18.051 Botschaft zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) vom 15. Juni 2018

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sehr geehrter Frau Ständeratspräsidentin Sehr geehrte Damen und Herren Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes.

Gleichzeitig beantragen wir Ihnen, die folgenden parlamentarischen Vorstösse abzuschreiben: 2013

P

13.3694

Befreiung des Bundesgerichtes von Bagatellen (N 13.12.13, Caroni)

2015

M 14.3667

Bundesgericht. Dissenting Opinions (N 11.3.15, Kommission für Rechtsfragen NR; S 18.6.15)

2017

M 17.3353 M 17.3354

Erhöhung der Obergrenzen der Gerichtsgebühren des Bundesgerichtes und des Bundesverwaltungsgerichtes (N 28.11.17, Geschäftsprüfungskommission NR; S 11.09.17, Geschäftsprüfungskommission SR)

2017

M 17.3357

Revision des Bundesgerichtsgesetzes (N 12.9.17, Kommission für Rechtsfragen NR; S 14.3.18)

Wir versichern Sie, sehr geehrter Herr Nationalratspräsident, sehr geehrte Frau Ständeratspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

15. Juni 2018

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Alain Berset Der Bundeskanzler: Walter Thurnherr

2018-0547

4605

Übersicht Die Zuständigkeit des Bundesgerichts soll nicht mehr für ganze Sachgebiete fehlen. Beschwerden zu wichtigen Rechtsfragen sollen immer zulässig sein, auch wenn es um Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts geht (ohne Asylbereich).

Gleichzeitig muss das Bundesgericht vermehrt von einfachen Fällen entlastet werden, die keiner höchstrichterlichen Beurteilung bedürfen.

Ausgangslage Zu der 2007 in Kraft getretenen Totalrevision der Bundesrechtspflege wurde in den Jahren 2008­2013 eine Evaluation durchgeführt. Diese ergab, dass in einzelnen Punkten noch Verbesserungen erwünscht und möglich sind. Im Zentrum steht die beim Bundesgericht festgestellte teilweise Fehlbelastung. Der Aufwand des Bundesgerichts für Fälle, in denen es kaum ein Plus zum Rechtsschutz der Vorinstanzen bieten kann, ist zu hoch. Handlungsbedarf besteht auch, weil beim Bundesgericht seit einigen Jahren die Beschwerden in Strafsachen überdurchschnittlich zugenommen haben.

Inhalt der Vorlage Ausnahmekataloge und Streitwertgrenzen des Bundesgerichtsgesetzes sollen generell nicht mehr jede Beschwerde ans Bundesgericht ausschliessen; es soll immer eine Restkompetenz des obersten Gerichts für besonders wichtige Fälle bestehen.

Für den Asylbereich gilt diese Neuerung nicht.

Im Ausnahmekatalog werden insbesondere die Tatbestände zum Ausländerrecht, Bürgerrecht, Markenschutz sowie zu Leistungsaufträgen und Konzessionen neu gefasst.

Für Beschwerden in Strafsachen sind folgende Beschränkungen vorgesehen: ­

Bussen bis 5000 Franken wegen Übertretungen sind grundsätzlich nicht mehr beim Bundesgericht anfechtbar.

­

Entscheide der strafprozessualen Beschwerdeinstanzen (nicht aber der Berufungsgerichte) sind beim Bundesgericht grundsätzlich nur dann anfechtbar, wenn es um Zwangsmassnahmen oder die Einstellung oder Nichtanhandnahme der Strafuntersuchung geht.

­

Geschädigte, die nicht Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes sind, können gegen Prozessurteile des zweitinstanzlichen Gerichts (Urteile, die weder einen Schuld- oder Freispruch enthalten noch eine Zivilklage gutheissen oder abweisen) nicht mehr beim Bundesgericht Beschwerde führen.

Weitere Änderungen betreffen unter anderem die Bedingungen für Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen, die Aufnahme von Minderheitsmeinungen in die schriftlichen Entscheide, die Abschaffung von Ausnahmen beim Instanzenzug in den Kantonen und die Harmonisierung der Beschwerdegründe in allen Sozialversicherungszweigen.

4606

BBl 2018

Inhaltsverzeichnis Übersicht

4606

1

Grundzüge der Vorlage 1.1 Ausgangslage 1.1.1 Totalrevision der Bundesrechtspflege 1.1.2 Evaluation der neuen Bundesrechtspflege 1.1.3 Umsetzung der Evaluationsergebnisse 1.2 Die beantragte Neuregelung 1.2.1 Vorbehalt einer beschränkten Beschwerde bei allen Entscheiden, die unter einen Ausnahmekatalog oder eine Streitwertgrenze fallen (ohne Asylrecht) 1.2.2 Anpassungen bei Tatbeständen der Ausnahmekataloge 1.2.3 Neue Beschränkungen (insbesondere Ausnahmetatbestände) für Beschwerden in Strafsachen 1.2.4 Änderung der Bedingungen für Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen 1.2.5 Weitere Anpassungen 1.3 Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung 1.4 Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption des Europarates 1.5 Stellungnahme des Bundesgerichts 1.6 Erledigung parlamentarischer Vorstösse

4608 4608 4608 4608 4609 4610

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln 2.1 Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 2.2 Änderung anderer Erlasse

4632 4632 4649

3

Auswirkungen 3.1 Auswirkungen auf den Bund 3.2 Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden 3.3 Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

4659 4659 4660 4660

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

4660

5

Rechtliche Aspekte 5.1 Verfassungsmässigkeit 5.2 Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

4661 4661 4661

Bundesgesetz über das Bundesgericht (Entwurf)

4610 4612 4615 4617 4618 4622 4625 4629 4632

4663

4607

BBl 2018

Botschaft 1

Grundzüge der Vorlage

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Totalrevision der Bundesrechtspflege

Anfang 2007 trat die Totalrevision der Bundesrechtspflege in Kraft. Die damit verbundenen Gesetzesänderungen betrafen die Organisation und das Verfahren des Bundesgerichts, die Schaffung neuer gerichtlicher Vorinstanzen (insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts) sowie die Neuregelung der Rechtsmittel, die an das oberste Gericht führen (Einführung der Einheitsbeschwerde, ergänzt durch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde als Garantin für die Einhaltung der verfassungsmässigen Rechte durch die Kantone). Die Revision der Bundesrechtspflege wirkte sich auch auf die Kantone aus, die ihre Gerichtsorganisation anzupassen hatten.

Verfassungsgrundlage für die Revision bildete die Justizreform, die am 12. März 20001 von Volk und Ständen angenommen worden war.

Die Totalrevision der Bundesrechtspflege strebte die folgenden drei Ziele an:


Ziel 1: Wirksame und nachhaltige Entlastung des Bundesgerichts und damit Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit;



Ziel 2: Verbesserung des Rechtsschutzes in gewissen Bereichen;



Ziel 3: Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege.

Die Schaffung des Bundesstrafgerichts in Bellinzona erfolgte ebenfalls vor dem Hintergrund dieser Revisionsziele. Hauptgrund für dieses neue Gericht war jedoch die vom Parlament Ende 1999 beschlossene Schaffung neuer Verfahrenskompetenzen des Bundes in den Bereichen organisiertes Verbrechen und Wirtschaftskriminalität.2

1.1.2

Evaluation der neuen Bundesrechtspflege

In Erfüllung des Postulats Pfisterer vom 21. Juni 2007 (07.3420 «Evaluation über die Gesetzgebung zur Bundesrechtspflege und zur Justizreform») hat der Bundesrat die Neuordnung der Bundesrechtspflege auf ihre Wirksamkeit überprüfen lassen. In seinem Bericht vom 30. Oktober 20133 über die Gesamtergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege kommt er zum Schluss, dass die Reform grossenteils gelungen ist.

1 2 3

AS 2002 3148 AS 2001 3071 BBl 2013 9077, hier 9100.

4608

BBl 2018

Zwei Probleme konnten allerdings mit der Reform nicht vollständig gelöst werden:


Erstens ist das Bundesgericht nach einer zeitweisen Reduktion der Eingänge nach dem Inkrafttreten der Reform in neuerer Zeit wieder mit zunehmenden Eingängen konfrontiert. Das Bundesgericht erachtet sich zudem als falsch belastet. Es muss sich einerseits mit vielen unbedeutenden Fällen befassen; andererseits umfasst seine Zuständigkeit nicht alle für die Rechtseinheit und Rechtsfortbildung grundlegenden Fälle.



Zweitens bestehen in verschiedenen Bereichen noch Rechtsschutzlücken.

Dies betrifft insbesondere den Ausnahmekatalog von Artikel 83 des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 20054 (BGG), das Ausländer- und Asylrecht, die politischen Rechte sowie Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung.

Um die genannten Probleme anzugehen, hat der Bundesrat bereits im Evaluationsbericht konkrete gesetzgeberische Schritte in Aussicht gestellt.5

1.1.3

Umsetzung der Evaluationsergebnisse

Zur Ausarbeitung der Gesetzesanpassungen setzte das Bundesamt für Justiz Anfang 2014 eine Arbeitsgruppe ein, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundesgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts und der Bundesverwaltung zusammensetzte. Das Bundesgericht und das Bundesverwaltungsgericht diskutierten die Vorschläge der Arbeitsgruppe im Herbst 2014 an Plenarsitzungen.

Im November 2015 eröffnete der Bundesrat zum Vorentwurf, der im Wesentlichen die Vorschläge der Arbeitsgruppe enthielt, das Vernehmlassungsverfahren (vgl.

hierzu Ziff. 1.3). Nach Abschluss des Vernehmlassungsverfahrens trat die Arbeitsgruppe nochmals zusammen, um ergänzende Vorschläge zur Umschreibung unbestimmter Rechtsbegriffe (Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, besonders bedeutender Fall) und zur Zulässigkeit von Beschwerden im Ausländerrecht zu formulieren. Das Plenum des Bundesgerichts stimmte diesen Vorschlägen im November 2016 mit deutlicher Mehrheit zu.

Am 6. September 2017 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, auf der Grundlage des Vorentwurfs und der ergänzenden Vorschläge der Arbeitsgruppe die Botschaft auszuarbeiten, dabei aber anders als im Vorentwurf nicht die Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde vorzusehen.

4 5

SR 173.110 BBl 2013 9077, hier 9102 ff.

4609

BBl 2018

1.2

Die beantragte Neuregelung

1.2.1

Vorbehalt einer beschränkten Beschwerde bei allen Entscheiden, die unter einen Ausnahmekatalog oder eine Streitwertgrenze fallen (ohne Asylrecht)

Das Bundesgericht ist die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes (Art. 188 Abs. 1 der Bundesverfassung, BV6). Neben der Streitentscheidung auf höchster Ebene kommt dem Bundesgericht namentlich die Funktion zu, die Einheit der Rechtsordnung zu bewahren und das Recht fortzubilden. Der Zugang zum Bundesgericht sollte entsprechend für alle grundlegenden Rechtsfragen oder für sonst besonders bedeutende Fälle offen stehen. Heute ist dies nicht durchwegs der Fall. So können beispielsweise Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet der internationalen Amtshilfe nicht beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 83 Bst. h BGG), auch nicht mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde. Letztere ist nur gegen Entscheide kantonaler Behörden möglich. Für die internationale Amtshilfe in Steuersachen wurde aber eine (Gegen-)Ausnahme geschaffen: Eine Beschwerde in diesem Bereich ist zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder wenn es sich aus anderen Gründen um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 84a BGG).

Der Revisionsentwurf sieht vor, dass künftig die Ausnahmekataloge und Streitwertgrenzen des BGG generell nicht mehr jede Beschwerde ans Bundesgericht ausschliessen, sondern dass immer eine Restkompetenz des obersten Gerichts für besonders wichtige Fälle besteht. Von dieser Änderung nicht betroffen sind die Bereiche des Asylrechts, der inneren und äusseren Sicherheit des Landes und der auswärtigen Angelegenheiten sowie Entscheide über die Gewährung des Zugangs zu Fernmeldediensten für andere Anbieter (sog. Interkonnektionsstreitigkeiten).7 Für kantonale Entscheide, gegen welche die ordentliche Beschwerde an das Bundesgericht aufgrund eines Ausnahmetatbestands oder einer Streitwertgrenze nicht zulässig ist, werden die bisherigen beschränkten Beschwerdemöglichkeiten fortgeführt. Zum Teil bleibt die Beschwerde zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Dies gilt bei den Streitwertgrenzen sowie bei den Ausnahmentatbeständen betreffend die öffentlichen Beschaffungen, den Erlass von Abgaben und (neu) die Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen nach der Strafprozessordnung (StPO)8 (vgl. Art. 89a Abs. 3 E-BGG). In den übrigen Fällen kann höchstens die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ergriffen werden (Art. 113 ff.

BGG).
Hinsichtlich der Entscheide eidgenössischer Vorinstanzen, die unter einen Ausnahmetatbestand oder eine Streitwertgrenze fallen, ist eine Auffangregelung vorgesehen, die an den heutigen Artikel 84a BGG anknüpft. Die Beschwerde bleibt zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt (Art. 89a Abs. 1 E-BGG).

6 7 8

SR 101 Vgl. die Begründung weiter unten in dieser Ziffer.

SR 312.0

4610

BBl 2018

Bei drei Ausnahmetatbeständen bleibt der Weg ans Bundesgericht definitiv verschlossen: ­

Aussen- und sicherheitspolitischen Entscheide fallen in die abschliessende Kompetenz des Bundesrates oder der Bundesversammlung, wenn sie auf überwiegend politischen Erwägungen beruhen und kein völkerrechtlicher Anspruch auf eine innerstaatliche gerichtliche Beurteilung besteht (Art. 84a E-BGG).

­

Im Asylrechtsbereich wird die heutige Zuständigkeitsordnung beibehalten, wonach Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts einzig dann beim Bundesgericht anfechtbar sind, wenn gegen die betreffende Person ein Auslieferungsverfahren des Staates vorliegt, vor dem die Person Schutz sucht (Art. 84 E-BGG, bisher Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Die Möglichkeit, das Bundesgericht anzurufen, wird nicht auf Fälle mit besonderer oder grundsätzlicher Bedeutung erweitert, um mit Sicherheit keinen neuen Grund für Verfahrensverzögerungen zu schaffen.

­

Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts über Interkonnektionsstreitigkeiten nach dem Fernmeldegesetz vom 30. April 19799 (FMG) sollen nach Auffassung des Bundesrates im Interesse eines kurzen Verfahrens stets endgültig sein (vgl. Art. 83 Abs. 1 Bst. p und 89a Abs. 4 E-BGG).

Die Begriffe «Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung» und «besonders bedeutender Fall», die für die beschränkt zulässige Beschwerde bei Entscheiden, die unter einen Ausnahmetatbestand oder eine Streitwertgrenze fallen, zentral sind, werden im neu zu schaffenden Artikel 89b E-BGG näher umschrieben. Diese Umschreibung orientiert sich im Wesentlichen an der bereits bestehenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Sie soll den Rechtssuchenden und den rechtsanwendenden Behörden einen verständlichen Massstab geben, wann eine Rechtsfrage als grundsätzlich oder ein Fall aus anderen Gründen als besonders bedeutend zu gelten hat.

Der Begriff der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung findet sich bereits in der Verfassung. Artikel 191 BV sieht den garantierten Zugang zum Bundesgericht aufgrund dieses Kriteriums zwar nur in Bezug auf Streitwertgrenzen (Abs. 2), nicht aber in Bezug auf ausgeschlossene Sachgebiete (Abs. 3) vor. Durch die vorgenommene Relativierung des Ausnahmekatalogs wird der verfassungsrechtlich grundsätzlich gewährleistete Zugang zum Bundesgericht (Art. 191 Abs. 1 BV) aber nicht zusätzlich eingeschränkt. Das Gleiche gilt auch für das zweite Kriterium des besonders bedeutenden Falles aus anderen Gründen, das zwar nicht in der Verfassung steht, aber bereits im geltenden Recht zu finden ist (Art. 84 und 84a BGG). Aus Sicht der geltenden Bundesverfassung ist wichtig, dass die Beschränkung der Beschwerde an das Bundesgericht auf Fälle mit grundsätzlichen Rechtsfragen oder auf besonders bedeutende Fälle an den Ausnahmekatalog oder an die Streitwertgrenzen gebunden bleibt. Losgelöst von Ausnahmekatalog oder Streitwertgrenzen lässt Artikel 191 BV nicht zu, den Zugang zum Bundesgericht (generell) vom Vorliegen einer Grundsatzfrage oder eines besonders bedeutenden Falles abhängig zu machen.

9

SR 784.10

4611

BBl 2018

1.2.2

Anpassungen bei Tatbeständen der Ausnahmekataloge

Ausländerrecht Das geltende Recht enthält für das Ausländerrecht eine längere Liste von Entscheiden, gegen die nicht beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann (Art. 83 Bst. c Ziff. 1­6 BGG). Wichtigster Punkt in dieser Liste sind die Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt. Unzulässig ist die Beschwerde an das Bundesgericht aber auch gegen Entscheide betreffend die Einreise, die vorläufige Aufnahme, die Aus- oder Wegweisung, Abweichungen von den Zulassungsvoraussetzungen 10, die Verlängerung der Grenzgängerbewilligung, den Kantonswechsel, den Stellenwechsel von Personen mit Grenzgängerbewilligung sowie die Erteilung von Reisepapieren an schriftenlose Ausländerinnen und Ausländer.

Diese historisch gewachsene Abgrenzung der bundesgerichtlichen Zuständigkeit ist kompliziert. Geht es um eine Bewilligung, so müssen Rechtssuchende zuerst aufgrund des materiellen Rechts und der Rechtsprechung ermitteln, ob sie allenfalls einen Rechtsanspruch auf die Bewilligung haben. Entscheide über Bewilligungen, die nach Ermessen erteilt werden, sind nicht beim Bundesgericht anfechtbar. Rechtsansprüche gibt es heute namentlich im Zusammenhang mit dem Familiennachzug durch Personen mit Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung (inkl.

Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung bei Auflösung der Familiengemeinschaft), beim Widerruf von Bewilligungen sowie für Staatenlose und anerkannte Flüchtlinge. Ausserdem kann sich ein Rechtsanspruch aus dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens nach Artikel 8 EMRK11, dem Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union12 (FZA) oder einem anderen Staatsvertrag ergeben. Die Unterscheidung nach dem bestehenden oder nicht bestehenden Rechtsanspruch auf eine Bewilligung stammt aus dem früheren Bundesrechtspflegegesetz in der Fassung der Revision von 1968. Damals waren Rechtsansprüche auf ausländerrechtliche Bewilligungen klar die Ausnahme. Heute gibt es eine Reihe von Anspruchsgrundlagen, was einerseits die Orientierung erschwert und anderseits zu einer Zunahme der Beschwerden beim Bundesgericht geführt hat (obwohl anders als 1968 auch bei Ermessensbewilligungen immer ein oberes kantonales Gericht oder das Bundesverwaltungsgericht angerufen werden kann).

Der Buchstabe über das Ausländerrecht im Ausnahmekatalog
von Artikel 83 BGG (Unzulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht) soll deshalb grundlegend erneuert werden. Dabei wird einerseits eine Vereinfachung angestrebt und andererseits dem neuen System Rechnung getragen, wonach bei allen Entscheiden, die unter einen Ausnahmetatbestand fallen, wenigstens eine beschränkte Beschwerdemöglichkeit besteht (vgl. Ziff. 1.2.1). Dieses neue System bringt für die oben erwähnte Liste 10 11 12

Art. 30 des Ausländergesetzes vom 16. Dez. 2005 (AuG; SR 142.20).

Konvention vom 4. Nov. 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101).

Art. 4 des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (SR 0.142.112.681).

4612

BBl 2018

der heute nicht beim Bundesgericht anfechtbaren ausländerrechtlichen Entscheide eine substanzielle Verbesserung des Rechtsschutzes. Um die Belastung des Bundesgerichts ungefähr im Gleichgewicht zu halten, wird die Beschwerde an das Bundesgericht neu auch für einen Teil der Fälle mit Rechtsanspruch auf eine Bewilligung vom Vorliegen einer Grundsatzfrage oder eines besonders bedeutenden Falls abhängig gemacht. Eine derartige vermehrte Konzentration auf wichtige Fälle erscheint vertretbar, da heute beim Bundesgericht die Erfolgsquote von Beschwerden im Ausländerrecht klar unter dem Durchschnitt der übrigen Bereiche des öffentlichen Rechts liegt.13 Der Entwurf sieht vor, dass im Ausländerrecht die Beschwerde an das Bundesgericht dann uneingeschränkt zulässig ist, wenn der angefochtene Entscheid eine Person betrifft, die sich zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheids seit mindestens zehn Jahren gestützt auf eine Aufenthalts- oder Kurzaufenthaltsbewilligung ohne Unterbruch in der Schweiz aufgehalten hat oder der bereits eine Niederlassungsbewilligung erteilt worden ist (Art. 83 Abs. 1 Bst. b Ziff. 1 E-BGG). In solchen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass der Ausländer oder die Ausländerin sich in einer gefestigten Situation befindet und bei Einschränkungen die Möglichkeit haben sollte, bis ans Bundesgericht zu gelangen. Die Beschwerden werden hauptsächlich den Widerruf von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen betreffen. Der Gegenstand der angefochtenen Verfügung spielt aber keine Rolle, sobald die Ausländerin oder der Ausländer die Niederlassungsbewilligung oder die notwendige Aufenthaltsdauer (mit Aufenthaltsbewilligungen) hat.

Weiter soll die Beschwerde an das Bundesgericht immer zulässig sein gegen Entscheide über ausländerrechtliche Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft (Art. 83 Abs. 1 Bst. b Ziff. 2 E-BGG). Diese Regelung drängt sich aus Gründen der Kohärenz auf, weil in Strafsachen Haftentscheide immer bis vor Bundesgericht angefochten werden können.

Gegen die übrigen ausländerrechtlichen Entscheide kann das Bundesgericht nur mit der Beschwerde nach Artikel 89a E-BGG oder ­ bei kantonalen Entscheiden ­ mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde angerufen werden.

