99.464 Parlamentarische Initiative Rehabilitierung der Flüchtlingshelfer und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 29. Oktober 2002

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen gemäss Artikel 21quater Absatz 3 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) den vorliegenden Bericht. Gleichzeitig erhält der Bundesrat Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, dem beiliegenden Gesetzesentwurf zuzustimmen.

29. Oktober 2002

Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Anita Thanei

2002-2410

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Übersicht Die Machtergreifung durch nationalsozialistische und faschistische Regime im Europa der Dreissiger Jahre gipfelte im Weltkrieg von 1939­1945 sowie den in diesem Zuge verübten Völkermorden des Dritten Reiches. Den Personen, welche damals gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus gekämpft haben, wird heute innerhalb der internationalen Gemeinschaft in Ehren gedacht. Die Schweiz befindet sich diesbezüglich in einer besonderen Situation: Sie verfolgte in jener Zeit ihre ­ sogar noch verschärfte ­ Neutralitätspolitik und konnte so vom Krieg verschont bleiben. Auf Grund dieser Neutralitätspolitik wurden Personen in der Schweiz strafrechtlich verfolgt, weil sie sich an Aktionen und Kämpfen gegen den Nationalsozialismus und Faschismus beteiligt hatten.

Mit seiner parlamentarischen Initiative vom Dezember 1999 verlangt Nationalrat Paul Rechsteiner, ein Gesetz auszuarbeiten, das sämtliche Strafurteile gegen Personen aufhebt, welche den Opfern des Nationalsozialismus und Faschismus zur Flucht verholfen haben. Im gleichen Zug seien auch die Urteile gegen jene Schweizer und Schweizerinnen aufzuheben, die in der französischen Résistance und im Spanischen Bürgerkrieg in den internationalen Brigaden gegen Nationalsozialismus und Faschismus gekämpft haben. Am 14. Dezember 2000 hat der Nationalrat dieser Initiative gemäss Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen Folge gegeben.

Davon ausgehend arbeitete die Kommission einen Entwurf zu einem neuen Bundesgesetz aus, das die Personen rehabilitieren soll, die strafverurteilt wurden, weil sie vom Naziregime Verfolgten geholfen haben. Eine Kommissionsminderheit will die Rehabilitierung auch für diejenigen Personen, die strafverurteilt wurden, weil sie gegen den Nationalsozialismus oder den Faschismus gekämpft haben, indem sie entweder direkt an Kampfhandlungen teilnahmen (im spanischen Bürgerkrieg, in der französischen Résistance-Bewegung) oder sich an zivilen Aktionen beteiligten.

Das Gesetz sieht einen doppelten Mechanismus vor: Einerseits hebt es die Strafurteile generell abstrakt auf, andererseits soll eine «Rehabilitierungskommission» auf Gesuch hin oder von Amtes wegen im Einzelfall feststellen, ob der generelle Aufhebungsbeschluss Anwendung findet. Feststellungsgesuche können innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes von den
verurteilten Personen selbst, ihren Angehörigen oder von schweizerischen Organisationen, die sich dem Schutz der Menschenrechte widmen, eingereicht werden. Das Gesetz hält zudem fest, dass mit der Aufhebung eines Strafurteils keinerlei Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung entsteht.

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Bericht 1

Ausgangslage

1.1

Parlamentarische Initiative

Am 22. Dezember 1999 reichte Nationalrat Paul Rechsteiner die Parlamentarische Initiative «Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus» in der Form der allgemeinen Anregung ein: Es sei ein Bundesbeschluss zu erlassen, mit dem sämtliche Strafurteile gegen Fluchthelfer zugunsten der Opfer des Naziregimes und des Faschismus aufgehoben werden. In den Bundesbeschluss seien die Urteile gegen Schweizer einzubeziehen, die in der Résistance und im Spanischen Bürgerkrieg in den internationalen Brigaden gegen Nationalsozialismus und Faschismus gekämpft haben.

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates beantragte in ihrem Bericht vom 31. Oktober 2000, dieser parlamentarischen Initiative Folge zu geben.

1.1.1

Beschluss des Nationalrates

Der Nationalrat hat der parlamentarischen Initiative am 15. Dezember 2000 mit 104 zu 50 Stimmen Folge gegeben. In den Beratungen wies die Kommission darauf hin, dass die Umsetzung der Initiative noch offen sei und im Detail diskutiert werden müsse. Der Initiant sei damit einverstanden, dass die Vor- und Nachteile der Rehabilitierung abgewogen werden müssten. Für die Kommissionsmehrheit stünden die Flüchtlingshelfer im Vordergrund und nicht die ehemaligen Brigadisten und Résistance-Kämpfer1.

Der Nationalrat beauftragte die Kommission für Rechtsfragen gestützt auf Artikel 21quater Absatz 1 des Geschäftsverkehrsgesetzes2, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten.

Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei die Politik der Bundesbehörden gegenüber Personen ­ insbesondere jüdischen Flüchtlingen ­ die vom Naziregime aus rassischen Gründen verfolgt wurden. Es muss unabhängig von der ­ umstrittenen ­ Anzahl abgewiesener Flüchtlinge vor Augen gehalten werden, dass die meisten Jüdinnen und Juden sowie Angehörigen anderer Minderheiten, die an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden oder die angesichts der schweizerischen Grenzschliessung gar nicht erst versuchten, in die Schweiz einzureisen, später in Vernichtungslagern umgekommen sind.

1 2

AB 2000 N 1590 SR 171.11

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1.2

Arbeiten der Kommission und der Subkommission

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates beauftragte hierauf eine Subkommission mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs im Sinne der parlamentarischen Initiative. Die fünfköpfige Subkommission (de Dardel, Baumann J. Alexander, Bosshard, Leuthard, Menétrey-Savary) trat sechsmal zusammen und zog bei ihrer Vorberatung das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement bei (Art. 21quater Abs. 2 GVG). Am 4. September 2002 hat die Plenarkommission den Gesetzesentwurf geprüft und einstimmig angenommen. Sie verzichtete auf eine Vernehmlassung, da die Kantone vom Gesetzesvollzug kaum betroffen sein werden.

1.2.1

Das historische Umfeld

Die Frage der nachrichtenlosen Vermögen löste in der Schweiz eine breite Auseinandersetzung über die Rolle unseres Landes während des Zweiten Weltkrieges aus.

Diese Auseinandersetzung prägte die politische Debatte in der Schweiz während der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre und veranlasste die eidgenössischen Räte, über einen Bundesbeschluss eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen.

Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei die Politik der Bundesbehörden gegenüber Personen ­ insbesondere jüdischen Flüchtlingen ­ die vom Naziregime aus rassischen Gründen verfolgt wurden. Es muss, unabhängig von der Frage nach der Anzahl abgewiesener Flüchtlinge, vor Augen gehalten werden, dass die meisten Jüdinnen und Juden sowie Angehörigen anderer Minderheiten, die an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden oder die angesichts der schweizerischen Grenzschliessung gar nicht erst versuchten, in die Schweiz einzureisen, später in Vernichtungslagern umgekommen sind.

Die Machtergreifung durch nationalsozialistische und faschistische Regime im Europa der Dreissiger Jahre gipfelte im Weltkrieg von 1939­1945 sowie den in diesem Zuge verübten Völkermorden des Dritten Reiches. Den Personen, welche damals gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus gekämpft haben, wird heute innerhalb der internationalen Gemeinschaft in Ehren gedacht. Die Schweiz befindet sich diesbezüglich in einer besonderen Situation: Sie verfolgte in jener Zeit ihre ­ sogar noch verschärfte ­ Neutralitätspolitik und konnte so vom Krieg verschont bleiben. Auf Grund dieser Neutralitätspolitik wurden Personen in der Schweiz strafrechtlich verfolgt, weil sie sich an Aktionen und Kämpfen gegen den Nationalsozialismus und Faschismus beteiligt hatten. Das Schicksal eben dieser Personen bildet den Inhalt der parlamentarischen Initiative.

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1.2.2

Die Flüchtlingshelfer

Die Subkommission hörte zum Thema der Flüchtlingshelfer einen Experten und eine Expertin an: ­

Stefan Keller, Historiker und Schriftsteller, der sich eingehend mit diesem Thema befasst und ein Buch zum Fall von Paul Grüninger, der bis Ende der Dreissiger Jahre St. Galler Polizeikommandant war, herausgegeben hat;

­

Regula Ludi, Historikerin, die für die unabhängige Expertenkommission Schweiz ­ Zweiter Weltkrieg gearbeitet hat.

