen werden, aus denen man sich nicht damit begnügen konnte, den Begriff «Kind vor der Pubertät» für den Entwurf zu übernehmen. Da der Begriff in der schweizerischen Rechtsordnung nicht bekannt ist, wird er von den für die Rechtsanwendung zuständigen Behörden unter Umständen unterschiedlich ausgelegt. Mit anderen Worten könnte er in der Schweiz zum einen zu einer grossen Rechtsunsicherheit (sowohl für die Opfer als auch für die Täter) und zum anderen zu einer erheblichen Ungleichbehandlung führen. Zudem wäre es für die Strafverfolgungsbehörden recht schwierig, praktisch mit Gewissheit nachzuweisen, dass ein Opfer zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung vor der Pubertät stand. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass die Behörden in vielen 51 52

Siehe Ziff. 1.1.4 Siehe Ziff. 1.2.1

5994

Fällen scheitern würden, weil ihnen nicht ausreichende Beweise vorliegen würden.

Dies hätte zur Folge, dass (in dubio pro reo) die ordentlichen Verjährungsfristen angewandt würden. Und falls die Klage zu einem sehr späten Zeitpunkt eingereicht wurde, würde das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Aus all diesen Gründen muss in das Ausführungsgesetz ein klares und problemlos anwendbares Kriterium aufgenommen werden, d.h. das Alter des Opfers zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung. Dieses Alter hängt davon ab, was unter dem Begriff Kinder vor der Pubertät zu verstehen ist. Ein auf dem Alter beruhendes Kriterium erfordert sicherlich immer einen gewissen Schematismus, der unter Umständen einer vollständigen materiellen Gleichheit entgegensteht. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein solcher Schematismus in Bezug auf die Gleichbehandlung nicht unzulässig an sich ist und dass das Alter in diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt von Artikel 8 Absatz 2 BV kein prohibitives Kriterium darstellt53. Im Übrigen besteht aufgrund der hohen Anforderungen an das Legalitätsprinzip im Zusammenhang mit jeder Strafnorm auch die Notwendigkeit, sich an ein klares und unbestreitbares Kriterium halten zu können.

In der französischen Sprache ist eine Person vor der Pubertät eine «personne qui n'a pas encore l'âge de la puberté», da die Pubertät dem «passage de l'enfance à l'adolescence» oder dem «ensemble des modifications physiologiques s'accompagnant de modifications psychiques, qui font de l'enfant un être apte à procréer (apparition des caractères sexuels secondaires, des règles)» entspricht54. Im Deutschen wird die Pubertät folgendermassen definiert: «Entwicklungsphase, die zur Geschlechtsreife des jugendlichen Menschen führt»55. Im Italienischen schliesslich gilt als «impubere» eine Person, «che non ha ancora raggiunto la pubertà», da die Pubertät der «periodo della vita, compreso tra i 10 e 15 anni, in cui hanno inizio le funzioni sessuali e si sviluppano i caratteri sessuali secondari» entspricht56. Gemäss diesen Definitionen, die man als «weitverbreitet» bezeichnen könnte, steht ein Kind vor der Pubertät, solange es nicht in den Umwandlungsprozess eingetreten ist, der zur Geschlechtsreife führt. Im Gegensatz zur Vorstellung, die man unter Umständen haben könnte, ist es somit nicht das letztere Kriterium,
anhand dem die Trennlinie zwischen Kindern vor der Pubertät und Kindern in der Pubertät gezogen wird, sondern vielmehr das Auftreten der ersten Anzeichen dieses Umwandlungsprozesses. In diesem Stadium ist die Tatsache interessant, dass nur im italienischen Wörterbuch ein Zeitraum angegeben ist, während dem diese Lebensphase abläuft, d.h. im Alter zwischen 10 und 15 Jahren. Anhand dieser ersten terminologischen Abklärungen können wir jedoch nicht mit ausreichender Genauigkeit einen Zeitraum festlegen, der für das Strafrecht nutzbar ist. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, die medizinische Fachliteratur zur menschlichen Entwicklung zu konsultieren.

53 54 55 56

Siehe sinngemäss die Zulässigkeit der Alterslimite für die Ausübung des Notariats, BGE 124 I 297, E. 4c, bb.

Le Nouveau Petit Robert, Paris: Le Robert 2008.

Deutsches Universalwörterbuch, 4. Aufl., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2001.

Dizionario della Lingua Italiana, Mailand: Rizzoli Larousse 2003.

5995

Im Werk von Falkner/Tanner57, das in diesem Bereich als Referenzwerk gilt, sind die folgenden Hauptmerkmale der Pubertät festgehalten: 1.

Wachstumsschub,

2.

Entwicklung der Keimdrüsen58,

3.

Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale,

4.

Veränderung des Körperbaus und

5.

Entwicklung des Kreislaufs und des Atmungssystems.

Diese Veränderungen beginnen nicht bei allen Menschen im gleichen Alter und dauern je nach Individuum unterschiedlich lang. Aus vor Kurzem durchgeführten Studien geht hervor, dass diese Veränderungen je nach Rasse, Ethnie, Umweltbedingungen, geografischer Lage und Ernährung anders verlaufen. Doch das Durchschnittsalter der Pubertät variiert zwischen den verschiedenen Ländern nur verhältnismässig gering. In den westlichen Ländern beträgt der Unterschied in der Regel höchstens ein Jahr59. Schliesslich wird generell festgehalten, dass die Mädchen ungefähr ein bis zwei Jahre früher in die Pubertät eintreten als die Jungen und dass ihre Pubertät über einen kürzeren Zeitraum verläuft. Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage zahlreicher Studien, die in diesem Bereich durchgeführt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Pubertät, d.h. der Zeitraum zwischen dem Auftreten der ersten Anzeichen der Pubertät bis zum Erreichen der Geschlechtsreife, durchschnittlich zwischen dem 9. und 14. Altersjahr bei den Mädchen und zwischen dem 10. und 17. Altersjahr bei den Jungen verläuft. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Pubertät im Lauf der Generationen tendenziell immer früher beginnt60.

Ausgehend von einer Kombination der «weitverbreiteten» Definition der Pubertät mit den Resultaten der wissenschaftlichen Forschung lässt sich festhalten, dass eine Person vor der Pubertät steht, wenn sie noch nicht in den Prozess der Pubertät eingetreten ist. Dieser Prozess beginnt ungefähr im Alter von neun Jahren bei den Mädchen und von elf Jahren bei den Jungen. Da es offensichtlich unbillig wäre, die Jungen länger zu schützen als die Mädchen, muss das Schutzalter für beide Geschlechter identisch sein. Basierend auf diesen Überlegungen wurde im Vorentwurf die Anwendung der Unverjährbarkeit auf Opfer unter zehn Jahren festgesetzt.

Einige Vernehmlassungsteilnehmer beanstandeten, dass dieses Schutzalters zu tief sei und setzten sich für dessen Erhöhung ein61. Nach Auffassung der Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte der Schweiz (VKS) kann die vorgeschlagene Lösung zwar als rechtliche Entscheidung akzeptiert, nicht aber medizinisch 57

58 59

60

61

W. Marshall/J. Tanner, Human growth, A comprehensive treatise, Zweite Aufl., Band 2, Postnatal growth, Neurobiology, F. Falkner/J.M. Tanner (Hrsg.), New York, London 1986, S. 171 ff.

Die Keimdrüsen sind Geschlechtsdrüsen, welche die Keimzellen produzieren (d.h. die Eizellen bei den Frauen und die Spermien bei den Männern).

M. Hermann-Giddens/L. Wang, Secondary sexual characteristics in boys, in: Archives of pediatrics & adolescents medicine, 2001, Band 155, S. 1022; vom Inserm veröffentlichtes Kollektivgutachten, Croissance et puberté, Evolutions séculaires, facteurs environnementaux et génétiques, Paris 2007, S. 50 ff.

Siehe insbesondere W. Marshal/J. Tanner, op. cit. (Fussnote 57); M. Hermann-Giddens/ L. Wang, op. cit. (Fussnote 59); L. S. Neinstein/F. Kaufmann, Adolescent health care: a practical guide, Philadelphia 2008; vom Inserm veröffentlichtes Kollektivgutachten (Fussnote 59), S. 48.

Siehe EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Verbehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 11 f.

5996

oder wissenschaftlich begründet werden, da sie nicht berücksichtigt, dass die Pubertät auch einen Reifungsprozess auf emotionaler und psychologischer Ebene beinhaltet, der nicht in Zahlen gefasst werden kann. Die VKS weist zudem darauf hin, dass die Menarche62 in der Schweiz im Durchschnitt zwischen dem 11. und 16. Lebensjahr auftritt und dass 5 % aller Mädchen mit 16 Jahren ihre Pubertät noch nicht begonnen haben. Schliesslich hält die VKS fest, dass die Grenze zwischen Erwachsenen- und Kindermedizin in der Psychiatrie bei 16 Jahren liegt. Alle diese Gründe sprechen nach Auffassung der VKS für ein Schutzalter 16. Die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) sind der Ansicht, dass das Schutzalter auf 14 Jahre angehoben werden sollte. Sie weisen darauf hin, dass sich das sexuelle Interesse Pädophiler häufig auf zwei Altersklassen richtet: auf Kinder zwischen 5 und 6 Jahren und auf Kinder zwischen 11 und 12 Jahren. Das Interesse verschwindet grundsätzlich bei der Ausprägung sekundärer Geschlechtsmerkmale beim Kind, was in der Regel spätestens im Alter von 14 Jahren der Fall sein sollte. Die Schweizerische Gesellschaft für Forensische Psychiatrie (SGFP) hält das vorgeschlagene Schutzalter von 10 Jahren aus medizinischen und biologischen Gründen für ungeeignet, schlägt aber selbst keine andere Lösung vor.