Bürgerrecht Nach geltendem Recht ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen
Entscheide über die ordentliche Einbürgerung nicht zulässig (Art. 83 Bst. b BGG). Ablehnende Entscheide der kantonalen Gerichte können grundsätzlich mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Für Entscheide über die erleichterte Einbürgerung und die Wiedereinbürgerung, die ausschliesslich auf Bundesebene getroffen werden, schränkt das bestehende Gesetz die Beschwerde an das Bundesgericht nicht ein.

Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Wegen der Erteilung des Bürgerrechts erscheint sachlich nicht mehr gerechtfertigt. Bei allen Formen der Einbürgerung sind rechtliche Rahmenbedingungen zu beachten, deren Einhaltung gerichtlich 13

Das Bundesgericht heisst ca. 10 % der Beschwerden im Ausländerrecht gut; für die Gesamtheit der Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten betrug die Gutheissungsquote 2017 18 %.

4613

BBl 2018

überprüft werden kann. Der Revisionsentwurf erweitert den heutigen Ausnahmetatbestand daher auf sämtliche Entscheide über die Einbürgerung, inklusive die Nichtigerklärung der Einbürgerung (Art. 83 Abs. 1 Bst. a E-BGG). Vorbehalten bleiben Beschwerden nach Artikel 89a E-BGG und bei kantonalen Entscheiden die subsidiäre Verfassungsbeschwerde.

Leistungsaufträge und Konzessionen Nach bisherigem Recht gelten für Entscheide betreffend die Bestellung von Angeboten des öffentlichen Verkehrs und für Entscheide über öffentlich ausgeschriebene Konzessionen im Bereich Radio und Fernsehen Ausnahmen von der Zuständigkeit des Bundesgerichts (Art. 83 Bst. fbis und p Ziff. 1 BGG). Neu wird ein Ausnahmetatbestand vorgeschlagen, der allgemeiner formuliert ist und alle Entscheide über Leistungsaufträge und Konzessionen umfasst, die nur aufgrund einer öffentlichen Ausschreibung erteilt werden dürfen. Die ausschreibungspflichtigen Leistungsaufträge und Konzessionen weisen häufig eine enge Verwandtschaft mit dem öffentlichen Beschaffungswesen auf. Die zuständige Behörde muss unter verschiedenen Angeboten oder Gesuchen jenes auswählen, das den massgebenden öffentlichen Interessen am besten Rechnung trägt. Das Recht liefert dafür nur einen Rahmen.

Mitunter ist es notwendig, dass Streitigkeiten rasch aus dem Weg geräumt werden, weil sonst die Leistungen zugunsten der Öffentlichkeit nicht rechtzeitig erbracht werden können.

Markenschutz Nach geltendem Recht ist die Beschwerde in Zivilsachen unzulässig gegen Entscheide, die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen eine Marke getroffen worden sind (Art. 73 BGG).14 Seit 2017 gilt im Markenschutzgesetz ein vereinfachtes Verfahren zur Löschung von Marken wegen Nichtgebrauchs. 15 Über den gegen den Markeninhaber gestellten Löschungsantrag entscheidet, gleich wie beim Widerspruchsverfahren, das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum (IGE). Sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im erwähnten Löschungsverfahren müssen der Gebrauch oder Nichtgebrauch einer Marke und die allfälligen wichtigen Gründe für den Nichtgebrauch nur glaubhaft gemacht werden. Die Inhaber bisheriger Marken können dadurch ihre Rechte relativ leicht verteidigen. Gegen die Entscheide des IGE kann beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde geführt werden.

Für diese in der Regel klaren Fälle genügt es,
wenn das Bundesgericht als zweite Beschwerdeinstanz nur ausnahmsweise angerufen werden kann. Der Revisionsentwurf unterstellt daher die Entscheide aus dem vereinfachten Löschungsverfahren der gleichen Beschränkung wie Entscheide aus dem Widerspruchsverfahren (Art. 73 E-BGG). Die Beschwerde an das Bundesgericht ist nur in den Fällen nach Artikel 89a E-BGG zulässig.

14 15

Vgl. die Art. 31­34 des Markenschutzgesetzes vom 28. Aug. 1992 (MSchG, SR 232.11).

Art. 35 Bst. e und 35a­35c MSchG.

4614

BBl 2018

1.2.3

Neue Beschränkungen (insbesondere Ausnahmetatbestände) für Beschwerden in Strafsachen

Damit die heutige Fehlbelastung des Bundesgerichts korrigiert wird und die (teilweise) Neuregelung des Zugangs zum Bundesgericht nicht zu einer Mehrbelastung des Bundesgerichts führt, braucht es eine Entlastung bei aus Sicht der Rechtseinheit weniger bedeutenden Fällen, namentlich bei Bagatellfällen und bei Fällen, in denen erfahrungsgemäss meistens bloss (unzulässige) Sachverhaltsrügen vorgebracht werden. Der individuelle Rechtsschutz ist in diesen Fällen durch die gerichtlichen Vorinstanzen, das heisst die oberen kantonalen Gerichte, das Bundesstrafgericht und das Bundesverwaltungsgericht ausreichend gewährleistet.

Entlastungsmöglichkeiten für das Bundesgericht sieht die Vorlage namentlich für gewisse Bereiche des Strafrechts vor (zum öffentlichen Recht vgl. Ziff. 1.2.2). Nach dem neuen Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a E-BGG soll künftig gegen Bussen bis 5000 Franken wegen Übertretungen grundsätzlich nicht mehr beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden können, soweit mit der Beschwerde nicht eine Strafe verlangt wird, die diese Grenze übersteigt. Solche Bussen werden nach heutigem Recht in der Regel auch nicht ins Strafregister eingetragen. Eine entsprechende Einschränkung der Beschwerdemöglichkeit wird auch bei Verweisen oder Bussen nach Jugendstrafrecht, die wegen Übertretungen ausgesprochen werden, vorgesehen.

Wird in der Beschwerde eine andere Strafe nach Jugendstrafrecht verlangt, zum Beispiel eine persönliche Leistung oder Freiheitsentzug, so ist die Beschwerde zulässig.

Entscheide der Beschwerdekammern des Bundesstrafgerichts und der Beschwerdeinstanzen der Kantone nach Artikel 20 StPO sollen nur dann beim Bundesgericht mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden können, wenn sie Zwangsmassnahmen, vorsorgliche Schutzmassnahmen oder die Beobachtung nach Jugendstrafrecht oder wenn sie die Nichtanhandnahme oder die Einstellung der Strafuntersuchung betreffen (Art. 79 Abs. 1 Bst. b E-BGG). Für Entscheide der Beschwerdekammern des Bundesstrafgerichts gilt eine entsprechende Einschränkung schon heute, allerdings ohne Vorbehalt zugunsten der Nichtanhandnahme oder der Einstellung der Strafuntersuchung (Art. 79 BGG). In den genannten Bereichen ist die Beschwerde gegen Entscheide der Beschwerdekammern des Bundesstrafgerichts nach dem Entwurf jedoch zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung stellt oder wenn es sich aus anderen Gründen um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 79 Abs. 2 i. V. m. Art. 89a Abs. 1 E-BGG). Ist die Beschwerde in Strafsachen gegen Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen nach Artikel 79 Absatz 1 E-BGG ausgeschlossen, so bleibt die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nach den Artikeln 113 ff. BGG vorbehalten. Bei Entscheiden nach Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe b E-BGG ist zudem die Beschwerde in Strafsachen zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (Art. 79 Abs. 2 i. V. m. Art. 89a Abs. 3 E-BGG). Diese zusätzliche Beschwerdemöglichkeit wird vorgesehen, weil die subsidiäre Verfassungsbeschwerde der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung steht.

Eine weitere Entlastung wird mit einer Einschränkung des Beschwerderechts der Privatklägerschaft in Strafsachen angestrebt. Gemäss Artikel 81 BGG setzt die 4615

BBl 2018

Beschwerdeberechtigung in Strafsachen unter anderem ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids voraus (Abs. 1 Bst. b). Dieses Interesse wird in einer nicht abschliessenden Aufzählung auch der Privatklägerschaft zuerkannt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 5 BGG). In der ursprünglichen, Anfang 2007 in Kraft getretenen Fassung dieser Bestimmung war grundsätzlich nur das Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes vom 23. März 200716 (OHG) zur Beschwerde berechtigt, soweit sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung seiner Zivilansprüche auswirken konnte, nicht jedoch weitere Geschädigte. Die damalige Fassung stand im Einklang mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung17 und einer Anfang Januar 2001 aufgrund zweier parlamentarischer Initiativen erfolgten Änderung, mit der die im Jahre 1993 eingeführte, weit gefasste Beschwerdelegitimation aller Geschädigten zur Entlastung des Bundesgerichts auf Opfer eingeschränkt wurde.18 Mit dem Inkrafttreten der StPO und des Strafbehördenorganisationsgesetzes vom 19. März 201019 (StBOG) im Januar 2011 wurde die Beschwerdelegitimation auf die Privatklägerschaft ausgeweitet, allerdings nicht vollumfänglich (wie es die Bundesversammlung zuerst bei der Verabschiedung der StPO beschlossen hatte20), sondern lediglich, wenn von Auswirkungen auf die Zivilansprüche auszugehen ist. Damit konnte eine weitgehende Angleichung des Parteibegriffs im gesamten Strafverfahren bis zur letzten Instanz erreicht werden (wie dies in Zivilverfahren und in Verfahren des öffentlichen Rechts üblich ist). Diese Ausweitung des Beschwerderechts hat indes zu einem deutlichen Anstieg der Beschwerden von Geschädigten beziehungsweise Privatklägern oder Privatklägerinnen geführt. Beschwerden, die nicht von Opfern nach OHG eingereicht werden, betreffen relativ häufig nicht materielle Strafurteile, sondern Nichteintretensentscheide oder Entscheide über die Einstellung des Strafverfahrens. 21 Die Erfolgsquote dieser Beschwerden ist deutlich kleiner als der Durchschnittswert für Beschwerden in Strafsachen,22 weil meistens die Sachverhaltswürdigung der Strafbehörden bestritten wird, die das Bundesgericht nur in Ausnahmefällen überprüfen kann (vgl. Art. 97 BGG). Obwohl
für die negativen Entscheide oft eine summarische Begründung genügt, verursachen diese Verfahren ­ allein schon wegen ihrer Anzahl ­ einen nicht unerheblichen Aufwand, der kaum jemandem dient.

Der Bundesrat schlägt deshalb einen Mittelweg vor: In Artikel 81 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer 5 E-BGG werden für das Beschwerderecht der Privatklägerschaft zwei Voraussetzungen genannt, die alternativ erfüllt sein müssen. Wenn die Privatkläger16 17 18

19 20 21

22

SR 312.5 BGE 133 IV 228.

Bericht vom 4. und 8. Sept. 1999 der Geschäftsprüfungskommissionen des Ständerates und des Nationalrates, BBl 1999 9518, und Stellungnahme des Bundesrates vom 4. Okt.

1999, BBl 1999 9606.

SR 173.71 AS 2010 2022 2017 verzeichnete das Bundesgericht 334 Beschwerden einer Privatklägerschaft gegen Einstellungsverfügungen und Nichteintretensentscheide. 66 stammten von Opfern im Sinne des OHG, 268 von anderen Geschädigten.

Von den ungefähr 250 Beschwerden, die 2017 erledigt wurden, sind weniger als 9 % gutgeheissen worden, verglichen mit gut 16 % Gutheissungen für alle Beschwerden in Strafsachen.

4616

BBl 2018

schaft Opfer im Sinne des OHG ist, genügt es, dass sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann. Andere Privatkläger oder Privatklägerinnen sind nur zur Beschwerde berechtigt, wenn ihre Straf- oder Zivilklage im angefochtenen Entscheid in der Sache beurteilt worden ist. Damit entfällt für sie das Beschwerderecht, wenn ein Strafverfahren nicht eingeleitet oder eingestellt worden ist oder wenn eine Vorinstanz auf die Beschwerde nicht eingetreten ist.

Gegenüber der Einschätzung im Evaluationsbericht23 hat der Bundesrat aufgrund der Rückmeldungen des Bundesgerichts hier eine Neubeurteilung vorgenommen. Er ist zum Schluss gekommen, dass neben dem Harmonisierungsgedanken auch der Entlastung des Bundesgerichts und der Verfahrensökonomie Rechnung zu tragen ist.

Hat die Vorinstanz bereits in der Sache über eine Straf- oder Zivilklage entschieden, soll die geschädigte Person aber wie bisher Zugang zum Bundesgericht haben und nicht auf dem Zivilweg wieder von vorne beginnen müssen. In der Vernehmlassung wurde diese Beschränkung des Beschwerderechts der geschädigten Person, die kein Opfer im Sinne des OHG ist, teilweise kritisiert. Dadurch könne der Entscheid, mit dem der Strafklage vorzeitig ein Ende gesetzt werde, nicht mehr durch eine gerichtliche Instanz auf Bundesebene überprüft werde. Namentlich dem Bundesgericht sei es verwehrt, in diesem Bereich die Einhaltung der Maxime «in dubio pro duriore» zu kontrollieren. Dem ist entgegenzuhalten, dass viele Beschwerden, die eine Nichtanhandnahme oder eine Einstellung des Strafverfahrens betreffen, nicht substanziell sind. Die Erfolgsquote vor Bundesgericht ist klar unterdurchschnittlich.24 Zudem gibt es auf kantonaler Ebene mit der Beschwerdeinstanz eine gerichtliche Behörde, die umfassend prüfen kann, ob eine Nichtanhandnahme oder eine Einstellung des Strafverfahrens gerechtfertigt ist.

1.2.4

Änderung der Bedingungen für Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen

Vorsorgliche Massnahmen sind Entscheide mit vorläufigem Charakter, die eine rechtliche Situation im Hinblick auf eine noch ausstehende definitive Regelung in einem späteren Hauptentscheid ordnen. Es kann sich um Sicherungsmassnahmen wie das Einfordern von Sicherheiten im Zivilprozess (Art. 261 der Zivilprozessordnung, ZPO25), um einstweilige Regelungen wie Eheschutzmassnahmen (Art. 172 ff.

ZGB), um vorgezogene Vollzugsmassnahmen wie Besitzesschutzmassnahmen (Art. 926 ff. des Zivilgesetzbuchs, ZGB26) oder schliesslich um verfahrensrechtliche Massnahmen wie die Gewährung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde handeln. Die vorsorglichen Massnahmen sind Endentscheide im Sinne von Artikel 90 BGG, wenn sie in einem eigenen Verfahren getroffen werden, und Zwischenentscheide, wenn sie im Verlauf eines Verfahrens, das auf einen späteren Endentscheid ausgerichtet ist, angeordnet werden. Ein höchstes Gericht wie das Bundesgericht sollte sich nicht mehrere Male mit der gleichen Frage im gleichen Verfahren 23 24 25 26

Bericht vom 30. Okt. 2013 über die Gesamtergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege; BBl 2013 9077, hier 9110.

Vgl. Fussnote 22.

SR 272 SR 210

4617

BBl 2018

befassen müssen. Die Anordnung von vorsorglichen Massnahmen in einem eigenen Verfahren (z. B. Arrestbewilligung) kann aber dazu führen, dass das Bundesgericht sich wiederholt zur gleichen Frage äussern muss (z. B. wenn zuerst der Arrestbefehl und später der Entscheid über die ordentliche Klage angefochten wird).

Um doppelte höchstrichterliche Prüfungen bis zu einem gewissen Grad zu vermeiden und das Verfahren über vorsorgliche Massnahmen eher schlank zu halten, lässt das geltende BGG bei Beschwerden gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen nur die Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu (Art. 98 BGG).

Nach wie vor ist es notwendig, dass die Möglichkeiten, Streitigkeiten über vorsorgliche Massnahmen bis vor Bundegericht zu tragen, begrenzt bleiben. Hingegen ist das Mittel der Beschränkung der Beschwerdegründe auf die Verletzung verfassungsmässiger Rechte aus heutiger Optik nicht überzeugend. Beim Inkrafttreten des BGG im Jahr 2007 richtete sich das Verfahren vor kantonalen Zivil- und Strafgerichten noch nach kantonalem Recht. Wer einen Entscheid über vorsorgliche Massnahmen wegen prozessualer Mängel anfechten wollte, konnte vor Bundesgericht schon deshalb nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend machen, weil sich das Bundesgericht grundsätzlich nur mit der Anwendung von Bundesrecht befasst. Seit dem Inkrafttreten der ZPO und der StPO am 1. Januar 2011 stützen sich vorsorgliche Massnahmen in Zivil- und Strafsachen praktisch ausschliesslich auf Bundesrecht. Ein Rechtsmittel, das im Anwendungsbereich von Bundesrecht nur die Rüge von Verfassungsverletzungen zulässt, ist in der Bundesrechtspflege ein Fremdkörper. Die Bedingungen für Beschwerden gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen müssen daher neu definiert werden.

Der Entwurf macht die Zulässigkeit von Beschwerden an das Bundesgericht gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen von den Kriterien abhängig, die für die Anfechtung von Entscheiden (von Bundesinstanzen) im Bereich der Ausnahmekataloge und Streitwertgrenzen gelten. Die Beschwerde ist zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt (Art. 93b E-BGG; vgl. Art. 89a Abs. 1 E-BGG und Ziff. 1.2.1). Ist eine dieser Voraussetzungen erfüllt, so können alle Beschwerdegründe nach den Artikeln 95­98 BGG geltend gemacht werden.

1.2.5

Weitere Anpassungen

Aufnahme von Minderheitsmeinungen in die schriftlichen Entscheide Die Bundesversammlung stimmte 2015 einer Motion der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats zu, die den Bundesrat beauftragt, eine Änderung des BGG vorzubereiten, damit Urteile des Bundesgerichts auch abweichende Meinungen (Dissenting Opinions) wiedergeben können.27 Der Bundesrat schlägt vor, Artikel 60 BGG in dem Sinne zu ergänzen, dass bei nicht einstimmig ergangenen Entscheiden die Richter und Richterinnen, die mit ihren Anträgen unterlegen sind, ihre begründete Minderheitsmeinung dem schriftlichen Entscheid als Anhang beifügen können. Die Richter und Richterinnen der Minder27

14.3667 Bundesgericht. Dissenting Opinions.

4618

BBl 2018

heit können somit die Argumente, die sie in der öffentlichen Beratung zu unterlegenen Anträgen vorgetragen haben, auch im Entscheid darstellen. Sie sind nicht verpflichtet, dies zu tun.

Auf weitergehende Änderungen am heutigen Urteilsverfahren wird verzichtet. Insbesondere soll daran festgehalten werden, dass ein Entscheid mündlich und öffentlich zu beraten ist, wenn sich im Spruchkörper keine Einstimmigkeit ergibt. Die entsprechende Bestimmung (Art. 58 Abs. 1 Bst. b BGG) war beim Erlass des BGG das Ergebnis einer längeren Diskussion in den eidgenössischen Räten. Ferner wird nicht vorgesehen, dass den Entscheiden auch konkurrierende Meinungen ­ das heisst abweichende Begründungen, die keinen Einfluss auf das Entscheiddispositiv haben ­ beigelegt werden können.

Erhöhung der Obergrenze der Gerichtsgebühren Gestützt auf eine von den Geschäftsprüfungskommissionen in beiden Räten eingereichte Motion verlangte die Bundesversammlung 2017 eine Vorlage zur Anpassung der gesetzlichen Obergrenze der Gerichtsgebühren für Verfahren des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts.28 Die Obergrenzen seien flexibel auszugestalten oder höher festzulegen, damit die beiden Gerichte bei ausserordentlich hohen Streitwerten, besonders komplexen Verfahren oder besonders schwerwiegenden im Streit liegenden Interessen über die heutigen Maximalbeträge hinausgehen können.

Der Revisionsentwurf sieht zwei verschiedene Massnahmen vor, um den Gebührenspielraum nach oben zu erweitern:

28 29

­

Sofern nicht eine reduzierte Gebühr vorgeschrieben ist (Art. 65 Abs. 4 BGG), soll am Bundesgericht die maximale Gebühr beim Vorliegen besonderer Gründe für Streitigkeiten ohne Vermögensinteresse neu 15 000 Franken (bisher 10 000) und für die übrigen Streitigkeiten neu 300 000 Franken (bisher 200 000) betragen (Art. 65 Abs. 5 E-BGG). Am Bundesverwaltungsgericht richtet sich die Gebührenfestsetzung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 196829 (VwVG). Dort soll es künftig auch möglich sein, die ordentlichen Gebührenrahmen beim Vorliegen besonderer Gründe zu überschreiten. Der Maximalbetrag wird damit für Streitigkeiten ohne Vermögensinteresse neu 10 000 Franken (bisher 5000) und für die übrigen Streitigkeiten neu 100 000 Franken (bisher 50 000) betragen (Art. 63 Abs. 6 E-VwVG).

­

Für vermögensrechtliche Angelegenheiten, also Angelegenheiten, in denen ein Streitwert nach den Artikeln 51­53 BGG berechnet werden kann, soll das Bundesgericht die Gebühr noch stärker nach dem finanziellen Interesse bemessen können. Beträgt der Streitwert mehr als hundert Millionen Franken, so ist eine Gerichtsgebühr von bis zu einer Million Franken vorgesehen (Art. 65 Abs. 6 E-BGG).

17.3353/17.3354 Erhöhung der Obergrenze der Gerichtsgebühren des Bundesgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts.

SR 172.021

4619

BBl 2018

Strengere Umsetzung des Grundsatzes, dass Entscheide unterer kantonaler Instanzen nicht direkt beim Bundesgericht anfechtbar sind Die Schaffung des BGG war mit einer Stärkung der Rolle der Vorinstanzen verbunden. Grundsätzlich können nach dem BGG nur Entscheide von Gerichten beim Bundesgericht angefochten werden. Soweit es sich um kantonale Gerichte handelt, muss die Vorinstanz des Bundesgerichts ein oberes Gericht sein. Eine direkte Beschwerde gegen Entscheide von Verwaltungsbehörden ist einzig im Bereich der Stimmrechtssachen (Art. 88 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 zweiter Satz BGG) sowie bei kantonalen Entscheiden mit vorwiegend politischem Charakter (Art 86 Abs. 3 BGG) möglich.

