Untersuchung von besonderen Vorkommnissen am Bundesgericht Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrats und des Ständerats vom 6. Oktober 2003 Stellungnahme des Bundesgerichts vom 5. Januar 2004

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren National- und Ständeräte, im obgenannten Bericht haben Sie das Bundesgericht eingeladen, sich zu dessen Inhalt, zu den darin formulierten Schlussfolgerungen und Empfehlungen sowie zu den aufgrund des Berichts getroffenen und eingeleiteten Massnahmen zu äussern.

Das Bundesgericht kommt dieser Aufforderung mit der vorliegenden Stellungnahme gerne nach.

I. Allgemeine Bemerkungen Das Bundesgericht hat den nach umfangreicher und detaillierter Untersuchung erstellten Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte studiert und sorgfältig analysiert. Wie in der Pressemitteilung der Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts vom 6. Oktober 2003 angekündigt, ist das Bundesgericht gewillt, die darin enthaltenen Empfehlungen umzusetzen.

Vor den Geschäftsprüfungskommissionen fanden zahlreiche Anhörungen von Mitgliedern des Gerichts sowie von Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreibern statt. Schliesslich erhielt das Gericht von der Arbeitsgruppe Gelegenheit, sich zum Berichtsentwurf einlässlich zu äussern. Den in unserem diesbezüglichen Schreiben vom 29. September 2003 gemachten Ausführungen ist im definitiven Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen Rechnung getragen worden. Aus der Sicht des Bundesgerichts spricht der Bericht für sich selbst. Das Gericht konzentriert sich in der vorliegenden Stellungnahme deshalb darauf, sich zu den darin enthaltenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Geschäftsprüfungskommissionen zu äussern.

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II. Zu den Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Berichts der Geschäftsprüfungskommissionen vom 6. Oktober 2003 1.

Empfehlungen 1-3, Ziffer 3.7.1 des Berichts Durch den mit Schreiben von Herrn Bundesrichter Martin Schubarth am 4. Oktober 2003 auf den 30. Juni 2004 erklärten und mit Brief vom 5. November 2003 auf den 31. Januar 2004 bzw. auf einen früheren Zeitpunkt vorverlegten Rücktritt von seinem Amt als Bundesrichter sind die obgenannten Schlussfolgerungen und Empfehlungen gegenstandslos geworden. Es ist deshalb darauf nicht weiter einzugehen.

2.

Schlussfolgerungen gemäss Ziffer 4.4 des Berichts Empfehlungen 4-8 gemäss Ziffer 4.5 des Berichts Soweit die genannten Schlussfolgerungen politische Wertungen betreffen, welche die Geschäftsprüfungskommissionen in Ausübung ihres Oberaufsichtsrechts über das Bundesgericht vornehmen, enthält sich das Bundesgericht einer Stellungnahme. Insbesondere soweit diese Schlussfolgerungen als Grundlage für die nachfolgend formulierten Empfehlungen 4-8 dienen, wird ihnen hingegen grundsätzlich zugestimmt.

a.

Empfehlung 4, Massnahmen zur Förderung eines offenen Umgangs mit Fehlern

Diese Empfehlung wird begrüsst. Werden in den Abteilungen und Kammern Unstimmigkeiten, Fehler und andere Probleme wahrgenommen, so sind diese der Präsidentin oder dem Präsidenten zu melden und ­ soweit möglich und zweckmässig ­ mit allen Mitgliedern des Spruchkörpers zu besprechen.

Ergeben sich dabei erhebliche Schwierigkeiten, so ist der Bundesgerichtspräsident in Kenntnis zu setzten.

Als eine der Problemquellen hat sich der Umgang mit der Öffentlichkeit, insbesondere mit den Medien, erwiesen. Deshalb soll zur Ausleuchtung dieser sensiblen Schnittstelle gerichtsintern ein Workshop organisiert werden.

b.

Empfehlung 5, Transparente und nachvollziehbare Zirkulationsverfahren Empfehlung 6, Interne Besprechungen bilden Teil des Zirkulationsverfahrens

Die Empfehlungen 5 und 6 entsprechen der Praxis aller Abteilungen des Bundesgerichts. Die entsprechenden Grundsätze wurden in der bereits erwähnten Pressemitteilung der Präsidentenkonferenz vom 6. Oktober 2003 u.a. auch mit Blick auf deren Beachtung im Bundesgericht in Erinnerung gerufen und werden heute ausdrücklich bestätigt.

