ad 99.427 Parlamentarische Initiative (Stamm Judith) Anrufinstanz bei Abstimmungskampagnen Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates Stellungnahme des Bundesrates vom 9. Januar 2002

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, gestützt auf Artikel 21quater Absatz 4 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG) unter unterbreiten wir Ihnen nachfolgend unsere Stellungnahme zum Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N) vom 25. Oktober 2001 zur parlamentarischen Initiative Stamm Judith «Anrufinstanz bei Abstimmungskampagnen».

Wir versichern Sie, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

9. Januar 2002

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Kaspar Villiger Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

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Stellungnahme 1

Ausgangslage

Der Regelungsvorschlag der SPK-N sieht in einer Ergänzung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte die Schaffung einer siebenköpfigen «Anrufinstanz für die Lauterkeit der politischen Werbung» vor, welche auf Beanstandung hin den irreführenden oder tatsachenwidrigen Charakter von Aussagen in Werbetexten zu eidgenössischen Volksabstimmungen zu untersuchen und dazu zuhanden der Medien Stellung zu nehmen hätte, um den Stimmberechtigten eine objektive Meinungsbildung zu ermöglichen. Der Bundesrat soll politisch und fachlich versierte unabhängige Persönlichkeiten mit Abstand zur Tagespolitik wählen und den Vorsitz der Anrufinstanz bestimmen müssen. Der Gesetzesentwurf wurde von der SPK-N mit 13:9 Stimmen verabschiedet; eine Minderheit von zehn Mitgliedern beantragt dem Nationalrat Nichteintreten.

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Beurteilung der Kommissionsvorschläge

Politische Auseinandersetzungen müssen fair geführt werden. Demokratische Sachentscheide können Unzufriedenheit vorbeugen oder sie abbauen. Damit sie dies zu tun vermögen, müssen sie sauber durchgeführt werden. Wird der nötige gegenseitige Respekt vernachlässigt, so geht damit ein wesentlicher Bestandteil gewachsener schweizerischer politischer Kultur verloren. Der Bundesrat hat in Ausnahmefällen ­ beispielsweise im Vorfeld des Urnengangs vom 10. Juni 2001 ­ denn auch seinerseits die Einhaltung minimaler Fairnessregeln angemahnt.

Auch ist anzuerkennen, dass die Anrufinstanz nach der Konzeption der SPK-N keine Grundrechte in Frage stellt, sondern nur Feststellungen publiziert. Ausstrahlungskräftige Mitglieder könnten der Anrufinstanz vielleicht auch eine gewisse Autorität verbürgen.

Dennoch dürfen die Vollzugsprobleme nicht verkannt werden, welche mit dem an sich wünschbaren Ziel stärkerer Beachtung der Fairnessregeln im Abstimmungskampf verbunden sind. Aus diesen Gründen auferlegt sich der Bundesrat praktisch konstant grosse Zurückhaltung in ethischen Fragen politischer Werbung (beispielsweise auch gegenüber der Inseratekampagne gegen die Fristenregelung).

Verbreitet eine Seite im Abstimmungskampf Unwahrheiten, so kann niemand dies derart wirksam kritisieren wie ihre politischen Gegner. Dem Recht fehlen für diese ethisch-moralische Aufgabe politischer Kultur geeignete Sanktionen: Eine zwangsbewehrte Instanz unterhöhlt die freie Meinungsbildung und die Demokratie; ohne Sanktionsmöglichkeiten bleibt jede Anrufinstanz ein Papiertiger. Die Einrichtung einer Anrufinstanz droht im Gegenteil kontraproduktiv zu werden: Unlautere Aussagen erhalten durch die Stellungnahme der Anrufinstanz noch zusätzliche Publizität, und die Stellungnahme kann durch die Urheber der beanstandeten Aeusserung wieder in den Medien kritisiert werden. Statt über Fairness im Abstimmungskampf

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wird dann über Fairness der Anrufinstanz gestritten. Auch können die meisten Stellungnahmen gar nicht so rasch abgegeben werden, dass sie bei irregeführten Stimmberechtigten noch rechtzeitig wirksam werden.

Jährlich wird heute an drei bis vier Abstimmungstagen über acht bis zwölf Vorlagen abgestimmt. Davon sind durchschnittlich drei Referenden und sechs bis acht Volksinitiativen. Diese Vorlagen sind von der Natur der Sache her umstritten. Höchstens behördliche Vorlagen der Verfassungsstufe bleiben zuweilen nahezu ohne Opposition. Diese Kadenz umstrittener Abstimmungskämpfe lässt auf eine grosse Versuchung schliessen, eine Anrufinstanz für den Abstimmungskampf zu instrumentalisieren. Dies lässt eine bald ununterbrochene Inanspruchnahme der Anrufinstanz erwarten. Die Anrufinstanz muss jeweils rasch handeln, um aktuell zu bleiben. Dann aber dürften Personal- und Zeitaufwand im Bericht der SPK-N bald einmal erheblich zu optimistisch budgetiert gewesen sein. Die Kosten für ein «zahnloses» Zusatzgremium werden jedenfalls gemessen an dem zu erwartenden Ertrag entschieden zu hoch ausfallen.

Beanstandet die Anrufinstanz aber einmal eine Aeusserung, so riskiert hinterher der Urnengang an sich in Zweifel gezogen zu werden.

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Stellungnahme des Bundesrates

Aus diesen Gründen beantragt der Bundesrat, auf den Gesetzesentwurf der SPK-N nicht einzutreten.

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