Nach den Artikeln 80 Absatz 2 und 86 Absatz 2 BGG kann ausnahmsweise gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts und anderer unterer kantonaler Gerichte direkt beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden, wenn die Strafprozessordnung oder ein anderes Bundesgesetz dies vorsieht. Diese Ausnahmen sollen mit der vorliegenden Revision abgeschafft werden, damit die mit dem Ausbau der Vorinstanzen bezweckte Entlastung des Bundesgerichts in allen Bereichen zum Tragen kommt. In der StPO müssen die entsprechenden Anpassungen vorgenommen werden. Es geht namentlich um Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts oder des urteilenden Gerichts über die Entsiegelung (Art. 248 Abs. 3 StPO)30, die stationäre Begutachtung (Art. 186 StPO) oder die Zusicherung der Anonymität einer geschützten Person (Art. 150 Abs. 2 StPO), ferner um Entscheide der zuständigen kantonalen Instanz über strittige Ausstandsbegehren (Art. 59 Abs. 1 Bst. a StPO) oder über die Leistung von Sicherheit für die Ansprüche der beschuldigten Person gegenüber der Privatklägerschaft (Art. 125 Abs. 2 und 4 StPO). Zu ändern ist zudem je eine Bestimmung des Verrechnungssteuergesetzes vom 13. Oktober 196531 (VStG) und des Bundesgesetzes vom 12. Juni 195932 über die Wehrpflichtersatzabgabe (WPEG).

Harmonisierung der Beschwerdegründe in allen Sozialversicherungszweigen Mit Beschwerden gegen die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder der Unfallversicherung kann heute noch jede unrichtige oder unvollständige Sachverhaltsfeststellung gerügt werden (Art. 97 Abs. 2 und 105 Abs. 3 BGG). Dies im Unterschied zu den anderen Sozialversicherungszweigen, wo die allgemeine
Regel gilt, dass beim Bundesgericht die Sachverhaltsfeststellung nur gerügt werden kann, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht und wenn ausserdem die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Ausnahmeregelung betreffend Geldleistungen der Militär- und der Unfallversicherung lässt sich ­ jedenfalls seit sie für die Invalidenversicherung abgeschafft worden ist33 ­ nicht mehr rechtfertigen. Im Interesse der Entlastung des Bundesgerichts sollen die Bestimmungen gemäss der heutigen Fassung der Artikel 97 Absatz 2 und 105 Absatz 3 BGG daher aufgehoben werden.

30 31 32 33

Vgl. hierzu Entscheid des Bundesgerichts 1B_595/2011 vom 21. März 2012 und BGE 138 IV 225 (1B_397/2012) unveröffentlichte E. 1.

SR 642.21 SR 661 AS 2006 2003

4620

BBl 2018

Fristenstillstand und besondere Beschwerdefristen In der Praxis hat sich das Bedürfnis nach einer Erweiterung der Ausnahmen vom gesetzlichen Fristenstillstand (dieser gilt grundsätzlich über Weihnachten, Ostern und von Mitte Juli bis Mitte August) gezeigt. Neu soll es auch keinen Fristenstillstand geben in bundesgerichtlichen Verfahren betreffend Schutzmassnahmen und Rückführungsentscheide nach dem Bundesgesetz vom 21. Dezember 200734 über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen (BG-KKE), in Verfahren über Zwangsmassnahmen nach der StPO,35 in Verfahren zu Entscheiden über öffentliche Kaufangebote nach dem Finanzmarktinfrastrukturgesetz vom 19. Juni 201536 (FinfraG) sowie in allen Verfahren betreffend internationale Amtshilfe. Die seit dem 1. November 2015 geltende Ausnahme für Stimmrechtssachen wird eingeschränkt auf Verfahren betreffend die ordnungsgemässe Durchführung von Volkswahlen und -abstimmungen, damit der Anwendungsbereich gleich ist wie bei der verkürzten Beschwerdefrist (Art. 46 Abs. 2 Bst. b, c, e­g E-BGG).

Bei den Ausnahmen von der ordentlichen 30-tägigen Beschwerdefrist soll neu auch für Entscheide über öffentliche Kaufangebote nach dem FinfraG und für alle Entscheide über internationale Amtshilfe die Beschwerdefrist von zehn Tagen vorgesehen werden (Art. 100 Abs. 2 Bst. b und e E-BGG). Für die speziellen Beschwerdefristen in Stimmrechtssachen wird aus redaktionellen Gründen ein separater Artikel vorgeschlagen (Art. 101a E-BGG). Dort soll neu für alle Beschwerden, die die ordnungsgemässe Durchführung von Volkswahlen oder -abstimmungen betreffen, die fünftägige Beschwerdefrist vorgesehen werden; ausgenommen bleiben die Nationalratswahlen mit der Beschwerdefrist von drei Tagen. Bisher galt die Frist von fünf Tagen nur bei eidgenössischen Abstimmungen. Das Bedürfnis nach einer raschen Klärung, ob eine Wahl oder Abstimmung gültig ist oder allenfalls verschoben oder wiederholt werden muss, besteht aber in gleicher Weise bei kantonalen Angelegenheiten, insbesondere bei Wahlen in den Ständerat.

Gütliche Einigung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Revisionsgrund Nach Artikel 122 BGG kann die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts verlangt werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass im betreffenden Fall die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und wenn gewisse zusätzliche Bedingungen erfüllt werden. Kommt es im Verfahren vor dem Gerichtshof zu einer gütlichen Einigung, so erlässt der Gerichtshof nicht ein endgültiges Urteil nach Artikel 44 EMRK, sondern eine «Entscheidung» nach Artikel 39 Absatz 3 EMRK. Mit einer solchen Entscheidung des Gerichtshofs kann nach dem Wortlaut des BGG nicht um Revision des bundesgerichtlichen Entscheids ersucht werden. Dies schränkt die Aussichten auf eine gütliche Einigung vor dem Gerichtshof ein, weil sich die beschwerdeführende Partei unter Umständen nicht damit abfinden kann, dass der

34 35 36

SR 211.222.32 Vgl. BGE 143 IV 357 E. 1.2.1.

SR 958.1

4621

BBl 2018

Entscheid des Bundesgerichts formell rechtkräftig bleibt (zum Beispiel eine strafrechtliche Verurteilung, die im Strafregister eingetragen wird).

Im Nationalrat wurde am 27. September 2016 eine parlamentarische Initiative eingereicht, die verlangt, dass in Artikel 122 BGG auch gütliche Einigungen als Revisionsgrund berücksichtigt werden.37 Die Kommissionen für Rechtsfragen beider Räte sprachen sich am 2. November 2017 und 26. April 2018 dafür aus, der parlamentarischen Initiative Folge zu geben. Der Bundesrat betrachtet das Anliegen dieser parlamentarischen Initiative als berechtigt und beantragt, Artikel 122 BGG im Rahmen der vorliegenden Gesetzesrevision entsprechend zu ändern.

Interne Rekurskommission des Bundesgerichts für arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit seinem Personal Seit dem Inkrafttreten der Änderung vom 14. Dezember 201238 des Bundespersonalgesetzes vom 24. März 200039 (BPG) fehlt eine gesetzliche Grundlage für die Einsetzung einer gerichtsinternen Rekurskommission, die arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit dem Gerichtspersonal beurteilt. Die interne Beschwerde wurde damals für den ganzen Geltungsbereich des BPG abgeschafft. Gegenwärtig können Angestellte des Bundesgerichts nur die Spezialrekurskommission nach Artikel 36 Absatz 2 BPG anrufen, die sich aus drei Präsidenten bzw. Präsidentinnen kantonaler Gerichte zusammensetzt.

Mit der vorliegenden Revision soll eine gesetzliche Grundlage für die interne Rekurskommission im BGG geschaffen werden (Art. 25 Abs. 2 E-BGG). Das Bundesgericht ist die einzige Bundesbehörde, deren personalrechtliche Entscheide nicht beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden können. Die Wiedereinsetzung der internen Rekurskommission erscheint daher gerechtfertigt; sie entspricht auch einem Anliegen des Personals des Bundesgerichts.

1.3

Begründung und Bewertung der vorgeschlagenen Lösung

Die Zulassung einer beschränkten Beschwerde bei allen Entscheiden, die unter einen Ausnahmekatalog fallen, insbesondere auch bei Entscheiden des Bundesverwaltungsgerichts, entspricht der Forderung aus der Evaluation der Bundesrechtspflege, dass Grundsatzfragen der Anwendung von Bundes- und Völkerrecht letztinstanzlich immer vom Bundesgericht beantwortet werden sollen. Gleichzeitig muss das Bundesgericht mehr als bisher von Geschäften entlastet werden, die eher als Bagatellfälle einzuordnen sind oder ein Gebiet betreffen, wo gehäuft aussichtslose Beschwerden eingereicht werden. Diesem Zweck dienen vor allem die Neuformulierung des Ausnahmetatbestands für das Ausländerrecht (Ziff. 1.2.2) und die neuen Beschränkungen für Beschwerden in Strafsachen (Ziff. 1.2.3). Bei den Strafsachen wurde am

37 38 39

16.461 Parlamentarische Initiative Nidegger. EMRK, Strafregister, Restitutio in integrum.

Bundesgerichtsgesetz anpassen.

AS 2013 1493 SR 172.220.1

4622

BBl 2018

Bundegericht in den letzten Jahren eine sehr starke Geschäftszunahme beobachtet, die zu einer Überlastungssituation geführt hat.40 Nach Auffassung des Bundesrates bilden die vorgeschlagenen Massnahmen insgesamt eine ausgewogene Lösung. Dass die Vorlage die Beschwerdemöglichkeiten nicht nur ausbaut, sondern für gewisse Fallkategorien auch gezielt einschränkt, ist unumgänglich. Ein einschneidender Abbau des individuellen Rechtsschutzes ist aber nicht zu befürchten, zumal die Beschwerde an das Bundesgericht bei wichtigen Fragen möglich sein wird (Ziff. 1.2.1) und an der subsidiären Verfassungsbeschwerde festgehalten wird.

Im Vernehmlassungsverfahren stiess der Vorschlag, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Vorbehalt gesetzlicher Sonderregelungen nur noch Sachverhalts- und Rechtsfragen, nicht aber reine Ermessensfragen (Angemessenheit) prüfen soll, auf ziemlich breite Ablehnung.41 Der vorliegende Gesetzesentwurf ändert daher die Prüfungsbefugnis des Bundesverwaltungsgerichts nicht. Das Bundesverwaltungsgericht selbst hatte sich bereits 2014 mit deutlicher Mehrheit gegen eine solche Änderung ausgesprochen.

Die Vernehmlassungsvorlage sah noch vor, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde abzuschaffen. An ihre Stelle wäre die Beschwerde bei einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung oder einem besonders bedeutenden Fall getreten (analog zu Art. 89a Abs. l E-BGG). Dem Verzicht auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde erwuchs seitens einiger Vernehmlassungsteilnehmer heftige Opposition. Es wurde insbesondere bemängelt, mit den Kriterien der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung und des besonders bedeutenden Falls sei nicht garantiert, dass das Bundesgericht im Anwendungsbereich der Ausnahmekataloge und Streitwertgrenzen auf alle Beschwerden gegen kantonale Entscheide eintreten müsse, in denen eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt wird. Mit anderen Worten sei das Auffangnetz der Beschwerdemöglichkeit bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder besonders bedeutenden Fällen zu wenig engmaschig, so dass allenfalls Verletzungen verfassungsmässiger Rechte durch letzte kantonale Instanzen vor Bundesgericht nicht korrigiert würden. Die Vorinstanzen könnten sogar dazu verleitet werden, bei der Anwendung der verfassungsmässigen Rechte weniger genau zu sein. Eine solche Entwicklung müsse
im Ansatz vermieden werden.

Die geltend gemachten Einwände sind nachvollziehbar, insbesondere in den Bereichen des öffentlichen Beschaffungsrechts und des Ausländerrechts. Hier muss sichergestellt werden, dass das Bundesgericht Rügen betreffend die Verletzung verfassungsmässiger Rechte prüft und sich nicht bloss darauf beruft, es stelle sich weder eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung noch liege aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vor.42

40 41 42

Geschäftsbericht 2016 des Bundesgerichts, S. 2 und 9.

Vgl. den Ergebnisbericht vom 4. Aug. 2017 unter: www.admin.ch > Bundesrecht > Vernehmlassungen > Abgeschlossenene Vernehmlassungen > 2015 > EJPD.

Vgl. die Gutheissung der subsidiären Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Entscheid des Bundesgerichts 2C_233/2016 vom 17. Nov. 2016.

4623

BBl 2018

Der Bundesrat hat sich daher entschieden, im Interesse der Rechtssuchenden an der subsidiären Verfassungsbeschwerde festzuhalten, selbst mit dem Risiko gewisser Doppelspurigkeiten. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist ein bewährter Pfeiler des schweizerischen Rechtsschutzsystems und steht exemplarisch für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat. Sie kann nicht als wesentlicher Grund für die relativ hohe Belastung des Bundesgerichts gesehen werden. 2017 beurteilte das Bundesgericht 417 subsidiäre Verfassungsbeschwerden, wogegen sich die Gesamtzahl der erledigten Rechtsmittel auf 7782 belief. Der weitaus grösste Teil der subsidiären Verfassungsbeschwerden wird mit Nichteintreten oder Abweisung entschieden, doch dürfte dies bei den Beschwerden, die eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung oder einen besonders bedeutenden Fall voraussetzen, nicht anders sein.

Im Bereich der politischen Rechte reichen die Zuständigkeiten des Bundesgerichts heute bei eidgenössischen Angelegenheiten weniger weit als bei kantonalen. Dies obwohl Artikel 189 Absatz 1 Buchstabe f BV mit der Justizreform im Jahr 2000 so formuliert wurde, dass das Bundesgericht für die Beurteilung von Streitigkeiten wegen Verletzung von eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die politischen Rechte in gleicher Weise zuständig ist.43 In kantonalen Angelegenheiten können alle behördlichen Akte, die die politischen Rechte der Stimmberechtigten verletzen, bis vor Bundesgericht angefochten werden (Art. 88 Abs. 2 BGG). Für eidgenössische Angelegenheiten kann eine gleichwertige Garantie hingegen weder aus dem BGG noch aus dem Bundesgesetz vom 17. Dezember 197644 über die politischen Rechte noch aus dem VwVG abgeleitet werden.

Insbesondere regelt das Gesetz nicht, welcher Rechtsschutz besteht, wenn Stimmberechtige geltend machen wollen, ein Akt des Bundesrates oder der Bundesversammlung verletze die Garantie der freien Willensbildung und der unverfälschten Stimmabgabe (Art. 34 Abs. 2 BV). Der Bundesrat hatte aufgrund dieser Ausgangslage in seinem Evaluationsbericht zur neuen Bundesrechtspflege Gesetzesänderungen in Aussicht gestellt.45 Nach eingehender Auseinandersetzung kam der Bundesrat anlässlich der Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens jedoch zum Schluss, dass der Rechtsschutz der Stimmberechtigten wie
auch der Rechtsweg, der einzuschlagen ist, wenn sich eine Unregelmässigkeit in mehreren Kantonen auswirkt, aufgrund der neueren Bundesgerichtspraxis46 ausreichend geklärt sei. Es bestehe daher kein Bedarf, die Rechtsschutzbestimmungen im Bereich der politischen Rechte anzupassen. Diese Beurteilung ist aus Sicht des Bundesrates immer noch gültig. Er hat aber davon Kenntnis genommen, dass im Vernehmlassungsverfahren auch die gegenteilige Auffassung vertreten wurde, insbesondere von mehreren Kantonen.47

43 44 45 46 47

Vgl. dazu die Ausführungen in der Botschaft vom 20. Nov. 1996 (BBl 1997 I 1, hier 530 f.).

SR 161.1 BBl 2013 9077, hier 9107.

BGE 138 I 61 E. 7.4; 140 I 338 (1C_372/2014) unveröffentlichte E. 3.1.; Entscheid des Bundesgerichts 1C_63/2015 vom 24. Aug. 2015 E. 2.2.

Kantone Aargau, Basel-Stadt, Bern, Genf, Schaffhausen, Solothurn.

4624

BBl 2018

1.4

Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption des Europarates

Die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates (GRECO) befasst sich in ihrer vierten Evaluationsrunde mit der Prävention von Korruption bei Mitgliedern von Parlamenten, Gerichten und Staatsanwaltschaften. Im Evaluationsbericht vom 2. Dezember 2016 (GRECO-Bericht)48 attestiert sie der Schweiz, dass ihre Institutionen grosses öffentliches Vertrauen geniessen und in mehrfacher Hinsicht anders als in repräsentativen Demokratien funktionieren. Gravierende Korruptionsskandale im Justizbereich seien rar, ja inexistent. Die Schwächen des Systems lägen vielmehr im subtilen Druck, der aufgrund seiner Organisation auf die gerichtlichen Akteure ausgeübt werden könne, und in der geringen Neigung, dies in Frage zu stellen. 49 In der Schweiz würden die Mitglieder der eidgenössischen Gerichte durch die politischen Kräfte in der Bundesversammlung gewählt. Die GRECO anerkennt die Rechtmässigkeit dieses Systems, das einer langen schweizerischen Tradition entspricht.

Die GRECO empfiehlt der Schweiz jedoch, Garantien einzuarbeiten, um die Qualität und die Objektivität bei der Rekrutierung von Mitgliedern der eidgenössischen Gerichte besser zu berücksichtigen (Empfehlung 6). Nach der Wahl seien die Verbindungen zu den politischen Kräften unbedingt zu kappen. Deshalb sei die Praxis aufzugeben, wonach die eidgenössischen Richter und Richterinnen einen Teil ihres Gehalts an ihre Partei überweisen; ebenfalls sei sicherzustellen, dass die gefällten Entscheide nicht als Begründung für eine Nichtwiederwahl durch die Bundesversammlung dienten; zudem solle erwogen werden, das Wiederwahlverfahren zu revidieren oder abzuschaffen (Empfehlung 7). Als weitere Massnahmen empfiehlt die GRECO, die Standesregeln für die Richterschaft weiterzuentwickeln (Empfehlung 8) und für die Mitglieder der eidgenössischen Gerichte ein Disziplinarverfahren einzuführen, mit dem allfällige Verstösse gegen die beruflichen Pflichten mit anderen Sanktionen als der Amtsenthebung geahndet werden können (Empfehlung 9). 50 Im Rahmen der vorliegenden Botschaft nimmt der Bundesrat nur zu den Empfehlungen 7 und 9, die sich primär an den Gesetzgeber oder den Verfassungsgeber richten, Stellung (Überprüfung des Wiederwahlsystems, Unterbindung der sogenannten Mandatssteuer und Einführung eines Disziplinarverfahrens).

Für alle Richter und Richterinnen der
eidgenössischen Gerichte gilt die gleiche Amtsdauer von sechs Jahren (Art. 145 BV, Art. 9 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 200551, VGG; Art. 48 Abs. 1 StBOG; Art. 13 Abs. 1 des Patentgerichtsgesetzes vom 20. März 200952, PatGG). Eine Wiederwahl ist bis zum Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren unbeschränkt möglich. Die relativ kurze Amtsdauer der Richter und Richterinnen mit der Wiederwahlmöglichkeit entspricht

48 49 50 51 52

Vgl. unter: www.bj.admin.ch > Sicherheit > Korruption.

GRECO-Bericht, Rz. 1.

GRECO-Bericht, Rz. 4, 83 ff.

SR 173.32 SR 173.41

4625

BBl 2018

einer langen Tradition.53 Sie gilt als Ausdruck des demokratischen Systems der Schweiz. Die Wiederwahl erneuert die demokratische Legitimation für die Richter und Richterinnen. Bisher wurden immer alle Mitglieder der eidgenössischen Gerichte, die sich zur Wiederwahl stellten, wiedergewählt. Im Dezember 1990 wurde ein Bundesrichter allerdings erst im zweiten Wahlgang wiedergewählt.54 Der Bundesrat anerkennt, dass Druckversuche von Seiten der politischen Kräfte nicht ganz ausgeschlossen werden können.55 Das System der Wiederwahl verlangt von den Parlamentsmitgliedern und den Parteien ein besonderes Bewusstsein für die Unabhängigkeit der Justiz. Ob der Wechsel zu einer Richterwahl auf eine einmalige längere Amtsdauer oder auf unbestimmte Zeit (wie im Kanton Freiburg) tatsächlich mehr Gewähr für die richterliche Unabhängigkeit bieten würde, bleibt offen. Für eine solche Reform wäre eine Anpassung der Bundesverfassung (Art. 145 BV) und ein vorangehendes Vernehmlassungsverfahren notwendig. Im Grossen und Ganzen hat sich das System der periodischen Wiederwahl der Richter und Richterinnen aber bewährt. Mit Blick auf die politischen Mehrheitsmeinungen sieht der Bundesrat daher davon ab, eine Abschaffung des Wiederwahlerfordernisses vorzubereiten.

