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Parlamentarische Initiative. Änderung der Wählbarkeitsvoraussetzungen für den Bundesrat Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 28. Oktober 1993

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen den vorliegenden Bericht über die Aufhebung der Kantonsklausel und überweisen ihn gleichzeitig dem Bundesrat zur Stellungnahme.

Die Kommission beantragt, ihrem beiliegenden Erlassentwurf zuzustimmen.

28. Oktober 1993

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Im Namen der Kommission Die Präsidentin: Elisabeth Zölch

, 1993-740

Übersicht Artikel 96 Absatz l Satz 2 BV hält fest, dass nur ein Mitglied des Bundesrates aus dem gleichen Kanton stammen darf. Diese Bestimmung bedeutet eine Einschränkung des Kreises der Kandidatinnen und Kandidaten, welche sich der Bundesversammlung zur Wahl stellen können. Wiederholt schon wurden mit dieser Bestimmung valable Kandidaturen für einen frei werdenden Sitz im Bundesrat verhindert. Dies ist um so bedauerlicher, als die Bestimmung heute nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie in den Anfängen des Bundesstaates, als sie Eingang in die Verfassung fand. Damals ging es darum, eine Dominanz der grossen Kantone im Bundesstaat zu verhindern. Zwar ist es nach wie vor nicht wünschenswert, dass die Landesregierung aus Angehörigen weniger Kantone besteht. Die alten Konfliktlinien zwischen den Kantonen sind heute jedoch weitgehend verschwunden. Die Bundesversammlung wird zudem auch ohne formelle Vorschrift dafür besorgt sein, dass die Mitglieder des Bundesrates möglichst aus verschiedenen Kantonen stammen, so wie sie auch ohne irgendwelche Vorschrift dafür sorgt, dass die verschiedenen Sprachregionen vertreten sind. Der Bundesversammlung sollte genügend Spielraum gegeben werden, damit sie die geeignetsten Persönlichkeiten in die Regierung wählen kann. Die ersatzlose Streichung von Artikel 96 Absatz l Satz 2 stellt deshalb die beste Lösung dar.

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Bericht I II

Ausgangslage Die «Kantonsklausel» als Verhinderin von valablen Kandidaturen bei Ersatzwahlen in den Bundesrat

Anlässlich der letzten Ersatzwahlen in den Bundesrat vom 3. bzw. 10. März 1993 hat sich einmal mehr gezeigt, dass Artikel 96 Absatz l Satz 2 BV die Bundesversammlung in ihrer Wahlfreiheit unzweckmässig einschränkt, indem geeignete Persönlichkeiten aufgrund ihrer Kantonszugehörigkeit nicht wählbar sind. Schon bei früheren Ersatzwahlen in den Bundesrat wurde beklagt, dass die sogenannte Kantonsklausel ein Hindernis für die Wahl geeigneter Kandidaten oder Kandidatinnen darstelle. So schied zum Beispiel 1983 der St. Galler Hans Schmid als Kandidat für die Nachfolge von Bundesrat Ritschard aus, weil St. Gallen bereits durch Bundesrat Furgler vertreten war. Zehn Jahre zuvor musste der Solothurner Schürmann kurzfristig seine Kandidatur zurückziehen, weil am gleichen Wahltag der Solothurner Ritschard gewählt worden war.

Im März 1993 sind im Nationalrat nicht weniger als fünf parlamentarische Initiativen eingereicht worden, welche die Lockerung bzw. Abschaffung der Kantonsklausel verlangen. Die Initiativen der LdU/EVP-Fraktion (93.402), von Nationalrat Wanner (93.403) und von Nationalrat Ruf (93.410) verlangen allesamt die Lockerung der Kantonsklausel in dem Sinn, dass nicht mehr als zwei Mitglieder aus dem gleichen Kanton gewählt werden dürfen. Die parlamentarische Initiative Haller (93.419) will das Problem mit einer Revision des Garantiegesetzes angehen, während Nationalrat Ducret (93.422) die ersatzlose Streichung von Artikel 96, Absatz l Satz 2 verlangt.

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Vorgehen der Kommission

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) hat die Initianten und Initiantinnen an ihrer Sitzung vom 15./16. April 1993 angehört. Das Anliegen fand in der Kommission breite Unterstützung. Die Kommission ist der Ansicht, dass das Problem jetzt angegangen und nicht mit dem Hinweis auf eine mögliche Totalrevision der Bundesverfassung oder die geplante grundlegende Regierungsreform auf Verfassungsebene auf die lange Bank geschoben werden sollte. Das Argument, dass Artikel 96 nicht isoliert, sondern im Rahmen einer Verfassungstotalrevision geändert werden sollte, wurde bereits 1976 anlässlich der Beratung einer Kommissionsinitiative, welche die Aufhebung der Kantonsklausel forderte, vorgebracht.