Im Zirkulationsverfahren darf die Präsidentin oder der Präsident des Spruchkörpers ein Urteil nur als gefällt verurkunden, wenn sämtliche beteiligten Richterinnen und Richter dem beantragten Urteilsdispositiv unterschriftlich zugestimmt haben.

Dies gilt auch für den Fall, dass im Zirkulationsverfahren ausnahmsweise (etwa zur Ausräumung allfälliger Missverständnisse) eine Besprechung 5742

durchgeführt wird. Erfolgt eine solche, so bildet diese Teil des Zirkulationsverfahrens, wobei das Ergebnis auf dem Zirkulationsbogen festzuhalten ist.

Durch solche Besprechungen dürfen die vom Gesetz vorgesehenen mündlichen Beratungen nicht unterlaufen werden. Gemäss Artikel 36a Absatz 1 und Artikel 36b OG dürfen auf dem Weg der Aktenzirkulation Entscheidungen nur bei Einstimmigkeit getroffen werden.

c.

Empfehlung 7, Verhandlungsprotokolle über mündliche Beratungen

Am Ende von öffentlichen, parteiöffentlichen und nicht öffentlichen Sitzungen im Sinne von Artikel 17 OG wird über das Urteilsdispositiv abgestimmt.

Anschliessend verschickt der Gerichtsschreiber gemäss Artikel 37 Absatz 1 OG das Dispositiv, welches nebst den Parteien Datum und Inhalt des Urteils festhält.

Bis 1986 wurde das von der Mehrheit beschlossene Dispositiv vor dessen Versand in ein Gerichtsprotokoll («Journal») eingetragen und unterzeichnet.

Diese ehemalige Praxis ist in modifizierter Form wieder eingeführt worden: Im Interesse sowohl der internen Transparenz unter den an einem Entscheid beteiligten Richterinnen und Richtern als auch der nachträglichen Nachvollziehbarkeit der Entscheidfindung wird nach jeder Sitzung das Ergebnis auf einem Protokollblatt festgehalten. Dabei wird kurz das Entscheidverfahren (Anträge, Gegenanträge, Abstimmungen, Stimmenverhältnisse) beschrieben sowie das Urteilsdispositiv eingetragen. Das Protokollblatt wird vom Präsidenten des Spruchkörpers und vom Gerichtsschreiber unterzeichnet und ins Urteilsdossier geheftet.

d.

Empfehlung 8, Mitsprache der Richter einer Abteilung bei der Bildung der Spruchkörper

Das Bundesgericht hat die Empfehlung der Geschäftsprüfungskommissionen zur Kenntnis genommen. Es ist der Auffassung, dass der Umsetzung der entsprechenden Bestimmung von Artikel 20 des Entwurfs des Bundesgerichtsgesetzes (E-BGG), der zurzeit in den Eidgenössischen Räten behandelt wird, nicht vorgegriffen werden sollte. Die Grundsätze über die Bildung der Spruchkörper in den Abteilungen und Kammern werden unter den Richterinnen und Richtern erörtert, wie dies in der Pressemitteilung der Präsidentenkonferenz vom 6. Oktober 2003 erwähnt wird.

3.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen gemäss Ziffer 5.4 des Berichts Empfehlung 9, Schaffung von Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung unter den Mitgliedern des Bundesgerichts Das Bundesgericht will auch diese Empfehlungen der Geschäftsprüfungskommissionen umsetzen. In verschiedenen Sitzungen wurden mit Blick auf die Schaffung von Konfliktbewältigungs- und Konfliktverminderungsmechanismen Ziele, Strukturen, Zuständigkeiten und weitere Fragen erörtert. Es hat sich gezeigt, dass eine taugliche, nachhaltige Lösung nicht von einem Tag auf den andern geschaffen werden kann. Vielmehr muss ein längerer Prozess in Gang gesetzt werden. Dabei sind sämtliche 30 gleichgestellten Bundesrichterinnen und Bundesrichter einzubeziehen. Zur Förderung der Meinungsbildung soll unter Beizug ausgewiesener Fachleute ein zwei- bis 5743

vierteiliger Workshop in psychologischer Konfliktmoderation angeboten werden. Hierauf soll die Diskussion ergebnisbezogen einem Abschluss zugeführt werden.

Als Diskussionsgrundlage mögen folgende Darlegungen hilfreich sein: Den Besonderheiten des Bundesgerichts als höchstem Gericht des Landes ist sorgfältig Rechnung zu tragen. Insbesondere dürfen die richterliche Unabhängigkeit und das Funktionieren des Gerichts nicht beeinträchtigt werden.