Die sogenannte Mandatssteuer oder Mandatsabgabe ist in der Schweiz allgemein üblich. Angesichts der fehlenden staatlichen Parteienfinanzierung tragen die freiwilligen oder vereinbarten Abgaben auf den Gehältern von Amtsträgern auf Bundesebene der Mitglieder des Bundesrates, der eidgenössischen Räte sowie der eidgenössischen Gerichte massgebend zur Äufnung der Parteikassen bei. Während die Mandatsabgabe an die Parteien für die Mitglieder der politischen Organe als Gegenleistung für den Support bei den Wahlen verstanden werden kann, stellen sich bei der Mandatsabgabe auf Richtergehältern verschiedene Fragen im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit und deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung. 56 Der Bundesrat ist jedoch der Ansicht, dass eine Unterbindung der Mandatsabgaben im Moment politisch nicht mehrheitsfähig ist. Er verzichtet deshalb darauf, den eidgenössischen Räten hierzu eine Bestimmung im BGG vorzuschlagen.57 Das geltende Recht sieht für die Mitglieder des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesstrafgerichts und des Bundespatentgerichts ein
Amtsenthebungsverfahren vor, das teilweise eine ähnliche Funktion hat wie eine Disziplinarverfahren. Danach kann die Bundesversammlung einen Richter oder eine Richterin vor Ablauf der Amtsdauer des Amtes entheben, wenn er oder sie vorsätzlich oder grob fahrlässig 53

54 55

56 57

Die Amtsdauer von sechs Jahren besteht seit der Einrichtung eines festen Bundesgerichts im Jahr 1875. Zuvor waren die Richter nur nebenamtlich tätig. Sie mussten sich alle drei Jahre einer Bestätigungswahl stellen. Vgl. Thomas Hugi Yar / Andreas Kley, in: Niggli / Uebersax / Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl.

2011, Art. 9 BGG Rz. 2 mit Hinweisen.

Vgl. dazu Hugi Yar / Kley, a.a.O. (Fn. 54), Art. 9 BGG Rz. 3d.

Dies kann etwa dadurch geschehen, dass Richter und Richterinnen, die an einem missliebigen oder kontroversen Urteil beteiligt waren, bei den Bestätigungswahlen erhebliche Stimmeneinbussen erleiden.

Vgl. hierzu Giuliano Racioppi, Die moderne «Paulette»: Mandatssteuern von Richterinnen und Richter, in: Justice ­ Justiz ­ Giustizia 2017/3.

Eine allfällige Regelung könnte etwa in einem neuen Abs. 2bis von Art. 6 BGG (Unvereinbarkeit) verankert werden: «Sie [die Richter und Richterinnen] dürfen sich nicht verpflichten, einer politischen Partei Beiträge zu zahlen, die die ordentlichen Mitgliederbeiträge übersteigen.»

4626

BBl 2018

Amtspflichten schwer verletzt hat (Art. 10 Bst. a VGG, Art. 49 Bst. a StBOG, Art. 14 Bst. a PatGG).58 Zuständig für die Vorbereitung einer Amtsenthebung ist die Gerichtskommission (Art. 40a Abs. 1 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 200259, ParlG). Die Geschäftsprüfungskommissionen und die Finanzdelegation bringen dabei Feststellungen, welche die fachliche oder persönliche Eignung von Richterinnen und Richtern ernsthaft in Frage stellen, der Gerichtskommission zur Kenntnis (Art. 40a Abs. 6 ParlG). Auch die Verwaltungskommission des Bundesgerichts kann entsprechende Feststellungen, die sie im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit über die erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte gemacht hat, der zuständigen Parlamentskommission mitteilen.60 Die Verwaltungskommission des Bundesgerichts kann zudem eine Voruntersuchung anordnen, wenn die Amtsenthebung eines Gerichtsmitglieds in Betracht fällt.61 Die Gerichtskommission hat das anzuwendende Verfahren bei einer Amtsenthebung in Handlungsgrundsätzen festgelegt. 62 Für die Richter und Richterinnen des Bundesgerichts besteht kein Amtsenthebungsverfahren.

Einer Amtsenthebung gleichkommen kann auch eine Nichtwiederwahl. Wie oben dargelegt, werden die Richter und Richterinnen der eidgenössischen Gerichte von der Bundesversammlung auf eine relativ kurze Amtszeit von sechs Jahren gewählt.

Die Bundesversammlung hat folglich die Möglichkeit, einen Richter oder eine Richterin bei schweren Amtspflichtverletzungen nicht wiederzuwählen. Das Verfahren für die Vorbereitung einer Nichtwiederwahl richtet sich nach den gleichen Handlungsgrundsätzen der Gerichtskommission wie beim Verfahren für die Vorbereitung einer Amtsenthebung. Dies gilt auch bezüglich der Nichtwiederwahl von Richtern und Richterinnen des Bundesgerichts.

Für die blosse Vernachlässigung oder die einfache Verletzung von Amtspflichten, die keine Amtsenthebung oder Nichtwiederwahl rechtfertigen, sieht das geltende Recht keine Disziplinarmassnahmen vor. Diesbezügliche Diskussionen gab es zwar im Zusammenhang mit der Erarbeitung eines Entwurfs für ein Bundesgesetz über die Justizkommission.63 So findet sich in entsprechenden Vorentwürfen (zum Strafgerichtsgesetz) zuhanden der Kommission des Ständerates neben der heutigen Bestimmung zum Amtsenthebungsverfahren auch die Bestimmung, dass die Bundesversammlung
gegen Richter und Richterinnen, die ihre Amtspflichten vorsätzlich oder fahrlässig verletzt haben, einen Verweis oder eine Busse bis 10 000 Franken aussprechen kann. Diese Regelung wurde indes nicht weiterverfolgt. Vielmehr wurde ein informelles Vorgehen vorgeschlagen, wonach die Justizkommission den

58

59 60 61 62

63

Das Amtsenthebungsverfahren greift auch dann, wenn ein Richter oder eine Richterin die Fähigkeit, das Amt auszuüben, auf Dauer verloren hat. Diese zweite Möglichkeit einer Amtsenthebung dient indessen nicht der Ahndung einer Pflichtverletzung. Es handelt sich folglich dabei nicht um eine Disziplinarmassnahme.

SR 171.10 Art. 8 Abs. 2 des Aufsichtsreglements des Bundesgerichts vom 11. Sept. 2006 (AufRBGer; SR 173.110.132).

Art. 8 Abs. 1 AufRBGer.

Handlungsgrundsätze der Gerichtskommission vom 3. März 2011 zum Verfahren der Kommission im Hinblick auf eine Amtsenthebung oder eine Nichtwiederwahl, BBl 2012 1271.

E-JKG; BBl 2002 1199

4627

BBl 2018

Richter oder die Richterin und die Gerichtsleitung darauf aufmerksam macht, wenn eine Vernachlässigung oder Verletzung einer Amtspflicht festgestellt wird. 64 Die Möglichkeit, informell auf fehlbare Richter und Richterinnen einzuwirken, ist zwar im geltenden Recht nicht ausdrücklich vorgesehen, aber auch nicht ausgeschlossen, solange dadurch nicht die Rechtsprechung oder die richterliche Unabhängigkeit tangiert wird. Eine informelle Einflussnahme geschieht primär durch die Wahrnehmung von Führungsverantwortung durch die einzelnen Gerichte selber und indirekt auch im Rahmen der bestehenden Aufsichtsverfahren. Das Bundesgericht geht in seiner Praxis zur administrativen Aufsicht über das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesstrafgericht und das Bundespatentgericht vom Prinzip der Subsidiarität aus. Die Aufsicht will laut Bundesgericht primär sicherstellen, dass die beaufsichtigten Gerichte mit geeigneten Führungs- und Verwaltungsmassnahmen selber dafür sorgen, dass die ihnen obliegenden Verwaltungs- und Führungsaufgaben umfassend wahrgenommen werden. Die Führung der Richterinnen und Richter obliegt somit ­ unter Vorbehalt von derer fachlicher Unabhängigkeit ­ in erster Linie den erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichten selbst. Das Bundesgericht hat in seiner Funktion als Aufsichtsbehörde über die erstinstanzlichen eidgenössischen Gerichte keine Disziplinargewalt über die Richterinnen und Richter der beaufsichtigten Gerichte, da hierfür die gesetzliche Grundlage fehlt.65 Demnach hat das Bundesgericht bei fehlbarem Verhalten von Richtern oder Richterinnen nur beschränkte Interventionsmöglichkeiten diesen gegenüber. Es kann im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit die beaufsichtigte Instanz lediglich anhalten, den Mängeln abzuhelfen.

Mangels gesetzlicher Grundlage dürften auch die Interventionsmöglichkeiten der parlamentarischen Oberaufsicht (insbesondere durch die Geschäftsprüfungskommissionen und die Finanzdelegation) nicht weiter gehen. Wie oben dargelegt, melden die Oberaufsichtsbehörden jedoch Vorkommnisse der Gerichtskommission. Diese hat zu prüfen, ob der Tatbestand für eine Amtsenthebung gegeben ist. Weniger weitgehende Massnahmen gegen einen Richter oder eine Richterin kann sie der Bundesversammlung indessen nicht beantragen.

Grössere Probleme sind unter dem bisherigen System nicht aufgetreten. Die
informellen Verfahren entsprechen der schweizerischen Tradition und erlauben eine angepasste Lösung. Bei schweren Amtspflichtverletzungen stehen das Amtsenthebungsverfahren oder das Verfahren auf Nichtwiederwahl zur Verfügung. Das Richteramt setzt eine grosse Integrität voraus. Laufende Disziplinarverfahren könnten die Autorität des Gerichts schwächen. Amtspflichtverletzungen stellen eine Ausnahme dar. Es ist besser, bei der Auswahl der Richter und Richterinnen hohe Anforderungen zu stellen, als ein Disziplinarrecht einzuführen. Schliesslich macht ein differenziertes Disziplinarverfahren nur Sinn, wenn eine Wahl auf eine längere oder eine unbestimmte Dauer vorgesehen wird. Der Bundesrat verzichtet deshalb darauf, den eidgenössischen Räten eine Regelung für ein eigentliches Disziplinarrecht vorzuschlagen.

64 65

Art. 17 Abs. 1 E-JKG; vgl. dazu den Zusatzbericht der RK-S vom 16. November 2001 zum E-JKG (BBl 2002 1181, hier 1190).

Entscheide des Bundesgerichts (Verwaltungskommission) 12T_4/2012 vom 27. Aug.

2012 E. 3 mit Hinweisen auf die Literatur, 12T_4/2014 vom 10. Dez. 2014 E. 2.

4628

BBl 2018

1.5

Stellungnahme des Bundesgerichts

Das Bundesgericht stimmt in seiner Stellungnahme vom 14. März 2018 der vom Bundesrat vorgeschlagenen Gesetzesänderung im Grundsatz zu. Es fordert jedoch, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde sei aus dem BGG zu entfernen und die Beschwerdemöglichkeiten nach Artikel 89a Absatz 1 E-BGG seien auch für Entscheide kantonaler Vorinstanzen vorzusehen (anstelle des restriktiveren Abs. 3). Die Stellungnahme des Bundesgerichts wird im Folgenden integral wiedergegeben, entsprechend Ziffer 4.3.4 des Verfahrensprotokolls vom 1. Mai 199866 zwischen dem Bundesrat und dem Bundesgericht bei Vernehmlassungen zu Gesetzen im allgemeinen und betreffend die Stellung des Bundesgerichts im besonderen.

«Stellungnahme des Bundesgerichts zur subsidiären Verfassungsbeschwerde Die in das BGG gesetzte Erwartung einer nachhaltigen Entlastung des Bundesgerichts hat sich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre und insbesondere des Rekordeinganges 2017 von zum ersten Mal über 8000 neu anhängig gemachten Beschwerden (8027) definitiv nicht erfüllt. Dazu setzt sich 2018 der Aufwärtstrend ungebrochen fort. Das Bundesgericht ist heute, selbst in absoluten Zahlen gerechnet, welche vom Ersatz des früheren dualen Rechtsmittelsystems durch die Einheitsbeschwerde abstrahieren, höher belastet, als es Bundesgericht und Eidgenössisches Versicherungsgericht zusammen 2006 waren, dem Vorjahr des Inkrafttretens des BGG (1. Jan.

2007). Die Revision des BGG ist daher zu einer absoluten Notwendigkeit geworden, soll das gute Funktionieren des höchsten Gerichts, insbesondere was die Begründungsqualität seiner Entscheidungen anbelangt, auch in Zukunft sichergestellt sein. Mit dem Belassen der subsidiären Verfassungsbeschwerde gemäss bundesrätlicher Auffassung wird die Wirkung der Revisionsvorlage in ihr Gegenteil verkehrt: Es resultiert daraus nicht eine Entlastung sondern eine Mehrbelastung. Dies ergibt sich zwingend aus der für praktisch alle Rechtsgebiete geltenden ­ an sich zu begrüssenden ­ Öffnung des Beschwerdeweges gemäss den neuen Artikeln 89a,67 89b,68 93a69 und

66 67 68 69

BBl 2004 1549 Zulässigkeit der ordentlichen Beschwerde ungeachtet der Ausnahmen und Streitwertgrenzen in anderen Bestimmungen.

Definition der Rechtsbegriffe.

Beschwerde gegen Teil-, Vor- und Zwischenentscheide bei grundsätzlich unzulässiger Beschwerde gegen den Endentscheid.

4629

BBl 2018

93b70 E-BGG für rechtliche Grundsatzfragen und sonst besonders bedeutende Fälle in Verbindung mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde, die den Rechtsweg überall dort wieder öffnet, wo die beiden erwähnten Kriterien nicht gegeben sind und der Rechtsweg daher eigentlich ausgeschlossen wäre (Art. 113 E-BGG).71 Für dieses zentrale Anliegen des Bundesgerichts genügt es, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wenigstens in all jenen Fällen auszuschliessen, in denen die ordentliche Beschwerde nur unter der Voraussetzung zulässig ist, dass sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt. Dies aber ist absolut notwendig.

Heute scheitert eine grosse Zahl der subsidiären Verfassungsbeschwerden bereits an den Sachurteilsvoraussetzungen oder verfehlt die strengen Begründungsanforderungen an eine Willkürrüge. Der Beschwerdeführer erhält einen Nichteintretensentscheid, in aller Regel mit Kostenauflage; Gesuche um unentgeltliche Prozessführung werden in diesen Fällen regelmässig mangels Erfolgsaussichten abgewiesen. Für den Rechtsuchenden bleiben hier im Ergebnis nur Kosten und Frustration übrig. Dies führt zu einem Vertrauensverlust in die Justiz, die zwar formell angerufen werden, aber doch nicht zum erhofften Recht verhelfen kann. Diese Situation ist für die Rechtsuchenden, aber auch das Bundesgericht, unbefriedigend und bedarf daher der Korrektur.

Das Bundesgericht beantragt den eidgenössischen Räten, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde, ohnehin ein Fremdkörper im System der zivil-, strafund öffentlich-rechtlichen Einheitsbeschwerde, aus dem Gesetz zu entfernen72 und die Revisionsvorlage entsprechend anzupassen. Ihre zahlreichen weiteren Nachteile sind im Übrigen bekannt: Erstens steht sie gegen Entscheide eidgenössischer Vorinstanzen überhaupt nicht zur Verfügung, auch nicht gegen Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, was an sich eine 70

71

72

Gemäss dem neuen Art. 93b sind auch Beschwerden über vorsorgliche Massnahmen richtigerweise nur dann zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt. Wenn aber gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zulässig sein soll, ändert sich gegenüber dem heutigen Zustand nichts, denn die Kognition nach dem geltenden Art. 98 BGG ist dieselbe wie bei der subsidiären Verfassungsbeschwerde. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass im kantonalen Verfahren unterlegene Parteien nur deshalb auf die Ergreifung eines Rechtsmittels verzichten werden, weil dieses nunmehr subsidiäre Verfassungsbeschwerde heisst. Damit wird auch in diesem Bereich das Ziel der Revision untergraben, bei gleichzeitiger Verbesserung des Rechtsschutzes das Bundesgericht zu entlasten.

Das Bundesgericht geht davon aus, dass die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wenigstens dort entfällt, wo der Einfachgeschädigte aufgrund der geänderten Legitimationsbestimmungen mangels rechtlich geschützten Interesses nicht zur Beschwerde berechtigt ist, da auch die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ein solches voraussetzt. Diese Auslegung ergibt sich aus dem revidierten Art. 81 Abs. 1 Bst. b. Das rechtliche geschützte Interesse besteht gemäss Ziff. 5 dieser Bestimmung für die Privatklägerschaft nur noch, wenn ihre Straf- oder Zivilklage im angefochtenen Entscheid in der Sache beurteilt worden ist oder sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche als Opfer auswirken kann.

Eventuell beschränkt auf jene Fälle, in denen die Zulässigkeitskriterien der rechtlichen Grundsatzfrage oder des sonst besonders bedeutenden Falles vorgesehen sind.

4630

BBl 2018

durch nichts zu rechtfertigende Inkonsequenz darstellt. Zweitens ist sie heute im zahlenmässig wichtigsten Ausnahmebereich, dem Ausländerrecht, völlig ineffizient, weil da auch kantonale Entscheide regelmässig mangels des für die Legitimation vorausgesetzten rechtlich geschützten Interesses gar nicht angefochten werden können. Nach der neuen Regelung gemäss dem Entwurf würde ihr Anwendungsbereich im Ausländerrecht in unerwünschter Weise ausgeweitet, weil die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten neu grundsätzlich auch dann unzulässig sein wird, wenn ein ausländerrechtlicher Anspruch auf Bewilligung besteht, womit die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ergriffen werden könnte, weil ein rechtlich geschütztes Interesse besteht. Drittens ist, seit die ZPO und die StPO Bundesrecht sind, ein Rechtsmittel, das selbst bei prozessualen Rügen nur die Verfassungskognition kennt, in hohem Grade unzweckmässig, weil dies dem Bundesgericht verunmöglicht, das Bundesrecht in voller Kognition anzuwenden und damit seiner ureigenen Aufgabe zu genügen. Viertens steht sie den Behörden nicht offen, obwohl gerade sie es sind, die ­ wenn ihnen ein Rechtsmittel zur Verfügung steht ­ oft Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfen, die es verdienen, vom Bundesgericht beurteilt zu werden. Aus diesem Grunde ist die neue Lösung zu begrüssen, welche bei rechtlichen Grundsatzfragen und sonst bedeutenden Fällen den Rechtsweg ans Bundesgericht für Private und Behörden allgemein öffnet und die subsidiäre Verfassungsbeschwerde insoweit gegenstandslos werden lässt.

Mit der Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde ist schon aus dem zuletzt genannten Grund, aber auch aus weiteren Gründen, kein Abbau von Rechtsschutz verbunden. Von im Jahre 2017 beurteilten 427 subsidiären Verfassungsbeschwerden konnte das Bundesgericht nur gerade 8 (ganz oder teilweise) gutheissen, wogegen die Gutheissungsquote am Bundesgericht allgemein bei 13 Prozent und ohne subsidiäre Verfassungsbeschwerde sogar bei 14 Prozent liegt, was heisst, dass etwa jeder siebte Rechtsuchende mit einem Prozesserfolg in Lausanne oder Luzern rechnen darf. Aufgrund der seit 2007 gemachten Erfahrungen dient also die subsidiäre Verfassungsbeschwerde letztlich niemandem, verursacht aber dem Bundesgericht schon heute mindestens einen Zwanzigstel seines
Arbeitsaufwandes, wobei mit dem vom Bundesrat vorgeschlagenen Konzept mit einer massiv höheren Zahl an subsidiären Verfassungsbeschwerden zu rechnen ist. Durch ihre Streichung aus dem Gesetz erfahren selbst die ganz wenigen Rechtsuchenden, welche mit ihr obsiegen würden, keinen Abbau von Rechtsschutz. Denn diese Fälle werden von den Eintretensgründen der grundsätzlichen Rechtsfrage und der besonderen Bedeutung aus anderen Gründen, wie sie jetzt in der Gesetzesvorlage konkretisiert sind (Art. 89b E-BGG), voll erfasst. Das Rechtsschutzpotenzial wird dadurch im Gegenteil sogar gesteigert. Die wenigen subsidiären Verfassungsbeschwerden, die bisher gutgeheissen worden sind, können künftig gemäss Artikel 89a und 89b E-BGG vom Bundesgericht weiterhin beurteilt werden. Damit dies möglich ist, muss einzigin Artikel 89a Absatz 3 E-BGG auch für die kantonalen Urteile das Kriterium des aus anderen Gründen besonders bedeutenden Falles erwähnt werden.

4631

BBl 2018

Zusammenfassend ist festzuhalten: Sollte es im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens nicht gelingen, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde aus den erwähnten Gründen aus der Vorlage zu entfernen, lehnte das Bundesgericht die Vorlage insgesamt ab.»

1.6

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Die im «Brief» zu dieser Botschaft mit den Anträgen erwähnten Motionen und Postulate werden durch diese Botschaft erfüllt. Massnahmen im Sinne des Postulats «Befreiung des Bundesgerichts von Bagatellen»73 werden in den Ziffern 1.2.2 und 1.2.3 dargestellt. Die mit den Motionen «Bundesgericht. Dissenting Opinions»74 und «Erhöhung der Obergrenzen der Gerichtsgebühren des Bundegerichtes und des Bundesverwaltungsgerichtes»75 verlangten gesetzlichen Grundlagen sind im Revisionsentwurf enthalten (vgl. dazu Ziff. 1.2.5). Der Bundesrat beantragt daher die Abschreibung dieser parlamentarischen Vorstösse.

2

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

2.1

Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 200576

Art. 19 Abs. 3 Nach heutigem Recht darf ein Richter oder eine Richterin am Bundesgericht höchstens sechs Jahre lang eine Abteilung präsidieren. Neu soll die Limite drei volle zweijährige Wahlperioden betragen. Wird das Präsidium während einer bereits laufenden Zweijahresperiode übernommen, so wird die angebrochene Periode nicht mitgezählt.

Art. 20 Abs. 2 zweiter Satz Auch bei Beschwerden gegen Entscheide der kantonalen Aufsichtsbehörden in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen sollen die Abteilungen künftig in Fünferbesetzung entscheiden, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder ein Richter oder eine Richterin es beantragt. Die bisherige Ausnahme in Artikel 20 Absatz 2 zweiter Satz wird aufgehoben.

73 74 75 76

13.3694 14.3667 17.3353, 17.3354 SR 173.110

4632

BBl 2018

Art. 25 Abs. 2bis Mit dem neuen Absatz 2bis wird in Artikel 25 BGG die Grundlage für eine interne Rekurskommission geschaffen, die Beschwerden gegen Verfügungen des Bundesgerichts betreffend das Arbeitsverhältnis des Gerichtspersonals beurteilt (vgl. dazu Ziff. 1.2.5).

