zu 11.429 Parlamentarische Initiative Tarmed: Subsidiäre Kompetenz des Bundesrates Bericht vom 1. September 2011 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 16. September 2011

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrte Damen und Herren Nach Artikel 112 Absatz 3 des Parlamentsgesetzes (ParlG) nehmen wir nachstehend Stellung zum Bericht vom 1. September 2011 der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates zur parlamentarischen Initiative «Tarmed: Subsidiäre Kompetenz des Bundesrates».

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

16. September 2011

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Die Bundespräsidentin: Micheline Calmy-Rey Die Bundeskanzlerin: Corina Casanova

2011-1831

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Ausgangslage

Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) sieht vor, dass die Leistungserbringer ihre Rechnungen nach Tarifen oder Preisen erstellen (Art. 43 Abs. 1 KVG). Die Tarife und Preise werden in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern vereinbart (Art. 43 Abs. 4 KVG). Insbesondere die Einzelleistungstarife müssen auf einer gesamtschweizerisch vereinbarten einheitlichen Tarifstruktur beruhen (Art. 43 Abs. 5 KVG). Im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gilt somit der Grundsatz der Tarifautonomie.

Die Hauptaufgabe des Bundesrates im Bereich der Tarife ist die Genehmigung der in der ganzen Schweiz geltenden Tarifverträge (Art. 46 Abs. 4 KVG), wobei die Tarife und Preise nur in seltenen Fällen von der zuständigen Behörde festgesetzt werden können (Art. 43 Abs. 4 KVG). Wenn sich die Tarifpartner jedoch nicht auf eine einheitliche Tarifstruktur bezüglich der Einzelleistungstarife einigen können, so wird diese vom Bundesrat festgelegt (Art. 43 Abs. 5 KVG). Nach Artikel 43 Absatz 7 KVG kann der Bundesrat zudem Grundsätze für eine wirtschaftliche Bemessung und eine sachgerechte Struktur sowie für die Anpassung der Tarife aufstellen. Der Bundesrat hat diese Kompetenz bereits genutzt, indem er am 1. August 2007 Artikel 59c der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV; SR 832.102) in Kraft gesetzt hat. Zurzeit besteht keine Rechtsgrundlage, die es ermöglichen würde, dass der Bundesrat seine Kompetenzen auf Verordnungsebene erneut erweitern könnte, um zum Beispiel in Bezug auf die bestehenden Tarifverträge zu handeln, wenn die Partner sich nicht auf eine Revision einigen können.

Am 24. März 2011 legte die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-N) ihre Evaluation: «Tarmed ­ der Tarif für ambulant erbrachte ärztliche Leistungen; Evaluation der Zielerreichung und der Rolle des Bundes» vor.1 Darin wird in einer der Schlussfolgerungen der EFK darauf hingewiesen, die Aktualisierung des Tarifs sei unbefriedigend, da sich die Tarifpartner, die im Übrigen für ihre Entscheide Einstimmigkeit vorgesehen haben, nur selten einigen können. So werde die Vergütung bestimmter Leistungen unter Berücksichtigung der technischen Fortschritte nicht neu beurteilt, und gewisse
neue Behandlungen werden nicht in den Tarif aufgenommen. Nachdem die EFK ihre Evaluation der SGK-N präsentiert hatte, entschloss die SGK-N eine parlamentarische Initiative einzureichen. Diese sieht vor, dem Bundesrat die subsidiäre Kompetenz zu erteilen, die Tarifstrukturen anzupassen, wenn sich diese als nicht mehr sachgerecht erweisen und sich die Tarifpartner nicht auf eine Revision einigen können. Eine nahezu identische Bestimmung hatten die beiden Räte bereits im Rahmen der KVG-Revision «09.053: KVG. Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung» beraten und beschlossen. Da dieses Massnahmenpaket jedoch am 1. Oktober 2010 in der Schlussabstimmung vom Nationalrat verworfen wurde, gelangte diese Bestimmung nie zur Anwendung. Der Wortlaut der Initiative der 1

Der Bericht kann im Internet eingesehen werden unter www.cdf.admin.ch/deutsch/prüfungsberichte.htm

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SGK-N entspricht sinngemäss zudem einer der Lösungen, die von der EFK in ihrer Evaluation vorgeschlagen werden.

Am 31. März 2011 präsentierte die EFK die Schlussfolgerungen ihrer Evaluation auch der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates (SGK-S). Die SGK-S beschloss, der von der SGK-N eingereichten parlamentarischen Initiative Folge zu geben.

