11.429 Parlamentarische Initiative Tarmed: subsidiäre Kompetenz des Bundesrates Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 1. September 2011

Sehr geehrter Herr Präsident Sehr geehrte Damen und Herren Mit diesem Bericht unterbreiten wir Ihnen den Entwurf zu einer Änderung des Bundesgesetz vom 18. März 19941 über die Krankenversicherung (KVG). Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Entwurf zuzustimmen.

1. September 2011

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Thérèse Meyer Kälin

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SR 832.10

2011-1863

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Bericht 1

Entstehungsgeschichte

Am 24. März 2011 beriet die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK-NR) den Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) «Tarmed ­ der Tarif für ambulant erbrachte ärztliche Leistungen. Evaluation der Zielerreichung und der Rolle des Bundes. November 2010.» Dieser Bericht zeigt zahlreiche Schwachstellen auf, weist insbesondere auf die blockierte Situation zwischen den Tarifpartnern für eine Anpassung des Tarmed an die stattgefundenen Entwicklungen hin und formuliert verschiedene Empfehlungen. Vor diesem Hintergrund beschloss die Kommission mit 20 gegen 1 Stimme die vorliegende Kommissionsinitiative. Inhaltlich deckt sie sich mit einer Bestimmung, die beide Räte im Rahmen der Vorlage «KVG. Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung» (09.053) bereits beschlossen hatten, mit dem Scheitern der ganzen Vorlage in der Herbstsession 2010 jedoch ebenfalls obsolet wurden. Am 31. März 2011 stimmte die SGK des Ständerates der Initiative mit 7 zu 4 Stimmen zu. In seiner Stellungnahme vom 25. Mai 2011 zur Motion der sozialdemokratischen Fraktion «Überarbeitung Tarifmodell Tarmed» (11.3070 n) unterstützte der Bundesrat die Kommissionsinitiative ebenfalls. Die SGK-NR verabschiedete Erlassentwurf und Bericht an ihrer Sitzung vom 1. September 2011 mit 23 zu 1 Stimmen bei 1 Enthaltung.

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Grundzüge der Vorlage

2.1

Tarifbezogene Grundsätze im Gesetz

Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) sieht vor, dass Tarife und Preise in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern vereinbart oder in den vom Gesetz bestimmten Fällen von der zuständigen Behörde festgesetzt werden (Art. 43 Abs. 4 KVG). Parteien eines Tarifvertrags sind gemäss Artikel 46 Absatz 1 KVG einzelne oder mehrere Leistungserbringer oder deren Verbände einerseits sowie einzelne oder mehrere Versicherer oder deren Verbände anderseits. Der Bundesrat hat den Auftrag, in der ganzen Schweiz geltende Tarifverträge zu genehmigen (Art. 46 Abs. 4 KVG), und ist für die Festlegung einer einheitlichen Tarifstruktur für die Einzelleistungstarife zuständig, wenn sich die Tarifpartner nicht einigen können (Art. 43 Abs. 5 KVG). In diesen Bestimmungen kommt die Tarifautonomie der Vertragspartner zum Ausdruck, die in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) gilt.

2.2

Vorlage für Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung (09.053)

Am 29. Mai 2009 legte der Bundesrat ein Massnahmenpaket zur Eindämmung der Kostenentwicklung vor. Bei der Beratung im Parlament wurde ein Ergänzungsantrag diskutiert: «In Abweichung von den Absätzen 4 und 5 [von Artikel 43 KVG] kann der Bundesrat Anpassungen in der Tarifstruktur festsetzen, wenn sich die Parteien 7386

nicht auf eine Revision einigen können und sich die Struktur als nicht mehr sachgerecht erweist». Damals war festgestellt worden, dass bestimmte Tarife und Tarifstrukturen, über die zwischen den Tarifpartnern verhandelt wurde, nicht mehr wirklich den Anforderungen des KVG in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit und Billigkeit entsprachen. Als Grund wurde unter anderem angeführt, Revisionen der Tarifstrukturen liessen auf sich warten, da es den Tarifpartnern nicht immer gelinge, sich in den Verhandlungen zu einigen. Die vom Parlament vorgeschlagene Massnahme zielte darauf ab, dem Bundesrat ein Druckmittel gegenüber den Tarifpartnern in die Hand zu geben, um diese zu veranlassen, sich rasch auf eine Tarifstruktur oder, bei Bedarf, auf deren Revision zu einigen. Die oben zitierte Bestimmung wurde vom Nationalrat mit 91 gegen 88 Stimmen und vom Ständerat ohne Gegenstimme angenommen. Da der Nationalrat die Revisionsvorlage am 1. Oktober 2010 in der Schlussabstimmung ablehnte, wurde auch diese Bestimmung verworfen.