Es ist nachgewiesen, dass vom Naziregime verfolgte Personen bereits 1934 illegal in die Schweiz einreisten. So überquerte Hans Mayer, ein Jurist und namhafter Schriftsteller, der in Deutschland als Sozialist und Jude verfolgt wurde, im Jahre 1934 die französisch-schweizerische Grenze. Sein Fluchthelfer war Leonhard Jenni, ein Mitgründer der Schweizerischen Liga für Menschenrechte. Hans Mayer konnte sich dank des Schutzes durch die Genfer Behörden bis 1945 illegal in der Schweiz aufhalten.

Nach heutigem Kenntnisstand wurden 1938 die ersten Fluchthelfer von kantonalen Gerichten unter Berufung auf das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern (ANAG)3 verurteilt. So bestrafte das Bezirksgericht Unterrheintal in Rheineck (SG) einen 25-jährigen Handelsreisenden, der einen Wiener Juden über die Grenze geholt hatte, mit zweieinhalb Monaten und den Flüchtling selbst mit zwei Monaten Gefängnis. Laut den bisherigen Nachforschungen wurden im Jahre 1938 allerdings vor allem Geldstrafen verhängt.

Mit dem Bundesratsbeschluss vom 13. Dezember 1940 betreffend die teilweise Schliessung der Grenze4 wurde die Strafkompetenz in Sachen illegaler Einreisen ausländischer Staatsangehöriger der Militärjustiz übertragen. Nach der Grenzschliessung im August 1942 nahmen die strafrechtlichen Verfolgungen wegen Fluchthilfe massiv zu. Der Bundesratsbeschluss vom 25. September 1942 über die Abänderung des Bundesratsbeschlusses betreffend die teilweise Schliessung der Grenze5 erhob die Fluchthilfe zum eigenständigen Straftatbestand, der mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder Bussen bis zu 20 000 Franken belegt war. In der Folge wurden von Militärstrafgerichten Gefängnisstrafen von zwei bis drei Monaten und Bussen von jeweils mehreren tausend Franken verhängt. Die ausländischen Fluchthelfer wurden zudem mit einem mehrjährigen Landesverweis bestraft. Im Oktober 1942 verurteilte das Territorialgericht I (zuständig für die Westschweiz) zwei Franzosen, die zehn jüdische Flüchtlinge über die Schweizergrenze geführt hatten und sich dafür bescheiden entschädigen liessen, zu je 45 Tagen Gefängnis. Zu derselben Strafe verurteilte das gleiche Gericht einige Tage später zwei weitere Personen, die aus reinem Mitleid und ohne jegliche Entschädigung sechs jüdische Flüchtlinge im Boot über den Genfersee gebracht hatten. Im Allgemeinen zeigen die Urteile jener Zeit, dass die Richter den Beweggründen der Fluchthelfer und den jeweiligen Umständen kaum Rechnung trugen.

3 4 5

SR 142.20 AS 56 (1940) 2001 AS 58 (1942) 895

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Hier muss erwähnt werden, dass die Flüchtlingshelfer grosse Risiken auf sich nahmen6 und ihre Tätigkeit viel Zeit, Vorsicht und Geschick erforderte. Sie liessen sich in der Regel entschädigen, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nur aus finanziellem Interesse handelten. Nach Auffassung der Experten sprechen die Risiken und Schwierigkeiten dieses Unterfangens sowie die oft prekären finanziellen Verhältnisse der Flüchtlingshelfer dafür, dass diese aus persönlicher Überzeugung gehandelt haben, auch wenn sie sich entschädigen liessen.

Strafen gegen Fluchthelfer wurden bis 1945 und gar noch nach dem Zweiten Weltkrieg verhängt. Ab 1940 beriefen sich diese auf die auf Grund von Ausnahmebefugnissen erlassenen Bundesratsbeschlüsse.

Auf Grund der bisherigen Geschichtsforschung lässt sich nicht schätzen, wie viele Personen verurteilt wurden, weil sie vom Naziregime Verfolgten zur Flucht verhalfen. Umso weniger sind heute genaue Schätzungen über die Art und Anzahl der Strafen und über die Kriterien der Strafbemessung möglich.

1.2.3

Die Spanienkämpfer

Die Subkommission hörte Nicola Ulmi an, der von 1996­2000 mit Forschern der Universitäten Lausanne und Genf dieses Thema ausführlich untersucht hat.7 Diese vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierte Studie, brachte folgende Ergebnisse hervor.

Im Spanischen Bürgerkrieg kämpften rund 650 Schweizer Bürger auf der Republikanerseite, d.h. in den internationalen Brigaden und zuvor in den Milizen. Schriftlichen Zeugnissen wie Briefen und Gerichtsprotokollen zufolge, handelten diese Schweizer aus politischer Überzeugung, d.h. sie wollten den aufblühenden Faschismus bekämpfen, der in ihren Augen eine Bedrohung des Friedens, der Freiheit und der Demokratie in Europa und in der Schweiz darstellte. Die Spanienkämpfer, welche zumeist der Arbeiterschicht angehörten und in bescheidenen, zuweilen gar prekären Verhältnissen lebten, hatten in der Zeit zunehmender Arbeitslosigkeit das Gefühl, in der Schweiz ausgegrenzt und verstossen zu sein, und das republikanische Spanien erschien ihnen als neue Heimat der Arbeiterklasse.

Ein Viertel der Freiwilligen ist im Kampf gefallen und der grösste Teil der Überlebenden wurde von Militärgerichten verurteilt.

Als 1936 der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, unterstützte der Bundesrat zwar die Bewegung Francos nicht, enthielt sich gleichzeitig aber auch jeglicher Unterstützung der legalen Regierung8.

6

7 8

Die Grenze wurde auf dem von Deutschland besetzten Gebieten streng kontrolliert, aber auch in der Schweiz, wo die Zollbeamten befugt waren, bei illegalen Grenzübertritten von der Waffe Gebrauch zu machen (Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz ­ Zweiter Weltkrieg, S. 119).

Nic Ulmi, Peter Huber, Les combattants suisses en espagne républicaine (1936­1939), Antipodes, 2001.

Nic Ulmi, Peter Huber, a.a.O., S. 20 ff.

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Seit 1928 ist es gemäss Artikel 94 des Militärstrafgesetzes (MStG)9 den wehrpflichtigen Schweizer Bürgern verboten, in fremde Militärdienste einzutreten. Am 14. August 1936 wurde in einem Bundesratsbeschluss10 jegliche Unterstützung der Krieg führenden Parteien Spaniens untersagt und zudem der Geltungsbereich von Artikel 94 MStG auf sämtliche Schweizerinnen und Schweizer ausgedehnt.

Ab Dezember 1936 begannen die Prozesse gegen Schweizer Kämpfer im Spanienkrieg.

Insgesamt wurden 550 Prozesse verzeichnet11, wobei es hier auch Doppelzählungen gab: Verschiedene im Abwesenheitsverfahren ausgesprochene Urteile wurden nach der Rückkehr der Freiwilligen erneut aufgenommen und revidiert. Insgesamt wurden 420 von rund 500 Freiwilligen definitiv verurteilt. Ein Teil der Urteile betraf Personen, die in Spanien umgekommen waren und etwa ein Fünftel der Spanienkämpfer entging jeglicher Bestrafung. Die Geschichtsforschung liefert uns ein genaues Bild über die damaligen Urteile gegen Schweizer Kämpfer in der republikanischen Armee.

Am schwersten waren die Urteile, wenn verschiedene Straftatbestände zusammenfielen wie: fremder Militärdienst in der republikanischen Armee Spaniens, Verweigerung des Wiederholungskurses oder Nichtbefolgung der Kriegsmobilmachung in der Schweiz, Materialverschleuderung. Ein Teil der Strafen wurde militärdienstlich verbüsst, d.h. nicht in Form einer Gefängnisstrafe, sondern in Form zusätzlicher Wehrdiensttage, was als mildere Strafe angesehen wurde.

Die Höhe des Strafmasses hing von verschiedenen Elementen ab. Im Laufe der Zeit veränderten sich auch die Urteile: Während bei den ersten Prozessen, die in Abwesenheit der Angeklagten geführt wurden, schärfere Strafen verhängt wurden mit dem Ziel, potenzielle Freiwillige abzuschrecken, fielen später, als die Spanienkämpfer heimkehrten und an den Prozessen teilnahmen, die Urteile tendenziell milder aus.

Bei gewissen Urteilen wurden die ideellen Beweggründe des Auslandeinsatzes als strafmildernder Umstand anerkannt. Auch urteilten die Gerichte der lateinischen Schweiz in der Regel milder als diejenigen der Deutschschweiz, welche meistens Gefängnisstrafen von über vier Monaten aussprachen.