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Stellungnahme des Bundesrates

In seiner Botschaft vom 29. Mai 2009 (BBl 2009 5793) hat der Bundesrat eine Reihe von Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung vorgeschlagen. Im Rahmen der parlamentarischen Beratungen wurden weitere Bestimmungen vorgeschlagen, unter anderem eine, die mit dem Wortlaut der vorliegenden parlamentarischen Initiative der SGK-N nahezu identisch war. Der Bundesrat hatte sich inhaltlich nicht dazu geäussert, da er die Sachgerechtigkeit der Tarifstrukturen als eine grundlegende Frage betrachtete, für die nicht im Rahmen einer dringlichen und zeitlich befristeten Reform eine punktuelle Lösung vorgesehen werden sollte. In seiner Antwort vom 18. Mai 2011 an die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte bezüglich der Evaluation der EFK zur Tarifstruktur Tarmed erklärte der Bundesrat überdies, er sei sich der Notwendigkeit einer Revision bewusst. Allerdings hielt er erneut fest, dass die Revision des Tarmed unter Wahrung des Grundsatzes der Tarifautonomie erfolgen müsse. Diese Haltung vertrat der Bundesrat auch in seiner Stellungnahme zur Motion «11.3070: Überarbeitung Tarifmodell Tarmed». Er schlug die Ablehnung der Motion vor, die einen grundsätzlichen und unverhältnismässigen Eingriff in die heutige Systematik bedeutet hätte, unterstützte in seiner Antwort jedoch die Initiative der SGK-N.

Grundsätzlich stimmt der Bundesrat der Änderung von Artikel 43 KVG zu, die die SGK-N beantragt. Er ist bereit, die subsidiäre Kompetenz zur Festsetzung von Anpassungen an den Tarifstrukturen ­ unter Wahrung des Vorrangs der Tarifautonomie der Tarifpartner ­ zu unterstützen. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein: Die Tarifstrukturen sind nicht mehr sachgerecht, und die Tarifpartner haben sich nicht auf ihre Revision einigen können. Nach Ansicht des Bundesrates könnte diese Kompetenz einen starken Anreiz für die Tarifpartner darstellen, die Tarifautonomie, über die sie verfügen, wahrzunehmen, um sich auf Tarifverträge oder deren Revision zu einigen, bevor der Bundesrat seine subsidiäre Kompetenz wahrnimmt.

Der Bundesrat stimmt der vorgeschlagenen Massnahme der SGK-N zu, möchte aber einige Aspekte hervorheben.

Zunächst lässt sich der Umfang der Arbeiten, um die Umsetzung von Artikel 43 vorzunehmen, nicht von vornherein einschätzen. Die neue subsidiäre Kompetenz des Bundesrates gälte nämlich nicht nur für die
Tarifstruktur Tarmed, sondern für alle Tarifstrukturen, die vom Bundesrat genehmigt werden müssen. Ebenso lässt sich nicht im Voraus bestimmen, welche Wirkung der Entscheid auf die Tarifpartner und auf deren Verhandlungen hat. Eine Reihe von Problemen wird sich ­ dies erhofft sich der Bundesrat ­ direkt zwischen den Partnern regeln, die veranlasst werden, die Verhandlungen zu einem Abschluss zu bringen, bevor der Bundesrat eingreift. Sollte dieser jedoch Massnahmen ergreifen müssen, würden diese sehr wahrscheinlich nicht eine gesamte Tarifstruktur, sondern nur einige Tarifpositionen betreffen. Auf-

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grund dieser verschiedenen Unsicherheiten kann der Bundesrat noch nicht abschätzen, welche zusätzlichen Ressourcen den Ämtern zur Verfügung gestellt werden müssen, die mit der Umsetzung der neuen subsidiären Kompetenz des Bundesrates beauftragt werden.

Zudem möchte der Bundesrat unterstreichen, dass die Anpassungen an den Tarifstrukturen, die er bei Bedarf festsetzen kann, unter Einhaltung des gesetzlichen Rahmens vorgenommen werden. Die Anpassungen müssen insbesondere mit dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit in Einklang stehen. So sieht Artikel 43 Absatz 4 KVG vor, dass die Tarife festgesetzt werden müssen nach den anwendbaren Regeln der Betriebswirtschaft und sie müssen sachgerecht strukturiert werden, wobei das Ziel darin besteht, eine qualitativ hochstehende und zweckmässige gesundheitliche Versorgung zu möglichst günstigen Kosten zu erreichen (Art. 43 Abs. 6 KVG). Im Rahmen des Genehmigungsverfahrens muss auch beurteilt werden, ob der Tarif wirtschaftlich tragbar ist (Art. 46 Abs. 4 KVG). Dies erfordert, dass ein Tarif betriebswirtschaftlich bemessen ist und dass dieser unter dem Gesichtspunkt seiner wirtschaftlichen Tragbarkeit im weiteren Sinne geprüft wird.