Weitsichtig hat sich der damalige Bundesrat Furgler für ein rasches Vorgehen eingesetzt: Wichtig ist, dass endlich einmal entschieden wird. Ein weiterer Aufschub erscheint dem Bundesrat als unerträglich (Amtl. Bull. N 1976 937).

Trotz Unterstützung durch den Bundesrat fand die Kommission damals mit ihrem Vorschlag zur Aufhebung der Kantonsklausel bei der Ratsmehrheit kein Gehör.

Da sich inzwischen gezeigt hat, dass die Kantonsklausel die Bundesversammlung bei Ersatzwahlen in den Bundesrat immer wieder vor Probleme stellt, ist promptes Handeln angesagt. Der grosse Handlungsbedarf und das in der Öffentlichkeit

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manifestierte Interesse; an der Frage rechtfertigen eine Revision von Artikel 96 BV: Die Kommission stellte zudem fest, dass die Ausarbeitung eines Beschlussentwurfes im Sinne der Initianten und Initiantinnen keiner grösseren Abklärungen und Vorarbeiten mehr bedarf. Angesichts dieser Umstände beschloss die Kommission mit 17:1 Stimmen, gemäss Artikel 21tcr Absatz 3 GVG in dieser Sache selbst die Initiative zu ergreifen und ohne Vorprüfung eine Vorlage auszuarbeiten. Die Initianten und Initiantinnen stimmen diesem Vorgehen zu und ziehen ihre Initiativen zurück. Durch diese Beschleunigung des Verfahrens kann vermieden werden, dass Kommission und Ratsplenum in zwei Phasen zweimal dasselbe Thema behandeln müssen. Die Kommission ist sich dabei bewusst, dass ein solches Vorgehen nur bei einfachen und in der Kommission unbestrittenen Rechtsetzungsaufgaben angezeigt ist.

An ihrer Sitzung vom 9./10. September 1993 hat die Kommission verschiedene Lösungsvarianten geprüft. In einer Eventualabstimmuhg gab sie mit 14:2 Stimmen der ersatzlosen Streichung von Artikel 96 Absatz l Satz 2 den Vorzug gegenüber einer Formulierung, wonach «in der Regel» nicht mehr als ein Mitglied aus dem gleichen Kanton stammen darf. Sie beschloss mit 14:0 Stimmen bei zwei Enthaltungen einen Beschlussentwurf in diesem Sinne.

Im übrigen ist auch die Staatspolitische Kommission des Ständerates (SPK-S) der Ansicht, dass Handlungsbedarf besteht. An ihrer Sitzung vom 22723. März 1993 beantragte die SPK-S ihrem Rat ohne Gegenstimme, der parlamentarischen Initiative Schiesser (93.407, Streichung der Kantonsklausel) Folge zu geben. Der Ständerat folgte am 30. September 1993 dem Antrag der Kommission, d. h. es wurde in dem Sinne Folge gegeben, dass im Rahmen einer Regierungsreform auf Verfassungsebene eine Revision von Artikel 96 BV vorgenommen werden soll.

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Geltendes Recht Artikel 96, Absatz l BV

Der zweite Satz von Artikel 96 Absatz l besagt, dass nicht mehr als ein Mitglied des Bundesrates aus dem «nämlichen Kanton» gewählt werden darf. Diese Bestimmung war bereits in Artikel 84 der ersten Bundesverfassung von 1848 enthalten.

Damit sollte verhindert werden, dass einzelne grosse .Kantone übermässigen Einfluss auf die Bundesregierung nehmen konnten. Die Angst vor der, Dominanz einzelner Kantone war nicht unbegründet, da die politische Verbundenheit der Mitglieder des Bundesrates mit ihrem Herkunftskanton in den Anfangszeiten des Bundesstaates noch sehr ausgeprägt war (vgl. Komm. B V, Art. 96. Rz. 10).