Die Strafdauer erstreckte sich von 15 Tagen bis zu vier Jahren. In 80 Prozent der Urteile wurden Gefängnisstrafen zwischen einem und sechs Monaten
ausgesprochen; das durchschnittliche Strafmass betrug 3,8 Monate. Die Freiwilligen, die im Dienste der Republikaner standen, und die rund dreissig Freiwilligen, die auf der Seite Francos kämpften, wurden strafrechtlich mit gleicher Elle gemessen. In einem von zehn Fällen wurden auch bedingte Strafen ausgesprochen und in einigen Fällen wurde Begnadigungsgesuchen stattgegeben12. Die Urteile stützten sich mit wenigen Ausnahmen auf Artikel 94 MStG. Der Bundesratsbeschluss vom 14. August 1936

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11 12

SR 321 Bundesratsbeschluss betreffend die Ausfuhr, die Wiederausfuhr und die Durchfuhr von Waffen, Munition und Kriegsmaterial nach Spanien, den spanischen Besitzungen und der spanischen Zone Marokkos vom 14. August 1936 (AS 52 [1936] 637).

Nic Ulmi, Peter Huber, a.a.O., S. 229 ff.

Von 19 Begnadigungsgesuchen wurden 10 abgewiesen, 7 Gesuchen wurde stattgegeben und 2 teilweise stattgegeben (bezüglich Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit).

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musste nie angewandt werden. Die Nebenstrafe, die bürgerliche Ehrenfähigkeit während eines bis fünf Jahren einzustellen, wurde in etwa 60 Prozent aller Fälle ausgesprochen.

Hier ist darauf hinzuweisen, dass die anderen Länder Europas ihre Bürger, die in Spanien für die Republikaner kämpften, nicht strafrechtlich verfolgten, obschon sie den fremden Militärdienst ebenfalls gesetzlich verboten. Die Verurteilungen der Schweizer Spanienkämpfer stellen deshalb einen Sonderfall in Europa dar.

Für die nationalsozialistischen und faschistischen Mächte stellte der Spanienkrieg ein Testobjekt dar13, an dem sich die Interventionsabstinenz der demokratischen Länder im Hinblick auf künftige Kriegsabsichten messen liess.

1938 wurde in der Schweiz eine Kampagne für eine Amnestie der verurteilten Brigadisten lanciert. Diese wurde allerdings im Februar 1939 von den eidgenössischen Räten abgelehnt.14 Von den parlamentarischen Vorstössen, die in der Folge und bis 1999 zur Rehabilitierung der Spanienkämpfer eingereicht wurden, wurde nur das im Nationalrat eingereichte Postulat Pini15 im Jahre 1992 angenommen; allerdings ist ihm bisher keine Folge gegeben worden.

1.2.4

Unterstützung und Beteiligung an der französischen Résistance

Die Subkommission hörte den Historiker Luc van Dongen an, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt, 3800 zwischen September 1944 und Dezember 1945 ausgesprochene Militärgerichtsurteile untersucht und einen Beitrag zu diesem Thema veröffentlicht hat16.

Bei der Unterstützung der französischen Résistance ist zwischen zwei Formen zu unterscheiden: zwischen dem Kampf in der Résistance selbst und der aktiven Unterstützung von der Schweiz aus. Letztere war relativ bedeutsam und umfasste die Belieferung der Résistance und ihrer Partisanengruppen mit Ausrüstungsmaterial, Medikamenten und Waffen, die Bereitstellung von Unterschlüpfen für Widerstandskämpfer, Nachrichten- und Informationstätigkeiten, Hilfe an Personen, die aus schweizerischen Internierungslagern entflohen waren. Obschon diese beiden Unterstützungsformen sehr verschieden waren, können sie nicht voneinander losgelöst gesehen werden, denn es kam auch vor, dass sie sich überschnitten, dann nämlich, wenn die schweizerischen Netzwerke die Schweizer Résistance-Kämpfer unterstützten. Beide Unterstützungsformen wurden strafrechtlich verfolgt.

13 14

15 16

Nic Ulmi, Peter Huber, a.a.O., S. 18­19 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Amnestiegesuche zugunsten der Teilnehmer am spanischen Bürgerkrieg vom 20. Januar 1939 (BBl 1939 116); Protokoll über die Verhandlungen des Nationalrates vom 1. Februar 1939, S. 24ff (nicht publiziert); Protokoll über die Verhandlungen des Ständerates vom 4. Februar 1939, S. 29 ff. (nicht publiziert) 91.3214 Po. Rehabilitierung der schweizerischen Teilnehmer am spanischen Bürgerkrieg AB N 1992 2718 Luc van Dongen, Des Suisses dans la Résistance française (1944-1945); in: Guerres et paix, Mélanges en l'honneur du prof. Jean-Claude Favez. Ed. Georges, Genève 2000.

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Wer in der Résistance selbst mitkämpfte, hatte eine Verurteilung wegen Verstosses gegen verschiedene strafrechtliche Bestimmungen zu gewärtigen. Die Forces Françaises de l'Intérieur (FFI) galten seit Oktober 1944 rechtlich als Armee. Von diesem Zeitpunkt an war die Militärdienstleistung innerhalb dieser Truppen gemäss Artikel 94 MStG strafbar. Überdies hatten sich die Schweizer Résistance-Kämpfer wegen rechtswidrigen Grenzübertritts, Fahnenflucht und Verschleuderung von Militärmaterial zu verantworten.

Wer die Résistance von der Schweiz aus unterstützte, erfüllte je nachdem verschiedene Straftatbestände. So konnte ihm unter anderem angelastet werden, gegen die Vorschriften über die Wahrung der Neutralität verstossen, widerrechtliche Grenzübertritte begünstigt, militärische Geheimnisse verletzt, gegen das Waffenbesitzverbot, die Regelung über die Kriegsmaterialeinfuhr und ­ ausfuhr oder das Gesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern verstossen zu haben, nachrichtendienstlich tätig gewesen zu sein, Hehlerei, Urkundenfälschung oder Veruntreuung betrieben zu haben.

Wie die Auswertung der Gerichtsurteile über Résistance-Kämpfer zeigt, wurden im Durchschnitt zwei- bis sechsmonatige Gefängnisstrafen auferlegt. Bei einem Drittel aller Fälle wurden Strafen von über einem Jahr ausgesprochen. Die schärfsten Urteile wurden in 13 Prozent der Fälle ausgesprochen und sahen Gefängnisstrafen von zwei bis fünf Jahren vor. Bedingte Strafen wurden nur bei Gefängnisstrafen unter fünf Monaten gewährt.

Diejenigen, welche von der Schweiz aus Unterstützung leisteten, wurden unterschiedlich bestraft, d.h. mit Gefängnisstrafen von einigen Tagen bis mehreren Monaten, selten aber von über einem Jahr.

Die politischen und moralischen Beweggründe eines Einsatzes zur Bekämpfung Nazideutschlands wurden von den Gerichten selten in Betracht gezogen. Hier ist allerdings anzumerken, dass das Eingeständnis, aus politischen Gründen gehandelt zu haben, in den Augen der Gerichte eine verstärkte Eigenverantwortung nach sich zog, was die Angeklagten eher davon abhielt, sich darauf zu berufen.

Die Schweizer Résistance-Kämpfer waren nicht so zahlreich wie die Schweizer in den internationalen Brigaden Spaniens. Ausserdem dauerte ein Einsatz in der Résistance im Durchschnitt nur einige Wochen und beschränkte sich
mehrheitlich auf die Grenzregionen. Die Militärstrafprozesse zeigen klar, dass im Laufe des Sommers 1944 solche Einsätze zunahmen. Beim durchschnittlichen Schweizer RésistanceKämpfer handelte es sich um einen unter 30-jährigen, ledigen, franzosenfreundlichen Industriearbeiter. Im Gegensatz zu den Brigadisten waren von den RésistanceKämpfern nur gerade 10 Prozent arbeitslos. Das Heldenhafte, das der Résistance zuweilen anhaftete, mochte zusammen mit der Abenteuerlust für viele junge Leute motivierend gewirkt haben. Es handelte sich weder um eine homogene noch um eine ausdrücklich als Kampf gegen den Nationalsozialismus erklärte Bewegung: Der Kampf in der Résistance war nicht so politisch geprägt wie der Einsatz bei den Brigadisten und wurde auch nicht als eigentlicher Kreuzzug gegen den Faschismus verstanden. Die noch unvollständige Studie, die die zwischen September 1944 und Dezember 1945 ausgesprochenen 3800 Urteile auswertete, brachte unter den Verurteilten nur gerade zwei bekennende Sozialisten oder Kommunisten zu Tage. Verurteilt wurden 130 Personen wegen Freiwilligeneinsatz innerhalb der Résistance und rund zehn wegen anderweitiger Unterstützung.