Um ein Tarif festzusetzen, unter Beachtung von Artikel 59c Absatz 1 KVV muss folgendes geprüft werden: ­

ob der Tarif höchstens die transparent ausgewiesenen Kosten der Leistung deckt (Bst. a);

­

ob der Tarif höchstens die für eine effiziente Leistungserbringung erforderlichen Kosten deckt (Bst. b);

­

ob ein Wechsel des Tarifmodells keine Mehrkosten verursacht (Bst. c).

Der Bundesrat ist somit der Ansicht, dass er von seiner neuen Kompetenz nicht einzig mit dem Ziel Gebrauch machen kann, eine Methode, eine Technik oder einen Leistungserbringertyp zu fördern. Ebenso werden die vom Bundesrat beschlossenen Anpassungen nicht zwangsläufig in Richtung einer Senkung der Tarife gehen, die unter gleichbleibenden Bedingungen zu einer Verringerung oder Stabilisierung der Kosten führen könnte. Gewisse Anpassungen könnten dazu führen, dass die vorgesehene Vergütung in Form von Taxpunkten heraufgesetzt wird. Wie in der vorgeschlagenen Bestimmung erwähnt, besteht das Ziel vor allem darin, dass die Tarifstrukturen sachgerecht bleiben.

Die Tarife setzen sich in der Regel aus einer Tarifstruktur und einem Taxpunktwert zusammen. Der Taxpunktwert würde weiterhin zwischen den Tarifpartnern ausgehandelt oder, falls die Partner zu keiner Einigung gelangt sind, von der kantonalen Behörde festgelegt. Somit wären die Entscheidungen, die der Bundesrat im Rahmen seiner neuen Kompetenz treffen könnte, nicht die einzigen, die einen Einfluss auf die Entwicklung der Tarife und folglich auf die Kostenentwicklung hätten.

Schliesslich erachtet der Bundesrat es als notwendig, eine weitere Bestimmung in den Erlassentwurf zu integrieren, die von den beiden Räten ­ im Rahmen der Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung (09.053) ­ ebenfalls akzeptiert worden war und die es erlaubt, die Frage der Datenübermittlung anzugehen. Gemäss den Vorgaben von Artikel 42 Absatz 3 KVG sind die Leistungserbringer verpflichtet, alle Angaben zu machen, um die Berechnung der Vergütung und die Wirtschaftlichkeit der Leistung überprüfen zu können. Diese Daten dienen den Versicherern bei der Rechnungsüberprüfung, sowie den Behörden zur Überprüfung von Verträgen im Rahmen von Genehmigungsverfahren. Im Rahmen der neuen Spitalfinanzierung

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und der vorgesehenen Einführung des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) wurde ersichtlich, dass die Frage der Datenübermittlung klare Antworten verlangt.

Die Tarifpartner sind sich in der Frage betreffend die Übermittlung der medizinischen Daten nicht einig und konnten folglich keine einvernehmliche nationale Lösung finden. Ihnen ist es damit nicht gelungen, sich auf eine Lösung für ein wichtiges Element betreffend die Rechnungsstellung zu einigen. Um die Verpflichtung zur Übermittlung von Diagnosen und Prozeduren klar zu spezifizieren und gleichzeitig in Bezug auf die Vorgaben für die Einhaltung des Datenschutzes Klarheit zu schaffen, schlägt der Bundesrat daher eine eindeutige Regelung auf Gesetzesebene vor. Im Hinblick auf die Kohärenz in Artikel 42 KVG wurde «genaue Diagnose» in Absatz 4 gestrichen und «zusätzliche Auskünfte medizinischer Natur» belassen.

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Antrag des Bundesrates

Der Bundesrat schliesst sich dem Vorschlag der SGK-N an, schlägt aber im Erlassentwurf eine zusätzliche Gesetzesänderung betreffend die Datenübermittlung vor: Art. 42 Abs. 3bis Die Leistungserbringer haben auf der Rechnung nach Absatz 3 die Diagnosen und Prozeduren nach den Klassifikationen in der jeweiligen vom zuständigen Departement herausgegebenen schweizerischen Fassungen codiert aufzuführen. Der Bundesrat erlässt nähere Vorschriften zur Erhebung, Bearbeitung und Weitergabe der Daten unter Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips.

Art. 42 Abs. 4 Der Versicherer kann zusätzliche Auskünfte medizinischer Natur verlangen.

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