Artikel 96 Absatz l Satz 2 BV stellt eine Nichiwählbarkeitsbeslimmung und nicht eine blosse Unvereinbarkeit dar. Dies entschied die Vereinigte Bundesversammlung am 7. Dezember 1983 (Amtl. Bull. N 1983 1891). Somit sind Stimmen ungültig, die für .einen Kandidaten oder eine Kandidatin abgegeben werden, der oder die dem gleichen Kanton zuzuordnen ist wie ein bereits gewähltes Mitglied des Bundesrates. Es besteht also keine Möglichkeit, nach einer allfälligen Wahl bis zum Amtsantritt den im «falschen» Kanton liegenden Wohnsitz zu wechseln.

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Konkretisierung in Artikel 9 des Garantiegesetzes

Kantonszugehörigkeit stellt also ein Wahlkriterium bei Bundesratswahlen dar. In Artikel 9 des Bundesgesetzes über die politischen und polizeilichen Garantien der Eidgenossenschaft (Garantiegesetz) ist festgehalten, was unter Kantonszugehörigkeit zu verstehen ist. Bis 1986 galt das Bürgerrecht als Kriterium für die Bestimmung der Kantonszugehörigkeit, was sich mit der Zeit aufgrund der zunehmenden Mobilität als immer weniger sinnvoll erwies. Mit der Revision des Garantiegesetzes vom 9. Oktober 1986 wurde eine neue differenzierte Regelung geschaffen, wonach in erster Linie die politische Herkunft des Kandidaten oder der Kandidatin massgebend ist. Demnach soll bei Kandidaten und Kandidatinnen, die Mitglied der Bundesversammlung oder kantonaler Regierungen oder kantonaler Parlamente sind, derjenige Kanton massgebend sein, in dem sie gewählt worden sind, während für andere Kandidaten und Kandidatinnen der Wohnsitzkanton zur Zeit der Wahl oder - mangels eines Wohnsitzes in der Schweiz - das zuletzt erworbene Bürgerrecht ausschlaggebend sein soll (vgl. Komm. B V, Art. 96, Rz. 11).

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Frühere Diskussionen Die Aufhebung bzw. Lockerung der Kantonsklausel als immer wiederkehrende Forderung

Die Forderung nach Aufhebung bzw. Lockerung der Kantonsklausel wurde regelmässig nach Ersatzwahlen in den Bundesrat gestellt. Eine ganze Reihe von parlamentarischen Vorstössen aus verschiedenen politischen Lagern betreffend Artikel 96 BV weist darauf hin, dass die Kantonsklausel wiederholt zu Unzufriedenheit Anlass gab. So wurden zum Beispiel nach den Bundesratswahlen vom 8. Dezember 1965 drei Motionen und ein Postulat (Allgöwer, Breitenmoser, Raissig und Imboden) eingereicht, welche die Kantonsklausel im Visier hatten. Die vier Vorstösse wurden vom Nationalrat alle als Postulat überwiesen. 1969 gaben Ständerat Bächtold und Nationalrat Vontobel ihrer Unzufriedenheit mit der Einschränkung der Bundesversammlung bei Bundesratswahlen durch die Einreichung von entsprechenden Motionen Ausdruck. Die mittlerweilen auf sechs gestiegene Anzahl parlamentarischer Vorstösse betreffend die Kantonsklausel bewogen den Bundesrat dazu, eine diesbezügliche Vorlage in Aussicht zu stellen. Da jedoch in einem Vernehmlassungsverfahren eine Mehrheit von 14 Kantonen sich gegen die Aufhebung der Wahlschranke aussprach, wurde schliesslich auf eine Vorlage verzichtet.

Für die Bundesversammlung blieb somit das Problem bestehen. Erneut wurde mit Vorstössen eine Änderung von Artikel 96 Absatz l B V verlangt. 1973 wurde im Nationalrat die Motion Bräm eingereicht. 1974 folgten die parlamentarischen Initiativen der beiden Nationalräte Breitenmoser und Schmid. Während Breitenmoser die ersatzlose Streichung der Wählbarkeitsschranke verlangte, wollte Schmid eine Ersetzung derselben durch eine Bestimmung, wonach die Sprachen und die Landesgegenden bei der Wahl angemessen zu berücksichtigen seien. Die vorberatende Kommission beschloss darauf die Einreichung einer Kommissionsinitiative zur Streichung der Kantonsklausel, welche allerdings wie oben schon erwähnt 1976 vor dem Rat keinen Erfolg hatte (Amtl. Bull. N 7976 930 ff.).