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Die wegen Teilnahme an der französischen Résistance oder deren Unterstützung ausgesprochenen Urteile sind bislang von der Geschichtsforschung nicht vollständig erfasst worden. Der von der Subkommission angehörte Experte schätzt, dass rund 300 Personen verurteilt wurden.

1.2.5

Ziviler Widerstand

Die jüngere Geschichtsforschung spricht vom Konzept des zivilen Widerstandes, insbesondere gegen Hitler17. Dieses definiert ganz unterschiedliche Handlungs- und Verhaltensweisen in der Bevölkerung, welche denjenigen der Behörden entgegenlaufen.

Beim zivilen Widerstand sind die Einsätze nuancierter als beim bewaffneten Widerstand militärischer Einsätze. Eine Form des zivilen Widerstandes ist die Fluchthilfe, aber auch die Unterstützung der französischen Résistance ohne direkte Kampfbeteiligung.

Allerdings gab es auch Einsätze von Schweizerinnen und Schweizern zugunsten der Widerstandsbewegungen Belgiens, Jugoslawiens, Deutschlands und anderer Länder.

Diese Aktionen, bei denen es sich um die Verteilung von Flugblättern und Pamphleten, um die Grenzüberführung von verschiedensten Materialien oder von Personen der Widerstandsbewegungen sowie um Nachrichtenübermittlungen handeln konnte, wurden illegal ausgeführt und deshalb strafrechtlich verfolgt. Allerdings gibt es keine gesamthafte Untersuchung über solche Einsätze von Schweizern während der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus und Faschismus und während des Zweiten Weltkrieges.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Problemstellung der vorgeschlagenen «Rehabilitierung»

Die parlamentarischen Initiative verlangt, sämtliche Strafurteile aufzuheben, welche gegen Fluchthelfer zugunsten der Opfer des Nationalsozialismus ausgesprochen worden sind. Der einzuschlagende Weg bleibt offen. Als Erstes werden daher die in Frage kommenden Institute des geltenden Rechts, das heisst die Amnestie, Begnadigung und Rehabilitation daraufhin geprüft, ob sich mit ihnen die Ziele der Initiative erreichen lassen. Da dies ­ wie im Folgenden dargelegt wird ­ nicht der Fall ist, sind neue Lösungsansätze erforderlich. Die Kommission schlägt deshalb eine «Rehabilitierung sui generis» vor, deren inhaltliche und formelle Aspekte unter Ziffer 2.1.2 erörtert werden.

17

Jacques Semelin, Sans armes face à Hitler, la résistance civile en Europe 1939­1943, Paris 1989, S. 49 ff.

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2.1.1

Amnestie, Begnadigung und Rehabilitierung im geltenden Recht

2.1.1.1

Amnestie

Amnestien heben die Wirkungen eines Straferlasses für ganze Personengruppen auf, ohne dass die von der Amnestie betroffenen Individuen bezeichnet werden. In diesem Sinn ist die Amnestie unpersönlich. Unter den Begriff der Amnestie (auch als «Massenbegnadigung» bezeichnet) fällt sowohl der Verzicht auf die Strafverfolgung bestimmter Taten oder Kategorien von Tätern (Abolition) wie auch der Erlass der entsprechenden Strafen18. Nicht unter den Begriff der Amnestie fällt dagegen die Aufhebung rechtskräftiger Strafurteile.

Die Amnestie wird nach geltendem Recht nur in Artikel 173 BV geregelt. Erst mit der laufenden Revision AT-StGB werden Bestimmungen über die Amnestie in das StGB (Art. 387)19 und das MStG (Art. 232e) aufgenommen.

Amnestien in Bundesstrafsachen fallen nach Artikel 173 BV generell in die Zuständigkeit der Bundesversammlung und nicht der Kantone20. Die Steueramnestie von 1968, bei der nicht nur Bundesrecht, sondern auch kantonales Steuerrecht betroffen war, wurde deshalb mittels Verfassungsänderung beschlossen21.

2.1.1.2

Begnadigung

Begnadigung ist der auf einen Einzelnen bezogene ganze oder teilweise Erlass einer rechtskräftig ausgesprochenen Strafe oder die Umwandlung einer Strafe in eine mildere Strafe.

Bestimmungen über die Begnadigung finden sich in der Bundesverfassung (Art. 173, weitere Aufgaben und Befugnisse der Bundesversammlung) sowie im StGB und im MStG (Art. 394­396 StGB sowie Art. 232a­d MStG).

Nach StGB und MStG fallen Begnadigungen nur dann in die Zuständigkeit der Eidgenössischen Räte, wenn ein Militärgericht, das Bundesstrafgericht oder eine Verwaltungsbehörde des Bundes geurteilt hat. Die Begnadigung betreffend Urteile kantonaler Behörden fällt in die Zuständigkeit der Kantone.

18

19 20

21

Vgl. Mariangela Wallimann-Bornatico, Die Amnestie, SJZ 81 (1985) 196 f., sowie die Botschaft des Bundesrates vom 20.11.1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 401 f.; Art. 387 E-StGB, Botschaft des Bundesrates vom 21.9.1998, BBl 1999 II 2177) Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 21.9.1998, BBl 1999 II 2177.

Vgl. Jean-François Aubert, Komm. BV, Rz. 98 zu Art. 85; Hans Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. I, 4. A. , S. 256; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 3.A., Rz.1176 f.; Günther Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, Strafen und Massnahmen, § 8, Rz. 16.

Vgl. Aubert, Traité de droit constitutionnel suisse, Suppl. 1967­1982, n. 1467.

7791

2.1.1.3

Rehabilitierung

Die Rehabilitation im Sinne des Strafgesetzbuches ist die vorzeitige Aufhebung von Nebenstrafen (Art. 77­79 StGB bzw. Art. 36­43 MStG).

2.1.1.4

Die Aufhebung von Strafurteilen

Die Initiative verlangt die Aufhebung von bestimmten Strafurteilen. Um die Bedeutung einer solchen Massnahme zu würdigen, ist Folgendes zu berücksichtigen.

Mit dem Strafurteil wird die Schuld des Täters festgestellt und die der Schuld entsprechende Strafe ausgefällt. Wo die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, werden zudem Nebenstrafen ausgefällt. Mit der Ausfällung der Strafe ist die Anordnung der Vollstreckung verbunden.

Soll ein Strafurteil «ex tunc» (rückwirkend) aufgehoben werden, so müssen an sich alle Rechtswirkungen des Strafurteils ­ soweit noch möglich ­ rückgängig gemacht und der eingetretene Schaden ersetzt werden.

2.1.1.4.1

Die Rechtswirkungen der Aufhebung eines Strafurteils im Allgemeinen

Im Einzelnen bedeutet die Aufhebung eines Strafurteils Folgendes22:

22 23

24

a.

Es wird der Schuldspruch getilgt. Das hat die rechtliche und moralische Rehabilitierung des Täters zur Folge, gegebenenfalls auch die Entschuldigung und die Aussprechung des Dankes durch die Öffentlichkeit.

b.

Die Strafe wird rückgängig gemacht. Dieser Grundsatz lässt sich allerdings nur zum Teil verwirklichen. Während bei Bussen eine Rückgängigmachung möglich ist, kann für verbüsste Strafen nur (Geld-)Ersatz geleistet werden.

c.

Auch Nebenstrafen23 können nicht mehr rückgängig gemacht, sondern höchstens noch mit Geld abgegolten werden.

d.

Allenfalls noch bestehende Strafregistereinträge sind zu löschen beziehungsweise zu entfernen (Art. 59 MStG bzw. Art. 14 der Verordnung über das automatisierte Strafregister24).

Vgl. Hauser/Schweri, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Auflage, 1997, § 45.14.

Amtsunfähigkeit (Art. 51 StGB); bis 1971: Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit (Art. 52 StGB wurde durch Bundesgesetz vom 18.3.1971 aufgehoben); Entziehung der elterlichen Gewalt und der Vormundschaft (Art. 53 StGB); Verbot, einen Beruf, ein Gewerbe oder ein Handelsgeschäft auszuüben (Art. 54 StGB); Landesverweisung (Art. 55 StGB); Wirtshausverbot (Art. 56 StGB); Einziehung (Art. 58 ff. StGB); Ausschluss aus der Armee (Art. 36 MStG); Degradation (Art. 37 MStG).

Amtsunfähigkeit (Art. 38 MStG); bis 1971: Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit (Art. 39 MStG; ebenfalls aufgehoben); Landesverweisung (Art. 40 MStG); Einziehung (Art. 41 ff. MStG).

SR 331

7792

e.

Ist das Urteil veröffentlicht worden (Art. 61 StGB und Art. 43 MStG), erscheint eine neue Veröffentlichung erforderlich.