Art. 42 Abs. 2 zweiter Satz Der zweite Satz von Artikel 42 Absatz 2 wird im französischen Text redaktionell angepasst, damit er besser auf die Artikel 74, 89a, 93a und 93b abgestimmt ist.

Art. 46 Abs. 2 Die Ausnahmen vom Fristenstillstand (den sog. Gerichtsferien) werden neu in einer Liste dargestellt und gemäss den Ausführungen unter Ziffer 1.2.5 ergänzt.

Art. 60 Abs. 1bis und 2bis Absatz 1bis enthält die unter Ziffer 1.2.5 erörterte Grundlage für die Aufnahme von separaten Minderheitsmeinungen (Dissenting Opinions) in die Entscheide des Bundesgerichts.

Absatz 2bis nimmt ein Anliegen aus dem Bereich der Opferhilfe auf. Ein Opfer nach Artikel 116 Absatz 1 StPO, das sich an der Strafuntersuchung und am Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht als Privatklägerschaft beteiligt hat, ist unter Umständen vor den Rechtsmittelinstanzen nicht mehr Partei. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die verurteilte Person nur hinsichtlich der Sanktion (Art oder Ausmass) an die nächste Instanz gelangt (vgl. Art. 382 Abs. 2 StPO). Aus der Sicht des Opfers hat die strafrechtliche Sanktion eine grosse Bedeutung für die Verarbeitung des erlittenen Unrechts. Es sollte vermieden werden, dass das Opfer nur aus der Presse von einem bundesgerichtlichen Entscheid in seiner Sache erfährt. Deshalb wird neu vorgesehen, dass das Bundesgericht einem im Beschwerdeverfahren nicht mehr als Partei beteiligten Opfer das Entscheiddispositiv und die Teile der Begründung mitteilt, in denen die zu seinem Nachteil begangenen Straftaten behandelt werden.

Art. 64 Abs. 4 zweiter Satz Die Ergänzung, wonach der Anspruch des Bundes auf Ersatz für die Kosten der unentgeltlichen Rechtspflege zehn Jahre nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verjährt, klärt die Rechtslage. Die zehnjährige Verjährungsfrist ergibt sich auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist eine klare Regelung, wie sie schon in Artikel 123 Absatz 2 ZPO und Artikel 135 Absatz 5 StPO besteht,77 vorzuziehen.

77

Auch in Art. 123 Abs. 2 ZPO ist der rechtskräftige Verfahrensabschluss gemeint. Vgl.

dazu Frank Emmel, in: Thomas Sutter-Somm / Franz Hasenböhler / Christoph Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl., Zürich 2013, Art. 123 N 3.

4633

BBl 2018

Art. 65 Abs. 5 und 6 Die Änderung von Artikel 65 dient dazu, die Obergrenze für die Gerichtsgebühren zu erhöhen, wie dies die Bundesversammlung mit einer Motion verlangt hat (vgl.

Ziff. 1.2.5).

Die im Normalfall anwendbaren Gebührenrahmen nach Absatz 3 bleiben unverändert. An den sozialpolitisch motivierten ermässigten Gebühren nach Absatz 4 soll sich ebenfalls nichts ändern. Wenn besondere Gründe es rechtfertigen, können nach dem geltenden Absatz 5 die Höchstbeträge nach Absatz 2 überschritten werden bis zum doppelten Betrag. Hier soll neu die Überschreitung bis zum dreifachen Betrag zulässig sein.

In einem zusätzlichen Absatz 6 wird vorgesehen, dass für vermögensrechtliche Angelegenheiten mit einem Streitwert von mehr als hundert Millionen Franken eine Gerichtsgebühr von bis zu einer Million Franken (also maximal ein Prozent) erhoben werden kann.

Art. 73

Ausnahme

Die bestehende Ausnahme von der Zulässigkeit der Beschwerde in Zivilsachen gilt für Entscheide, die im Rahmen des Widerspruchsverfahrens gegen eine Marke getroffen worden sind (Art. 31­34 MSchG). Künftig sollen auch Entscheide aus dem Löschungsverfahren nach den Artikeln 35a­35c MSchG unter diese Ausnahme fallen (vgl. Ziff. 1.2.2). Wie bei allen Artikeln über Ausnahmen von der Zuständigkeit des Bundesgerichts als Beschwerdeinstanz sind die Beschwerdemöglichkeiten nach Artikel 89a E-BGG vorzubehalten (vgl. dazu Ziff. 1.2.1).

Art. 74 Abs. 2 Bst. a Nach Artikel 74 Absatz 1 BGG ist in vermögensrechtlichen Angelegenheiten die Beschwerde in Zivilsachen nur zulässig, wenn die massgebende Streitwertgrenze erreicht wird. Absatz 2 sieht verschiedene Ausnahmen vor. Buchstabe a nennt heute den Fall, dass sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Neu wird auf die Beschwerdemöglichkeiten nach Artikel 89a E-BGG verwiesen. Für die Anfechtung kantonaler Entscheide ändert sich dadurch nichts (Art. 89a Abs. 3 E-BGG). Bei Entscheiden des Bundespatentgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts kann die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht neu auch damit begründet werden, dass ein besonders bedeutender Fall vorliegt (Art. 89a Abs. 1 und 89b Abs. 2 E-BGG).

Art. 78 Abs. 2 Bst. a Die Neuformulierung dieser Bestimmung verankert die bundesgerichtliche Praxis 78 und beseitigt eine Unklarheit. Für die Zulässigkeit der Beschwerde in Strafsachen ist massgebend, dass die Vorinstanz des Bundesgerichts sowohl den Straf- als auch den Zivilpunkt beurteilte oder dies hätte tun müssen. In solchen Fällen steht die Beschwerde in Strafsachen auch zur Verfügung, wenn nur der Entscheid im Zivilpunkt 78

BGE 133 III 701

4634

BBl 2018

angefochten wird. War bereits im Strafverfahren vor der Vorinstanz nur noch der Zivilpunkt streitig, so ist die Beschwerde in Zivilsachen das zutreffende Rechtsmittel ans Bundesgericht.

Art. 79

Ausnahmen

Das geltende BGG kennt bei der Beschwerde in Strafsachen nur eine Ausnahme von der Zuständigkeit des Bundesgerichts: Die Beschwerde ist unzulässig gegen Entscheide der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, soweit es sich nicht um Entscheide über Zwangsmassnahmen handelt (Art. 79 BGG). Neu sollen zwei weitere Ausnahmen hinzukommen.

Die erste betrifft Verurteilungen wegen einer Übertretung, wenn eine Busse von höchstens 5000 Franken oder ein Verweis ausgesprochen wurde und mit der Beschwerde nicht eine Strafe verlangt wird, die diese Grenze übersteigt (Art. 79 Abs. 1 Bst. a E-BGG). Als Übertretungen gelten strafbare Handlungen, die mit Busse, also weder mit Freiheitsstrafe noch mit Geldstrafe (in Tagessätzen), bedroht sind.79 Nach den heute gültigen Bestimmungen über das Strafregister führen Bussen bis 5000 Franken wegen Übertretungen in der Regel nicht zu einem Registereintrag. 80 Der Verweis ist eine Strafe nach Jugendstrafrecht81, der im Vergleich zur Busse einen geringeren Eingriffscharakter aufweist, weshalb er von der Ausnahme mitumfasst sein soll. Die Verurteilung wegen einer Übertretung zu einer Busse nach Artikel 24 JStG ist bereits durch den ersten Satzteil von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a E-BGG (Busse von höchstens 5000 Fr.) abgedeckt.

Die zweite neue Ausnahme bezweckt, dass Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanz (Art. 20 StPO) grundsätzlich ­ wie jene der Beschwerdekammern des Bundesstrafgerichts ­ endgültig sind, wenn sie keine Zwangsmassnahmen betreffen.

Nicht gelten soll diese Ausnahme ­ neben den Beschwerdeentscheiden über Zwangsmassnahmen (Art. 79 Abs. 1 Bst. b Ziff. 1 E-BGG) ­ auch für Beschwerdeentscheide über die Nichtanhandnahme oder Einstellung der Strafuntersuchung82 (Art. 79 Abs. 1 Bst. b Ziff. 3 E-BGG) sowie für Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen über Schutzmassnahmen und die Beobachtung nach der Jugendstrafprozessordnung83 (Art. 79 Abs. 1 Bst. b Ziff. 2 E-BGG). Dadurch sollen in diesen wichtigen Bereichen der Individualrechtsschutz nicht eingeschränkt und eine gesamtschweizerisch einheitliche Praxis sichergestellt werden.

Alle Ausnahmen dieses Artikels stehen unter dem Vorbehalt, dass die Beschwerde an das Bundesgericht nach Artikel 89a E-BGG zulässig bleibt. Die Beschwerde in Strafsachen gegen Entscheide des Bundesstrafgerichts ist dann zulässig,
wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt (Art. 89a Abs. 1 E-BGG). Gegen Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen im Ausnahmebereich ist die Beschwerde in Straf79 80 81 82 83

Vgl. Art. 10 und 103 des Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0).

Art. 3 Abs. 1 Bst. c und d der Verordnung vom 29. Sept. 2006 über das Strafregister (SR 331).

Art. 22 des Jugendstrafgesetzes vom 20. Juni 2003 (JStG; SR 311.1).

Vgl. Art. 393 Abs. 1 Bst. a und b i. V. m. Art. 397 Abs. 3 StPO.

Art. 39 Abs. 1 Bst. a und b der Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 (JStPO; SR 312.1).

4635

BBl 2018

sachen ans Bundesgericht zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt (Art. 89a Abs. 3 E-BGG). Bei Entscheiden kantonaler Instanzen nach Artikel 79 Absatz 1 E-BGG bleibt zudem die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nach den Artikeln 113 ff. E-BGG vorbehalten.

Art. 79a

Streitwertgrenzen

Betrifft eine Beschwerde nach Artikel 78 Absatz 2 Buchstabe a BGG nur den Zivilpunkt, so müssen die Streitwertgrenzen, die bei der Beschwerde in Zivilsachen gelten (Art. 74 BGG), beachtet werden. Die Ausnahmen in Artikel 74 Absatz 2 (insbesondere der Verweis auf Art. 89a im geänderten Bst. a) BGG kommen ebenfalls zur Anwendung. Im Ergebnis deckt sich diese neue Regelung mit dem, was bereits die Expertenkommission für die Totalrevision der Bundesrechtspflege wollte. Die Expertenkommission verstand ihren Vorschlag zum heutigen Artikel 78 Absatz 2 Buchstaben a BGG nämlich so, dass Beschwerden (gegen Strafurteile), die nur den Zivilpunkt betreffen, als Beschwerden in Zivilsachen zu behandeln seien. Das Bundesgericht hat Artikel 78 BGG aber anders interpretiert, um bezüglich der Wahl des richtigen Rechtsmittels mehr Rechtssicherheit zu schaffen.84 Art. 80 Abs. 2 Der dritte (letzte) Satz in Absatz 2 erwähnt heute noch Fälle, in denen nach der StPO ein Zwangsmassnahmengericht oder ein anderes Gericht als einzige kantonale Instanz entscheidet. Diese Gerichte sind dann unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts, obwohl es sich nicht um obere kantonale Gerichte handelt. In Zukunft soll immer zuerst ein oberes kantonales Gericht entscheiden (vgl. Ziff. 1.2.5). Der erwähnte Satz ist daher aufzuheben. Im zweiten Satz werden neu Ausnahmefälle vorbehalten, in denen die Beschwerdeinstanz oder das Berufungsgericht eines Kantons nach der StPO nicht als Rechtsmittelinstanz, sondern als einzige kantonale Instanz entscheidet.85 Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 5 und Abs. 4 In Absatz 1 wird Buchstabe b Ziffer 5 so geändert, dass die Privatklägerschaft, wenn sie nicht gleichzeitig Opfer im Sinne des OHG ist, nur noch gegen Entscheide Beschwerde führen kann, in denen ihre Straf- oder Zivilklage in der Sache beurteilt worden ist. Zur Beschwerde gegen Prozessurteile und gegen Entscheide über die Nichtanhandnahme oder Einstellung des Verfahrens werden diese Privatkläger und Privatklägerinnen nicht mehr berechtigt sein. Diese Änderung entlastet das Bundesgericht von einer grösseren Zahl von Beschwerden mit geringer Erfolgsquote (vgl.

Ziff. 1.2.3). Soweit die Privatklägerschaft auch Opfer ist, bleibt das Beschwerderecht unverändert. Die Begriffe Straf- und Zivilklage entsprechen den Begriffen, die in Artikel 119 Absatz 2 Buchstaben
a und b StPO verwendet werden.

Mit dem neuen Absatz 4 werden die Kantone ermächtigt, für den Bereich des Strafund Massnahmenvollzugs eine Behördenbeschwerde vorzusehen. Zwar erstreckt 84 85

BGE 133 III 701 Vg. z. B. Art. 40 Abs. 1 und 59 Abs. 1 Bst. b und c StPO.

4636

BBl 2018

sich das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft (Art. 81 Abs. 1 Bst. b Ziff. 3) auch auf den Vollzugsbereich. Nach traditionellem Verständnis üben die Staatsanwaltschaften aber dort keine Aufsichtsfunktionen aus. Einige Kantone haben für das kantonale Verfahren eine Behördenbeschwerde geschaffen, um den Weiterzug von richterlichen Entscheiden zu ermöglichen, namentlich wenn es um Sicherheitsaspekte geht. Diese Beschwerderechte entfalten für das Verfahren vor Bundesgericht aber keine Wirkung. Eine bundesgesetzliche Grundlage für ein Beschwerderecht der Vollzugsbehörde war eine der Forderungen der Motion Amherd vom 13. Dezember 2013 (13.4296 «Vereinheitlichung des Verfahrensrechtes bei der Vollstreckung der Strafurteile»).

Art. 83 Abs. 1 Bst. a­f, h, m, o, p, r, s, u, w, x und Abs. 2 Artikel 83 enthält den wichtigsten Ausnahmekatalog des heutigen BGG. Entsprechend der Zielsetzung der Vorlage sind hier verschiedene Änderungen vorzunehmen. Zum einen wird eine gewisse Bereinigung und Kürzung bei der Aufzählung der Sachgebiete vorgeschlagen, in denen die Beschwerde an das Bundesgericht nicht zulässig ist (Abs. 1). Zum andern gelten die Ausnahmen nicht mehr absolut. Die Beschwerde bleibt zulässig, wenn die Voraussetzungen von Artikel 89a E-BGG erfüllt sind (Abs. 2; vgl. dazu Ziff. 1.2.1).

Abs. 1 a) Einbürgerungen Der Zugang zum Bundesgericht soll neu bei allen Einbürgerungsentscheiden eingeschränkt werden (vgl. Ziff. 1.2.2). Der bisherige Ausnahmetatbestand (Art. 83 Bst. b BGG) betrifft nur die ordentliche Einbürgerung.

Die bisher in Buchstabe a geregelte Ausnahme betreffend Entscheide auf den Gebieten der inneren oder äusseren Sicherheit des Landes und der auswärtigen Angelegenheiten wird aus gesetzessystematischen Gründen zu Artikel 84a E-BGG verschoben.

b) Ausländerrecht Der Ausnahmetatbestand zum Ausländerrecht (bisher Bst. c) wird umfassend revidiert (vgl. dazu Ziff. 1.2.2).

Entscheide über eine Landesverweisung nach Artikel 66a StGB oder deren Vollzug fallen nicht unter diese Ausnahme. Gegen solche Entscheide ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig.

c) Asylrecht Im Bereich des Asylrechts werden die meisten Entscheide von Bundesbehörden und auf Beschwerde hin vom Bundesverwaltungsgericht getroffen. Der Ausschluss der der Beschwerde an das Bundesgericht gegen diese Entscheide soll neu in
einem eigenen Artikel geregelt werden (Art. 84 E-BGG).

Bezüglich der kantonalen Entscheide (z. B. über Sozialhilfeleistungen an Asylsuchende) übernimmt der neue Buchstabe c grundsätzlich die Ausnahme nach dem bisherigen Buchstaben d Ziffer 2. Ob der Streit eine Bewilligung (insbesondere nach 4637

BBl 2018

dem AuG) betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht, spielt aber ­ wie bei der neuen Fassung von Buchstabe b ­ keine Rolle mehr (vgl. dazu auch Ziff. 1.2.2).

e) Öffentliche Beschaffungen Nach der bisherigen Regelung (Art. 83 Bst. f BGG) kann im öffentlichen Beschaffungswesen nur beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: Erstens muss der Schwellenwert nach dem Bundesgesetz vom 16. Dezember 199486 über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) oder nach dem massgebenden Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft87 erreicht sein; und zweitens musst sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellen. Entscheide über öffentliche Beschaffungen sollen weiterhin im Ausnahmekatalog bleiben. Die Gegenausnahme wird sich aber neu nach Artikel 89a E-BGG richten, auf den in Absatz 2 verwiesen wird. Der Beschaffungswert wird daher nicht mehr direkt ausschlaggebend sein, sondern höchstens wenn er ­ im Rahmen von Artikel 89a Absatz 1 E-BGG ­ dem Fall eine besondere Bedeutung verleiht.

f) Öffentlich ausgeschriebene Leistungsaufträge und Konzessionen Für Entscheide über Leistungsaufträge und Konzessionen, die nach Gesetz öffentlich ausgeschrieben werden müssen, wird neu ein allgemeiner Ausnahmetatbestand vorgeschlagen, der über die bisherigen Buchstaben fbis und p Ziffer 1 hinausgeht (vgl. Ziff. 1.2.2).

h) Internationale Rechtshilfe in Strafsachen und internationale Amtshilfe Für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und die internationale Amtshilfe in Steuersachen gilt heute schon der beschränkte Zugang zum Bundesgericht, der sich neu aus Absatz 2 und Artikel 89a E-BGG ergeben wird (Art. 84 und 84a BGG, mit einigen bloss redaktionellen Nuancen). Die anderen Streitigkeiten aus der internationalen Amtshilfe, die gegenwärtig nicht vor Bundesgericht gebracht werden können (Art. 83 Bst. h BGG), sind künftig gleich zu behandeln. Bei Rechtshilfefällen ist zusätzlich die Einschränkung nach Artikel 89a Absatz 2 E-BGG zu beachten (heute in Art. 84 Abs. 1 BGG enthalten).

m) Stundung und Erlass von Abgaben Die im Rahmen des Steuererlassgesetzes vom 20. Juni 201488 beschlossene Ergänzung von Buchstabe m wird in Anbetracht des neuen Absatzes 2 wieder entfernt.

o) Plangenehmigung von Stark- und Schwachstromanlagen Buchstabe o schliesst in der geltenden
Fassung die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entscheide über die Typengenehmigung von Fahrzeugen auf dem Gebiet des Strassenverkehrs aus. Die Zahl der jährlich erteilten Typengenehmigungen beträgt mehrere Tausend; Beschwerden sind aber ­ bereits gegen die erstinstanzli86 87

88

SR 172.056.1 Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens (SR 0.172.052.68) AS 2015 9

4638

BBl 2018

chen Verfügungen ­ sehr selten. Eine Weiterführung dieses Ausnahmetatbestands ist daher nicht mehr gerechtfertigt.

Neu soll unter Buchstabe o die Ausnahme betreffend Entscheide über die Plangenehmigung von Stark- und Schwachstromanlagen aufgeführt werden, die am 1. Januar 2018 in Buchstabe w in Kraft getreten ist. Der letzte Teilsatz der bisherigen Formulierung entfällt wegen Absatz 2.

p) Zugang anderer Anbieter zu Fernmeldediensten Buchstabe p zum Gebiet des Fernmeldeverkehrs, des Radios und des Fernsehens sowie der Post umfasst heute drei Ziffern. In der ersten Ziffer geht es um Konzessionen, die Gegenstand einer öffentlichen Ausschreibung waren. Dieser Tatbestand wird künftig durch den Buchstaben f abgedeckt. Der Ausnahmetatbestand in Ziffer 3 betreffend den Zugang zu Postfachanlagen und Adressdaten für die Zustellung von Postsendungen89 wird nicht mehr weitergeführt. Streitigkeiten aus gesetzlichen Bestimmungen, die den Eigentümern oder Betreibern von Infrastrukturanlagen vorschreiben, anderen Anbietern zu bestimmten Bedingungen die Nutzung ihrer Anlagen zu ermöglichen, können in der Regel bis vor Bundesgericht getragen werden.

Dies gilt namentlich in Bezug auf Elektrizitätsnetze 90, Eisenbahninfrastruktur91, Rohrleitungen92 und Verbreitungsdienstleistungen für Radio- und Fernsehprogramme93. Einzig für den Zugang von Konkurrenten zu Fernmeldediensten (bisherige Ziff. 2) wird weiterhin eine Ausnahme statuiert, da in diesem dynamischen Marktbereich dem raschen Abschluss des Verfahrens eine besondere Bedeutung zukommt.

r) Krankenversicherung Der Ausnahmetatbestand betreffend die Krankenversicherung (insbesondere Tarife der Leistungserbringer und Spitallisten) muss aufgrund bereits erfolgter Änderungen des Bundesgesetzes vom 18. März 199494 über die Krankenversicherung (KVG) und des VGG redaktionell angepasst werden. Der Gegenstand der Ausnahme bleibt wie bisher. Neu gilt aber der Vorbehalt nach Absatz 2. Je nach dem Ergebnis der laufenden Teilrevision des KVG betreffend die Zulassung von Leistungserbringern wird der Wortlaut von Buchstabe r noch anzupassen sein.

w) Solidaritätsbeiträge aufgrund fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 Die bisher in Buchstabe x geregelte Ausnahme kann um einen Platz nach oben verschoben werden. Gleichzeitig ist wegen des neuen Absatzes 2 der letzte Teilsatz zu streichen.

89 90 91 92 93 94

Vgl. Art. 6 Abs. 4 und 7 Abs. 4 des Postgesetzes vom 17. Dez. 2010 (PG; SR 783.0).

