11.467 Parlamentarische Initiative AVIG. Rahmenfrist und Mindestbeitragszeit für über 55-Jährige Bericht der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) vom 30. August 2011

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf der Änderung des Bundesgesetztes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt einstimmig, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

30. August 2011

Im Namen der Kommission Der Präsident: Hansruedi Wandfluh

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Übersicht Die Eidgenössischen Räte haben am 19. März 2010 das Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG; SR 837.0) verabschiedet. Am 26. September 2010 wurde das revidierte Gesetz in der Referendumsabstimmung vom Volk angenommen.

Das am 1. April 2011 in Kraft getretene AVIG hat namentlich zum Ziel, das finanzielle Gleichgewicht der Arbeitslosenversicherung wieder herzustellen. Dabei wurde leistungsseitig unter anderem die Höchstzahl der Taggelder für viele Versicherte reduziert. Fortan wird der maximale Taggeldbezug enger an die Beitragszeit geknüpft.

Eine der Änderungen betraf die über 55-jährigen Versicherten, die vor der Revision bei einer 18-monatigen Beitragszeit einen Anspruch auf 520 Taggeldern hatten (Art. 27 Abs. 2 Bst. c AVIG). Seit dem 1. April 2011 haben die über 55-jährigen Versicherten nur dann Anspruch auf höchstens 520 Taggelder, wenn sie innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren eine Beitragszeit von mindestens 24 Monaten nachweisen können.

Diese revidierte Bestimmung führte bei der Umsetzung zu stossenden Härtefällen.

Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) hat den vorliegenden Änderungsentwurf ausgearbeitet, der für die betroffene Versichertenkategorie einen Anspruch auf 520 Taggelder nach lediglich 22 Monaten Beitragszeit (immer innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist für die Beitragszeit) ermöglicht.

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Die Eidgenössischen Räte haben am 19. März 2010 die Revision des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (Arbeitslosenversicherungsgesetz, AVIG; SR 837.0) verabschiedet. Das revidierte Gesetz trat am 1. April 2011 in Kraft. Mit dieser Revision wurde in der Arbeitslosenversicherung (ALV) die Leistungsdauer stärker an die Beitragszeit geknüpft, was mit der Stärkung des Versicherungsprinzips begründet wurde.

Dadurch können versicherte Personen, die über 55 Jahre alt sind oder einen Invaliditätsgrad von mindestens 40 % aufweisen, maximal 520 Taggelder beziehen, wenn sie innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist für die Beitragszeit mindestens 24 Monate lang Beiträge entrichtet haben (Art 27 Abs. 2 Bst. c AVIG). Vor der Revision benötigten sie 18 Monate Beitragszeit, um den maximalen Taggeldanspruch von 520 Taggeldern zu erhalten.

Die neu geltende Regelung kann zu einem speziellen Problem führen, das nur beim maximalen Anspruch von 520 Taggeldern auftritt: Da die ALV bezüglich der Beiträge nur auf den Zeitraum von zwei Jahren ab Anmeldung zur Arbeitslosigkeit zurückblickt, müssen als Folge der Erhöhung der Beitragszeit auf 24 Monate in den letzten 2 Jahren lückenlos Beiträge geleistet worden sein. Für ein Nichterfüllen dieser Bedingung genügt es, dass die betroffenen Versicherten im Laufe der Rahmenfrist für die Beitragszeit die Stelle gewechselt und dazwischen einige Tage (oft unfreiwillig) nicht gearbeitet und damit keine Beiträge geleistet haben. Die zwei Jahre nicht erfüllt hat auch eine Person, die sich nach Beginn der Arbeitslosigkeit nicht sofort bei der ALV meldet und eine Zeit lang versucht, auf eigene Faust eine Stelle zu finden. Insbesondere die letztgenannte Situation wird als störend empfunden. Will man die oben genannten Härtefälle vermeiden, muss Artikel 27 Absatz 2 Buchstabe c AVIG revidiert werden.

Um das sich stellende Problem zu lösen, hat die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrates (WAK-N) nach Konsultation des EVD am 5. Juli 2011 mit 16 zu 6 Stimmen bei 2 Enthaltungen eine parlamentarische Initiative eingereicht.