Schliesslich ist auch an indirekte Folgen des Strafurteils zu denken, zum Beispiel an eine Entlassung aus dem Beamten- oder Arbeitsverhältnis. Eine solche Konsequenz kann sich aus der Verurteilung als Flüchtlingshelfer ergeben haben.

2.1.1.4.2

Rechtswirkungen einer Aufhebung von Urteilen gegen Flüchtlingshelfer

Bei der Aufhebung von Urteilen gegen Flüchtlingshelfer geht es in erster Linie um die Aufhebung (Tilgung) des Schuldspruchs. Den weiteren Rechtswirkungen der Strafurteile kommt unter dem Aspekt der Aufhebung der Urteile eine geringere praktische Bedeutung zu, denn vollzogene Strafen und Nebenstrafen können nicht rückgängig gemacht werden.

Anhörungen der Subkommission haben ergeben, dass die nach Artikel 94 MStG Verurteilten in rund 60 % der Fälle im Sinne einer Nebenstrafe in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit eingestellt wurden.

Voraussetzung für die Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit war einerseits eine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, anderseits eine Tat, welche eine ehrlose Gesinnung bekundete. Die Dauer der Einstellung betrug ein bis fünf Jahre, und die Folgen der Einstellung traten mit der Rechtskraft des Urteils ein. Dem in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit Eingestellten war untersagt, in öffentlichen Angelegenheiten zu stimmen und zu wählen, und er war nicht wählbar. Er konnte nicht Beamter, Mitglied von Behörden, Vormund, Beistand oder Zeuge bei der Aufnahme von Urkunden sein.

Die Kommission geht davon aus, dass die Problematik der Strafregistereinträge kaum mehr aktuell ist. Gefängnisstrafen werden nach Artikel 59 Absatz 1 Buchstabe b MStG von Amtes wegen gelöscht, wenn seit dem Urteil über die ausgesprochene Dauer der Gefängnisstrafe hinaus 15 Jahre verstrichen sind. Zudem werden nach Artikel 14 Buchstabe b der Verordnung über das automatisierte Strafregister25 alle Strafen mit Vollendung des 80. Altersjahres des Täters aus dem Register entfernt. Nach geltendem Recht werden allerdings Strafregistereinträge bei «Löschungen» (Entfernungen im Sinne von Art. 14 der Verordnung über das automatisierte Strafregister) nicht physisch entfernt. Der Entwurf zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches26, der momentan vom Parlament behandelt wird, sieht in Artikel 372 Absatz 7 vor, dass entfernte Daten nicht mehr rekonstruierbar sein dürfen und somit physisch entfernt werden.

25 26

SR 331 Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht (BBl 1999 1979).

7793

2.1.2

Ausgestaltung einer Rehabilitierung sui generis

Diese parlamentarische Initiative will weder eine Amnestie noch eine Begnadigung, sondern die Aufhebung einer unbestimmten Zahl von Urteilen. Insofern soll ein neues Instrument geschaffen werden.

Die Kommission hat sich die Frage gestellt, ob dem Anliegen der Initiative mit einer generell-abstrakten Regelung Rechnung getragen werden kann. Allein mittels Rechtssätzen lassen sich jedoch die Ziele der Parlamentarischen Initiative nicht erreichen, weil unklar bleibt, welche Personen vom Rechtssatz, hier der Aufhebung von Strafurteilen, erfasst werden.

Mit einer Regelung im Einzelfall lassen sich die Ziele der parlamentarischen Initiative ebenfalls nicht erreichen, weil individuell-konkrete Verfügungen betreffend die Aufhebung von Strafurteilen die Kenntnis der Adressaten voraussetzen. Da diese wohl nur in wenigen Fällen bekannt sind, hätte eine derartige Rehabilitierung nicht die Wirkung einer grundsätzlichen Neuwürdigung der Urteile gegen Flüchtlingshelfer.

Es drängt sich deshalb eine Kombination von generell-abstrakter Regelung und individuell-konkreter Ausgestaltung auf, das heisst sämtliche einschlägigen Urteile werden mit einem Bundesgesetz direkt aufgehoben. Danach wird auf Gesuch hin oder von Amtes wegen im Einzelfall festgestellt, dass der generelle Aufhebungsbeschluss auf einen bestimmten Verurteilten Anwendung findet. Es kommt somit zu einer Art formloser «Revision sui generis» für die Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus. Gegebenenfalls würde ein noch bestehender Strafregistereintrag gelöscht.

2.2

Wer soll in den Genuss der Rehabilitierung kommen?

2.2.1

Kommissionsmehrheit

Nach Auffassung der Mehrheit der Kommission besteht gewissermassen ein Konsens darüber, dass gegenüber Personen, welche den vom Naziregime Verfolgten geholfen und dabei gegen das Gesetz verstossen haben, eine politische Geste bezeigt wird. Im Übrigen haben die Kommission und der Nationalrat der parlamentarischen Initiative Rechsteiner vor allem wegen dieser Kategorie von Personen Folge gegeben.

Es besteht heute Einigkeit darüber ­ auch bei jenen, die Verständnis für die schweizerische Flüchtlingspolitik während des zweiten Weltkrieges aufbringen ­ dass damals Fehler begangen wurden und man gegenüber den Flüchtlingen, insbesondere den Juden, hätte grosszügiger sein können, ohne dabei die Schweiz zu gefährden.

Zudem wurden die Flüchtlingshelfer in den meisten Fällen unter Anwendung von Bundesratsbeschlüssen, die auf Grund von Ausnahmebefugnissen gefasst wurden, verurteilt. Schliesslich haben die Personen, welche den Flüchtlingen zur Einreise in die Schweiz verhalfen, ihr eigenes Leben für dasjenige anderer Menschen riskiert, was ihrem Verhalten hohe moralische Würde verleiht und die weiteren Beweggründe in den Hintergrund rücken lässt.

7794

Die Kommissionsmehrheit beurteilt hingegen die Situation bei den Spanienkämpfern und den Beteiligten an der Französischen Résistance anders. Dies gilt insbesondere für die Personen, welche wegen fremder Militärdienstleistung verurteilt wurden, was ein Delikt gemäss ordentlichem Recht darstellte, d.h. gemäss Artikel 94 MStG, der im Übrigen nach wie vor anwendbar ist.

Aus diesen Gründen hält die Mehrheit der Kommission es nicht für angebracht, die Schweizer Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg und die Personen, welche in der französischen Résistance gekämpft oder diese anderweitig unterstützt haben, in den Genuss der Rehabilitierung kommen zu lassen.

2.2.2

Kommissionsminderheit

In den Augen der Kommissionsminderheit (Menétrey-Savary, de Dardel, Garbani, Gross Jost, Jutzet, Lauper, Leutenegger Oberholzer, Thanei) müssen sämtliche Personen rehabilitiert werden, die sich ­ sei es durch direkte Kampfbeteiligung oder durch zivile Aktionen ­ gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus gewehrt haben und dafür verurteilt worden sind. Ihr Verhalten hat sich als weitsichtiger und mutiger als jenes der Behörden erwiesen. Aus diesem Grunde sind sämtliche Personen zu rehabilitieren, die auf Grund ihres Widerstandes gegen den Faschismus und den Nationalsozialismus verurteilt worden sind. Sie haben dank ihrer Beherztheit und der Gefahren, die sie auf sich nahmen, zum Zusammenbruch der Nazi- und Faschistenbarbarei beigetragen und verdienen deshalb Anerkennung.

All jene, die den Flüchtlingen halfen oder in anderer Weise zivilen Widerstand leisteten, haben bis heute keine Anerkennung erhalten, obwohl ihr Verhalten vorbildlich war.

3

Kommentar zum Gesetzesentwurf

Das Gesetz basiert auf einem Modell einer generell-abstrakten Regelung (Aufhebung aller einschlägigen Strafurteile per legem), verbunden mit einem individuellkonkreten Ansatz, wonach eine Kommission auf Gesuch hin oder von Amtes wegen feststellt, ob ein bestimmtes Strafurteil von der generell-abstrakten Aufhebung aller Urteile wegen Fluchthilfe zugunsten von Opfern des Nationalsozialismus erfasst wird. Vorbild dieser Regelung ist das deutsche Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 (BGBl I 1998 2501). Der vorliegende Entwurf trägt dabei den schweizerischen Besonderheiten Rechnung und weicht daher zum Teil stark von der deutschen Regelung ab.

7795

3.1

Allgemeine Bestimmungen (1. Abschnitt)

Art. 1

Gegenstand und Zweck

Gegenstand und Zweck des Gesetzes bildet die Aufhebung von Strafurteilen, mit welchen Personen verurteilt wurden, weil sie vom Naziregime Verfolgten zur Flucht verhalfen, sowie die Rehabilitierung dieser Personen.