Vgl. Art. 22 Abs. 2 Bst. a des Stromversorgungsgesetzes vom 23. März 2007 (StromVG; SR 734.7).

Vgl. Art. 9 und 40abis des Eisenbahngesetzes vom 20. Dez. 1957 (EBG; SR 742.101).

Vgl. Art. 13 Abs. 2 des Rohrleitungsgesetzes vom 4. Okt. 1963 (RLG; SR 746.1).

Vgl. Art. 51 Abs. 2 und 59 ff. des Bundesgesetzes vom 24. März 2006 über Radio und Fernsehen (RTVG; SR 784.40).

SR 832.1

4639

BBl 2018

Art. 84

Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts auf dem Gebiet des Asyls

Im Bereich des Asylrechts sind Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts heute einzig dann vor Bundesgericht anfechtbar, wenn sie Personen betreffen, gegen die ein Auslieferungsersuchen des Staates vorliegt, vor welchem sie Schutz suchen (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

Diese Regelung wird in Artikel 84 beibehalten (Abs. 1 und 3). Wegen der Neuregelung der Zuständigkeit des Bundesgerichts im Ausländerrecht (Art. 83 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 E-BGG) gewinnt die Abgrenzung zwischen Asyl- und Ausländerrecht an Bedeutung. Absatz 2 hält daher fest, dass Artikel 84 auch für Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts nach dem AuG gilt, die gegenüber Personen mit einem früheren Asylgesuch getroffen werden. Wer ein Asylgesuch gestellt hat, kann bis zur Ausreise nach einer rechtskräftig angeordneten Wegweisung Entscheide nach dem AuG nicht beim Bundesgericht anfechten, auch dann nicht, wenn das Asylgesuch zurückgezogen oder eine vorläufige Aufnahme gewährt worden ist.

Art. 84a

Aussen- und sicherheitspolitische Entscheide

Auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit und der auswärtigen Angelegenheiten ist die Beschwerde an die Gerichte nur zulässig, wenn das Völkerrecht einen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung einräumt (Art. 83 Bst. a BGG; analog dazu Art. 32 Abs. 1 Bst. a VGG). Entscheide auf diesem Gebiet gelten als nicht justiziabel. Grundsatzfragen oder besonders bedeutende Fälle vorzubehalten (Art. 83 Abs. 2 i. V. m. Art. 89a E-BGG), wäre hier nicht sachgerecht. Deshalb wird für diesen Ausnahmetatbestand ein eigener Artikel vorgeschlagen.

In Buchstabe a wird neu ausdrücklich verlangt, dass es sich um einen Entscheid handeln muss, der überwiegend auf politischen Erwägungen beruht. Dies entspricht dem Verständnis der Botschaft von 2001 zum BGG95 und der ständigen Rechtsprechung zu Artikel 83 Buchstabe a BGG. 96 Der Wortlaut der Norm wird in diesem Sinn präzisiert. Eine materielle Änderung ist damit nicht beabsichtigt.

Art. 85 Abs. 2 Absatz 2 regelt, wann in vermögensrechtlichen Angelegenheiten des öffentlichen Rechts nach Absatz 1 die Beschwerde an das Bundesgericht ohne Rücksicht auf den Streitwert zulässig ist. Wie bei der Beschwerde in Zivilsachen (Art. 74 Abs. 2 Bst. a E-BGG) wird neu auf die Beschwerdemöglichkeiten nach Artikel 89a E-BGG verwiesen.

95 96

BBl 2001 4202, hier 4217, 4322 f, 4387 f.

BGE 142 II 313 E. 4.3; 137 I 371 E. 1.2; 132 II 342 E. 1; Entscheide des Bundesgerichts 1C_370/2013 vom 14. Okt. 2013 E. 1.1 und 2C_327/2017 vom 12. Sept. 2017 E. 5.2; Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts A-8284/2010 vom 11. Juni 2011 E. 1.2 und A-1713/2014 vom 17. Nov. 2014 E. 1.1; Hansjörg Seiler, in: Hansjörg Seiler et. al.

[Hrsg.], Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl., Bern 2015, Art. 83 N. 12 ff.; Marino Leber, in: Christoph Auer / Markus Müller / Benjamin Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Zürich 2008, Art. 72 N. 8.

4640

BBl 2018

Art. 86 Abs. 2 Die kantonalen Gerichte, die als unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts entscheiden, müssen grundsätzlich obere Gerichte sein. Das geltende Recht kennt jedoch eine Ausnahme von dieser Anforderung, wenn nach einem anderen Bundesgesetz ein Entscheid einer unteren Gerichtsinstanz beim Bundesgericht angefochten werden kann. Diese Möglichkeit spezialgesetzlicher Abweichungen wird abgeschafft (vgl. Ziff. 1.2.5). Davon sind heute nur noch die Bereiche der Verrechnungssteuer und der Wehrpflichtersatzabgabe betroffen. Die entsprechenden Gesetze sind ebenfalls zu ändern.

Art. 89a

Zulässigkeit der Beschwerde

Ein zentraler Punkt der Revision liegt darin, gegen alle Entscheide, die unter einen Ausnahmekatalog oder eine Streitwertgrenze fallen, eine beschränkte Möglichkeit für eine Beschwerde an das Bundesgericht zur Verfügung zu stellen (vgl. Ziff. 1.2.1 und die drei dort erwähnten Fallkategorien, für die die Ausnahmetatbestände weiterhin vorbehaltlos gelten).

Abs. 1 Für Entscheide von Vorinstanzen auf Bundesebene wird vorgeschlagen, dass die Beschwerde an das Bundesgericht trotz einer Ausnahme nach den Artikeln 73, 79 und 83 und unabhängig von den Streitwertgrenzen nach den Artikeln 74, 79a und 85 E-BGG zulässig ist, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt. Bei Streitwerten unterhalb der Streitwertgrenze ist das Kriterium der Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung schon heute anwendbar. Für die anderen erwähnten Fälle wird gezielt die Kompetenz zur höchstrichterlichen Beurteilung eröffnet.

Abs. 2 Auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen unterliegt die Beschwerde an das Bundesgericht nach dem geltenden Artikel 84 BGG einer doppelten Beschränkung. Es muss nicht nur ein besonders bedeutender Fall vorliegen, sondern es muss sich auch um einen Entscheid handeln, der eine Auslieferung, eine Beschlagnahme, eine Herausgabe von Gegenständen oder Vermögenswerten oder eine Übermittlung von Informationen aus dem Geheimbereich betrifft. Geht es um andere Rechtshilfehandlungen, etwa um die Herausgabe von Strafurteilen oder Strafakten, um eine einfache Zeugeneinvernahme (ohne dass Informationen aus dem Geheimbereich betroffen sind) oder um die Ermöglichung eines Augenscheins, so kann nie beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden.

Absatz 2 hat die Funktion, für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (vgl.

Art. 83 Abs. 1 Bst. h E-BGG) diese spezifische Beschränkung nach dem Gegenstand der Verfügung beizubehalten. Zwar ergibt sich daraus ein Unterschied zur internationalen Amtshilfe, bei der für die Zulässigkeit der Beschwerde an das Bundesgericht nur Absatz 1 (oder allenfalls Abs. 3) massgebend ist. Dieser Unterschied ist aber nicht unbegründet. In der internationalen Rechtshilfe wird ein eröffnetes ausländisches Strafverfahren unterstützt. Die Person, die diesem ausländischen Strafverfahren unterworfen ist, hat dort Parteistellung. Sie kann damit ihre Interessen in diesem 4641

BBl 2018

Strafverfahren wahren. In der Amtshilfe wird dagegen oft im Bereich von Verwaltungsverfahren kooperiert. Die betroffene Person weiss in vielen Fällen noch nichts vom Verfahren. In anderen Fällen hat sie zwar vom Verfahren Kenntnis, doch fehlt ihr die Parteistellung. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, bei der internationalen Amtshilfe für den Rechtsschutz durch das Bundesgericht nur zu verlangen, dass sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt beziehungsweise aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt.

Abs. 3 Gegen Entscheide kantonaler Vorinstanzen sind Beschwerden, die den gesetzlichen Mindeststreitwert nicht erreichen, zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Diese Regelung entspricht dem geltenden Gesetz (Art. 74 Abs. 2 Bst. a, 85 Abs. 2 BGG) und den Vorgaben der Bundesverfassung (Art. 191 Abs. 2 BV). Das aktuelle BGG kennt den Vorbehalt der Beschwerde bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung ferner bei einigen Sachgebietsausnahmen. Dazu gehören die Ausnahmetatbestände für die Gebiete der öffentlichen Beschaffungen und des Erlasses von Abgaben, die auch kantonale Entscheide betreffen können. Diese Regelungen werden in Absatz 3 durch den Verweis auf Artikel 83 Absatz 1 Buchstaben e und m E-BGG ebenfalls weitergeführt. Ausserdem soll die Beschwerde bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich des neuen Ausnahmetatbestands für Entscheide der kantonalen Beschwerdeinstanzen nach der StPO (Art. 79 Abs. 1 Bst. b E-BGG) zulässig sein. Damit wird sichergestellt, dass die Staatsanwaltschaft, der die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht zur Verfügung steht, Grundsatzfragen der Rechtsanwendung vor das Bundesgericht tragen kann.

Die Gegenausnahmen (Ausnahmen von den Ausnahmekatalogen und Streitwertgrenzen) sind für Entscheide eidgenössischer Vorinstanzen (Abs. 1) und kantonaler Vorinstanzen (Abs. 3) nicht deckungsgleich, weil gegen kantonale Entscheide wie bisher die subsidiäre Verfassungsbeschwerde als Auffangrechtsmittel ergriffen werden kann (Art. 113 ff. BGG; vgl. Ziff. 1.3).

Abs. 4 Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts über Interkonnektionsstreitigkeiten nach dem FMG sollen gestützt auf Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe p E-BGG auch dann endgültig sein, wenn mit einer Beschwerde an das Bundesgericht eine
Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung oder ein besonders bedeutender Fall aus anderen Gründen nach Absatz 1 geltend gemacht werden könnte. Der Bundesrat hält an dieser Sonderregelung trotz der im Vernehmlassungsverfahren vorgebrachten Kritik97 fest. Er erachtet die Verkürzung des Instanzenzugs als notwendig, damit namentlich kleineren Anbietern die Geschäftsplanung und Kalkulation nicht übermässig erschwert wird.

97

Das Bundesgericht, Economiesuisse und Swisscom beantragten sinngemäss den Verzicht auf Art. 89a Abs. 4 E-BGG.

4642

BBl 2018

Art. 89b

Begriffe

In Artikel 89b werden die Begriffe «Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung» und «besonders bedeutender Fall» näher umschrieben, von denen die Zulässigkeit der Beschwerde nach Artikel 89a E-BGG abhängt. Die Begriffsbestimmungen sind auch bei der Anwendung der Artikel 93a, 93b und 106 Absatz 3 E-BGG zu beachten.

Abs. 1 Zum Begriff «Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung» existiert bereits eine recht eingehende bundesgerichtliche Praxis, da er schon im geltenden BGG vorkommt. Die beispielhafte Konkretisierung im neuen Artikel 89b Absatz 1 orientiert sich an dieser Praxis und bezweckt keine Kurskorrektur.

Eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht noch nie entschieden hat, weist eine grundsätzliche Bedeutung auf, wenn sie von ihrem Gewicht her nach einer höchstrichterlichen Klärung ruft und der Entscheid für die Praxis wegleitend sein kann (Bst. a).98 Letzteres ist namentlich der Fall, wenn von unteren Instanzen viele gleichartige Fälle zu beurteilen sein werden und die betreffende Streitsache geeignet ist, die Frage auch mit Bezug auf die anderen Fälle zu klären.

Auch eine vom Bundesgericht bereits entschiedene Rechtsfrage kann von grundsätzlicher Bedeutung sein, wenn sich die erneute Überprüfung aufdrängt. Dies kann zutreffen, wenn die Rechtsprechung in der massgebenden Lehre auf erhebliche Kritik gestossen ist oder wenn sich das rechtliche Umfeld oder die gesellschaftlichen Entwicklungen wesentlich geändert haben (Bst. b).99 Uneinigkeiten in der Rechtsprechung der verschiedenen unmittelbaren Vorinstanzen des Bundesgerichts sind ein weiteres Indiz für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (Bst. c).100 Das Bundesgericht ist als oberste rechtsprechende Behörde dazu berufen, im Rahmen seiner Zuständigkeiten die einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen (Art. 188 Abs. 1 und 189 BV).

Als letzte typische Situation für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird in Buchstabe d die Ablehnung einer bundesgerichtlichen Praxis durch die Vorinstanz genannt. Geht aus dem angefochtenen Entscheid oder dem Kontext hervor, dass die Vorinstanz nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichts folgen wollte, so muss das Bundesgericht im Interesse der Rechtseinheit auf die Beschwerde eintreten und entweder seine bisherige Praxis durchsetzen oder diese modifizieren.101 Betrifft der Streit dagegen
lediglich die Anwendung von Grundsätzen einer anerkannten Rechtsprechung auf einen konkreten Fall, so ist damit noch nicht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gegeben.102

98 99 100 101 102

BGE 141 II 14 E. 1.2.2.1, 143 II 425 E. 1.3.2 BGE 139 II 340 E. 4 BGE 141 II 14 E. 1.2.2.3 Entscheid des Bundesgerichts 5A_948/2015 vom 12. April 2016 E. 1.3.

BGE 140 III 501 E. 1.3, 143 II 425 E. 1.3.2

4643

BBl 2018

Abs. 2 Der Begriff «besonders bedeutender Fall» findet sich ebenfalls bereits im aktuellen BGG, aber nur für die Bereiche der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, der internationalen Steueramtshilfe und des Steuererlasses (Art. 83 Bst. m, 84 und 84a BGG). Der geltende Artikel 84 Absatz 2 BGG nennt Kriterien, die in der internationalen Rechts- und Amtshilfe zur Annahme eines besonders bedeutenden Falls führen. Diese Kriterien können unverändert in den neuen Artikel 89a Absatz 2 transferiert werden (Bst. b). Daneben ist es aber notwendig, die typischen Merkmale eines besonders bedeutenden Falls auch generell ­ d. h. für Beschwerden ohne Bezug zu einem Verfahren im Ausland ­ festzulegen.

Nach dem vorgeschlagenen Buchstaben a ist insbesondere dann von einem besonders bedeutenden Fall auszugehen, wenn der angefochtene Entscheid grundlegende Rechtsprinzipien schwerwiegend verletzt. Das Bundesgericht soll auf Beschwerde hin korrigierend eingreifen, wenn der angefochtene Entscheid in stossender Weise dem Gerechtigkeitsempfinden widerspricht, weil er mit wichtigen Grundsätzen des materiellen Rechts nicht vereinbar ist oder in einem rechtsstaatlich nicht haltbaren Verfahren zustande gekommen ist. Die Norm zielt nur auf Fälle, in denen die entscheidrelevante Rechtsanwendung der Vorinstanz schlechterdings unhaltbar ist. Dies trifft auch zu, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich einer gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte widerspricht. 103 Hingegen kann keine schwerwiegende Verletzung grundlegender Rechtsprinzipien vorliegen, wenn bloss diskutabel ist, ob die Vorinstanz von mehreren vertretbaren Gesetzesauslegungen oder Interessenabwägungen die beste gewählt hat.

Besonders bedeutend ist ein Fall nach Buchstabe c ferner dann, wenn der angefochtene Entscheid weitreichende oder ausserordentliche Folgen nach sich zieht. Es muss sich objektiv um Auswirkungen handeln, die deutlich über das hinausgehen, was im Gerichtsalltag üblich ist.104 Die Perspektive einer unterliegenden Partei kann für sich allein nicht ausschlaggebend sein.

Art. 93a

Beschwerde gegen Teil-, Vor- und Zwischenentscheide bei grundsätzlich unzulässiger Beschwerde gegen den Endentscheid

Gemäss dem Grundsatz der Einheit des Verfahrens kann der Zugang zum Bundesgericht gegen einen Teil-, Vor- oder Zwischenentscheid nicht weiter sein als gegen den Endentscheid. Lässt das BGG die Beschwerde gegen einen Endentscheid nur zu, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt, so gelten deshalb diese Bedingungen auch für die Beschwerde gegen einen Teil-, Vor- oder Zwischenentscheid in der gleichen Sache. Ausschlaggebend sind dabei die Rügen, die gegen den Teil-, Voroder Zwischenentscheid vorgebracht werden.

103 104

Vgl. Art. 28 Abs. 1 Bst. b EMRK.

Vgl. z. B. BGE 142 IV 250 E. 1.3, 143 II 459 E. 1.2.3, 1.2.4.

4644

BBl 2018

Art. 93b

Vorsorgliche Massnahmen

Die Anfechtung von Entscheiden über vorsorgliche Massnahmen wird heute dadurch eingeschränkt, dass vor dem Bundesgericht in solchen Fällen nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden kann (Art. 98 BGG). Mit der Revision wird diese Einschränkung ersetzt. Neu ist gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen die Beschwerde ­ mit den gleichen Rügen wie bei anderen Entscheiden ­ zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt (vgl.

Ziff. 1.2.4 und Art. 89b E-BGG).

Art. 97 Abs. 2 Die heutige Bestimmung, wonach in Beschwerden gegen Entscheide über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung die Sachverhaltsfeststellung ­ anders als in den andern Sozialversicherungszweigen und allen übrigen Rechtsgebieten ­ in jeder Hinsicht beanstandet werden kann, wird abgeschafft (vgl. Ziff. 1.2.5).

Die verfassungsmässige Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) gilt auch im Bereich der politischen Rechte.105 Sie fordert, dass bei Rechtsstreitigkeiten mindestens eine Gerichtsinstanz angerufen werden kann, die über volle Kognition in Rechts- und Sachverhaltsfragen verfügt. Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen sowie betreffend Volkswahlen und -abstimmungen können zum Teil gegen Akte erhoben werden, die von einer Regierung oder einem Parlament erlassen worden sind (vgl. Art. 88 BGG). In solchen Fällen, in denen keine Gerichtsbehörde als Vorinstanz des Bundesgerichts entschieden hat, muss dieses, um der Rechtsweggarantie zu genügen, den Sachverhalt frei überprüfen können. Auch bei Beschwerden, die sich direkt gegen einen kantonalen Erlass richten (Art. 87 Abs. 1 BGG), muss das Bundesgericht in der Lage sein, allfällige Sachverhaltsfragen selbst zu prüfen.106 Die neue Fassung von Absatz 2 sieht daher vor, dass bei Beschwerden im Bereich der politischen Rechte und bei Beschwerden gegen Erlasse die Beschränkung der Sachverhaltsrügen nach Absatz 1 nur gilt, wenn ein Gericht als Vorinstanz entschieden hat.

Art. 98 Die Beschwerde gegen einen Entscheid über eine vorsorgliche Massnahme wird künftig nur zulässig sein, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt
(Art. 93b).

Im Gegenzug zu dieser Änderung wird die heute für Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen geltende Beschränkung der Beschwerdegründe (Art. 98 BGG) aufgehoben (vgl. Ziff. 1.2.4).

105 106

Vgl. BGE 138 I 61, 72 ff. E. 4.3.

Entscheid des Bundesgerichts 2C_519/2016 vom 4. Sept. 2017 E. 1.5.5

4645

BBl 2018

Art. 100 Abs. 2 Bst. b, c, e sowie Abs. 3 und 4 Nach Absatz 2 Buchstabe b wird die Beschwerdefrist von zehn Tagen künftig nicht nur für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und die internationale Amtshilfe in Steuersachen gelten, sondern auch für andere Entscheide im Bereich der internationalen Amtshilfe. Es gibt keinen Grund, für die Fälle der internationalen Amtshilfe, die nicht den Steuerbereich betreffen, eine Beschwerdefrist von 30 Tagen beizubehalten. Das Anliegen, das Verfahren zu beschleunigen, gilt für jede internationale Amtshilfe.

Nach Absatz 2 Buchstabe c gilt die Beschwerdefrist von zehn Tagen künftig für alle Entscheide der einzigen kantonalen Instanz nach Artikel 7 BG-KKE107. Der heutige Artikel 100 Absatz 2 Buchstabe c erwähnt nur zwei Haager Übereinkommen, so dass bei Entscheiden, die sich auf andere Haager Übereinkommen im gleichen Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes stützen, gegenwärtig die längere, ordentliche Beschwerdefrist anwendbar ist.

Im neuen Absatz 2 Buchstabe e wird die zehntägige Beschwerdefrist auch für die Anfechtung von Entscheiden über öffentliche Kaufangebote nach dem FinfraG vorgesehen.

Absatz 3 wird geändert und Absatz 4 aufgehoben, da die Beschwerdefrist im Bereich der politischen Rechte fortan in einem eigenen Artikel (Art. 101a) geregelt wird.

Art. 101a

Beschwerde in Stimmrechtssachen

Für die Beschwerdefristen in Stimmrechtssachen wird aus redaktionellen Gründen ein eigener Artikel geschaffen. Neu soll bei Beschwerden, die die ordnungsgemässe Durchführung von kantonalen Volkswahlen oder -abstimmungen betreffen, ebenfalls die fünftägige Beschwerdefrist gelten (bisher 30 Tage; vgl. Ziff. 1.2.5).

Art. 105 Abs. 3 Artikel 105 Absatz 3 ist an Artikel 97 Absatz 2 E-BGG anzupassen.

Art. 106 Abs. 3 In Bezug auf Beschwerden, die wegen der Streitwertgrenzen oder Sachgebietsausnahmen nur zulässig sind, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt, ist zu klären, in welchem Umfang das Bundesgericht eine zulässige Beschwerde zu prüfen hat.

Wird auf die Beschwerde nur eingetreten, weil sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, so beschränkt das Bundesgericht seine materielle Prüfung zunächst darauf, ob die Beschwerde hinsichtlich der rechtlichen Grundsatzfrage begründet ist. Nur wenn dies zutrifft, wenn also das Bundesgericht entweder in der Sache entscheiden oder diese an die Vorinstanz zurückweisen muss, prüft es auch die übrigen in der Beschwerde vorgebrachten Rügen. Hat die Vorinstanz die Rechts107

Vgl. Fussnote 34.