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Die Revision von 1986 des Artikels 9 des Garantiegesetzes

Wieder war es eine Ersatzwahl in den Bundesrat, welche Anlass zu weiteren parlamentarischen Vorstössen betreffend Kantonsklausel gab. 1983 reichte Nationalrat Bircher eine parlamentarische Initiative ein, welche in ihren Forderungen der von Schmid 1974 eingereichten Initiative entsprach. Im gleichen Jahr verlangte die SVP-Fraktion in einer Motion die Abänderung des Garantiegesetzes in dem Sinn, dass das Kriterium des Bürgerrechts bei der Ermittlung der Kantonszugehörigkeit durch das Kriterium des Wohnorts ersetzt würde. Die vorberatende Kommission des Nationalrates unterbreitete darauf dem Rat eine eigene parlamentarische Initiative zur Änderung des Garantiegesetzes (vgl. 85.235 Parlamentarische Initiative.

Revision des Garantiegesetzes. Bericht der Kommission des Nationalrates vom 6. Mai 1985, BEI 1985 II 531). 1986 schliesslich verabschiedeten die beiden Räte eine Revision des Garantiegesetzes, welches die heute geltenden Kriterien zur Bestimmung der Kantohszugehörigkeit festlegte (vgl. vorne Ziff. 22, Amtl. Bull. N ; 1986 678ff. und S 1986 510ff.).

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Vorschläge in Entwürfen zu Verfassungstotalrevisionen

Angesichts des grossen, immer wieder in parlamentarischen Vorstössen zum Ausdruck kommenden Missbehagens gegenüber der Kantonsklausel erstaunt nicht, dass auch in den verschiedenen Entwürfen für eine Totalrevision der Bundesverfassung die Aufhebung bzw. eine Lockerung der Kantonsklausel vorgeschlagen wurde. Im Bericht der Arbeitsgruppe Wahlen von 1973 wurde dafür plädiert, der Bundesversammlung als Wahlorgan zu vertrauen und ihr einen möglichst grossen Spielraum zu belassen: MUSS man schon in bezug auf die Qualität dem Wahlorgan einfach Vertrauen entgegenbringen und ihm möglichst grosse Auslesefreiheit "lassen, so sollte es im allgemeinen hinsichtlich der minder wichtigen Herkunft nicht anders gehalten werden (Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung: Schlussbericht der Arbeitsgruppe, Bd. VI. Bern 1973, S. 526).

Sowohl im Verfassungsentwurf der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung von 1977, wie auch in der Modell-Studie des EJPD von 1985 wurde auf die Kantonsklausel verzichtet. Im Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung ist bezüglich Artikel 96 Absatz l Satz 2 zu lesen: Die Kommission beschloss, diese Wahlschranke ersatzlos fallen zu lassen.

Obwohl es ihr selbstverständlich erschien, dass weiterhin die Sprachen und Regionen der Schweiz im Bundesrat angemessen vertreten sein müssten, gebot ihr Bemühen um Straffung und Verwesentlichung, eine in ihrem Gehalt umstrittene und letztlich nicht unbedingt verfassungswesentliche Vorschrift zu streichen (Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung: Bericht. Bern 1977. S. 168).

Ist die Streichung der Kantonsklausel bei einem vom EJPD 1972 aufgrund verschiedener parlamentarischer Vorstösse (vgl. Ziff. 31) durchgeführten Vernehmlassungsverfahren bei den Kantonen mehrheitlich auf Ablehnung gestossen, so schien die Streichung dieser Wählbarkeitsbestimmung 1977 wenig zu interessieren. Im Rahmen der Vernehmlassung zum Verfassungsentwurf der Expertenkommission äusserten sich vier Kantone zur Kantonsklausel, wovon zwei (AR und TI) deren Streichung begrüssten und zwei (VD und NE) die Aufrechterhaltung wünschten.

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Eine Lockerung der Kantonsklausel sehen auch Alfred Kölz und Jörg Paul Müller in ihrem Verfassungsentwurf vor, wobei sie eine Bestimmung vorschlagen, wonach «nicht mehr als zwei im gleichen Kanton wohnhafte Bundesräte gewählt werden» dürfen (Kölz, Alfred/Müller, Jörg Paul: Entwurf für eine neue Bundesverfassung vom 16. Mai 1984, zweite, überarbeitete Fassung vom 14. Juli 1990. Basel 1990, S. 33).