Die Rehabilitierung und die Aufhebung von Strafurteilen sollen nur jene Verurteilungen erfassen, welche ­ in heutiger Optik ­ als schwerwiegende Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens betrachtet werden27. Der Hinweis auf die «heutige Optik» dient der Definitionsgenauigkeit. Mit ihm wird festgehalten, dass der vorliegende Erlass keine Kritik an der damaligen Tätigkeit der Justiz darstellen soll. Damit wird also der seit den Urteilssprüchen eingetretenen Entwicklung und den seither veränderten Auffassungen Rechnung getragen.

Als Nationalsozialismus gilt das politische Regime, das unter dem Dritten Reich in Deutschland und in den von Deutschland besetzten oder beherrschten Ländern errichtet wurde; die Machtergreifung erfolgte am 30. Januar 1933 mit der Wahl von Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler. Nach der Machtergreifung begann die Verfolgung der Juden, welche zunehmend schärfere Formen annahm. Einen ersten Höhepunkt erlebte sie am 9. und 10. November 1938 mit der «Kristallnacht»; grössere Fluchtwellen von Juden ins Ausland hatten allerdings bereits vorher eingesetzt.

Die strafrechtliche Verfolgung der Fluchthilfe stützte sich auf verschiedene Rechtsgrundlagen (vgl. Ziff. 1.2.2 oben).

Die meisten Urteile wegen Fluchthilfe erfolgten gestützt auf den Bundesratsbeschluss vom 25. September 1942. Wie aus den Anhörungen der Subkommission hervorgegangen ist, gibt es zwar auch Personen, welche anders als mit Fluchthilfe Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus geleistet hatten (z.B. Tätigkeit in Untergrundorganisationen) und deswegen von schweizerischen Gerichten verurteilt wurden. Diese Fälle sind indes von geringerer Tragweite als Verurteilungen wegen Fluchthilfe, bei welcher Menschen geholfen wurde, die direkt an Leib und Leben bedroht waren; sie werden deshalb von der vorliegenden Regelung nicht erfasst.

Eine Kommissionsminderheit ist der Meinung, dass alle Urteile aufgehoben werden sollten, die über Personen verhängt wurden, weil sie Widerstand gegen Nationalsozialismus oder Faschismus geleistet hatten. Gemäss dem Antrag der Minderheit sollen nicht nur Urteile wegen
Fluchthilfe, sondern auch Urteile wegen anderer Formen von Widerstand gegen den Nationalsozialismus erfasst werden (z.B. der Widerstandskampf, insbesondere jener in oder zu Gunsten der französischen Résistance, der Einsatz bei den sogenannten Brigadisten, welche im spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite kämpften, sowie ziviler Widerstand). Die Mehrheit der Kommission hat sich gegen diese Ausweitung ausgesprochen. Soll eine ganze Kategorie von Urteilen aufgehoben werden, so muss klar erkennbar sein, um welche Urteile es

27

Die entsprechende Regelung in der Bundesrepublik Deutschland betrifft die sogenannten Unrechtsurteile, deren Schwere eine höhere Dimension aufweist. Deshalb wird dort von elementaren Verstössen gegen die Gerechtigkeit gesprochen und nicht bloss wie hier von schwerwiegender Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens.

7796

sich dabei handelt. Die relativ weite Umschreibung «Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus» ist in den Augen der Mehrheit zu unbestimmt.

Nach Auffassung der Mehrheit sollte das Gesetz ausschliesslich Urteile wegen Fluchthilfe im Zusammenhang mit Widerstand gegen den Nationalsozialismus erfassen. Fluchthilfe aus anderen Ländern als Deutschland wird vom vorliegenden Gesetz nur erfasst, soweit die entsprechenden Länder dem nationalsozialistischen Regime unterworfen waren oder von ihm beherrscht wurden.

Art. 2

Begriff

Unter Fluchthilfe wird generell die Hilfeleistung an Flüchtlinge verstanden28. In der Version der Kommissionsmehrheit wird Fluchthilfe in einem engeren Sinne verstanden. Darunter versteht man einerseits die direkte Fluchthilfe, anderseits die Beihilfe zu solchen Handlungen. Im zweiten Teil des ersten Absatzes wird ­ der Genauigkeit halber ­ festgehalten, dass Fluchthilfe auch vorliegt, wenn jemand Flüchtlinge versteckte und diese den Behörden nicht meldete.

Mit der Einschränkung gemäss Absatz 2 sollen jene Passeure (Schlepper) ausgeschlossen werden, welche Flüchtlinge ausgenützt, im Stiche gelassen oder gar denunziert haben29.

Die Minderheit listet in einer nicht abschliessenden Aufzählung die hauptsächlichen Kategorien von Personen auf, welche unter den Begriff der «Widerstandskämpferinnen und -kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus» fallen. Es sind Personen, die im spanischen Bürgerkrieg für die Sache der Republik kämpften, Personen, welche die französische Résistance unterstützten sowie Personen, die verfolgten Menschen zur Flucht verhalfen oder Flüchtlinge beherbergten, ohne sie den Behörden zu melden. Neben diesen drei Personenkategorien beinhaltet die Definition der Minderheit auch all jene, die zivilen Widerstand im weiteren Sinn geleistet haben.

3.2

Aufhebung der Strafurteile und Rehabilitierung (2. Abschnitt)

Art. 3

Aufhebung der Strafurteile

In Artikel 3 geht es um die generell-abstrakte Aufhebung sämtlicher FluchthilfeUrteile aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Aufhebung ist insoweit «ex tunc», als davon ausgegangen wird, dass diese Urteile unter heutigen Aspekten nie rechtmässig waren. «Ex nunc» erfolgt die Aufhebung insoweit, als verschiedene Rechtsfolgen der Verurteilungen naturgemäss nicht rückgängig gemacht werden können (s. oben, Ziff. 2.1.1.4.1 und unten, Ziff. 3.5).

28 29

Die Schweiz und die Flüchtlinge in der Zeit des Nationalsozialismus, S. 115.

Ibid. S. 120

7797

Art. 4

Rehabilitierung

«Rehabilitierung» im Sinne von Artikel 4 ist im allgemeinen Sprachgebrauch zu verstehen, das heisst als moralische Wiedergutmachung. Sie impliziert indessen die Urteilsaufhebung gemäss Artikel 3. Im Gegensatz zu früheren «Rehabilitierungen» erfolgt sie nun nicht mehr bloss per Erklärung des Bundesrates30, sondern durch Gesetzesspruch, und zwar in einer besonderen Bestimmung. Die Rehabilitierung gilt für alle Flüchtlingshelfer im Sinne von Artikel 2, das heisst auch jene Personen, die nicht direkt wegen Fluchthilfe verurteilt wurden, sondern weil sie Flüchtlinge versteckt und den Behörden nicht gemeldet haben.

Art. 5

Tateinheit mit anderen Straftaten

Erfolgte die Verurteilung wegen Fluchthilfe in Tateinheit mit einer anderen Straftat (welche zwecks Begehung der Fluchthilfe oder anlässlich der Fluchthilfe begangen wurde31), so erfasst die Urteilsaufhebung auch das andere Delikt, sofern die Fluchthilfe jenem gegenüber nicht als untergeordnet erscheint.

Dabei ist davon auszugehen, dass Fluchthilfe gemäss Bundesratsbeschluss vom 25. September 1942 mit Gefängnis bedroht war und daher ein Vergehen darstellte.

Die Beurteilung, ob ein untergeordnetes Delikt vorliegt, soll im Sinne einer Gesamtwürdigung erfolgen, einschliesslich subjektiver Merkmale, das heisst auch in Berücksichtigung von Rechtfertigungsgründen und Schuldaspekten und nicht bloss aufgrund der abstrakten Strafdrohungen.

Dass die Rehabilitierung sich je nach Sachverhalt nicht auf die Fluchthilfe als solche beschränkt, sondern auch andere Straftaten erfassen kann (z.B. Verkehrsdelikte oder leichtere Vermögensdelikte) findet zudem eine Rechtfertigung im Bagatellprinzip sowie im Grundsatz der Verfahrensökonomie.

3.3

Rehabilitierungskommission (3. Abschnitt)

Art. 6

Einsetzung und Organisation

Das Gesetz sieht die Einsetzung einer sowohl vom Parlament als auch von Bundesrat und Verwaltung unabhängigen Kommission zur Rehabilitierung der Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus vor32.

30

31

32

Vgl. u.a. die Stellungnahme des Bundesrates vom 26. Mai 1999 zur Motion 99.3065 RK-N Strafurteile gegen Schweizer Kämpfer in den internationalen Brigaden und der französischen Résistance (AB N 2000 35).