2.3

Eine besonders betroffene Tarifstruktur: der Tarmed

2.3.1

Kurzbeschreibung

In den Diskussionen über die Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung kam eine Tarifstruktur immer wieder zur Sprache: der Tarmed, d.h. der Tarif für ambulant erbrachte ärztliche Leistungen. Dieser Einzelleistungstarif (nach Art. 43 Abs. 2 Bst. b KVG), der seit dem 1. Januar 2004 im Krankenversicherungsbereich angewandt wird, umfasst insgesamt etwa 4500 Tarifpositionen. Gestützt auf Artikel 43 Absatz 5 KVG ist der Tarmed eine gesamtschweizerisch einheitlichen Tarifstruktur. Die Tarifpartner haben einzelne Tarifpositionen des Tarmed regelmässig angepasst, aber die Tarifstruktur wurde nie gesamthaft revidiert.

2.3.2

Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle zum Tarmed

Im November 2010 publizierte die EFK einen Bericht zum Tarmed, in dem die Zielerreichung sowie die Rolle des Bundes evaluiert wurden. Die Schlussfolgerungen dieses Berichts gehen in die gleiche Richtung wie bestimmte Befürchtungen, die bei der Beratung der Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung im Parlament geäussert wurden. Gemäss der EFK wurde insbesondere das Ziel der Tarifpflege nicht erreicht. Im Bericht wird darauf hingewiesen, dass die Tarifpartner für die Entscheide Einstimmigkeit vorgesehen hätten, dass es ihnen jedoch aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen nicht gelinge, zu einer Einigung zu gelangen. Die Nachführung des Tarmed begrenze sich somit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Ohne grundlegende Tarifpflege würden jedoch bestimmte neue Behandlungen nicht in den Tarmed aufgenommen und bei anderen Tarifpositionen, bei denen sich die Praxis dank des technischen Fortschritts stark weiterentwickelt habe, werde die Vergütung in Bezug auf die Anzahl Taxpunkte nicht neu beurteilt. Eine der Empfehlungen im Bericht der EKF lautet deshalb: «Die EFK empfiehlt dem Bundesamt für Gesundheit, im Rahmen der nächsten KVG-Revision eine Änderung vorzuschlagen, damit der Bundesrat bei fehlender Einigung der Tarifpartner eine vorläufige Tarifierung festsetzt. Eine solche soll beschlossen werden, wenn die 7387

Tarifierung einer OKP-Leistung ausbleibt oder wenn es Anhaltspunkte gibt, dass die Struktur des Tarifs nicht mehr zweckmässig oder wirtschaftlich ist, oder wenn die Tarifierung einer betriebswirtschaftlichen Bemessung der Leistungserbringung durch einen effizienten Leistungserbringer nicht entspricht. Solche Lösungen sollen so lange gültig bleiben, bis sich die Tarifpartner auf eine neue Tarifierung einigen.»

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Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln

Art. 43 Abs. 5bis Der neue Absatz 5bis räumt dem Bundesrat die subsidiäre Kompetenz ein, Tarifstrukturen anzupassen, die nicht mehr sachgerecht sind und auf deren Revision sich die Tarifpartner nicht einigen konnten. Nach Artikel 43 Absatz 4 KVG sind es die Versicherer und die Leistungserbringer, die Tarife und Preise in Verträgen vereinbaren. Der Bundesrat seinerseits wird durch Artikel 46 Absatz 4 KVG mit der Genehmigung der Tarifverträge beauftragt, die in der ganzen Schweiz gelten sollen. Mit der neuen Bestimmung würde der Bundesrat über ein subsidiäres Mittel verfügen, um wesentliche Tarifstrukturen anzupassen, die eingehende Verhandlungen erfordert haben, über die aber zwischen den Tarifpartnern keine Vereinbarung erzielt werden konnte. Die Kompetenz, die dem Bundesrat mit dieser Bestimmung verliehen wird, gilt nicht nur für die besondere Tarifstruktur des Tarmed, sondern für alle gesamtschweizerisch einheitlichen Tarifstrukturen. Somit könnten insbesondere auch die Tarife für Logopäd/-innen, Apotheker/-innen, Ergotherapeut/-innen, Physiotherapeut-/innen, Chiropraktor/-innen, Hebammen oder Zahnärzte/-ärztinnen betroffen sein.

4

Auswirkungen

4.1

Finanzielle und personelle Auswirkungen

4.1.1

Finanzielle Auswirkungen auf die Krankenversicherung

Die Auswirkungen der Bestimmung auf die Kosten der OKP sind nur schwer abschätzbar. Dem Bundesrat würde eine subsidiäre Kompetenz eingeräumt, um besondere Tarifstrukturen unter ganz bestimmten Voraussetzungen anzupassen.

Weder die Zahl der Tarifstrukturen, die angepasst werden müssen, noch das Ausmass der Anpassungen lassen sich von vornherein beurteilen. Zudem ist nicht sicher, ob ein Eingreifen des Bundesrates Kostensenkungen zur Folge hätte. Denn eine Tarifstruktur kann unter verschiedenen Gesichtspunkten nicht sachgerecht sein, und bestimmte Anpassungen könnten zu einer Herabsetzung oder einer Erhöhung der Vergütung in Form von Taxpunkten führen. Die Massnahme ist vor allem darauf ausgerichtet, die Partner zu veranlassen, sich zu einigen, damit die Tarifstrukturen sachgerecht bleiben. Eine weitere Ungewissheit hängt damit zusammen, dass der Bundesrat nicht über die Zuständigkeit verfügt, den Taxpunktwert festzulegen, der ebenfalls zwischen den Tarifpartnern ausgehandelt wird.