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Beurteilung der Notwendigkeit einer Kantonsklausel aus heutiger Sicht

Artikel 96 Absatz l Satz 2 stellt offensichtlich eine Bestimmung dar, welche den Bedürfnissen des jungen Bundesstaates von 1848 entsprach. Der Bundesstaat stand damals noch auf wackligen Füssen, zahlreiche Kantone waren ihm gegenüber kritisch eingestellt. Die Identifikation mit dem Herkunftskanton war gegenüber der noch kaum ausgebildeten Identifikation mit dem neuen Bundesstaat dominant.

Insbesondere die katholischen Sonderbundskantone befürchteten, von den grossen protestantischen Kantonen Zürich und Bern dominiert zu werden. Es galt also, jeden Eindruck eines Hegemonieanspruchs der grossen protestantischen Kantone zu vermeiden. Dazu diente wohl auch die Aufnahme der sogenannten Kantonsklausel in die Verfassung. Allerdings ist mit Blick auf die Statistik festzuhalten, dass das mit Artikel 96 Absatz l Satz 2 verfolgte Ziel der Brechung der Dominanz der grossen Kantone und der gleichmässigen Vertretung der Kantone im Bundesrat im Prinzip nicht erreicht worden ist, indem gerade die grossen protestantischen Stände Zürich und Bern zeitweise über einen ständigen Sitz im Bundesrat verfügten.

Heute präsentiert sich die Lage völlig anders. Der Bundesstaat blickt auf eine fast hunderfünzigjährige Geschichte zurück, in deren Verlauf die Kantone alte Konfliktlinien überwunden haben. Die Mitglieder des Bundesrates repräsentieren heute in erster Linie die Landesregierung und nicht ihren Herkunftskanton. Kommt hinzu, dass in einer mobilen Gesellschaft die Zuordnung einer Person zu einem Kanton oftmals gar nicht mehr so einfach ist, wie sich dies schon bei verschiedenen Ersatzwahlen in den Bundesrat gezeigt hat.

Die Aufhebung der Kantonsklausel bedeutet nicht, dass dem Föderalismusprinzip heute weniger Beachtung geschenkt wird. Allerdings wird dem Föderalismus kaum durch eine Bestimmung wie der Kantonsklausel Nachachtung verschafft, als vielmehr durch eine sinnvolle Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen.

Im Verlaufe der Geschichte wurden andere Kriterien für Bundesratswahlen wichtig. Dazu gehören die Zugehörigkeiten zu einer bestimmten Partei, zu einer bestimmten Sprachregion oder neuerdings auch zu einem bestimmten Geschlecht.

Wahlkriterien mögen in einer bestimmten politischen und gesellschaftlichen Situation angebracht sein, zu einem späteren Zeitpunkt jedoch ihre Aktualität verlieren.

Sie sollten
deshalb nicht in die Verfassung aufgenommen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass ein veraltetes, aber verfassungsmässig verankertes Wahlkriterium die Bundesversammlung hindert, den aktuelleren Bedürfnissen zu entsprechen.

Der Bundesversammlung als vom Volk gewähltem Wahlorgan des Bundesrates kommt die Verantwortung zu, die in einer bestimmten Situation geeignetste Person in die Regierung zu wählen. Dabei hat sie einerseits Kriterien der persönlichen Qualifikation der Kandidaten und Kandidatinnen zu berücksichtigen. Andererseits spielen auch Kriterien, die sich aus der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage ergeben, eine Rolle. Diese Verantwortung kann sie am besten wahrnehmen,

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wenn sie durch keine verfassungsmässigen Bestimmungen in ihrer Wahlfreiheit eingeschränkt wird. Die ihren Wählern und Wählerinnen gegenüber verantwortlichen Mitglieder der Bundesversammlung werden es sicher unterlassen, einen Bundesrat zu wählen, der beispielsweise nur aus Angehörigen der Kantone Zürich, Bern und Waadt zusammengesetzt ist.

Die Erfahrungen seit 1986 haben gezeigt, dass auch die Revision des Garantiegesetzes die Probleme nicht gelöst hat, die sich für die Bundesversammlung bei Bundesratswahlen aus der verfassungsmässigen Existenz der Kantonsklausel ergeben. Eine Revision von Artikel 96 BV ist deshalb Voraussetzung dafür, dass die Bundesversammlung ihre Verantwortung wahrnehmen und die fähigsten Personen in den Bundesrat wählen kann.

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Lockerung oder Streichung?

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates hat verschiedene von der Verwaltung ausgearbeitete Varianten zur Aufhebung bzw. Lockerung der Kantonsklausel geprüft. Die ersatzlose Streichung von Artikel 96 Absatz l Satz 2 BV erwies sich dabei als die sinnvollste Lösung. Die Kommission erachtet es als wichtig, dem Volk eine klare, transparente Vorlage zu unterbreiten, mit der gezeigt werden kann, dass das Parlament den Handlungsbedarf erkannt hat und zu handeln bereit ist.