Die zuständige ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK-S) hat diesem Beschluss am 19. August 2011 einstimmig zugestimmt. Somit wurde die WAK-N mit der Ausarbeitung einer
Vorlage beauftragt (Art. 111 Abs.1 ParlG).

Aufgrund der Dringlichkeit der Anpassung des Gesetzes und der Tatsache, dass die Versicherten besser gestellt werden, verzichtet die WAK-N auf das Vernehmlassungsverfahren.

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Grundzüge der Vorlage

Die WAK-N möchte mit der Änderung des Artikel 27 Absatz 2 Buchstabe c AVIG die ihrer Ansicht nach stossenden Auswirkungen der Norm korrigieren. Mit der jetzigen Regelung kann der Fall eintreten, dass Versicherte, die jahrelang Beiträge an die ALV geleistet haben, den Anspruch auf 120 Taggelder verlieren. Die 7261

WAK-N beurteilt diese Situation insbesondere als stossend, da die betroffenen Versicherten unfreiwillig und in gutem Glauben in diese Situation geraten können.

Sie beurteilt die geschätzten Kosten von 15 Mio. Franken jährlich als tragbar. Insbesondere im Hinblick auf den Nutzen, den die zusätzlichen 120 Tagelder im Zusammenhang mit den im AVIG vorgesehenen arbeitsmarktlichen Massnahmen für die Versicherten bringen.

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Erläuterungen zu den einzelnen Bestimmungen

3.1

Geltender Art. 27 Abs. 2 Bst. c AVIG

Höchstzahl der Taggelder 2

Die versicherte Person hat Anspruch auf c.

höchstens 520 Taggelder, wenn sie eine Beitragszeit von mindestens 24 Monaten nachweisen kann und: 1. das 55. Altersjahr zurückgelegt hat, oder 2. eine Invalidenrente bezieht, die einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent entspricht.

Um die Höchstzahl von 520 Taggeldern zu erhalten, verlangt die geltende Regelung eine mindestens 24-monatige Beitragszeit in der zweijährigen (24 Monate) Rahmenfrist für die Beitragszeit. Die Bestimmung «mindestens 24-monatige Beitragszeit» lässt im Einzelfall keinen Handlungsspielraum zu. In etlichen Fällen mussten die Arbeitslosenkassen nach Inkrafttreten des neuen AVIG den maximalen Anspruch auf 400 Taggelder festsetzen, weil Versicherte nur eine Beitragszeit von beispielsweise 23.78 statt der erforderlichen 24 Monaten vorweisen konnten. Betroffen von dieser Regelung sind namentlich jene Personen, die sich nach dem Verlust einer mehrjährigen Arbeitsstelle und damit nach jahrelanger Beitragsentrichtung nicht unmittelbar bei der ALV gemeldet haben. Im Extremfall führt das Zuwarten eines einzigen Tages bereits zur Reduktion des Höchstanspruches auf 400 Taggelder.

Ebenfalls nur einen Anspruch von 400 Taggeldern erhalten jene Personen, die während der zweijährigen Beitragszeit einen Stellenwechsel vornehmen und deren Stellen nicht nahtlos aufeinander folgen.

3.2

Neuer Art. 27 Abs. 2 Bst. c AVIG

Höchstzahl der Taggelder 2

Die versicherte Person hat Anspruch auf c.

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höchstens 520 Taggelder, wenn sie eine Beitragszeit von mindestens 22 Monaten nachweisen kann und: 1. das 55. Altersjahr zurückgelegt hat, oder 2. eine Invalidenrente bezieht, die einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent entspricht.

Der neue Artikel 27 Absatz 2 Buchstabe c AVIG verlangt eine Mindestbeitragszeit von 22 statt 24 Monaten zur Erlangung der Höchstzahl von 520 Taggeldern. Es ist dabei hervorzuheben, dass Artikel 27 AVIG den Höchstanspruch der Taggelder und nicht den grundsätzlichen Anspruchsvoraussetzungen auf Arbeitslosenentschädigung regelt.