Dabei kann es sich im Grundsatz um blosse Übertretungen von Strassenverkehrsregeln handeln, aber auch um Drohungen gegen Beamte oder andere schwerere Straftaten, welche anlässlich der Fluchthilfe begangen wurden.

Das deutsche Modell, welches diese Feststellung der Staatsanwaltschaft überträgt, erscheint insoweit problematisch, als sich die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften in der Regel auf Strafverfahren beschränkt (Anklageerhebung bzw. Einstellung von Verfahren), während Urteile richterlichen Instanzen vorbehalten bleiben.

7798

Die Wahl der Kommission obliegt dem Bundesrat, der auch den Präsidenten oder die Präsidentin bestimmt. Das Prozedere ist vergleichbar mit jenem für die Wahl des Sonderbeauftragten für die Staatsschutzakten33. Der Kommission muss mindestens ein ausgebildeter Historiker oder eine ausgebildete Historikerin angehören, damit die Kommission über einschlägiges Fachwissen verfügt und gegebenenfalls auch eigene Sachverhaltsabklärungen treffen kann.

Da die Rehabilitierung sowohl eine historische als auch eine juristische Beurteilung voraussetzt, schien es nicht angebracht, diese Aufgabe den Gerichtsbehörden zu überlassen, welche die Urteile erlassen haben.

Das Sekretariat der Kommission wird vom EJPD gestellt, welches auch die Entschädigungen der Kommission regelt. Darüber hinaus organisiert sich die Kommission selbst.

Art. 7

Aufgaben

Artikel 7 überträgt der Kommission die Aufgabe, den wesentlichen Inhalt des Gesetzes über die Medien bekannt zu machen. Mit dieser Verbreitung über Presse, Radio, Fernsehen und Internet soll über die Wirkungen, die das Gesetz entfaltet, und über die den betroffenen Personen gebotenen Möglichkeiten informiert werden.

Gemäss Absatz 2 entscheidet die Kommission auf Gesuch hin (Art. 9) oder von Amtes wegen, ob ein konkretes Strafurteil unter die Artikel 1 und 2 fällt. Sie hat materiell zu prüfen, ob dieses Urteil gemäss Artikel 3 aufgehoben ist (Sachentscheid) und trifft ihren Entscheid nach Recht und Billigkeit und in Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalles. Mit dem Verweis auf die Billigkeit wird der Besonderheit des zu treffenden Entscheides Rechnung getragen. Geht es um Sachverhalte, welche über 50 Jahre zurückliegen, werden in verschiedenen Fällen wohl keine absolut zuverlässigen Feststellungen mehr möglich sein. Im Weiteren wird mit dieser Formel dem Umstand Rechnung getragen, dass die Entscheide der Kommission einen Bereich betreffen, der für eine gerichtliche Prüfung nur teilweise zugänglich ist. Die Prüfung «nach Recht und Billigkeit» bewirkt für die Gesuchsteller eine Erleichterung der Beweisanforderungen: Lässt sich ein Sachverhalt nicht mehr mit Sicherheit feststellen, so erlaubt diese Formel der Kommission, trotzdem ­ nach Billigkeit ­ zu entscheiden.

Kommt die Kommission zum Schluss, dass die Voraussetzungen vorliegen, stellt sie im Sinne von Artikel 3 verfügungsweise fest, dass ein konkretes Urteil unter Artikel 1 und 2 fällt (und somit nach Art. 3 aufgehoben ist), andernfalls weist sie das Gesuch ab. Stellt die Kommission fest, dass ein konkretes Strafurteil unter die Artikel 1 und 2 fällt, so macht sie das Dispositiv des Entscheids in geeigneter Weise bekannt. Die Publikation darf nicht gegen den Willen der Betroffenen erfolgen. Mit einer solchen Publikation soll der Öffentlichkeit die Rehabilitierung und die Aufhebung der Urteile zur Kenntnis gebracht werden.

33

Der Bundesbeschluss vom 9. Oktober 1992 über die Einsicht in Akten der Bundesanwaltschaft sowie die Verordnungen vom 5. März 1990 über die Behandlung von Staatsschutzakten des Bundes und vom 20. Januar 1993 3 über die Einsicht in Akten der Bundesanwaltschaft sind per 1. März 2001 sind aufgehoben worden (AS 2001 189; mit Zitaten der aufgehobenen Erlasse).

7799

Die Publikation ist ­ soweit sie von der Kommission angeordnet wird ­ für die Gesuchsteller kostenlos. Die Wahl des Publikationskanals bleibt der Kommission überlassen (Printmedien, Radio und Fernsehen, Internet).

Art. 8

Auflösung

Damit die Kommission nach Erfüllung ihrer Aufgabe aufgelöst werden kann, sieht der Gesetzesentwurf vor, dass der Bundesrat die Kommission aufheben kann, wenn er Grund zur Annahme hat, dass ihre Tätigkeit beendet ist.

3.4 Art. 9

Feststellungsverfahren (4. Abschnitt) Gesuch

In der Regel wird das Gesuch um die Aufhebung eines Urteils vom Verurteilten, nach dessen Tod durch einen Angehörigen (Art. 110 Ziff. 2 StGB) gestellt werden.

Angehörige sind der Ehegatte, Verwandte in gerader Linie, voll- und halbbürtige Geschwister sowie Adoptiveltern und Adoptivkinder. Es wird davon abgesehen, eine Reihenfolge der gesuchsberechtigten Angehörigen zu bestimmen. Aus der Berechtigung mehrerer Angehöriger, ein Gesuch zu stellen, sollten sich keine besonderen Schwierigkeiten ergeben. Stellt also ein entfernter Verwandter ein Gesuch, welchem sich nähere Angehörige widersetzen, so wird es Aufgabe der Kommission sein, die gegensätzlichen Interessen der Angehörigen gegeneinander abzuwägen.

Daneben sollen Gesuche auch von Organisationen mit Sitz in der Schweiz, die sich dem Schutz der Menschenrechte oder der Aufarbeitung der schweizerischen Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus widmen, gestellt werden können. Diese zusätzliche Berechtigung, Gesuche einzureichen, sollte nicht zu einer wesentlichen Steigerung der Gesuchszahl, sondern im Gegenteil zu einer Verfahrensbeschleunigung führen, denn die genannten Organisationen haben über die von der Kommission zu entscheidenden Tat- und Rechtsfragen ausführliche Kenntnisse, von denen die Kommission profitieren kann. Der Kommission steht es frei, nach eigenem Ermessen zu entscheiden.

Wird der Kommission ein Fall zur Kenntnis gebracht, bei welchem niemand zur Gesuchstellung berechtigt erscheint und auch keine Organisation im Sinne von Absatz 2 Buchstabe b ein Gesuch einreicht, so kann sie die Prüfung von Amtes wegen einleiten und verfügen (s. Art. 7).

Art. 10

Frist

Die Frist von fünf Jahren ab Inkrafttreten des Gesetzes stellt eine Ordnungsfrist dar, welche bezweckt, die Verfahren nicht ausufern zu lassen. In besonderen Fällen (Fristversäumnis aus entschuldbaren Gründen) kann die Kommission aber auch auf Gesuche eintreten, welche erst nach Ablauf der Ordnungsfrist eingereicht werden.

7800

Art. 11

Nichteintreten

Die Kommission kann ein Gesuch nur dann materiell beurteilen (auf das Gesuch eintreten), wenn der Gesuchsteller ein Urteil wegen Fluchthilfe rückgängig machen will, welches er selber vorgelegt oder das aufgrund seiner Angaben mit verhältnismässigem Aufwand auffindbar ist. Die Kommission bestimmt den der Sache angemessenen Aufwand. Sie stützt sich dabei auf die unter den Historikern und Historikerinnen anerkannten Kriterien für die Nachforschung in Archiven. Kann aufgrund dieser Nachforschungen kein Urteil aufgefunden werden, wird auf das Gesuch nicht eingetreten.

Art. 12

Feststellung des Sachverhalts

Die Kommission kann an der Sachverhaltsfeststellung mitwirken; sie ist dazu in der Lage, da ihr ein Historiker oder eine Historikerin angehören muss (s. Art. 6 Abs. 3).

Soweit erforderlich und zumutbar, haben auch die Gesuchsteller zur Erhellung des Sachverhaltes beizutragen (Art. 13 VwVG34).

Art. 13

Verfahrenskosten

Das Verfahren vor der Kommission ist kostenlos. Hinsichtlich allfälliger Parteientschädigungen und der unentgeltlichen Rechtshilfe gelten ­ wie sich aus Artikel 14 ergibt ­ die Bestimmungen des VwVG. Die Zusprechung einer Parteientschädigung setzt voraus, dass eine Partei obsiegt und ihr notwendige und verhältnismässig hohe Kosten erwachsen sind (Art. 64 Abs. 1 VwVG).