Basierend auf diesen von medizinischen Organisationen stammenden neuen Informationen ist es angebracht, das Schutzalter zu erhöhen. Der Entwurf sieht nun vor, dass strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern (Jungen und Mädchen) unter zwölf Jahren der Unverjährbarkeit unterstellt werden. Diese Lösung berücksichtigt das Phänomen der Pädokriminalität adäquater und beugt dem Risiko vor, dass Opfer, deren Pubertätsprozess im Zeitpunkt der Tat noch nicht eingesetzt hat, sich nicht auf die Unverjährbarkeit berufen können. Hingegen ist die Anwendung der Unverjährbarkeit auf Opfer ab zwölf Jahren nicht zweckmässig. Dies würde über das Ziel der Verfassungsbestimmung, Opfer zu schützen, die sich über die Unrechtmässigkeit der an ihnen vorgenommenen Handlungen nicht im Klaren sind und sie nicht anzeigen können, hinausgehen. Ab 12 Jahren ist ein Kind dazu fähig, insbesondere weil es dieses Thema in der Schule behandelt hat. Die Erklärungen der Initianten bestätigen die Richtigkeit
dieser Auslegung; Die Initiative will die sehr jungen Kinder schützen, weil sich Jugendliche «der Grenzen, ab denen [sie wissen, dass] sie zur Einforderung einer Wiedergutmachung berechtigt sind, besser bewusst»63 sind (freie Übersetzung). Schliesslich werden im Gesetzesentwurf bei der Festsetzung des Schutzalters unter zwölf Jahren sämtliche relevanten Faktoren ausreichend berücksichtigt: Volkswillen sowie wissenschaftliche, biologische und juristische Aspekte.

62 63

Unter Menarche versteht man das erste Auftreten der Menstruation in der Pubertät.

Marche Blanche, Bilan d'activité 2001­2008, S. 7, verfügbar unter www.marcheblanche.ch; siehe auch «Beweise hat man erst, wenn die Opfer sprechen», in: Basler Zeitung vom 10. Oktober 2008, in der Alain Zogmal (Jurist bei Marche Blanche) Folgendes erklärte: «Die Altergrenze muss vom Parlament in der Tat noch genau bestimmt werden. Heisst vor der Pubertät jünger als zehn, elf oder zwölf Jahre?»; «Les victimes ont besoin de plus de temps qu'on ne croit pour s'exprimer», in: Le Temps vom 21. Oktober 2008, in der Christine Bussat (Präsidentin von Marche Blanche) sagte: «Für uns ist es wichtig, dass man nicht in einen Extremismus verfällt. Aus diesem Grund haben wir diesen Begriff eingeführt. Ein 14-jähriges Mädchen ist sich besser bewusst, was sie erleidet, als ein fünfjähriges Kind. Deshalb wird ein solches Mädchen nur in seltenen Fällen 30 Jahre benötigen, bis es Anzeige erstatten kann» (freie Übersetzung); «Marche Blanche ne transige pas» in: La Liberté vom 15. Oktober 2008, in welcher der Autor des Artikels die Auffassung äussert, dass «dieser Begriff jedenfalls voraussetzt, dass sich die Initiative nur auf Kinder bezieht. Wenn das Opfer ein Jugendlicher oder eine Jugendliche ist, gibt es keine Unverjährbarkeit» (freie Übersetzung).

5997

2.4

Die Konkretisierung des Begriffs «sexuelle und pornografische Straftaten an Kindern»

2.4.1

Allgemeines

Für jede Strafverfolgungsbehörde wie auch für das Opfer und den Täter muss unbedingt klar ersichtlich sein, welche Straftaten unverjährbar sind. Wie bereits erwähnt würde es zu einer im Strafrecht schwer akzeptablen Rechtsunsicherheit führen, wenn die Lösung dieser Frage den Strafverfolgungsbehörden überlassen bliebe. Es ist daher Sache des Bundesgesetzgebers, dieses Problem zu regeln. Wie bereits in Ziffer 2.3 ausgeführt, wird jeder der drei amtssprachlichen Fassungen die gleiche Bedeutung beigemessen. Zudem ist daran zu erinnern, dass die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe im schweizerischen Recht nur ausnahmsweise und nur für die schwersten Straftaten vorgesehen ist64.

Zur Bezeichnung der Straftaten, für die Unverjährbarkeit gelten soll, verwendet Artikel 123b BV die Ausdrücke «sexuelle oder pornografische Straftaten an Kindern» auf Deutsch, «actes punissables d'ordre sexuel ou pornographique sur un enfant» auf Französisch und «reati sessuali su fanciulli» auf Italienisch. Diese Terminologie entspricht keiner besonderen strafbaren Handlung, bezieht sich jedoch auf Begriffe, die im Strafgesetzbuch verankert sind. Indem diese Begriffe definiert werden, lässt sich eine Liste der unverjährbaren Straftaten erstellen: ­

64 65 66

Der Begriff «sexuelle Handlung» wird in mehreren Bestimmungen des Strafgesetzbuchs verwendet (z.B. in den Art. 187, 188, 189, 191, 192, 193 und 198 StGB). Dabei handelt es sich um eine am menschlichen Körper vorgenommene Handlung, mit der die Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs mindestens eines der Beteiligten angestrebt wird. Die Handlung muss objektiv und unbestreitbar sexueller Natur sein und einen gewissen Schweregrad aufweisen65. Sie kann insbesondere die folgenden Formen annehmen66: der Beischlaf; orale oder anale Penetration; Einführen von Objekten in die Vagina oder den Anus; Reiben des Geschlechtsteils des Täters oder der Täterin an den Genitalien oder an der Brust des Opfers; Berühren des nackten Geschlechtsteils oder der nackten Brust einer Jugendlichen; langes, beharrliches Betasten der Genitalien des Opfers über der Kleidung; spürbarer oder langanhaltender Griff an die Brust einer Jugendlichen über den Kleidern; Zungenküsse; sich in angekleidetem Zustand über längere Zeit an ein Kind pressen, wobei besonders mit den Genitalien Gegendruck am Körper des Kindes gesucht wird. Einige Bestimmungen erfordern nicht einmal einen direkten Kontakt zwischen Täter und Opfer (namentlich die Art. 187 Ziff. 1 zweiter und dritter Satz und 198 StGB). In solchen Fällen kann die Tatsache strafbar sein, dass das Opfer gezwungen wird, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen, oder dass das Opfer mit einer sexuellen Handlung konfrontiert wird.

Siehe Ziff. 1.2.1 B. Corboz, Les infractions en droit suisse, Bern 2002, S. 719 f.

P. Maier, in: M. A. Niggli/H. Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafrecht, 2. Aufl., Basel, Genf, München 2007, Nr. 10 ad Art. 187.

5998

­

Der französische Begriff «acte d'ordre sexuel sur un enfant» ist mit dem Begriff in Artikel 187 Ziffer 1 erster Satz StGB identisch. Diese Bestimmung ist nur dann anwendbar, wenn zwischen dem Täter und dem Opfer Körperkontakt besteht67. In der deutschen und in der italienischen Fassung besteht diese Übereinstimmung zwischen Artikel 123b BV und Artikel 187 Ziffer 1 erster Satz StGB nicht. Die Terminologie der Verfassungsbestimmung («sexuelle Straftaten an Kindern» bzw. «reati sessuali su fanciulli») unterscheidet sich von jener der Strafbestimmung («eine sexuelle Handlung mit einem Kind vornehmen» bzw. «atto sessuale con una persona minore»).

Aus diesem Unterschied lässt sich ableiten, dass mit Artikel 123b BV nicht beabsichtigt wird, die Unverjährbarkeit auf jene sexuellen Straftaten zu beschränken, die Körperkontakt zwischen Täter und Opfer voraussetzen, wie aus der französischen Fassung geschlossen werden könnte.

­

Der Begriff «pornografische Straftat» kommt im Strafrecht nicht vor. Das Strafgesetzbuch stellt jedoch Pornografie unter Strafe (Art. 197 StGB), insbesondere das Zugänglichmachen von pornografischen Vorführungen für Kinder unter 16 Jahren sowie die Herstellung oder Verbreitung von Vorführungen, die sexuelle Handlungen mit Kindern oder Tieren oder Gewalttätigkeiten zum Inhalt haben. Unseres Erachtens hat die Tatsache, dass Artikel 123b BV ausdrücklich auf pornografische Straftaten Bezug nimmt, nicht zum Ziel, die in Artikel 197 StGB vorgesehenen Verhaltensweisen einzuschliessen. Vielmehr soll betont werden, dass die Möglichkeit bestehen muss, Personen lebenslang zu verfolgen, die im Rahmen von pornografischen Produktionen sexuelle Handlungen vornehmen. Die Erklärungen der Initiantinnen und Initianten bestätigen diese Auslegung68.

Gestützt auf diese Analyse und in Anbetracht der Tatsache, dass die Initiative Personen, die ein schweres Trauma erlitten haben, mehr Zeit geben möchte und dass die Unverjährbarkeit nur für die schwersten Straftaten gelten darf, kann davon ausgegangen werden, dass eine Straftat nur dann im Sinne von Artikel 123b BV unverjährbar sein kann, wenn sie

67 68

1.

schwerwiegend ist,

2.

in der Vornahme einer sexuellen Handlung besteht, mit der die Erregung oder Befriedigung des Geschlechtstriebs angestrebt wird, und

3.

an einem Kind begangen wird.

P. Maier, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 9 ad Art. 187 und zitierte Verweise.

Siehe Basler Zeitung vom 10. Oktober 2008 (Fussnote 63), in der Christine Bussat erklärte: «Die Initiative stellt den sexuellen Missbrauch und die Herstellung und den Vertrieb von kinderpornografischen Bildern und Filmen ins Zentrum. Ob der Konsum nicht mehr verjähren soll, wird das Parlament entscheiden, wenn die Initiative angenommen ist»; siehe auch Le Temps vom 21. Oktober 2008 (Fussnote 63), in der Christine Bussat sagte: «Handlungen sind das, was man an einem Kind konkret vornimmt. [...] Was das rechtswidrige Herunterladen anbelangt, ist dieses zweifellos strafbar. Doch die Frage der Verjährung wird sich hier nicht stellen: Ein Opfer erstattet gegen jene Person Anzeige, die sich an ihm vergriffen hat, nicht gegen jene, die auf ihrem Computer Bilder gespeichert hat» (freie Übersetzung).