Eine Formulierung, wonach «in der Regel» nicht mehr als ein Mitglied des Bundesrates aus dem gleichen Kanton gewählt werden darf, ' erachtet die Kommission als zu schwammig und gegenüber dem Souverän als schwierig vertretbar. In der Verfassung sollte auf solche dehnbare Formulierungen verzichtet werden, da sie den Eindruck von Willkür erwecken. Zudem würde die Bundesversammlung jedesmal unter einem Legitimationsdruck stehen, wenn sie «die Regel» nicht einhalten will.

Eine Revision von Artikel 96 BV in dem Sinn, dass nicht mehr als zwei Mitglieder des Bundesrates aus dem gleichen Kanton stammen dürfen, könnte den falschen Eindruck erwecken, dass eine zweiköpfige Vertretung eines Kantons im Bundesrat quasi zum Normalfall würde. Dies wird aber nicht angestrebt und aller Voraussicht nach auch weiterhin die Ausnahme bleiben. Eine Verfassungsbestimmung, die eine dreiköpfige Vertretung eines Kantons verhindern will, ist offenkundig unnötig und könnte gar als grotesk empfunden werden.

Ebenfalls als wenig sinnvoll beurteilt die Kommission eine Revision von Artikel 9 Absatz l des Garantiegesetzes in dem Sinne, dass der Kandidat oder die Kandidatin das Kriterium der Kantonszugehörigkeit selbst bestimmen kann und zwar wahlweise nach dem Wahlkreis einer Wahl in die Bundesversammlung, in eine kantonale Regierung oder in ein kantonales Parlament, dem Wohnsitz oder dem Bürgerrecht. Eine solche Lösung wäre schwerlich mit Artikel 4 BV (Rechtsgleichheit und Willkürverbot) zu vereinbaren. Kandidaten und Kandidatinnen, die über mehrere Bürgerrechte oder einen Wohnsitz ausserhalb des Kantons der politischen Betätigung aufweisen könnten, wären gegenüber anderen bevorteilt, deren Bürgerrecht mit dem Wohnsitzkanton und dem Kanton des politischen Mandats übereinstimmt.

Zudem würde eine solche gesetzliche Regelung die geltende Verfassungsbestimmung
unterlaufen. Es geht nicht an, dass eine gesetzliche Bestimmung einen Verfassungsartikel in dem Sinne konkretisiert, dass ihm schliesslich nicht mehr entsprochen wird. Konsequenter ist es, die störende Verfassungsbestimmung zu streichen.

2l Bundesblatt 145.Jahrgang. Bd.IV

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Gegen Zwischenlösungen irgendwelcher Art hat sich übrigens schon 1976 der damalige Bundesrat Purgier ausgesprochen, indem er den Nationalrat aufforderte, die Kantonsklausel ersatzlos zu streichen oder dann halt so beizubehalten, wie sie ist: Bei realistischer Betrachtung gibt es nach Auffassung des Bundesrates nur zwei Wege, die politisch als gangbar erscheinen: entweder die Wahlschranke unverändert beibehalten oder sie ersatzlos fallenlassen. Zwischenlösungen hätten nach Auffassung des Bundesrates kaum Aussicht auf Erfolg (Amtl. Bull. N 7976 937).

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Bundesbeschluss Entwurf über die Änderung der Wählbarkeitsvoraussetzungen für den Bundesrat vom

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Prüfung einer parlamentarischen Initiative, i nach Einsicht in den Bericht vom 28. Oktober 1993 » der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates und in die Stellungnahme des Bundesrates vom ...2), beschliesst: I

:

Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:

Art. 96 Abs. l 1 Die Mitglieder des Bundesrates werden von der Bundesversammlung aus allen Schweizerbürgern, welche als Mitglieder des Nationalrates wählbar sind, auf die Dauer von vier Jahren ernannt. (Rest des Absatzes streichen) II

Dieser Beschluss untersteht der Abstimmune des Volkes und der Stände.

» BBI 1993 IV 554 > BBI 1994 ...

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Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Parlamentarische Initiative. Änderung der Wählbarkeitsvoraussetzungen für den Bundesrat Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 28. Oktober 1993

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1993

Année Anno Band

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51

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93.452

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28.12.1993

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554-563

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