4646

BBl 2018

frage von grundsätzlicher Bedeutung dagegen richtig beurteilt, so weist das Bundesgericht die Beschwerde ab, ohne weitere Punkte zu prüfen.

Ist auf die Beschwerde einzutreten, weil aus anderen Gründen ein besonders beutender Fall vorliegt, so kann die materielle Prüfung nicht auf diese Weise abgestuft werden.

Art. 107 Abs. 3 erster Satz Die Regel, wonach das Bundesgericht innert einer Frist von 15 Tagen einen Nichteintretensentscheid fällt, wenn es eine Beschwerde auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen oder der internationalen Steueramtshilfe als unzulässig erachtet, wird auf Beschwerden in der gesamten internationalen Amtshilfe und im Bereich der öffentlichen Kaufangebote nach dem FinfraG ausgedehnt. Die Ordnungsfrist wird mit der Notwendigkeit begründet, die Eintretensfrage rasch zu klären, damit der Vollzug der Amts- oder Rechtshilfe bzw. der Verkauf der Beteiligungspapiere keinen unnötigen Aufschub erleidet.

Art. 109 Abs. 1 erster Satz Die Anpassung in Artikel 109 ist rein redaktioneller Natur. Insbesondere wird im ersten Satz von Absatz 1 der Verweis auf die Artikel 74 und 83­85 gestrichen.

Dieser Verweis müsste angepasst werden, ist aber für das Verständnis der Bestimmung entbehrlich.

Der Entscheid, auf eine Beschwerde nicht einzutreten, weil entgegen der gesetzlichen Anforderung keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung beziehungsweise kein besonders bedeutender Fall vorliegt, wird im vereinfachten Verfahren in Dreierbesetzung getroffen. Wie bisher sollen solche Entscheide auch dann auf dem Weg der Aktenzirkulation gefällt werden können, wenn sich keine Einstimmigkeit ergibt.

Die Vorlage hat zur Folge, dass die Zahl der Beschwerden, bei denen zu prüfen ist, ob sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt, deutlich zunehmen wird (vgl.

Ziff. 1.2.1). Das Bundesgericht wird aber zweifellos anstreben, Beschwerdeverfahren, bei denen diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, innert 1­2 Monaten abzuschliessen. Ohne eine rasche Triage müsste das Bundesgericht eine Zunahme von Beschwerden befürchten, die allein schon deshalb eingelegt würden, um einen zeitlichen Aufschub zu erreichen. Für die in Artikel 107 Absatz 3 BGG erwähnten Fälle gilt eine gesetzliche Behandlungsfrist von 15
Tagen. Nichteintretensentscheide nach Artikel 109 Absatz 1 BGG können in vielen Fällen ohne vorgängigen Schriftenwechsel getroffen werden.

Art. 112 Abs. 2 Nach dem geltenden Absatz 2 kann eine kantonale Vorinstanz des Bundesgerichts ihren Entscheid ohne Begründung eröffnen, wenn es das kantonale Recht vorsieht.

Die Parteien können in diesem Fall innert 30 Tagen eine vollständige Ausfertigung verlangen, die dann für den Beginn der Beschwerdefrist massgebend ist. Mit dieser 4647

BBl 2018

Regelung wollte man es den Kantonen seinerzeit ermöglichen, bei Straf- und Zivilurteilen, die durch die Gerichte oft in der Hauptverhandlung mündlich eröffnet werden, von einer schriftlichen Begründung abzusehen, wenn keine Partei eine solche verlangt. Verwaltungsrechtliche Angelegenheiten standen nicht im Fokus dieser Norm, weil dort mündliche Entscheideröffnungen die Ausnahme sind.

Mit der Vereinheitlichung des Zivil- und Strafprozessrechts wurde für diese Bereiche die Entscheideröffnung bundesrechtlich geregelt. Sowohl die ZPO als auch die StPO lassen eine Entscheideröffnung ohne schriftliche Begründung nur für untere kantonale Instanzen zu. Für die oberen Instanzen ist die schriftliche Urteilsbegründung zwingend vorgeschrieben.108 Kantonale Regelungen im Sinne von Artikel 112 Absatz 2 BGG sind heute praktisch nur noch für die Verwaltungsrechtspflege möglich. Im klassischen Verwaltungsrecht sind sie eher unüblich und kommen der Behördenbeschwerde des Bundes109 in die Quere. Ohne schriftliche Begründung kann die Bundesbehörde nicht prüfen, ob Anlass zu einer Beschwerde besteht. Verschiedene Kantone machen auf dem Gebiet des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts (Art. 72 Abs. 2 Bst. b Ziff. 6 BGG) von den Erleichterungen nach Artikel 112 Absatz 2 BGG Gebrauch.

Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Anforderungen an die Eröffnung der Entscheide durch die letzten kantonalen Instanzen für alle Rechtsgebiete einheitlich sein sollen. Nachdem die ZPO und die StPO bei oberen Instanzen obligatorisch eine schriftliche Begründung verlangen und die Bundesversammlung sich wiederholt gegen Ausnahmen ausgesprochen hat,110 ist Artikel 112 Absatz 2 BGG daher aufzuheben.

Art. 113, 114, 117 Bei den Artikeln zur subsidiären Verfassungsbeschwerde müssen verschiedene Querverweise auf andere Artikel angepasst werden. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist wie bisher gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen zulässig, die nicht mit der ordentlichen Beschwerde (Beschwerde in Zivilsachen, Strafsachen oder öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, inklusive Beschwerde bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung nach Art. 89a Abs. 3 E-BGG) angefochten werden können.

Art. 122 Bst. a Nach Artikel 122 BGG kann die Verletzung der EMRK Anspruch auf Revision eines Entscheids des Bundegerichts geben. Ein Revisionsgesuch
kann nur gestellt werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil (Art. 44 EMRK) festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind (Art. 122 Bst. a BGG). Neu wird neben dem endgültigen Urteil

108 109 110

Vgl. insb. Art. 318 Abs. 2 und 327 Abs. 5 ZPO, Art. 82 StPO.

Art. 89 Abs. 2 Bst. a BGG Vgl. die vom Nationalrat abgelehnte Motion Caroni vom 11. Sept. 2013 (13.3684 «Kein Begründungszwang vor zweitinstanzlichen Gerichten gegen den Parteiwillen»), insbesondere auch die Stellungnahme des Bundesrates.

4648

BBl 2018

auch der Abschluss des Verfahrens durch den Gerichtshof aufgrund einer gütlichen Einigung (Art. 39 EMRK) aufgeführt (vgl. Ziff. 1.2.5).

Der Bundesrat bietet im Strassburger Verfahren nach konstanter Praxis nur Hand zu einer gütlichen Einigung, wenn die geltend gemachte Verletzung der EMRK klar zutage tritt und nachdem er das Bundesgericht angehört hat. Deshalb besteht nicht ernsthaft die Gefahr, dass das Instrument der gütlichen Einigung dazu verwendet würde, aus politischen Gründen einen Entscheid des Bundesgerichts umzustossen.

2.2

Änderung anderer Erlasse

1. Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997111 (RVOG) Art. 47 Abs. 6 Im geltenden Recht ist diese Bestimmung auf Fälle anwendbar, in denen eine Verfügung von der Sache her der Beschwerde unterliegt, die Gesetzgebung indessen die Entscheidzuständigkeit dem Bundesrat zuteilt, ohne dass das VGG den Bundesrat als Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts erwähnt. Artikel 47 Absatz 6 RVOG sieht für diese Fälle eine automatische Delegation der Entscheidzuständigkeit an das Departement vor, um eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zu ermöglichen. Künftig werden Verfügungen, die vom Bundesrat als erste Instanz erlassen werden, grundsätzlich ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden können (vgl. Art. 33 Bst. b E-VGG und die Erläuterungen dazu). Artikel 47 Absatz 6 RVOG wird damit hinfällig und ist aufzuheben.

2. Verwaltungsverfahrensgesetz vom 20. Dezember 1968 (VwVG) Art. 49 Abs. 1 Bst. c und Abs. 2 Der geltende Artikel 49 erwähnt als einzige Ausnahme von der Möglichkeit, Unangemessenheit geltend zu machen, den Fall, wo eine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat. Mehrere Bundesgesetze schliessen jedoch für das Beschwerdeverfahren die Rüge der Unangemessenheit ausdrücklich aus.112 Für Beschwerden gegen Plangenehmigungen nach dem Bundesgesetz vom 8. März 111 112

SR 172.010 Ausgeschlossen ist die Angemessenheitsprüfung im Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG, SR 142.31; Art. 106 Abs. 1), im BöB (Art. 31), im BG vom 1. Okt. 2010 über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen (SR 196.1; Art. 11 Abs. 3), im BG vom 14. Dez. 2012 über die Förderung der Forschung und Innovation (FIFG, SR 420.1; Art. 13 Abs. 3), im Kulturförderungsgesetz vom 11. Dez. 2009 (KFG, SR 442.1; Art. 26), im Filmgesetz vom 14. Dez. 2001 (FiG, SR 443.1; Art. 32 Abs. 3) und im BG vom 21. März 1980 über Entschädigungsansprüche gegenüber dem Ausland (SR 981; Art. 8 Abs. 3); ferner teilweise im Eisenbahngesetz vom 20. Dez. 1957 (EBG, SR 742.101; Art. 51a Abs. 2), im Personenbeförderungsgesetz vom 20. März 2009 (PBG, SR 745.1; Art. 56 Abs. 3) und im KVG (Art. 53 Abs. 2 Bst. e).

4649

BBl 2018

1960113 über die Nationalstrassen (NSG) wird neu eine analoge Beschränkung vorgeschlagen. Aus Gründen der Transparenz soll in Artikel 49 ein entsprechender Vorbehalt angebracht werden (zum Verzicht auf eine weitergehende Änderung von Art. 49 VwVG vgl. Ziff. 1.3).

Art. 63 Abs. 4bis­6 Die Änderung von Artikel 63 dient hauptsächlich dazu, die Obergrenze für die Gerichtsgebühren des Bundesverwaltungsgerichts (und des Bundesstrafgerichts in verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten) zu erhöhen, wie dies die Bundesversammlung mit einer Motion verlangt hat (vgl. Ziff. 1.2.5).

Abs. 4bis Die Spruchgebühr soll neu mindestens 200 statt 100 Franken betragen. Dies entspricht einer Anregung in der Begründung der oben erwähnen Motion der Geschäftsprüfungskommissionen der Bundesversammlung. Die Änderung betrifft aber nicht nur das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht, sondern alle Beschwerdeinstanzen, die nach dem VwVG entscheiden. Wenn besondere Umstände den teilweisen oder vollständigen Erlass der Verfahrenskosten rechtfertigen, können die 200 Franken auch in Zukunft unterschritten werden (Art. 63 Abs. 1 dritter Satz VwVG).

Abs. 5 Mittels einer redaktionellen Anpassung wird verdeutlicht, dass das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesstrafgericht die Einzelheiten der Gerichtsgebühren in Reglementen regeln, dass sie dabei aber nicht von Artikel 63 VwVG abweichen können.

Abs. 6 Der neue Absatz 6 übernimmt für die Spruchgebühren des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesstrafgerichts das Modell von Artikel 65 Absatz 5 BGG. Wenn besondere Gründe es rechtfertigen, können die Höchstbeträge nach Absatz 4bis bis zum doppelten Betrag überschritten werden.

Art. 65 Abs. 4 zweiter Satz Wie in Artikel 64 Absatz 4 zweiter Satz E-BGG wird die Verjährung des Anspruchs des Gemeinwesens auf Ersatz der im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege übernommenen Kosten ausdrücklich geregelt.

Art. 72 Bst. a Da die Formulierung des neuen Artikels 84a BGG gegenüber dem bisherigen Artikel 83 Buchstabe a BGG präzisiert wird, ist auch der analoge Artikel 72 Buchstabe a VwVG anzupassen. Eine materielle Änderung ist damit nicht verbunden.

113

SR 725.11

4650

BBl 2018

Art. 78 Abs. 2 zweiter Satz Es ist heute nicht mehr eine Seltenheit, dass gegen Verfügungen des Bundesrates ­ zu Recht oder zu Unrecht ­ beim Bundesverwaltungsgericht oder beim Bundesgericht Beschwerde eingelegt wird. Infolge der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 33 VGG werden solche Beschwerden eventuell noch etwas häufiger vorkommen. Wird der Bundesrat im Gerichtsverfahren zur Vernehmlassung eingeladen, so ist es sehr aufwendig, wenn die Vernehmlassung vom Gesamtbundesrat verabschiedet werden muss. Mit einer Ergänzung von Artikel 78 Absatz 2 VwVG wird das Departement, das die Verfügung des Bundesrates vorbereitet hat, ermächtigt, den Bundesrat vor der Beschwerdeinstanz zu vertreten. Es versteht sich von selbst, dass das Departement grundsätzlich an den Entscheid des Bundesrates gebunden bleibt.

3. Bundespersonalgesetz vom 24. März 2000 (BPG) Art. 36 Abs. 2 erster bis dritter Satz Die externe Rekurskommission sui generis gemäss Artikel 36 Absatz 2 setzt sich nach geltendem Recht aus den Präsidenten oder Präsidentinnen der Verwaltungsgerichte der Kantone Luzern, Waadt und Tessin zusammen. Die Kantone Luzern und Waadt haben ihre Verwaltungsgerichte ins Kantonsgericht eingegliedert. Aus diesem Grund muss die Zusammensetzung dieser externen Rekurskommission im Bereich des Personalrechts des Bundesgerichts anders umschrieben werden. Neu sollen die Präsidenten oder Präsidentinnen jener Abteilungen, die an den oberen Gerichten der Kantone Waadt, Luzern und Tessin für den Bereich der öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse zuständig sind, von Amtes wegen Mitglieder der Rekurskommission sein. Im Übrigen trägt die neue Formulierung auch der in Artikel 25 Absatz 2bis E-BGG vorgesehen Einsetzung einer internen Rekurskommission Rechnung.

Die externe Rekurskommission ist nötig, da Entscheide des Bundesgerichts betreffend das eigene Personal nicht beim gleichen Gericht mit Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten angefochten werden können. Der Rechtsweg an die externe Rekurskommission sollte indessen nicht umfassender sein als der bestehende Rechtsweg ans Bundesgericht für andere Angestellte im öffentlichen Dienst. Deshalb ist es angezeigt, auf das Verfahren dieser Rekurskommission die Bestimmungen über die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, insbesondere Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe g und Absatz 2 sowie Artikel 85 BGG (i. V. m.

Art. 89a Abs. 1 E-BGG), analog anzuwenden. Die Beschwerde an die externe Rekurskommission ist folglich in vermögensrechtlichen Angelegenheiten mit einem Streitwert unter 15 000 Franken nur zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt.

4651

BBl 2018

4. Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 (VGG) Art. 23 Abs. 2 Bst. a Die Verweisung auf Artikel 111 AsylG wird angepasst, um bereits erfolgten Änderungen dieser Bestimmung Rechnung zu tragen.

Art. 32 Abs. 1 Bst. a, f, h In Buchstabe a von Absatz 1 ist dem Wortlaut von Artikel 84a E-BGG und Artikel 72 Buchstabe a E-VwVG Rechnung zu tragen. Für die Bereiche des Nachrichtendienstes und der Personensicherheitsprüfung präzisieren die Spezialgesetze, dass die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht zulässig ist. 114 Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass in diesen Fällen die Voraussetzungen für eine Ausnahme nach Artikel 32 Absatz 1 Buchstabe a VGG nicht erfüllt werden.

Buchstabe f nimmt gegenwärtig Verfügungen über die Erteilung oder Ausdehnung von Infrastrukturkonzessionen für Eisenbahnen von der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Ausnahme wurde seinerzeit vor allem deshalb geschaffen, um die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesrates ­ unter Ausschaltung des Delegationsautomatismus nach Artikel 47 Absatz 6 RVOG ­ beizubehalten. Mit der vorgeschlagenen Aufhebung von Artikel 47 Absatz 6 RVOG wird diese Begründung hinfällig. Es besteht kein stichhaltiger Grund, die erwähnten Konzessionsentscheide im Eisenbahnrecht im Gegensatz zu anderen Konzessionsentscheiden von einem Rechtsmittel an ein Gericht auszunehmen. Vielmehr fordert die Rechtsweggarantie von Artikel 29a BV sogar ein solches Rechtsmittel.

Die Ausnahme betreffend Eisenbahnkonzessionen wird daher aufgehoben. An ihre Stelle soll eine andere Ausnahme treten: Im Bereich des Geoinformationsgesetzes vom 5. Oktober 2007115 (GeoIG) soll die Festlegung geografischer Namen (z. B.

Stationsnamen konzessionierter Transportunternehmen) und die Genehmigung der durch die Kantone festgelegten Namen nicht gerichtlich angefochten werden können. Das GeoIG und die Verordnung vom 21. Mai 2008116 über die geografischen Namen sehen bei solchen Verfahren nur Behörden des Bundes, der Kantone und der Gemeinden sowie konzessionierte Transportunternehmen als Beteiligte vor. Es genügt daher, wenn im GeoIG ein Differenzbereinigungsverfahren geregelt wird (vgl.

Art. 7 Abs. 2 E-GeoIG).

In Buchstabe h wird ebenfalls ein bisheriger Ausnahmetatbestand durch einen neuen ersetzt. Die bisher aufgeführten Konzessionserteilungen für Spielbanken
sollen nicht mehr a priori von einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen werden. Die Beachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen und des vorgeschriebenen Verfahrens sind auch bei diesen Entscheiden justiziabel.117 Hingegen ist neu die Genehmigung von Erlassen und öffentlich-rechtlichen Tarifen als Ausnahme aufzuführen.

114

Art. 83 Abs. 1 des Nachrichtendienstgesetzes vom 25. Sept. 2015 (SR 121); Art. 21 Abs. 3 des BG vom 21. März 1997 über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (SR 120).

115 SR 510.62 116 GeoNV; SR 510.625 117 Vgl. Botschaft vom 21. Okt. 2015 zum Geldspielgesetz; BBl 2015 8387, hier 8509 f.

4652

BBl 2018

Bei diesen Akten handelt es sich zwar kaum um Verfügungen nach Artikel 31 VGG; in der Praxis gab es jedoch immer wieder Unklarheiten, teilweise wurden derartige Beschwerden sogar materiell geprüft. Die Beschwerde gegen die Genehmigung von Erlassen und öffentlich-rechtlichen Tarifen ist aber dann zulässig, wenn ein Spezialgesetz dies ausdrücklich vorsieht (z. B. Art. 53 KVG).

Art. 33 Bst. a und b Nach Artikel 189 Absatz 4 BV können Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates nicht beim Bundesgericht (und somit erst recht nicht bei einer anderen richterlichen Behörde) angefochten werden. Von der Befugnis, Ausnahmen zu bestimmen (Art. 189 Abs. 4 zweiter Satz BV), hat der Gesetzgeber nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Eine direkte Beschwerde an das Bundesgericht gegen solche Akte gibt es nicht. In den Fällen nach Artikel 33 Buchstaben a und b VGG können Verfügungen des Bundesrates oder der Organe der Bundesversammlung beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden. Es geht dabei vor allem um Verfügungen über Arbeitsverhältnisse von Bundesangestellten und über die Abberufung von Mitgliedern der Leitungsgremien von Verwaltungseinheiten der dezentralen Bundesverwaltung. Soweit es das BGG zulässt, können entsprechende Beschwerdeentscheide des Bundesverwaltungsgerichts an das Bundesgericht weitergezogen werden.

Das Zusammenspiel der verschiedenen Vorschriften, die beim Rechtsschutz gegen Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung zu berücksichtigen sind, ist relativ kompliziert. Dies war auch einer der Gründe für die Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates vom 3. Februar 2011 «Rechtsschutz in ausserordentlichen Lagen».118 Namentlich der in Artikel 47 Absatz 6 RVOG geregelte sogenannte Delegationsautomatismus wird oft nicht richtig verstanden. Danach gehen Geschäfte des Bundesrates von Rechts wegen auf das in der Sache zuständige Departement über, soweit Verfügungen zu treffen sind, die von ihrem Gegenstand her (sachliche Zuständigkeit, Art. 31 und 32 VGG) der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unterliegen, für die der Bundesrat aber nach Artikel 33 VGG nicht selbst Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts sein kann.

Diese eher unübersichtliche Regelung betrifft grundsätzlich alle Verfügungen des Bundesrates, nicht nur die in der damaligen Motion angesprochenen,
die sich unmittelbar auf die Verfassung stützen. Hinsichtlich allfälliger Verfügungen der Bundesversammlung kann der vom Völkerrecht unter Umständen gebotene Rechtsschutz sogar nur mit dem Auslegungsmittel der Lückenfüllung hergestellt werden.119 Der Bundesrat will daher den Rechtsschutz gegenüber Verfügungen (im Unterschied zu anderen Akten nach Art. 189 Abs. 4 BV) des Bundesrates und der Bundesversammlung einfacher regeln und allfällige Lücken schliessen. Die Bundesversammlung und ihre Organe sowie der Bundesrat werden im Gesetz, soweit sie erstinstanzlich verfügen, neu generell als mögliche Vorinstanzen des Bundesverwaltungs118 119

11.3006. Die Motion fand im Ständerat keine Zustimmung.

Bei Verordnungen besteht dagegen kein ernsthaftes Problem: Wer durch die getroffene Regelung von Rechten und Pflichten besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse hat, kann den Erlass einer anfechtbaren Verfügung verlangen.