5999

2.4.2

Der Unverjährbarkeit zu unterstellende Straftaten

Bei Anwendung der unter Ziffer 2.4.1 erwähnten Kriterien muss für die folgenden Straftaten Unverjährbarkeit gelten: ­

Artikel 187 Ziffer 1 StGB (sexuelle Handlungen mit Kindern): Diese strafbare Handlung entspricht am ehesten dem Wortlaut von Artikel 123b BV, da sie die sexuelle Entwicklung von Kindern spezifisch schützt. Sie stellt sowohl sexuelle Handlungen unter Strafe, die einen Körperkontakt zwischen Täter und Opfer voraussetzen, als auch solche, bei denen das Opfer nur Instrument oder Zuschauer ist.

­

Artikel 189 StGB (sexuelle Nötigung): Diese Bestimmung schützt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Da sich dieses geschützte Rechtsgut von jenem unterscheidet, das durch Artikel 187 StGB geschützt wird, besteht Idealkonkurrenz zwischen diesen beiden Bestimmungen69.

­

Artikel 190 StGB (Vergewaltigung): Diese Bestimmung ist ein Spezialfall von Artikel 189 StGB, da das Opfer nur eine Frau sein kann. Sie steht ebenfalls in Idealkonkurrenz zu Artikel 187 StGB.

­

Artikel 191 StGB (Schändung).

­

Artikel 192 StGB (sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten).

­

Artikel 193 StGB (Ausnützung einer Notlage).

Die herrschende Lehre geht davon aus, dass die Artikel 192 und 193 StGB durch Artikel 187 Ziffer 1 StGB konsumiert werden, obwohl damit nicht die gleichen Rechtsgüter geschützt werden. Es ist somit überflüssig, sie im Katalog der Straftaten, für die Unverjährbarkeit gelten soll, ausdrücklich zu erwähnen70. Umgekehrt muss Artikel 191 StGB in diesen Katalog aufgenommen werden, da nach Auffassung des Bundesgerichts Idealkonkurrenz zwischen dieser Bestimmung und Artikel 187 StGB besteht, wenn das Kind aufgrund seines Alters urteilsunfähig ist71.

Trotz der Vorbehalte des Kantons Zürich in Bezug auf den Ausschluss dieser beiden Bestimmungen72 scheint ein anderes Vorgehen nicht notwendig. Abgesehen davon, dass man sich schlecht vorstellen kann, wie die Rechtsprechung die Artikel 187 und 192 bzw. 193 StGB parallel anwenden könnte, könnte so auch nicht verhindert werden, dass das Opfer den Straftäter aufgrund von Artikel 187 StGB lebenslang verfolgen kann. Die allfälligen Auswirkungen würden nur die Festsetzung des

69 70

71

72

P. Maier, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 57 ad Art. 187.

P. Maier, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 36 ad Art. 187, Nr. 15 ad Art. 192 und Nr. 17 ad Art. 193 sowie zitierte Verweise; der Bundesrat hatte diesen Standpunkt zudem in seine beiden Botschaften zur Verfolgungsverjährung bei strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern übernommen (siehe BBl 2000 2943 [Fussnote 21], S. 2962 f. und BBl 2007 5369 [Fussnote 4], S. 5386).

BGE 120 IV 194, E. 2b; dabei ist zu beachten, dass dieser Entscheid von der Lehre kritisiert wird: Ein Teil der Lehre tritt für eine alternative Anwendung, ein anderer Teil für eine ausschliessliche Anwendung von Artikel 187 StGB ein, und ein weiterer Teil geht nur dann von einer Idealkonkurrenz aus, wenn es sich um ein Kind unter vier Jahren handelt oder wenn das Opfer wegen einer geistigen oder körperlichen Behinderung keinen Widerstand leisten kann (siehe P. Maier, op. cit. [Fussnote 66], Nr. 15 ad Art. 192).

Siehe EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 13 f.

6000

Strafmasses betreffen, das aufgrund der Bestimmungen über die Strafzumessung gemäss Artikel 47 f. StGB nach einer so langen Frist ohnehin gering wäre.

2.4.3

Von der Unverjährbarkeit ausgeschlossene Straftaten

Werden die unter Ziffer 2.4.1 erwähnten Kriterien konsequent angewandt, müssen die folgenden Straftaten vom Geltungsbereich der Unverjährbarkeit ausgeschlossen werden:

73 74

75

­

Artikel 124 E-StGB (Verstümmelung weiblicher Genitalien): Diese strafbare Handlung verstösst ganz klar gegen die körperliche Unversehrtheit und nicht gegen die sexuelle Integrität. Die Verstümmelung wird nicht zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, sondern aus anderen, insbesondere kulturellen Gründen vorgenommen. Sie fällt daher eindeutig nicht unter den Zweck von Artikel 123b BV. Der Entwurf, mit dem die parlamentarische Initiative Roth-Bernasconi73 umgesetzt wird, sieht jedoch trotzdem vor, diese Bestimmung in den Katalog der Straftaten aufzunehmen, für die eine verlängerte Verjährungsfrist im Sinne von Artikel 97 Absatz 2 StGB gilt.

­

Artikel 182 StGB (Menschenhandel): Bei dieser Straftat zieht der Täter Nutzen aus der sexuellen Ausbeutung von Kindern, ohne jedoch sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen. Zudem schützt diese Strafbestimmung seit der Revision von 2006 nicht mehr nur die sexuelle, sondern auch die berufliche Selbstbestimmung sowie die Selbstbestimmung der betreffenden Person in Bezug auf ihre Organe74. Aus diesem Grund wurde sie übrigens vom fünften in den vierten Titel verschoben. Artikel 182 StGB fällt somit nicht in den Rahmen, der durch Artikel 123b BV geregelt wird. In diesem Zusammenhang ist noch festzuhalten, dass sich Personen, die in einem derartigen Umfeld bezahlen, um von einem Kind sexuelle Dienste zu erhalten, nach Artikel 187 Ziffer 1 StGB strafbar machen und somit lebenslang strafrechtlich verfolgt werden können.

­

Artikel 187 Ziffer 3 StGB (sexuelle Handlungen an Kindern unter 16 Jahren, bei denen der Täter das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hat oder mit dem Opfer die Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist): In diesem Absatz sind die Fälle aufgeführt, bei denen der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass keine Gefährdung der sexuellen Entwicklung vorliegt75 und dass das Gericht somit auf die Verhängung einer Strafe verzichten kann. In einem solchen Fall wäre es unlogisch, die lebenslange Verfolgung einer derartigen Straftat zuzulassen; wenn das Opfer beschlossen hat,

Siehe Ziff. 1.2.2 Botschaft vom 11. März 2005 über die Genehmigung des Fakultativprotokolls vom 25. Mai 2000 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie, und über die entsprechende Änderung der Strafnorm über den Menschenhandel (BBl 2005 2807 2834); V. Delnon/B. Rüdy, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 6 ff. ad Art. 182; S. Trechsel et al., Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Zürich, St.Gallen 2008, Nr. 1 ad Art. 182.

P. Maier, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 18 ad Art. 187.

6001

mit dem Täter eine Ehe oder Partnerschaft einzugehen, besteht offensichtlich kein Bedarf nach Bestrafung mehr. Zudem wiegt diese Tat nicht schwer.

76 77

­

Artikel 187 Ziffer 4 StGB (sexuelle Handlungen an Kindern unter 16 Jahren, bei denen der Täter in der irrigen Vorstellung gehandelt hat, das Opfer sei mindestens 16 Jahre alt): Dabei handelt es sich um einen Fall von Fahrlässigkeit, für den eine weniger schwere Strafe vorgesehen ist als in den Fällen, die Artikel 187 Ziffer 1 StGB unterstehen. Zudem wird diese Bestimmung bei Opfern unter zwölf Jahren höchstwahrscheinlich nie in Betracht kommen. Denn es ist schwer vorstellbar, dass sich ein Täter darauf berufen könnte, er habe geglaubt, sein Opfer sei 16 Jahre alt, obwohl es nicht einmal zwölf Jahre alt war.

­

Artikel 188 StGB (sexuelle Handlungen mit Abhängigen): Gemäss dem Entwurf können nur Kinder unter zwölf Jahren die Person, die sie missbraucht hat, jederzeit verfolgen; somit kann diese Straftat, die nur für unmündige Personen von mehr als 16 Jahren gilt, selbstverständlich nicht unverjährbar sein.

­

Artikel 194 StGB (Exhibitionismus): Exhibitionismus ist die bewusste Zurschaustellung der Sexualorgane aus sexuellen Beweggründen. Es handelt sich um ein Delikt, das nicht schwer wiegt und nur auf Antrag verfolgt wird76.

­

Artikel 195 StGB (Förderung der Prostitution): Entsprechend den Ausführungen zu Artikel 182 StGB zieht die Person, die diese Straftat begeht, Nutzen aus den sexuellen Aktivitäten, die ein Kind mit Dritten hat, ohne dass sie selbst sexuelle Handlungen an ihm vornimmt. Sie kann somit nicht im Sinne von Artikel 123b BV lebenslang verfolgt werden. Hingegen machen sich Personen, die in einem derartigen Umfeld bezahlen, um von einem Kind sexuelle Dienste zu erhalten, nach Artikel 187 Ziffer 1 erster Satz StGB strafbar und können somit lebenslang strafrechtlich verfolgt werden.