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4.1.2

Auswirkungen auf die finanziellen und personellen Ressourcen des Bundes

Eine Ausdehnung der subsidiären Kompetenzen des Bundesrates wird für die Bundesverwaltung mit neuen Vollzugsaufgaben verbunden sein, was eine Erhöhung des Personalbestands erfordert. Der Bund müsste im Bereich der Tarifierung aktiver werden und wahrscheinlich seine Fachkompetenz in diesem Bereich ausbauen.

Diese Anstrengungen werden jedoch namentlich von den folgenden Faktoren abhängen: von der Notwendigkeit einer Intervention, von der Zahl der betroffenen Tarifstrukturen, von deren Komplexitätsgrad sowie vom Umfang der Anpassungen, die notwendig sind, um die Strukturen erneut sachgerecht zu gestalten. Somit lassen sich diese Anstrengungen grundsätzlich nur schwer quantifizieren.

Die EFK hat sich in ihrem Bericht dafür ausgesprochen, abzuklären, welche zusätzlichen Mittel für die Umsetzung dieser Empfehlungen nötig sind

4.2

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die Bestimmung ist darauf ausgerichtet, das bestehende Tarifierungssystem zu stärken. Es wird weiterhin Sache der Tarifpartner sein, sich auf die Tarifstrukturen zu einigen. Da sie jedoch wissen, dass der Bundesrat ebenfalls über eine Handlungsmöglichkeit verfügt, dürften die Partner veranlasst werden, rascher zu einer Vereinbarung zu gelangen. Die Bestimmung wird es somit ermöglichen, das Versagen des Systems zu beheben, das sich aus den schwierigen Verhandlungen zwischen den Partnern ergeben und das Funktionieren des Systems beeinträchtigen kann. Die erwartete Verhaltensänderung lässt sich jedoch nicht genau quantifizieren.

5

Verhältnis zum europäischen Recht

5.1

Vorschriften der europäischen Gemeinschaft

Das EG-Sozialversicherungsrecht bezweckt im Hinblick auf die Garantie der Personenfreizügigkeit keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Mitgliedstaaten können im Rahmen der Koordinationsgrundsätze (z.B. Diskriminierungsverbot, Anrechnung der Versicherungszeiten, grenzüberschreitende Leistungserbringung, usw.) die in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.1) zum Ausdruck kommen, und die durch die entsprechende Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 (SR 0.831.109.268.11) geregelt werden, über die konkrete Ausgestaltung ihres Systems der sozialen Sicherheit weitgehend frei bestimmen. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (SR 0.142.112.681) am 1. Juni 2002 sind diese Koordinationsgrundsätze auch für die Schweiz massgebend geworden.

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5.2

Die Instrumente des Europarates

Was die wirtschaftlichen und sozialen Rechte anbelangt, stellt die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 die Entsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention dar. In Artikel 12 ist das Recht auf Soziale Sicherheit verankert: Die Vertragsparteien verpflichten sich, ein System der Sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten, dieses auf einem befriedigenden Stand zu halten, sich zu bemühen, das System fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen und Massnahmen zu ergreifen, welche die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit ihren eigenen Staatsangehörigen gewährleisten. Die Schweiz hat die Charta am 6. Mai 1976 unterzeichnet; eine Ratifizierung wurde jedoch 1987 vom Parlament abgelehnt, so dass dieses Übereinkommen für unser Land nicht bindend ist.

Mit der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 wurde der materielle Inhalt der Charta von 1961 aktualisiert und angepasst. Es handelt sich dabei um ein von der Europäischen Sozialcharta gesondertes Abkommen, welches diese nicht aufhebt. Die Schweiz hat dieses Instrument nicht ratifiziert.

Die Schweiz hat die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 1964 (AS 1978 1491) am 16. September 1977 ratifiziert, unser Land hat jedoch Teil II über die ärztliche Betreuung nicht angenommen.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit wird durch ein Protokoll, das höhere Normen festlegt, ergänzt. Die Schweiz hat das Protokoll zur Ordnung der Sozialen Sicherheit nicht ratifiziert.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit (revidiert) vom 6. November 1990 ist ebenfalls ein von der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit zu unterscheidendendes Abkommen, sie ersetzt jene nicht. Die (revidierte) Ordnung ist noch von keinem Staat ratifiziert worden und deshalb noch nicht in Kraft getreten.

5.3

Vereinbarkeit der Vorlage mit dem europäischen Recht

Das europäische Recht (Recht der Europäischen Gemeinschaft und Recht des Europarats) setzt für den in der vorliegenden Revision behandelten Bereich keine Normen fest. Die Staaten können diese Aspekte nach eigenem Ermessen bestimmen.

6

Rechtliche Grundlagen

6.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 117 Bundesverfassung.

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