Bei den in Absatz 2 Buchstabe c aufgeführten Personen (über 55-Jährige oder Invalide) handelt es sich um Versicherte, deren Vermittelbarkeit als erschwert erachtet werden muss. Somit besteht ein erhöhtes Risiko einer längeren Dauer der Arbeitslosigkeit. Es geht bei der Senkung der Beitragszeit auf 22 Monate darum, diesen Versicherten nicht wegen ein paar wenigen fehlenden Beitragstagen den Höchstanspruch um 120 Taggelder zu reduzieren. Damit steht jenen Personen der Höchstanspruch von 520 Taggeldern zu, die in den zwei Jahren vor der Anmeldung mindestens 22 Monate gearbeitet haben.

So werden die genannten Versicherten nicht dafür bestraft, wenn sie sich im Sinne der Eigenverantwortung nach Beginn der Arbeitslosigkeit nicht sofort bei der ALV melden, sondern eine Zeit lang versuchen, ohne Bezug von ALV-Taggeldern eine Stelle zu finden. Ebenso wird eine zwischen zwei Arbeitsstellen ­ zum Teil unverschuldet ­ entstandene kurze Lücke den Versicherten nicht zum Nachteil gereichen.

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Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Der neue Artikel 27 Absatz 2 Buchstabe c AVIG (22 Monate Beitragszeit) beseitigt die Härtefälle ohne grosse Zusatzkosten. Die Reduktion der Mindestbeitragszeit von 24 auf 22 Monate betrifft im Jahresdurchschnitt rund 370 arbeitslose Personen und verursacht zusätzliche Kosten von jährlich rund 15 Millionen Franken.

Die Bundesversammlung muss gemäss Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b der Bundesverfassung neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder neue wiederkehrende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken mit qualifizierten Mehrheiten beschliessen (Ausgabenbremse). Dies gilt aber nur für jene Ausgaben, bei denen die Bundesversammlung die Ausgaben festlegt. Die hier geschätzten jährlichen Kosten werden aus dem Fonds der Arbeitslosenversicherung (ALVFonds) gedeckt. Der ALV-Fonds ist jedoch nicht Teil des Bundeshaushaltes. Im vorliegenden Fall kommt also die Ausgabenbremse nicht zur Anwendung.

4.2

Vollzugstauglichkeit

Die vorgeschlagene Änderung stellt für den Vollzug bei Bund und Kantonen keine Probleme. Die Umstellung erfolgt weitgehend beim Bund oder ist vom Bund aus direkt gesteuert.

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4.3

Inkraftsetzung

Ziel ist, dass eine Inkraftsetzung auf den 1. Januar 2012 erfolgen kann. Dadurch erhalten die betroffenen Arbeitslosen möglichst schnell die dringend benötigte Existenzsicherung.

Die vorgeschlagene Änderung untersteht dem fakultativen Referendum. Die Inkraftsetzung ist unter Vorbehalt des unbenutzten Ablaufs der Referendumsfrist rückwirkend auf den 1. Januar 2012 vorgesehen. Kommt ein Referendum zustande, wird eine allfällige Inkraftsetzung erst später erfolgen.

Was das rückwirkende Inkrafttreten betrifft, ist auf Folgendes hinzuweisen. Nach Lehre und Praxis (vgl. statt vieler Pierre Tschannen/Ulrich Zimmerli/Markus Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Auflage, Bern 2009, § 24 Rz 26 f., mit weiteren Hinweisen) ist die rückwirkende Inkraftsetzung eines Erlasses zulässig, wenn das Gesetz selbst sie anordnet, sie durch triftige Gründe geboten und in zeitlicher Hinsicht mässig ist und keine stossenden Rechtsungleichheiten zur Folge hat. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

Die vorgeschlagene Änderung steht nicht im Widerspruch zu Vorschriften der Europäischen Union.

6

Verfassungsmässigkeit

Die Zuständigkeit des Bundes im Bereich der Arbeitslosenversicherung ist in Artikel 114 Bundesverfassung (BV; SR 101) verankert. Die vorgeschlagene Regelung ist verfassungskonform.

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