­

Artikel 197 StGB (Pornografie): Diesbezüglich lassen sich die Gründe anführen, aus denen im Rahmen des Gegenvorschlags keine längere Verjährungsfrist für diese Bestimmung vorgesehen wurde77: «Diese Bestimmung stellt entweder die Konfrontation mit pornografischem Material (Ziff. 1 und 2), die Einfuhr, Lagerung und verschiedene Formen des Zugänglichmachens von Kinderpornografie oder von Pornografie mit Gewaltanwendung (Ziff. 3) oder aber den Erwerb, das Beschaffen oder den Besitz von pornografischem Material unter Strafe (Ziff. 3bis). In all diesen Fällen rechtfertigt sich eine Ausdehnung der Verjährungsfrist nicht, weil kein direkter Kontakt zwischen Täter und Opfer stattfindet, die Tat somit im Vergleich zu anderen Straftaten gegen die sexuelle Integrität weniger schwer wiegt. Was den besonderen Fall betrifft, in welchem das Herstellen von Kinderpornografie oder von Pornografie mit Gewalttätigkeiten nach Ziffer 3 ein tatsächliches Geschehen festhält, so besteht Konkurrenz zu anderen Straftaten gegen die sexuelle Integrität und kommt de facto die entsprechend längere Verjährungsfrist zur Siehe auch BBl 2000 2943 (Fussnote 21), S. 2963.

Bericht vom Januar 2007 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative «für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern», S. 17 f.

6002

Anwendung.» Der letzte Satz bedeutet ähnlich wie bei den Artikeln 182 und 195 StGB, dass Personen, die im Rahmen der Herstellung von Pornografie sexuelle Straftaten gegen Kinder begehen, gegen Artikel 187 Ziffer 1 erster Satz StGB verstossen und daher lebenslänglich verfolgt werden können.

­

Artikel 198 StGB (sexuelle Belästigungen): Dabei handelt es sich um eine Übertretung, die nur auf Antrag verfolgt wird.

­

Artikel 199 StGB (unzulässige Ausübung der Prostitution): Diese Straftat, die nicht schwer wiegt, weist die Besonderheit auf, dass kein eigentliches Opfer vorhanden ist. Sie fällt somit offensichtlich nicht in den Geltungsbereich von Artikel 123b BV.

Die von verschiedenen Vernehmlassungsteilnehmern78 vorgebrachten Argumente für eine Erweiterung des Straftatenkatalogs auf einige der oben erwähnten Verstösse (insbesondere auf die Art. 124 E-StGB, 182, 195 und 197 Ziff. 3 StGB) wurden nicht berücksichtigt. Bei all diesen Straftatbeständen nimmt der Täter keine sexuelle Handlung am Opfer vor oder sucht nicht den Geschlechtstrieb zu befriedigen. Diese Straftatbestände können also nicht in den Geltungsbereich von Artikel 123b BV aufgenommen werden.

2.5

Der Kreis der Täter, für die Unverjährbarkeit gilt

Der Vorschlag des Vorentwurfs, die Unverjährbarkeit nicht auf unmündige Täter anzuwenden, wurde von einer grossen Mehrheit der Teilnehmer begrüsst. Einige sprachen sich aber gegen diese Lösung aus79, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die meisten Täter Jugendliche sind, dass es für das Opfer keinen Unterschied macht, ob der Täter minder- oder volljährig ist, und dass das Interesse des Opfers Vorrang haben sollte.

Es stimmt zwar, dass der Wortlaut von Artikel 123b BV mündige und unmündige Täter nicht unterschiedlich behandelt. Man kann daraus aber nicht ableiten, dass eine nuancierte Lösung vollkommen unmöglich ist. Der wahre Sinn einer Verfassungsnorm kann anhand der vier unter Ziffer 1.3.3.1 erwähnten klassischen Auslegungsregeln herausgearbeitet werden80. Dabei sind insbesondere die systematische und die teleologische Auslegung zu berücksichtigen.

Aus systematischer Sicht ist, wie schon im erläuternden Bericht ausgeführt81, zuerst einmal zu erwähnen, dass das schweizerische Recht unmündige Täter strafrechtlich nicht gleich behandelt wie mündige. Unmündige Täter sind nicht dem Strafgesetzbuch unterstellt, sondern dem JStG ­ das den Schwerpunkt auf die Spezialprävention und die Resozialisierung legt ­ sowie der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung (JStPO). Denn der Gesetzgeber wurde sich bewusst, dass Jugendkriminalität eine Begleiterscheinung der Entwicklung sein kann und dass sich 78 79

80 81

Siehe zu den Vorschlägen EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 13 f.

Siehe die Kritik der Kantone Obwalden und Aargau sowie der Schweizerischen Volkspartei (EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 [Fussnote 8], S. 16).

Zu den Regeln für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung siehe Erläuterungen Ziff. 1.3.3.1.

EJPD, Erläuternder Bericht vom Mai 2010 (Fussnote 7), S. 20 f.

6003

angesichts ihrer vorübergehenden Natur nicht zwangsläufig eine drastische Reaktion aufdrängt82. Diese Feststellung bewog ihn auch dazu, die Fristen der Verfolgungsverjährung erheblich zu verkürzen und sie je nach Schweregrad der Straftat auf fünf Jahre, drei Jahre oder ein Jahr festzulegen (Art. 36 JStG). Denn je länger die Straftat einer unmündigen Person zurückliegt, desto problematischer ist es aus psychologischer und pädagogischer Sicht, sie als Grund für die Anwendung einer erzieherischen Massnahme oder einer Strafe anzuführen83. Im Bereich der schweren Gewaltund Sexualstraftaten hat der Gesetzgeber diesen Grundsatz etwas gelockert (Art. 36 Abs. 2 JStG, Möglichkeit der Strafverfolgung bis zum 25. Altersjahr des Opfers) und bei Völkermord, Kriegsverbrechen und terroristischen Handlungen ganz darauf verzichtet (Art. 1 Abs. 2 Bst. j JStG in Verbindung mit Art. 101 StGB, Unverjährbarkeit)84. Schliesslich ist zu beachten, dass im Jugendstrafrecht eine sogenannte «Quasi-Verjährungs»-Regelung gilt, die dem Gericht ermöglicht, von der Verhängung einer Strafe abzusehen, wenn seit der Tat verhältnismässig lange Zeit verstrichen ist, der Jugendliche sich wohlverhalten hat und das Interesse der Öffentlichkeit und des Geschädigten an der Strafverfolgung gering sind. Unter den gleichen Voraussetzungen muss die Behörde nach Artikel 5 JStPO von einer Strafverfolgung absehen. Mit dieser Lösung zeigt der Gesetzgeber seinen Willen, die Möglichkeit auszuschliessen, zum Tatzeitpunkt minderjährige Täter noch Jahre nach Tatbegehung verfolgen oder bestrafen zu können. Dies gilt umso mehr, als bei jugendlichen Straftätern die Resozialisierung im Vordergrund steht.

Teleologisch gesehen verfolgte die Initiative das Ziel, jungen Opfern bei strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität mehr Zeit zu geben, um über eine Anzeige gegen die Person zu entscheiden, die die Missbräuche begangen hat. In dieser zusätzlichen Zeit kann das Opfer sich nicht nur darüber klar werden, dass die Missbräuche strafbar waren, sondern sich auch von emotionalen oder wirtschaftlichen Bindungen an den Täter befreien. Eine solche Bindung liegt im Prinzip nur bei mündigen Tätern (Elternteil, Verwandter) vor. Ein grosser Bruder, eine grosse Schwester oder ein älterer Freund weist sicher gewisse Ähnlichkeit zu einem dominanten Erwachsenen auf,
aber die Abhängigkeit ist nicht so ausgeprägt. Aus diesen Gründen würde die Anwendung der Unverjährbarkeitsregel auf unmündige Täter den Rahmen von Artikel 123b BV sprengen.

Aus historischer Sicht ist nur daran zu erinnern, dass die Frage des Missbrauchs unter Unmündigen von den Initiantinnen und Initianten nie angesprochen und dass sie in den Medien und in der Politik nie diskutiert wurde. Die ganze Debatte konzentrierte sich auf die Problematik der Pädophilie, die als sexuelle Anziehung eines Erwachsenen durch ein Kind vor der Pubertät definiert wird.

Bei der Anwendung der Auslegungsregeln auf Artikel 123b BV stellt man also fest, dass die Nichtanwendung der Unverjährbarkeitsregel auf unmündige Täter gerechtfertigt ist. Auch wenn dies aus dem Wortlaut von Artikel 123b BV nicht direkt hervorgeht, ist diese Nichtanwendung aufgrund der anderen Auslegungskriterien legitim. Zu diesem Zweck muss, wie der Kanton Zürich sehr richtig angemerkt

82

83 84

Botschaft vom 21. September 1998 betreffend die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 1979, S. 2216.

BBl 1999 1979 (Fussnote 82), S. 2259.

Siehe dazu Ziff. 1.2.1

6004

hat85, Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe j JStG geändert werden, um die Anwendung von Artikel 101 StGB auf die Bestimmungen zu Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuschränken.

2.6

Die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe

Artikel 123b BV verlangt die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung und der Strafe.

Wie oben ausgeführt, besteht dieses Institut bereits in Artikel 101 StGB für die schwersten Straftaten (Völkermord, Kriegsverbrechen und terroristische Handlungen). Der Entwurf muss somit den Katalog der unverjährbaren Straftaten um jene ergänzen, die in Ziffer 2.4.2 erwähnt sind.

2.7

Die Übergangsbestimmung (Rückwirkung)

Die Übergangsbestimmung, die die Anwendung der Unverjährbarkeitsregel auf Handlungen vorsieht, die bei Inkrafttreten von Artikel 123b BV, d.h. am 30. November 2008, noch nicht verjährt waren, wurde von fast allen Teilnehmern begrüsst. Nur die Kantone Zürich und Waadt sowie die DJS waren der Auffassung, dass sie dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot bzw. Artikel 123b BV widerspricht86. Trotz dieser Vorbehalte ist der Bundesrat aus den nachfolgend dargelegten Gründen der Auffassung, dass die Übergangsbestimmung des Vorentwurfs dem Rückwirkungsverbot nicht widerspricht und mit Artikel 123b BV im Einklang ist.