Für die Gesuchsstellung vor der Kommission sollte in der Regel eine anwaltliche Verbeiständung nicht erforderlich sein: Ist dem Gesuchsteller ein Urteil im Sinne von Artikel 1 und 2 bekannt, so genügt es, das Urteil vorzulegen und dessen Aufhebung zu beantragen. Da die Kommission auch von Amtes wegen tätig werden kann, ist die Gesuchstellung, abgesehen von der Frist, innert welcher Gesuche einzureichen sind (s. Art. 11), an keine besonderen Formvorschriften geknüpft. Ein Gesuch bedürfte keiner näheren Begründung.

Art. 14

Rechtsmittel

Nach Artikel 6 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)35 besteht ein Anspruch auf gerichtliche Beurteilung, sofern die Entscheide der Kommission im Sinne von Artikel 6 EMRK zivilrechtlicher Natur sind. Da die Streitsachen möglicherweise den guten Ruf lebender Personen beziehungsweise das Andenken Verstorbener betreffen (Art. 28 ZGB36), ist die Anwendbarkeit von Artikel 6 Ziffer 1 EMRK zumindest nicht auszuschliessen. Gegen Entscheide der Kommission ist daher die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht vorzusehen.

Im Übrigen besteht nach Artikel 13 EMRK Anspruch auf eine wirksame Beschwerde für Rügen der Verletzung der EMRK, welche mit vertretbaren Gründen vorgebracht werden (hier z.B. der Anspruch auf Schutz der Privatsphäre). Diesbezüglich 34 35 36

SR 172.021 SR 0.101 SR 210

7801

müsste mit der Rüge gerechnet werden, in Bezug auf die Feststellungsentscheide der Kommission fehle eine wirksame innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit.

Nach Artikel 104 Buchstabe a OG37 kann mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens gerügt werden38. Die Ausübung des Ermessens wird vom Gericht nicht überprüft (s. Art. 104 Bst. c OG). Zudem wird das Bundesgericht prüfen können, ob der rechtserhebliche Sachverhalt richtig und vollständig festgestellt wurde (Art. 104 Bst. b in Verbindung mit Art. 105 OG).

Art. 15

Anwendbares Recht

Die Bestimmungen über die Bundesverwaltungsrechtspflege finden sinngemäss ergänzend Anwendung (z.B. VwVG Art. 13 über die Akteneinsicht und Art. 26 ff.

über das rechtliche Gehör). Eine andere bundesrechtliche Verfahrensordnung, welche hier als anwendbar erklärt werden könnte, fehlt. Verfahrensordnungen für Gerichte oder Rekurskommissionen betreffen Beschwerdeinstanzen und wären zudem wie auch jene für erstinstanzliche Schiedskommissionen zu formal.

3.5

Rechtswirkungen der Aufhebung (5. Abschnitt)

Art. 16 In dieser Bestimmung wird ­ deklaratorisch ­ festgehalten, dass der Feststellungsentscheid über die Aufhebung von Strafurteilen als solcher keinen Anspruch auf Schadenersatz oder Genugtuung begründet (z.B. Rückerstattung einer bezahlten Busse, Schadenersatz oder Genugtuung für eine verbüsste Strafe oder für Nebenfolgen der Verurteilung).

3.6

Schlussbestimmungen (6. Abschnitt)

Art. 17

Referendum und Inkrafttreten

Das Bundesgesetz unterliegt dem fakultativen Referendum (Art. 141 Abs. 1 Bst. a BV).

Nach unbenutztem Ablauf der Referendumsfrist wird der Bundesrat das Bundesgesetz in Kraft setzen, sobald die Kommission bestellt und in der Lage ist, ihre Aufgaben wahrzunehmen.

37 38

SR 173.110 Das Verfahren vor der Kommission richtet sich gemäss Artikel 14 nach dem Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes (VwVG); den Umfang der Rechtskontrolle umschreibt Artikel 12. Dazu ergibt sich die Kognition der Kommission subsidiär aus den im Falle einer Beschwerde zulässigen Rügen (hier Art. 104 Bst. a und b OG [Rechtskontrolle, einschliesslich Überprüfung auf Ermessensfehler, sowie Sachverhaltsüberprüfung]).

7802

4

Finanzielle und personelle Auswirkungen

Es lässt sich zurzeit nur schwer abschätzen, welche Zahl von Feststellungsgesuchen die Kommission zu behandeln haben wird. Über eine Periode von fünf Jahren wird man kaum von mehr als 10 Verfahren pro Jahr ausgehen können; die Zahl der zu behandelnden Gesuche kann aber auch wesentlich tiefer sein.

Im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege liess das Bundesamt für Justiz die Kosten neuer Gerichte bei der Ernst & Young Consulting AG (EYC) durch eine betriebswirtschaftliche Studie abklären. Die EYC ging dabei für den Bereich der Verwaltungsrechtspflege von einem Verhältnis von 2,5 Gerichtsschreiber pro Richter aus; dazu wurde zusätzlich ein Personalbedarf für Kanzlei und zentrale Dienste von rund 1,7 Stellen pro Richter errechnet39.

In Bezug auf die Kosten der Kommission ist zu beachten, dass der Aufwand angesichts der Besonderheiten der Verfahren zu Beginn grösser sein dürfte als bei anderen Verwaltungsjustizverfahren. Auf der anderen Seite betreffen die der Kommission übertragenen Feststellungsentscheide ein eng umschriebenes Rechtsgebiet.

Aufwändig sind wohl eher Sachverhalts- als die Rechtsfragen.

Neben den Kosten für die nebenamtlichen Kommissionsmitglieder (Arbeitsanfall von rund 100 Stunden pro Jahr) gehen wir davon aus, dass beim EJPD eine vollamtliche Juristen- und eine Sekretariatsstelle anfällt.

5

Rechtliche Grundlagen

5.1

Verfassungsmässigkeit

Wie bereits erwähnt (oben Ziff. 2.1.1.1 und 2.1.1.2), findet sich in Artikel 173 Absatz 1 Buchstabe k BV nur eine Grundlage für Begnadigungen und Amnestien.

Soweit die angestrebte Rehabilitierung die formelle Aufhebung von Strafurteilen bewirken soll, könnte sie sich deshalb nicht auf diese Verfassungsbestimmung stützen. Hingegen kann die Massnahme auf jene Bundeskompetenzen abstützen, auf welchen die Erlasse beruhten, die den fraglichen Strafurteilen zu Grunde lagen. Da es sich dabei nicht um Erlasse des Kernstrafrechts, sondern des Nebenstrafrechts handelte, fällt die Kompetenz zur Regelung des (Kern)Strafrechts (Art. 123 BV) ausser Betracht40. In Frage kommen vielmehr Artikel 121 BV über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern und Artikel 60 BV über die Militärgesetzgebung (Grundlage für das Militärstrafgesetz). Unbeachtet bleibt dabei, dass die Erlasse, auf denen die Strafurteile beruhten, zum Teil unter dem Vollmachtenregime entstanden sind. Dieses Vollmachtenregime erlaubte dem Bundesrat sowohl, Erlasse mit Gesetzeskraft zu beschliessen, wie auch, von der bundesstaatlichen Kompetenzordnung abzuweichen. Bei den vorliegend zu beurteilenden Strafsachen bestanden aber schon unter der alten BV bundesstaatliche Kompetenzen des Bundes. Deshalb kann eine allfällige Rehabilitierung im Sinne der parlamentarischen Initiative auf die entsprechenden Kompetenzbestimmungen der geltenden BV abgestützt werden (Art. 60 BV und Art. 121 BV). Dies auch mit Blick darauf, dass die Rehabilitierung nicht in erster Linie deshalb angestrebt wird, weil den damaligen Strafinstanzen eine fehler39 40

BBl 2001 4252 Vgl. Botschaft zur neuen Bundesverfassung BBl 1997 I 340

7803

hafte Rechtsanwendung angelastet wird, sondern weil die den Strafurteilen zu Grunde liegenden Strafbestimmungen (die längst ausser Kraft getreten sind) aus heutiger Sicht insofern als ungerechtfertigt erachtet werden, als sie die Fluchthilfe ohne Berücksichtigung der verschiedenen Motive (ideelle Motive, Bereicherungsabsicht usw.) unter Strafe stellten.

5.2

Form des Aufhebungsbeschlusses

Als rechtsetzender Beschluss, der sich nicht auf ein bestehendes Bundesgesetz stützen kann, muss der Aufhebungsbeschluss in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden (Art. 163 BV).

7804