4653

BBl 2018

gerichts aufgeführt (Art. 33 Bst. a und b E-VGG). Die ziemlich umfangreiche bisherige Aufzählung einzelner Verfügungskategorien entfällt. Der Delegationsautomatismus in Artikel 47 Absatz 6 RVOG wird ebenfalls aufgehoben Die beschriebene Neuregelung bewirkt, dass gegen erstinstanzliche Verfügungen der Bundesversammlung und des Bundesrates beim Bundesverwaltungsgericht und anschliessend beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden kann, soweit die Ausnahmekataloge nach Artikel 32 E-VGG bzw. nach den Artikeln 83 und 84a E-BGG die sachliche Zuständigkeit dieser Gerichte nicht einschränken. Auf dem Gebiet der inneren und äusseren Sicherheit und der auswärtigen Angelegenheiten ist die Beschwerde an die Gerichte nur zulässig, wenn der Entscheid nicht überwiegend auf politischen Erwägungen beruht oder wenn das Völkerrecht einen Anspruch auf gerichtliche Beurteilung einräumt. Trifft keine dieser Bedingungen zu, sind Verfügungen des Bundesrates (und gegebenenfalls der Bundesversammlung; vgl. Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV) auf dem genannten Gebiet endgültig, während gegen Verfügungen der Bundesverwaltung Beschwerde bis zum Bundesrat geführt werden kann (Art. 47 und 72 Bst. a VwVG). Akte, die nicht als Verfügung zu qualifizieren sind, sind nicht anfechtbar, was sich aus Artikel 31 VGG und Artikel 44 VwVG ergibt. Über sogenannte Realakte kann aber unter den (relativ strengen) Voraussetzungen von Artikel 25a VwVG eine Verfügung erwirkt werden.120

5. Strafprozessordnung (StPO) Art. 40 Abs. 1, 59 Abs. 1 Einleitungssatz, 125 Abs. 2 erster Satz, 150 Abs. 2 zweiter Satz, 186 Abs. 2 zweiter Satz und Abs. 3, 248 Abs. 3 Einleitungssatz, 440 Abs. 3 Bei den in diesen Bestimmungen erwähnten Entscheiden wird die Bezeichnung «endgültig» gestrichen. Nach Artikel 380 StPO bedeutet «endgültig» bloss, dass kein Rechtsmittel der StPO zulässig ist. Die in der StPO als endgültig bezeichneten Entscheide unterliegen heute direkt der Beschwerde an das Bundesgericht, was nicht der Rolle des höchsten Gerichts entspricht (vgl. Ziff. 1.2.5). Künftig sollen die fraglichen Entscheide, sofern sie nicht bereits von einer Vorinstanz des Bundesgerichts im Sinne der Neufassung von Artikel 80 BGG getroffen worden sind, der Beschwerde nach Artikel 393 StPO unterliegen.

Art. 119 Abs. 2 Bst. a, 120 Abs. 2 Für den Ausdruck «Strafklage» verwendet der geltende französische Text den Begriff «plainte pénale». Das StGB versteht unter diesem Begriff aber den Strafantrag (Art. 30 StGB). Im französischen Text der Artikel 119 und 120 StPO wird deshalb der Begriff «plainte pénale» ersetzt durch «action pénale». Der deutsche und der italienische Text bleiben unverändert.

120

Vgl. dazu BGE 140 II 315 E. 4.

4654

BBl 2018

Art. 135 Abs. 3 Die geltende Regelung der Rechtsmittel gegen den Entscheid über die Entschädigung für die amtliche Verteidigung ist in verschiedener Hinsicht unbefriedigend: Die Regelung von Buchstabe a führt zu einem uneinheitlichen Rechtsmittelweg.

Nach der Praxis des Bundesgerichts kann auch die Staatsanwaltschaft das Honorar der amtlichen Verteidigung anfechten, und zwar mit Berufung. 121 Ficht die amtliche Verteidigung das Honorar ebenfalls an, so kommt es zu einer Teilung des Rechtsmittelwegs, was zu Schwierigkeiten führen kann. Deshalb wird nunmehr vorgesehen, dass das amtliche Honorar mit dem für die Hauptsache zulässigen Rechtsmittel anzufechten ist.

Zudem kann heute gegen den Entscheid der Beschwerdeinstanz oder des Berufungsgerichts eines Kantons über die Entschädigung der amtlichen Verteidigung beim Bundesstrafgericht Beschwerde geführt werden (Bst. b). Dieser Rechtsmittelweg von einem kantonalen Strafgericht zum Bundesstrafgericht ausserhalb der Kompetenz- und Rechtshilfekonflikte ist atypisch und führt zu einem unangemessen langen Instanzenzug, soweit der Entscheid des Bundesstrafgerichts noch beim Bundesgericht angefochten werden könnte.122 Ferner ist der Rechtsmittelweg nach dem bisherigen Wortlaut des Gesetzes nicht einheitlich, wenn sowohl die Entschädigung für das erstinstanzliche Verfahren als auch jene für das zweitinstanzliche Verfahren bestritten werden.123 Deshalb soll für die Anfechtung von Entschädigungsentscheiden der kantonalen Beschwerde- und Berufungsinstanzen das BGG gelten. Buchstabe b ist zu streichen.

Art. 365 Abs. 3 Die Frage, welches Rechtsmittel gegen selbstständige nachträgliche Entscheide des Gerichts zulässig ist, ist umstritten. Dies weil Artikel 365 StPO nicht ausdrücklich regelt, ob es sich beim Entscheid um ein Urteil oder einen Beschluss beziehungswiese eine Verfügung handelt (vgl. Art. 80 Abs. 1 StPO).

Der überwiegende Teil der Lehre spricht sich für die Beschwerde aus, denn der selbstständige nachträgliche Entscheid des Gerichts ergehe ­ insbesondere wegen des engen Urteilsbegriffs respektive mangels Vorliegen eines neuen Sachurteils ­ in Form einer Verfügung beziehungsweise eines Beschlusses. In diesem Sinne hat auch das Bundesgericht entschieden.124 Dieses Ergebnis wird von der Lehre jedoch kritisiert. Es sei nicht einzusehen, weshalb gegen eine
erstinstanzliche Massnahme ­ wie zum Beispiel eine Verwahrung ­ die Berufung möglich sei, gegen die Anordnung der gleichen Massnahme im Rahmen eines selbstständigen nachträglichen Entscheids aber nur die Beschwerde.

Ausserdem werde die Beschwerde der inhaltlichen Tragweite eines grossen Teils der nachträglichen Entscheide nicht gerecht und schränke die Verfahrensrechte der betroffenen Person in unerwünschter Weise ein.125 121 122 123 124 125

BGE 139 IV 199 E. 5.5.

Vgl. dazu Art. 79 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 E-BGG.

Vgl. BGE 140 IV 213 E. 1.6.

BGE 141 IV 396.

Vgl. BGE 141 IV 396 E. 3.9.

4655

BBl 2018

In einem neuen Absatz 3 wird daher explizit festgehalten, dass gegen selbstständige nachträgliche Entscheide Berufung eingelegt werden kann. Damit ist auch klar, dass gegen solche Entscheide letztinstanzlich die Beschwerde ans Bundesgericht zulässig ist (Art. 79 Abs. 1 Bst. b E-BGG nicht anwendbar).

Art. 377 Abs. 4 dritter Satz Gemäss geltendem Recht ergeht ein allfälliger Einspracheentscheid des Gerichts im Rahmen eines selbstständigen Einziehungsverfahrens in Form eines Beschlusses oder einer Verfügung (Art. 377 Abs. 4 StPO). Deshalb kann dieser Entscheid nur mit Beschwerde angefochten werden (Art. 393 Abs. 1 Bst. b StPO).

Da gegen selbstständige nachträgliche Entscheide anstelle der Beschwerde neu die Berufung zulässig sein soll (vgl. Art. 365 Abs. 3 E-StPO), wird in Absatz 4 aus Kohärenzgründen ebenfalls die Berufung als zulässiges Rechtsmittel gegen einen Einspracheentscheid des Gerichts vorgeschlagen.

Art. 393 Abs. 1 Bst. c Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts sollen künftig generell mit Beschwerde nach Artikel 393 StPO anfechtbar sein, nicht nur dann, wenn es die StPO an anderer Stelle vorsieht. Diese Anpassung ist notwendig, damit gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts nicht mehr direkt das Bundesgericht angerufen werden kann (vgl. Ziff. 1.2.5).

Art. 398 Abs. 1 Da gegen selbstständige nachträgliche Entscheide und selbstständige Einziehungsentscheide neu die Berufung zulässig sein soll (Art. 365 Abs. 3 und 377 Abs. 4 E StPO), wird Absatz 1 entsprechend ergänzt.

6. Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012 über die Förderung der Forschung und der Innovation (FIFG) Art. 13 Abs. 3 Diese Bestimmung wird einzig aus redaktioneller Sicht geändert. Statt zu wiederholen, welche der in Artikel 49 VwVG genannten Rügen vor Bundesverwaltungsgericht zulässig sind, ist nur die Ausnahme von der Regel festzuhalten. Deshalb genügt es, die Rüge der Unangemessenheit auszuschliessen.

7. Geoinformationsgesetz vom 5. Oktober 2007 (GeoIG) Art. 7 Abs. 2 Das Geoinformationsgesetz erklärt den Bundesrat für zuständig, als letzte Instanz Streitigkeiten über geografische Namen zu entscheiden. Der Bundesrat musste des4656

BBl 2018

halb bereits über Beschwerden hinsichtlich der Benennung eines Bahnhofes oder einer Busstation befinden. Sofern zwischen den Departementen auf Bundesebene keine Differenzen bestehen, rechtfertigt es sich nicht, dass die Landesregierung über solche Fragen, die ausgesprochen lokalen Charakter haben, entscheiden muss. Aus diesem Grund sollen künftig die zuständigen Departemente bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beteiligten (Kantone, Gemeinden, Transportunternehmungen, Bundesämter) endgültig entscheiden. Einzig für den Fall, dass mehrere Departemente betroffen sind und sich diese nicht einigen können, wird die Entscheidzuständigkeit beim Bundesrat verbleiben.

8. Verrechnungssteuergesetz vom 13. Oktober 1965 (VStG) Art. 56

e. Beschwerde an das Bundesgericht

Im Bereich der direkten Bundessteuer wurde die Möglichkeit, den Entscheid der kantonalen Steuerrekurskommission in jedem Fall direkt beim Bundesgericht anzufechten (Art. 146 DBG126), mit dem Bundesgesetz vom 26. September 2014127 über eine Anpassung des DBG und des StHG an die Allgemeinen Bestimmungen des StGB aufgehoben. Artikel 56 VStG sieht eine ähnliche Regelung wie jene des alten Artikels 146 DBG vor. Um die Rechtswege im Bereich des Steuerrechts einheitlich zu regeln, muss Artikel 56 VStG angepasst werden. Die Vorschrift, wonach einzig obere kantonale Gerichte als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts entscheiden können, soll ohne Ausnahme gelten (vgl. Ziff. 1.2.5). In Analogie zu Artikel 146 DBG wird auch in Artikel 56 VStG ein Beschwerderecht der kantonalen Steuerverwaltung (Verrechnungssteueramt) vorgesehen.

9. Bundesgesetz vom 12. Juni 1959 über die Wehrpflichtersatzabgabe (WPEG) Art. 31 Abs. 3 Im Bereich der direkten Bundessteuer wurde die Möglichkeit, den Entscheid der kantonalen Steuerrekurskommission in jedem Fall direkt beim Bundesgericht anzufechten (Art. 146 DBG), mit dem Bundesgesetz vom 26. September 2014128 über eine Anpassung des DBG und des StHG an die Allgemeinen Bestimmungen des StGB aufgehoben. Artikel 31 Absatz 3 WPEG sieht eine ähnliche Regelung wie jene des alten Artikels 146 DBG vor. Um die Rechtswege im Bereich des Steuerrechts einheitlich zu regeln, muss Artikel 31 Absatz 3 WPEG angepasst werden. Die Vorschrift, wonach einzig obere kantonale Gerichte als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts entscheiden können, soll ohne Ausnahme gelten (vgl. Ziff. 1.2.5).

126 127 128

Bundesgesetz vom 14. Dez. 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11).

AS 2015 779 AS 2015 779

4657

BBl 2018

Die gleiche Anpassung von Artikel 31 WPEG hat der Bundesrat bereits in seiner Botschaft vom 6. September 2017 zur Änderung des WPEG beantragt.129

10. Bundesgesetz vom 8. März 1960 über die Nationalstrassen (NSG) Art. 28 Abs. 5 Artikel 28 NSG regelt nach dem Randtitel die Plangenehmigung, deren Geltungsdauer und die Beschwerde. Letztere war Gegenstand von Absatz 5, der mit der Schaffung des VGG aufgehoben wurde. Der Bundesrat schlägt vor, in Absatz 5 neu ausdrücklich auf die allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege und das Bundesgesetz vom 20. Juni 1930130 über die Enteignung (EntG) zu verweisen, dies aber mit der Einschränkung, dass Unangemessenheit im Beschwerdeverfahren nicht gerügt werden kann.

Die Planung und der Bau der Nationalstrassen erfolgt dreistufig. Zunächst entscheidet die Bundesversammlung über die allgemeine Linienführung und die Art der Nationalstrassen (Art. 11 NSG). Sodann genehmigt der Bundesrat die generellen Projekte, in welchen die wesentlichen Elemente wie die Linienführung und die Anschlussstellen ersichtlich sind (Art. 20 NSG). Schliesslich erteilt das UVEK die Plangenehmigungsverfügung für die durch das Bundesamt für Strassen (ASTRA) ausgearbeiteten Ausführungsprojekte (Art. 26 NSG). Den jeweiligen Behörden kommt dabei ein grosses Planungs- und Auswahlermessen zu, dessen Ausübung insbesondere technische Fachkompetenzen der Verwaltung erfordert. Das klassische Ermessen im Verwaltungsrecht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es der Verwaltung einen Spielraum öffnet, in den sich die Justiz nicht einmischen soll, solange keine Rechtsvorschriften verletzt werden. Im Zusammenhang mit dem Bau von Nationalstrassen ist es sachgerecht, die Rüge der Unangemessenheit im Beschwerdeverfahren gegen Plangenehmigungen auszuschliessen. Diese massvolle Beschränkung der Kognition des Bundesverwaltungsgerichts kann zudem zu einer gewissen Beschleunigung der oft langwierigen Verfahren beitragen.

11. Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957 (EBG) Art. 51a Abs. 2 Diese Bestimmung wird einzig aus redaktioneller Sicht geändert. Statt unter zwei Buchstaben zu wiederholen, welche der in Artikel 49 VwVG genannten Rügen vor Bundesverwaltungsgericht zulässig sind, ist nur die Ausnahme von der Regel festzuhalten. Deshalb genügt es, in einem zweiten Satz die Rüge der Unangemessenheit auszuschliessen.

129 130

BBl 2017 6217, hier 6221.

SR 711

4658

BBl 2018

12. Transplantationsgesetz vom 8. Oktober 2004131 Art. 68 Abs. 2 Der Ausdruck «Bundesverwaltungsgericht» wird durch «Beschwerdeinstanz» ersetzt. Gegen den Beschwerdeentscheid des Bundesverwaltungsgerichts im Bereich der Transplantation von Organen, Geweben und Zellen wird künftig die Beschwerde ans Bundesgericht zulässig sein, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt (Art. 83 Abs. 2 und 89a Abs. 1 E-BGG).

13. Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000132 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) Art. 61 Bst. bbis Nach der Rechtsprechung kann auch vor dem kantonalen Versicherungsgericht die Unangemessenheit einer Verfügung gerügt werden.133 Dies wurde aus dem Umstand abgeleitet, dass die kantonalen Versicherungsgerichte bei gleichartigen Streitfällen nicht eine eingeschränktere Kognition haben können als das Bundesverwaltungsgericht.134 Diese Regel wird nun ausdrücklich in Artikel 61 ATSG festgeschrieben. Sie wird sich jedoch auf Streitigkeiten über Versicherungsleistungen beschränken, wie dies bereits bis 2006 der Fall war.135 Streitigkeiten über Versicherungsbeiträge sind davon ausgeschlossen.

3

Auswirkungen

3.1

Auswirkungen auf den Bund

Entsprechend der Zielsetzung der Revisionsvorlage soll sich das Bundesgericht künftig stärker auf Fälle konzentrieren können, die aufgrund ihrer Bedeutung, insbesondere der sich stellenden Rechtsfragen, eine Behandlung durch das oberste Gericht rechtfertigen. Dies bedingt einerseits einen gewissen Abbau bei einfachen Routinefällen, wo das Bundesgericht die Beurteilung durch die Vorinstanzen in der Regel nur bestätigen kann. Anderseits müssen in Rechtsgebieten, in denen das Gesetz heute Beschwerden an das Bundesgericht vollständig ausschliesst, zumindest Beschwerden in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung zugelassen werden. Es handelt sich daher bei der vorliegenden Revision nicht um eine eigentliche Entlastungsvorlage für das Bundesgericht. Die einzelnen vorgeschlagenen Massnahmen sind aber so aufeinander abgestimmt, dass sie im Zusammenspiel eine mittelfristige Stabilisierung der aktuellen Geschäftslast des Bundesgerichts begünstigen.

131 132 133 134 135

SR 810.21 SR 830.1 BGE 137 V 71 E. 5.2 Vgl. Art. 49 VwVG.

Vgl. Art. 132 Bst. a des Bundesrechtspflegegesetzes vom 16. Dez. 1943 (AS 1969 767).

4659

BBl 2018

Nach dem Gesagten hat die Vorlage keine namhaften Auswirkungen auf die Finanzen und den Personalbedarf des Bundesgerichts. Das Gleiche gilt für die anderen Rechtsprechungsorgane des Bundes. Die Erhöhung der Obergrenze der Gerichtsgebühren (vgl. Ziff. 1.2.5) wird zu Mehreinnahmen führen, doch sind davon nur wenige Fälle betroffen.

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Der Wegfall von Ausnahmebestimmungen, die die direkte Anfechtung von Entscheiden unterer kantonaler Gerichte beim Bundesgericht ermöglicht haben (vgl.

Ziff. 1.2.5), führt zu einer stärkeren Belastung der oberen kantonalen Gerichte.

Namentlich bei den Beschwerdeinstanzen und Berufungsgerichten nach der StPO wird die Mehrbelastung zwar nicht enorm, aber doch spürbar sein. Die Vorlage verpflichtet die Kantone jedoch nicht zur Schaffung neuer Behörden oder zu Änderungen an der Behördenorganisation.

Für Kantone, die im Bereich der Verwaltungsrechtspflege noch die Praxis kennen, dass das obere kantonale Gericht einen Teil seiner Entscheide ohne schriftliche Begründung eröffnet und eine solche nur auf Verlangen nachliefert, entsteht durch die Aufhebung von Artikel 112 Absatz 2 BGG zusätzlicher Aufwand (vgl. die Erläuterungen zu diesem Artikel).

Die Vorlage hat keine Auswirkungen, die speziell die Gemeinden betreffen.

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Ein gut funktionierendes Justizsystem, welches das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen geniesst, ist für eine gesunde Volkswirtschaft von grosser Bedeutung. Mit der Vorlage werden bei den Zuständigkeiten des Bundesgerichts gezielte Anpassungen vorgenommen, damit das oberste Gericht seine Kernaufgaben noch besser wahrnehmen kann. Insgesamt gesehen führt die Revision nicht zu einem Abbau an Rechtsschutzmöglichkeiten; sie schafft aber auch keine unnötigen neuen Verfahren.

4

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist weder in der Botschaft vom 27. Januar 2016136 zur Legislaturplanung 2015­2019 noch im Bundesbeschluss vom 14. Juni 2016137 über die Legislaturplanung 2015­2019 angekündigt. Sie setzt den Bericht des Bundesrates vom 30. Oktober 2013138 über die Gesamtergebnisse der Evaluation der neuen Bundesrechtspflege um und wurde von der Bundesversammlung mit der Motion «Revision 136 137 138

BBl 2016 1105 BBl 2016 5183 BBl 2013 9077

4660

BBl 2018

des Bundesgerichtsgesetzes» der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 12. Mai 2017139 verlangt.

5

Rechtliche Aspekte

5.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf die Artikel 123 Absatz 1, 177 Absatz 3, 187 Absatz 1 Buchstabe d, 188 Absatz 2, 189 Absatz 4, 191 und 191a BV. Diese Verfassungsartikel geben dem Bund die Kompetenz, im Bereich der Organisation und des Verfahrens des Bundesgerichts, auf dem Gebiet des öffentlichen Verfahrensrechts des Bundes sowie des Strafprozessrechts Bestimmungen zu erlassen. Der vorliegende Erlass ändert das Bundesgerichtsgesetz und im Anhang andere bereits bestehende Gesetze.

Es werden keine neuen Ausnahmen von der Rechtsweggarantie nach Artikel 29a BV beansprucht.

5.2

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der Schweiz

Die Vorlage ist mit dem für die Schweiz geltenden Völkerrecht, insbesondere der EMRK, dem Internationalen Pakt vom 16. Dezember 1966140 über bürgerliche und politische Rechte und den Bilateralen Verträgen mit der Europäischen Union, vereinbar. Mit der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 33 VGG werden in Bezug auf Verfügungen des Bundesrates und der Bundesversammlung Unsicherheiten über die Einhaltung völkerrechtlicher Ansprüche auf Beurteilung von Streitigkeiten durch ein nationales Gericht beseitigt. Was die in Artikel 11 Absatz 3 FZA garantierte Beschwerde an ein Gericht (als zweite Beschwerdeinstanz) betrifft, 141 kann das Bundesgericht im Rahmen von Artikel 89a Absatz 1 E-BGG beziehungsweise der Bestimmungen über die subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG) auf eine Beschwerde im Bereich des Ausländerrechts eintreten, wenn die erwähnte Garantie nicht bereits durch das Verfahren vor der Vorinstanz erfüllt worden ist. Das Bundesgericht teilt diese Einschätzung.

139 140 141

17.3357 SR 0.103.2 Vgl. auch Art. 11 Abs. 3 des Anhangs K zum Übereinkommen vom 4. Jan. 1960 zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), SR 0.632.31.

4661

BBl 2018

4662