Das Rückwirkungsverbot im Strafrecht bedeutet, dass jede Handlung nach dem Gesetz beurteilt werden muss, das zum Zeitpunkt in Kraft ist, in dem die Tat begangen wird. Mit anderen Worten, ein Strafgesetz darf keine Rückwirkung auf Verhaltensweisen haben, die vor seinem Inkrafttreten erfolgt sind. Dieser Grundsatz wird durch einen anderen Rechtsgrundsatz relativiert: Der Grundsatz der lex mitior gewährleistet der angeschuldigten Person, dass im Fall eines positiven Konflikts das für sie mildere Gesetz angewandt wird87. Im Bereich der Verjährung ist der Grundsatz der lex mitior ausdrücklich in Artikel 389 StGB verankert, der vorsieht, dass die Anwendung einer neuen Verjährungsfrist auf einen Sachverhalt, der vor Inkrafttreten dieser Frist eingetreten ist, nur dann möglich ist, wenn sie für den Täter günstiger ist. Der Gesetzgeber kann jedoch von dieser Regel abweichen, wenn er dies im Gesetz ausdrücklich vorsieht (Art. 389 Abs. 1 erster Satzteil StGB), was er in den Artikeln 97 Absatz 4 und 101 Absatz 3 StGB getan hat88. In diesen beiden Fällen hat er entschieden, dass für jene Straftaten, die am Tag der Annahme der neuen Regelung noch nicht verjährt waren, längere Verjährungsfristen gelten sollen (die somit für die beschuldigte Person weniger mild sind). In Lehre und Rechtsprechung wird hingegen einstimmig die Auffassung vertreten, dass diese Möglichkeit keinesfalls 85 86 87 88

EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 15.

Siehe EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 16 f.

J. Hurtado Pozo, in: R. Roth/L. Moreillon (Hrsg.), Commentaire romand, Code pénal I, Art. 1­110, Basel 2009, Nr. 40 ad Art. 1.

M. Killias/A. Kuhn/N. Dongois/M. Aebi, Précis de Droit pénal général, Bern 2008, Nr. 1638, vertreten die Auffassung, dass diese Entscheide verfassungswidrig sind.

6005

auf jene Straftaten ausgedehnt werden kann, die am Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes bereits verjährt waren89; diese Ansicht wurde erst kürzlich vom EGMR bestätigt90.

Aus diesen theoretischen Überlegungen lässt sich ableiten, dass drei Fälle zu unterscheiden sind: 1.

Die Straftat wurde vor dem 30. November 2008 begangen und war an diesem Tag nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht bereits verjährt,

2.

die Straftat wurde vor dem 30. November 2008 begangen, war an diesem Tag aber nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht noch nicht verjährt, und

3.

die Straftat wurde nach dem 30. November 2008 begangen.

Im ersten Fall ist die Tat wie oben ausgeführt endgültig verjährt, und ihre Strafbarkeit kann nicht nachträglich wieder hergestellt werden. Im zweiten Fall kann der Gesetzgeber gestützt auf Artikel 389 StGB die Unverjährbarkeit für jene Straftaten vorsehen, die am Tag des Inkrafttretens der Änderung noch nicht verjährt waren. Im dritten Fall schliesslich ist die Straftat fraglos unverjährbar. Der einzige Spielraum, über den der Gesetzgeber verfügt, betrifft somit den zweiten Fall, und es stellt sich die Frage, ob der Verfassungsgeber trotz des diesbezüglichen Schweigens von Artikel 123b BV davon ausgegangen ist, die vor dem 30. November 2008 begangenen Straftaten seien ebenfalls unverjährbar. Da der Gesetzgeber bei den früheren Revisionen der Fristen der Verfolgungsverjährung im Bereich der Sexualstraftaten gegen Kinder systematisch eine Übergangsbestimmung vorgesehen hat, die vom Grundsatz der lex mitior abweicht, und gegen diese nicht das Referendum ergriffen wurde, ist anzunehmen, dass die Bevölkerung eine derartige Lösung befürwortet. In einer derart heiklen Abstimmung ist berechtigterweise davon auszugehen, dass das «Ja» an der Urne den Wunsch der Bevölkerung zum Ausdruck bringt, dass die Unverjährbarkeit in zeitlicher Hinsicht für eine möglichst grosse Zahl von Fällen gelten möge. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, diesem Willen zu entsprechen und zugleich die Verfassungsvorschriften einzuhalten.

Die Tatsache, dass im Gesetz ausdrücklich festgehalten wird, dass die Unverjährbarkeit auch für die vor dem 30. November 2008 begangenen Straftaten gilt, sofern sie an diesem Tag nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht noch nicht verjährt waren, entspricht also nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch dem 89

90

Siehe insbesondere J. Hurtado Pozo, op. cit. (Fussnote 37), S. 102: «[...] das Wiederaufleben der wegen Verjährung verunmöglichten Strafverfolgung würde dem Legalitätsprinzip zuwiderlaufen; [...]» (freie Übersetzung); M. Killias/A. Kuhn/N. Dongois/M. Aebi, op. cit. (Fussnote 88), S. 303 f.: «[...] selbst die Befürworter der Verfahrensnatur der Verjährung räumen ein, dass eine allfällige Aufhebung oder Verlängerung der Fristen nie zur Wiederherstellung der Strafbarkeit einer Handlung führen könnte, deren Verjährung nach bisherigem Recht bereits eingetreten is» (freie Übersetzung); A.R. Ziegler/C. Bergmann, in: R. Roth/L. Moreillon (Hrsg.), Code pénal I, Art. 1­110, Basel 2009, Nr. 44 ad Art. 101: «Auf keinen Fall lässt sich Art. 101 StGB auf Verbrechen anwenden, deren Verjährung bei Inkrafttreten des Grundsatzes der Unverjährbarkeit in unserem Strafrecht bereits eingetreten war» (freie Übersetzung); BGE 129 IV 49, E. 5.1: «Da die neuen Bestimmungen betreffend die Verfolgungsverjährung nach Ausfällung des vorliegend angefochtenen Urteils [...] in Kraft getreten sind, hatte die Vorinstanz keinen Anlass, die Frage der Anwendbarkeit des neuen Verjährungsrechts zu prüfen».

Siehe Ziff. 1.3.3.2 und Fussnote 47.

6006

Volkswillen. Zudem entspricht sie vollumfänglich der oben erwähnten Motion der SVP-Fraktion91.

2.8

Aufhebung des indirekten Gegenvorschlags

Keiner der Vernehmlassungsteilnehmer hat verlangt, dass der indirekte Gegenvorschlag, der vom Parlament 2008 verabschiedet wurde, in Kraft gesetzt wird92. Die SP fragte sich trotzdem, ob für Taten gemäss dem in der Vorlage vorgesehenen Straftatenkatalog, die an Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 16 Jahren begangen werden, nicht doch ­ wie im Gegenvorschlag des Bundesrats vorgesehen ­ die Verjährung erst bei Erreichung der Volljährigkeit zu laufen beginnen sollte. Der Bundesrat lehnt diesen Vorschlag ab; abgesehen davon, dass eine solche Lösung nicht aus Artikel 123b BV abgeleitet werden könnte, würde sie noch zusätzlich zur Verwirrung im Bereich der strafrechtlichen Verjährung beitragen, die schon jetzt aufgrund der verschiedenen Revisionen ziemlich komplex ist93. Zudem ist daran zu erinnern, dass die vorliegende Revision sich darauf beschränken sollte, Artikel 123b BV zu konkretisieren, und nicht zum Ziel hat, alle Bestimmungen über die Verjährung neu aufzurollen.

Grundsätzlich ist der Bundesrat verpflichtet, einen von den eidgenössischen Räten verabschiedeten indirekten Gegenvorschlag in Kraft zu setzen, und er verfügt nur beim Zeitpunkt des Inkrafttretens über einen gewissen Spielraum. Da aber das Instrument des indirekten Gegenvorschlags aus der Praxis entstanden ist und weder in der Verfassung noch in einem Gesetz geregelt ist, ermöglicht es eine gewisse Flexibilität. Es bestehen deshalb Ausnahmen vom Grundsatz, dass der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag in Kraft setzen muss, da der Verfassungsgeber zwischen dem Zeitpunkt der Verabschiedung eines Gesetzes und dem Zeitpunkt von dessen allfälliger Inkraftsetzung intervenieren kann.

Eine identische oder vergleichbare Situation wurde in der Schweiz noch nie verzeichnet94. Vor der Abstimmung vom 30. November 2008 hatten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger 15 Volksinitiativen angenommen95. In sechs Fällen hatte der Bundesrat die Annahme der jeweiligen Initiative empfohlen. Ebenfalls in sechs Fällen hatte er sich für die Ablehnung der Initiative ausgesprochen, ohne dem Volksbegehren einen direkten Gegenentwurf oder einen indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen. In zwei Fällen hatte er die Ablehnung der Initiative empfohlen und ihr gleichzeitig einen direkten Gegenentwurf gegenübergestellt, und lediglich in einem Fall hatte er die Ablehnung der Initiative empfohlen und ihr einen indirekten 91 92 93 94

95

Siehe Ziff. 1.2.2 und Fussnote 20.

EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 10.

Für einen Überblick über die Änderungen siehe Botschaft vom 27. Juni 2007 (Fussnote 4), S. 5106 ff.

Der Fall der Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» unterscheidet sich vom vorliegenden Fall, da es sich beim indirekten Gegenvorschlag in Wirklichkeit um ein Gesetz handelte, das von den eidgenössischen Räten bereits vor der Einreichung der Volksinitiative verabschiedet worden war. Es ging somit nicht um einen «massgeschneiderten» Gegenvorschlag.

Eine Übersicht über die von Volk und Ständen angenommenen eidgenössischen Volksinitiativen steht auf dem Internetportal der Bundeskanzlei zur Verfügung: http://www.admin.ch/ch/d//pore/vi/vis_2_2_5_8.html.