Was die Ziele im Einzelnen betrifft, so wird für ein taugliches Modell Folgendes zu beachten sein: ­ Es muss von den Mitgliedern (mindestens von einer breiten Mehrheit derselben) getragen werden.

­ Es darf innerhalb des Gerichts keine neuen formellen Strukturen aufweisen und die bestehenden Leitungsstrukturen und Entscheidabläufe nicht beeinträchtigen. Demzufolge soll jedenfalls die Bildung eines Ausschusses (s. nachfolgend Ziff. 3) auf Ausnahmen in besonders begründeten Fällen beschränkt bleiben.

­ Es soll internen Konflikten vorbeugen und entstandene Konflikte lösen helfen. Konflikte sollen gerichtsintern ausgetragen werden. Um dies zu erreichen soll ein internes Konfliktbereinigungs- und Konfliktvorbeugungsverfahren geschaffen werden.

­ Interne Konflikte sollen dem Parlament als Wahl- und Oberaufsichtsbehörde nur im äussersten Extremfall vorgelegt werden und zwar nur, wenn sämtliche internen Konfliktlösungsmöglichkeiten gescheitert sind. Der Einbezug des Parlaments hätte in einem speziellen formellen Schritt durch das Gericht zu geschehen.

­ Den zuständigen Organen des Gerichts soll die Möglichkeit offen stehen, sich einzelfallweise und punktuell von externen Fachleuten beraten zu lassen. Dies gilt insbesondere für die nachfolgend erwähnte Ziffer 3.

In Bezug auf die Struktur eines Konfliktverminderungs- und Konfliktbereinigungsverfahrens ist ein stufenweiser Ablauf vorzusehen: 1. Bahnt sich ein Konflikt an oder sind irgendwelche konfliktträchtige Mängel erkennbar, so soll zunächst das Gespräch unter den davon betroffenen Personen gesucht und nötigenfalls in geeigneter Weise gefördert werden.

2. Führt dieses Gespräch nicht zur Beilegung des Konflikts, soll der Abteilungs- oder Kammerpräsident beigezogen werden, sofern dies nicht ohnehin zu seiner Führungsaufgabe gehört. Führt dies noch nicht zum Ziel, soll die Angelegenheit im Rahmen eines Abteilungs-
oder Kammerplenums besprochen werden.

3. Hat das vorstehende Verfahren wider Erwarten noch zu keiner Konfliktbereinigung geführt, so soll der Bundesgerichtspräsident beigezogen werden. Dieser legt das Geschäft nötigenfalls der Präsidentenkonferenz vor. Diese kann ­ soweit nötig und zweckmässig ­ einen aus drei Gerichtsmitgliedern bestehenden Ausschuss ernennen.

Diesem Ausschuss dürfen keine Mitglieder von Präsidentenkonferenz und Verwaltungskommission angehören. Der Ausschuss wird ad hoc im Hinblick auf das zu lösende Problem gebildet. Er konstituiert sich selbständig und hat keine Entscheidkompetenz, sondern ausschliesslich 5744

4.

5.

eine vermittelnde Aufgabe. Dafür steht ihm höchstens ein Monat Zeit zur Verfügung.

Der Ausschuss legt der Präsidentenkonferenz einen mündlichen oder schriftlichen Bericht über die Ergebnisse seiner Bemühungen vor. Hernach entscheidet die Präsidentenkonferenz über das weitere Vorgehen.

Kommt die Präsidentenkonferenz zum Schluss, die Angelegenheit sei einem Organ des Parlaments zu unterbreiten (Geschäftsprüfungskommissionen, Gerichtskommission), so erstellt sie zu diesem Zweck einen Bericht, der dem zuständigen Parlamentsorgan in einem formellen Schritt zugeleitet wird.

Für das gesamte Konfliktbereinigungs- und Konfliktverminderungsverfahren gilt, dass dabei keine Fragen der Rechtsprechung behandelt werden dürfen. Die Stellvertretungs-, Ausschliessungs- und Ablehnungsvorschriften der Artikel 6 Absatz 3, Artikel 22 und 23 OG sind sinngemäss anwendbar.

Nach der definitiven Verabschiedung der Konfliktbereinigungsgrundsätze durch das Bundesgericht werden die Geschäftsprüfungskommissionen der Eidgenössischen Räte und die Gerichtskommission über das Ergebnis informiert.

Genehmigen Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren National- und Ständeräte, den Ausdruck unserer ausgezeichneten Hochschätzung.

5. Januar 2004

Schweizerisches Bundesgericht Der Präsident: Heinz Aemisegger Der Generalsekretär: Paul Tschümperlin

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