6007

Gegenvorschlag gegenübergestellt. Der letztere Fall, bei dem es um die eidgenössische Volksinitiative «zum Schutz der Moore ­ Rothenthurm-Initiative» ging, ist indessen mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Denn im Rahmen des indirekten Gegenvorschlags zur Rothenthurm-Initiative wurden grösstenteils lediglich die Forderungen des Initiativkomitees im Gesetz konkretisiert. Im Fall der Unverjährbarkeitsinitiative hingegen bildete der indirekte Gegenvorschlag eine wirkliche Alternative zu der vom Initiativkomitee vorgeschlagenen Lösung, wobei er sich an einer anderen Logik orientierte: Es ging nicht um eine vorzeitige Umsetzung von Artikel 123b BV. Mit der Zustimmung zur Initiative lehnte das Volk implizit die von den eidgenössischen Räten vorgeschlagene Lösung ab, wobei die Letztere nicht Gegenstand eines Referendums war. Aus diesen Gründen wird mit dem vorliegenden Entwurf vorgesehen, den Gegenvorschlag aufzuheben. Ein solches Vorgehen ­ d.h. die Änderung oder Aufhebung von Bestimmungen, die vom Parlament verabschiedet wurden, aber noch nicht in Kraft getreten sind ­ wurde bereits im Rahmen der Revision des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches angewandt96.

2.9

Andere Punkte, die geprüft wurden

2.9.1

Strafmilderung

Artikel 101 Absatz 1 Buchstabe e E-StGB wird automatisch Artikel 101 Absatz 2 StGB unterstehen, der vorsieht: «Wäre die Strafverfolgung bei Anwendung der Artikel 97 und 98 verjährt, so kann das Gericht die Strafe mildern.» Es muss überprüft werden, ob dieser Verweis im vorliegenden Fall angebracht ist und ob er nicht im Widerspruch zu Artikel 123b BV steht. Dazu ist kurz die Entstehungsgeschichte von Artikel 101 Absatz 2 StGB in Erinnerung zu rufen.

Vor dem Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs war dieser Absatz 2 in Artikel 75bis des bisherigen Strafgesetzbuchs (aStGB) aufgeführt und wies eine etwas andere Formulierung auf, da er vorsah, dass der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern könne. Dieser Zusatz war wichtig, da das bisherige Strafgesetzbuch zwischen Strafmilderung (Art. 64 f. aStGB), die der Richterin oder dem Richter eine Milderung der Strafe im Rahmen der festgelegten Bandbreiten ermöglichte, und Strafmilderung nach freiem Ermessen (Art. 66 aStGB) unterschied; diese ermöglichte der Richterin oder dem Richter, die Strafe zu mildern, ohne dabei an die Strafart oder das Strafmass gebunden zu sein, die für die Straftat angedroht waren. Mit diesem Absatz wollte das Parlament damals gewissermassen die Unverjährbarkeitsregelung lockern und dem Gericht mehr Spielraum bei der Festlegung der Strafe geben97. Seit dem Inkrafttreten des neuen Allgemeinen Teils, namentlich der Artikel 48 und 48a StGB, besteht diese Unterscheidung nicht mehr. Gemäss diesen Bestimmungen ist die Strafmilderung künftig zwingend, wenn die Bedingungen erfüllt sind, und das Gericht ist nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden.

Um dieser Neuerung Rechnung zu tragen, wurde der Ausdruck nach freiem Ermessen in Artikel 101 Absatz 2 StGB98 gestrichen. Im Gegensatz zu Artikel 48 StGB,

96

97 98

Siehe Botschaft vom 29. Juni 2005 zur Änderung des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 13. Dezember 2002 und des Militärstrafgesetzes in der Fassung vom 21. März 2003 (BBl 2005 4689 4693).

P. Müller, op. cit. (Fussnote 66), Nr. 7 ad Art. 101.

BBl 1999 1979 (Fussnote 82), S. 2136.

6008

der das Gericht verpflichtet, einem festgestellten Strafmilderungsgrund Rechnung zu tragen, kann das Gericht dies im Fall von Artikel 101 Absatz 2 StGB tun.

Da die Unterscheidung zwischen Strafmilderung und Strafmilderung nach freiem Ermessen durch das neue Strafgesetzbuch aufgehoben wurde, kann man sich fragen, ob Artikel 101 Absatz 2 StGB noch Sinn macht und ob es nicht vorzuziehen wäre, dass sich das Gericht ausschliesslich auf die Strafmilderungsgründe in Artikel 48 StGB berufen würde. Diese Frage ist mit Nein zu beantworten. Denn der einzige in Artikel 48 StGB vorgesehene Strafmilderungsgrund, der auf den Ablauf der Zeit Bezug nimmt, ist jener in Absatz 1 Buchstabe e, der wie folgt lautet: «Das Gericht mildert die Strafe, wenn das Strafbedürfnis in Anbetracht der seit der Tat verstrichenen Zeit deutlich vermindert ist und der Täter sich in dieser Zeit wohl verhalten hat.» Dieser Buchstabe ist aber gerade nicht auf die unverjährbaren Straftaten anwendbar, da der Gesetzgeber vom Grundsatz ausgeht, dass das entsprechende Strafbedürfnis nie verschwindet99. Mit anderen Worten, würde Artikel 101 Absatz 2 StGB nicht bestehen, wäre das Verstreichen der Zeit bei den unverjährbaren Straftaten kein Strafmilderungsgrund. Das Gericht kann sich zwar immer noch im allgemeineren Rahmen von Artikel 47 StGB auf den Ablauf der Zeit berufen, bleibt jedoch in diesem Fall an die Mindeststrafe gebunden. Selbst bei den schwersten Verbrechen liesse sich eine derartige Härte schwer vertreten, vor allem dann, wenn die Ereignisse sehr weit zurückliegen. Artikel 101 Absatz 2 StGB kann deshalb beibehalten werden. Das Strafmilderungssystem für unverjährbare Straftaten ist somit in zwei Zeiträume gegliedert: ­

Das Urteil ergeht innerhalb der ordentlichen Verjährungsfrist: In diesem Fall kann das Gericht das Verstreichen der Zeit nur im allgemeinen Rahmen von Artikel 47 StGB berücksichtigen (Art. 48 Abs. 1 Bst. e StGB ist nicht anwendbar) und ist an die angedrohte Mindeststrafe gebunden.

­

Das Urteil ergeht nach Ablauf der ordentlichen Verjährungsfrist: In diesem Fall kann das Gericht kann Verstreichen der Zeit berücksichtigen, um die Strafe zu mildern, und ist nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden (Art. 101 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 48a StGB).

2.9.2

Möglichkeit des Opfers, sich nach der Mündigkeit einem Strafverfahren zu widersetzen

Wie bereits mehrfach erwähnt, berücksichtigt die Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung in erster Linie die Bedürfnisse des Opfers, denn die Erstattung von Strafanzeige erfolgt im Rahmen eines therapeutischen Prozesses und bringt den Willen zum Ausdruck, den Täter verurteilen zu lassen. Da strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Amtes wegen verfolgt werden, ist es jedoch denkbar, dass ein Strafverfahren aufgrund einer Anzeige eröffnet wird, die nicht vom Opfer ausgeht. Wenn sich nun das Opfer nicht bereit fühlt oder endgültig darauf verzichtet hat, die Missbräuche zur Anzeige zu bringen, kann es gewissermassen 99

Siehe zum Beispiel die Botschaft vom 23. April 2008 über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, BBl 2008 3863, S. 3912: «Bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen handelt es sich regelmässig um so schwere Straftaten, dass das Strafbedürfnis der internationalen Gemeinschaft auch nach langer Zeit nicht völlig verschwindet.»

6009

gegen seinen Willen in ein Strafverfahren hineingezogen werden, was dem mit Artikel 123b BV verfolgten Ziel widersprechen könnte. Daher stellt sich die Frage, ob dem Opfer nach einer gewissen Zeit die Möglichkeit gegeben werden soll, sich der Eröffnung einer Strafuntersuchung zu widersetzen, die von den Behörden oder Drittpersonen ausgeht.

Diese Frage wurde bereits im Jahr 2000 im Rahmen der Revision der Verjährungsfristen für strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität angesprochen100. Der Bundesrat war damals zum Schluss gelangt, die Einführung eines derartigen Gestaltungsrechts sei aus verschiedenen Gründen nicht angebracht. Unter dem Aspekt des öffentlichen Interesses beziehungsweise des Schutzes der öffentlichen Ordnung erschiene es zunächst nicht unbedenklich, dass bei schweren Delikten eine Strafverfolgung von Amtes wegen bereits nach kürzester Zeit verhindert werden könne.

Sodann könne eine solche Regelung zu krassen Ungerechtigkeiten führen, wenn bei zwei gleichartigen Verbrechen im einen Fall ein Strafverfahren durchgeführt werde, das zu einer unbedingten Freiheitsstrafe führe, im anderen Fall dagegen überhaupt kein Verfahren stattfinde. Schliesslich könnten sich die Opfer bereits ausreichend vor der Gefahr einer erneuten Traumatisierung schützen, indem sie von den Rechten Gebrauch machten, die ihnen nach den Artikeln 34 ff. OHG (vor allem Recht, von einer Person des gleichen Geschlechts befragt zu werden, Recht auf Begleitung, Aussageverweigerungsrecht, Recht, den Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen und den Verzicht auf eine Gegenüberstellung zu verlangen) und den Artikeln 152 ff. StPO zuständen.

Diese Überlegungen gelten weiterhin. Deshalb wird im vorliegenden Entwurf darauf verzichtet, dem Opfer die Möglichkeit einzuräumen, sich einem Strafverfahren zu widersetzen, das auf Initiative der Behörden oder einer Drittperson eröffnet wird.

Das öffentliche Interesse muss vorgehen, und es muss alles getan werden, um den Täter zu verfolgen, damit dieser nicht noch weitere sexuelle Straftaten an anderen Kindern verübt. Mit Ausnahme der SP schlossen sich alle Vernehmlassungsteilnehmer dieser Lösung an.

2.9.3

Straftaten vor und nach dem 12. Altersjahr des Opfers

Der Kanton Zürich hält in seiner Stellungnahme fest, dass sich der erläuternde Bericht nicht zur Anwendung der Unverjährbarkeit bei Straftaten äussert, die zum Teil vor und zum Teil nach der Altersgrenze von 10 Jahren (12 Jahren gemäss Entwurf) begangen werden. Er möchte, dass diese Problematik in der Botschaft klargestellt wird101.

Zur Beantwortung dieser Frage wird auf die Rechtsprechung zu Artikel 98 Buchstabe b StGB verwiesen, wonach die Verjährung bei wiederkehrenden Straftaten mit dem Tag beginnt, an dem der Täter die letzte strafbare Handlung ausführt. Gestützt auf diese Bestimmung musste festgelegt werden, unter welchen Umständen wiederkehrende Missbräuche, die über einen kürzeren oder längeren Zeitraum erfolgen, als Einheit oder als einzelne Straftaten anzusehen sind. Gemäss dem Bundesgericht sind 100 101

BBl 2000 2943 (Fussnote 21), S. 2966 f.

EJPD, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens 2010 (Fussnote 8), S. 17 f.

6010

mehrere selbstständige Straftaten als Einheit zu betrachten, wenn eine natürliche oder eine tatbestandliche Handlungseinheit vorliegt. Tatbestandliche Handlungseinheit ist gegeben, wenn das tatbestandsmässige Verhalten mehrere Einzelhandlungen voraussetzt (z.B. Raub im Sinne von Art. 140 StGB), wenn der Tatbestand ein typischerweise länger dauerndes Verhalten umschreibt, das aus mehreren Einzelhandlungen besteht (z.B. Misswirtschaft im Sinne von Art. 165 StGB) oder wenn ein Dauerdelikt vorliegt. Natürliche Handlungseinheit ist gegeben, wenn die Einzelhandlungen auf einem einheitlichen Willensakt beruhen und wegen des engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs bei objektiver Betrachtung als ein einheitliches Geschehen erscheinen (z.B. Besprayen einer Mauer mit Graffiti in mehreren aufeinanderfolgenden Nächten). Eine natürliche Handlungseinheit fällt jedoch ausser Betracht, wenn zwischen den einzelnen Handlungen eine längere Zeitspanne liegt. Gestützt auf diese Grundsätze hat das Bundesgericht entschieden, dass die sexuellen Übergriffe eines Mannes, der die Tochter seiner Partnerin während eines Zeitraums von fünf Jahren zuerst ein- bis zweimal wöchentlich, dann ungefähr alle zwei Monate missbrauchte, weder eine tatbestandliche noch eine natürliche Handlungseinheit bildeten. Folglich beginnt die Verjährung für jeden sexuellen Übergriff gesondert zu laufen102.

Wenn ein Kind also vor und nach seinem 12. Geburtstag mehrmals missbraucht wird, unterliegen nur die vorher begangenen Übergriffe der Unverjährbarkeit. Die späteren Übergriffe unterstehen der Verjährungsfrist gemäss Artikel 97 Absatz 2 StGB. Falls das Gericht jedoch in einem konkreten Fall zum Schluss käme, dass die Einzelhandlungen zu einer Einheit zusammengefasst werden können, würde die Unverjährbarkeit natürlich für sämtliche Straftaten gelten, ob diese nun vor oder nach dem 12. Geburtstag des Opfers begangen wurden.

2.9.4

Die allfällige Änderung weiterer Gesetze

2.9.4.1

Obligationenrecht

Nach Artikel 60 Absatz 2 OR sind die Fristen der Verfolgungsverjährung auf die Schadenersatzklage anwendbar, wenn sie länger sind als jene, die in Artikel 60 Absatz 1 OR vorgesehen sind. Artikel 60 Absatz 2 OR soll dem Geschädigten länger die Möglichkeit geben, Zivilklage gegen die Person einzureichen, die eine strafbare Handlung begangen hat; er geht von der Idee aus, dass es unlogisch wäre, wenn der Geschädigte seine Rechte verliert, solange die verantwortliche Person weiterhin einer Strafverfolgung ausgesetzt bleibt, die in der Regel gravierendere Folgen für sie hat: Die Verkettung der beiden Absätze zeigt, dass verhindert werden soll, dass die Zivilklage verjährt, solange die strafrechtliche Verjährung nicht eingetreten ist103.

Diese Überlegungen gelten auch, wenn die fragliche Straftat im Sinne von Artikel 101 StGB unverjährbar ist104. Daher wird die Umsetzung von Artikel 123b BV Personen, die in ihrer Kindheit Opfer einer Sexualstraftat wurden, nicht nur jederzeit ermöglichen, die strafbaren Handlungen zur Anzeige zu bringen, denen sie ausgesetzt waren, sondern auch eine Schadenersatzklage gegen den Täter einzureichen.

102 103

Urteil des Bundesgerichts vom 13. November 2006, 6S.397/2005, E. 2.2 und 2.3.

P. Scyboz/P.-R. Gilliéron, Code civil suisse et code des obligations annoté, 8. Aufl., Basel 2008, S. 66; siehe auch BGE 131 III 430, E. 1.2 und zitierte Rechtsprechung.

104 BGE 132 III 661, E. 4.3; R. K. Däppen, in: H. Honsell (Hrsg.), Obligationenrecht, Art. 1­529, Basel 2008, Nr. 14 ad Art. 60.

6011

Im Rahmen der Umsetzung der Motion der RK-N105 ist übrigens eine generelle Überprüfung der Verjährungsfristen im Haftpflichtrecht vorgesehen. In diesem Zusammenhang wird auch die Verbindung zwischen den Verjährungsfristen im Privatrecht und im Strafrecht analysiert und die Möglichkeit einer allfälligen Aufhebung von Artikel 60 Absatz 2 OR geprüft.

2.9.4.2

Opferhilfegesetz

Die Leistungen, die sich aus dem OHG ableiten, sind den Opfern im Sinne von Artikel 1 OHG vorbehalten und hängen nicht vom Vorliegen eines Strafurteils ab.

Als Opfer im Sinne von Artikel 1 OHG gilt jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist. Auch die Angehörigen des Opfers (Ehegattin oder Ehegatte, Kinder, Eltern usw.) können die im OHG vorgesehenen Leistungen in Anspruch nehmen.

Die Anerkennung des Opferstatus begründet den Anspruch auf die Leistungen, die in den Artikeln 12­17 (Hilfe der Beratungsstellen und Kostenbeiträge) und 19­23 OHG (Entschädigung und Genugtuung) vorgesehen sind. Während die in den Artikeln 12­17 OHG erfassten Leistungen keiner zeitlichen Beschränkung unterstehen, gilt für jene, die in den Artikeln 19­23 OHG geregelt sind, eine fünfjährige Verjährungsfrist106 (Art. 25 Abs. 2 OHG). Bei Straftaten nach Artikel 97 Absatz 2 StGB oder bei versuchtem Mord sieht Artikel 25 Absatz 2 OHG jedoch vor, dass diese Verjährungsfrist auf jeden Fall bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers läuft.

Der Gesetzgeber hat bewusst die in Artikel 97 Absatz 2 StGB vorgesehene Regelung übernommen, die berücksichtigt, dass minderjährige Opfer sexuelle Missbräuche oft über viele Jahre verschweigen oder verdrängen, weil sie vom Täter abhängig sind oder von diesem bedroht oder erpresst werden107. An dieser Stelle muss klargestellt werden, dass die verschiedenen mit der Umsetzung des OHG befassten Behörden den Opferstatus unabhängig bestimmen und dass je nach beantragter Leistung unterschiedliche Beweisanforderungen gestellt werden. Zum Beispiel wird eine Beratungsstelle, die um Soforthilfe angegangen wird, weniger hohe Anforderungen stellen als eine Behörde, die über ein Gesuch um Entschädigung oder Genugtuung befinden muss108. Schliesslich ist zu beachten, dass die Opferhilfe subsidiär zu allen anderen Leistungen gewährt wird (Art. 4 OHG), insbesondere zu den Leistungen der Sozial- oder Privatversicherungen.

Artikel 123b BV befasst sich nicht mit der Frage der Leistungen, die im OHG vorgesehen sind. Angesichts des Verweises in Artikel 25 Absatz 2 OHG kann man sich fragen, ob die Einführung der Unverjährbarkeit im Strafgesetzbuch eine Anpassung des OHG erfordert. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass
dies nicht der Fall ist.

Denn abgesehen davon, dass das Opfer zeitlich unbeschränkt Leistungen der OHGBeratungsstellen in Anspruch nehmen kann, galten für Entschädigungs- und Genugtuungsgesuche schon immer kürzere Fristen als jene, die im Strafrecht oder im 105 106

Motion RK-N (07.3763; Verjährungsfristen im Haftpflichtrecht).

Diese Frist lag früher bei zwei Jahren. Sie wurde im Rahmen der Totalrevision des OHG verlängert (Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 7165, S. 7228 f.).

107 Botschaft vom 9. November 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 7165, S. 7229.

108 P. Haldimann, in: B. Ehrenzeller, C. Guy-Ecabert, A. Kuhn (Hrsg.), Das revidierte Opferhilfegesetz, Zürich, St. Gallen 2009, S. 222 ff. und zitierte Verweise.

6012

Zivilrecht vorgesehen sind. Zudem werden die jugendlichen Opfer schon im geltenden Recht bevorzugt behandelt, das ihnen ermöglicht, mindestens bis zum Alter von 25 Jahren ein Gesuch um Entschädigung oder Genugtuung zu stellen (Art. 25 Abs. 2 OHG). Sie können dies selbst nach einem Strafverfahren tun, wenn sie innerhalb der oben erwähnten Frist im Rahmen des Strafverfahrens Zivilansprüche geltend gemacht haben (Art. 25 Abs. 3 OHG). Schliesslich wäre die Feststellung des Sachverhalts Jahrzehnte nach den Missbräuchen übermässig schwierig, da die Behörden, die über ein Entschädigungsgesuch befinden müssen, über weniger Mittel verfügen als die Behörden, die für die straf- oder zivilrechtliche Verfolgung zuständig sind.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass die derzeitige Regelung nicht geändert werden muss.

2.9.4.3

Die Bestimmungen zur Registrierung der Urteile und der vollzogenen Strafen

Es ist in erster Linie Sache der verurteilten Person, die Unterlagen des Strafverfahrens aufzubewahren, deren Gegenstand sie bildete (Entscheid zur Einstellung des Verfahrens, Verurteilung oder Freispruch, Unterlagen zur vollzogenen Strafe oder Massnahme). Falls hingegen die verurteilte Person nicht mehr über diese Unterlagen verfügt, müssen die Strafverfolgungsbehörden und die für den Straf- und Massnahmenvollzug zuständigen Behörden in der Lage sein, diesen Mangel auszugleichen, indem sie eine angemessene Aufbewahrung der Informationen zu den entsprechenden Strafsachen gewährleisten. A priori könnte man davon ausgehen, dass mit Hilfe des Strafregisters zumindest nachvollzogen werden kann, ob eine Person Gegenstand eines Urteils war und ob sie ihre Strafe oder Massnahme verbüsst hat. Dies ist jedoch nicht der Fall. Abgesehen von der Tatsache, dass die Dauer der Strafregistereinträge grundsätzlich kürzer ist als die Verjährungsfristen, enthält das Strafregister zum Beispiel keinerlei Informationen zum wesentlichen Sachverhalt, der die Grundlage des Urteils bildete (wie den Namen des Opfers, den Ort, an dem die strafbare Handlung begangen wurde, usw.), und zum Vollzug der Strafe. Doch nur anhand dieser Informationen liesse sich nachweisen, dass sich das eingetragene Urteil tatsächlich auf die Rechtssache bezieht, die eine Behörde oder ein Dritter (erneut) strafrechtlich verfolgen oder vollziehen lassen möchte. Im Rahmen des angekündigten Entwurfs für eine Totalrevision der Verordnung über das Strafregister109 wird man gleichwohl prüfen, ob es nicht angemessen wäre, zumindest den Strafverfolgungsbehörden ein zeitlich unbegrenztes Recht für den Zugriff auf die im Strafregister enthaltenen Daten einzuräumen. Mit einer solchen Lösung würde die Suche nach früheren Urteilen erleichtert, doch sie würde allein nicht ausreichen. In erster Linie haben die Kantone dafür zu sorgen, dass ausgehend von ihren Rechtsvorschriften zur Aufbewahrung der Dossiers jederzeit nachgewiesen werden kann, dass eine Person verurteilt wurde und dass die Strafe oder Massnahme, zu der sie verurteilt worden war, tatsächlich vollzogen wurde.

109

Botschaft vom 23. Januar 2008 über die Legislaturplanung 2007­2011, BBl 2008 753, S. 821.

6013

2.10

Parallele Änderung des Militärstrafgesetzes

Die Überlegungen zum Strafgesetzbuch gelten auch für die Änderung des Militärstrafgesetzes. Der Entwurf sieht vor, in Artikel 59 MStG die Strafbestimmungen des Militärstrafgesetzes einzuführen, die den Artikeln 187 Ziffer 1, 189, 190 und 191 StGB entsprechen, d.h. die Artikel 153, 154, 155 beziehungsweise 156 Ziffer 1 MStG. Diese Aufzählung muss durch Artikel 157 (Ausnützung der militärischen Stellung) vervollständigt werden, der für das Militärstrafrecht spezifisch ist. Denn selbst wenn ein Teil der Lehre die Auffassung vertritt, diese Bestimmung sei nicht auf Zivilpersonen anwendbar110, liegt zu dieser Frage keine Rechtsprechung vor.

Somit lässt sich nicht ohne Weiteres ausschliessen, dass ein Gericht aufgrund dieser Bestimmung eine Militärperson verurteilt, die das Ansehen der Uniform ausgenützt hat, um Kinder zu missbrauchen. Um jede Lücke auszuschliessen, wird Artikel 157 MStG in Artikel 59 MStG aufgenommen. Es ist noch darauf hinzuweisen, dass die in Artikel 101 Absatz 1 Buchstabe e StGB erwähnten Straftaten gemäss Artikel 192 (sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten) und 193 (Ausnützung der Notlage) StGB im Militärstrafgesetz nicht vorgesehen sind. Dem Militärstrafgesetz unterstehende Personen, die eine solche Straftat begehen, werden von ordentlichen Strafgerichten verurteilt (Art. 8 und 219 Abs. 1 MStG).

3

Auswirkungen

3.1

Allgemeines

Wie Artikel 97 Absatz 2 StGB stellt Artikel 101 Absatz 1 Buchstabe e E-StGB eine Ausnahme von der ordentlichen Verjährungsregelung gemäss Artikel 97 Absatz 1 StGB dar. Grundsätzlich könnte man annehmen, dass die Einführung dieser neuen Ausnahme die Rechtsanwendung durch die Strafverfolgungsbehörden übermässig erschwert und somit die Rechtssicherheit beeinträchtigt wird. Doch anhand einer tabellarischen Darstellung der Situation (siehe Anhang) lässt sich zeigen, dass es relativ einfach ist, die für den jeweiligen Fall geltende Verjährungsfrist zu bestimmen, und dass der vorliegende Entwurf kein grundlegendes Ungleichgewicht im derzeitigen System schafft. Er verstärkt bloss den Schutz von Kindern unter 12 Jahren, die Opfer einer schweren Beeinträchtigung ihrer sexuellen Integrität wurden; denn in diesem Fall kann gegen den Täter lebenslang Strafverfolgung eingeleitet werden, und die gegen ihn verhängte Strafe verjährt nie.

Zusammenfassend wird die Unverjährbarkeit nur dann zur Anwendung gelangen, wenn die folgenden vier Bedingungen kumulativ erfüllt sind:

110

1.

Die Straftat war am 30. November 2008 nach dem zum Zeitpunkt der Tat anwendbaren Recht nicht bereits verjährt.

2.

Das Opfer war zum Zeitpunkt der Tat noch nicht 12 Jahre alt.

3.

Der Täter war zum Zeitpunkt der Tat mündig.

4.

Die Straftat erfüllt den Tatbestand von Artikel 187 Ziffer 1, 189, 190 oder 191 StGB.

P. Popp, Kommentar zum Militärstrafgesetz, Besonderer Teil, St. Gallen 1992, Nr. 3 ad Art. 157.

6014

3.2

Für den Bund

Nach dem derzeitigen Stand der Dinge hat der vorliegende Bericht für den Bund keine finanziellen oder personellen Auswirkungen.

3.3

Für die Kantone

Es ist nicht auszuschliessen, dass aufgrund der Verlängerung der Verjährungsfrist die Zahl der Anzeigen wegen sexuellem Missbrauch und somit die Zahl der Strafverfolgungen zunehmen wird, was für die kantonalen Strafverfolgungsbehörden zu einer höheren Arbeitsbelastung führen könnte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich nicht abschätzen, welche zusätzlichen Kosten sich gegebenenfalls daraus ergeben werden.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 23. Januar 2008111 über die Legislaturplanung 2007­2011 noch im Bundesbeschluss vom 18. September 2008112 über die Legislaturplanung 2007­2011 angekündigt. Sie setzt die am 30. November 2008 angenommene Unverjährbarkeitsinitiative um.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verhältnis zum internationalen Recht

Wie weiter oben ausgeführt113, ist der Entwurf mit dem geltenden internationalen Recht und insbesondere mit Artikel 7 EMRK vereinbar, der die Anwendung längerer Verjährungsfristen auf Straftaten untersagt, die am Tag des Inkrafttretens der neuen Regelung bereits verjährt waren.

Der Entwurf geht in die Richtung des Übereinkommens des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, dessen baldiges Inkrafttreten für die Schweiz nicht ausgeschlossen ist. Die Unverjährbarkeit geht sogar über das Erfordernis in Artikel 33 des Übereinkommens hinaus, der die Vertragsstaaten verpflichtet, die notwendigen Massnahmen zu treffen, damit die Verjährungsfrist der strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern während einer ausreichend langen Zeit über das Mündigkeitsalter des Opfers hinaus weiterläuft, um die wirksame Einleitung einer Verfolgung zu ermöglichen.

111 112 113

BBl 2008 753 BBl 2008 8543 Für die detaillierte Analyse dieser Frage siehe Ziff. 1.3.3.2.

6015

5.2

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 123 Absatz 1 BV ist die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts Sache des Bundes. Der Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes ist somit verfassungsmässig.

6016

Anhang Strafbare Handlung

Alter des Opfers 10­11 Jahre

Ab 12 Jahre

Art. 111 StGB Spezialverjährung (vorsätzliche Tötung) nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Weniger als 10 Jahre

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 113 StGB (Totschlag)

Spezialverjährung nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 122 StGB (schwere Körperverletzung)

Spezialverjährung nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 182 StGB (Menschenhandel)

Spezialverjährung nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 187 StGB Unverjährbarkeit (sexuelle Handlungen nach Art. 101 Abs. 1 mit Kindern) Bst. e E-StGB Art. 188 StGB (sexuelle Handlungen mit Abhängigen)

Ab 16 Jahre

Spezialverjährung nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Art. 189 StGB (sexuelle Nötigung)

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 190 StGB (Vergewaltigung)

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 191 StGB (Schändung)

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Unverjährbarkeit nach Art. 101 Abs. 1 Bst. e E-StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Art. 195 StGB (Förderung der Prostitution)

Spezialverjährung nach Art. 97 Abs. 2 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB*

Alle anderen Straftaten

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB

Ordentliche Verjährung nach Art. 97 Abs. 1 StGB

* Rein theoretisch müsste in diesem Fall Artikel 97 Absatz 2 StGB zur Anwendung gelangen.

Doch ab dem Alter von zehn Jahren ist die ordentliche Verjährung für das Opfer günstiger, weshalb direkt auf Artikel 97 Absatz 2 StGB verwiesen werden kann (siehe Ziff. 1.2.1 und Fussnote 13).

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