04.034 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Kostenbeteiligung) vom 26. Mai 2004

Sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, wir unterbreiten Ihnen mit dieser Botschaft die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung mit dem Antrag auf Zustimmung.

Wir versichern Sie, sehr geehrte Herren Präsidenten, sehr geehrte Damen und Herren, unserer vorzüglichen Hochachtung.

26. Mai 2004

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates Der Bundespräsident: Joseph Deiss Die Bundeskanzlerin: Annemarie Huber-Hotz

2004-1054

4361

Übersicht Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG) regelt in Artikel 64 die Kostenbeteiligung der Versicherten. Danach beteiligen sich die Versicherten mit einem festen Jahresbetrag (Franchise) und 10 Prozent der die Franchise übersteigenden Kosten (Selbstbehalt) an den Kosten der für sie erbrachten Leistungen. Der Bundesrat bestimmt die Franchise und setzt für den Selbstbehalt einen jährlichen Höchstbetrag fest. Für Kinder wird keine Franchise erhoben, und es gilt die Hälfte des Höchstbetrages des Selbstbehaltes. Auf den 1. Januar 2004 hat der Bundesrat die ordentliche Franchise auf 300 Franken und den jährlichen Höchstbetrag des Selbstbehaltes für Erwachsene auf 700 Franken erhöht.

Die Kostenbeteiligung ist neben Prämien und Beiträgen der öffentlichen Hand die dritte Finanzierungsquelle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Zudem fördert sie die Eigenverantwortung der Versicherten beim Leistungsbezug. Von einer Erhöhung des Selbstbehaltes verspricht sich der Bundesrat eine kostendämpfende Wirkung, denn für die Kostenentwicklung ist nicht die Kassenpflichtigkeit einer medizinischen Leistung allein entscheidend, sondern auch deren unangemessene Anwendung im Einzelfall. Ein möglicher Lösungsansatz liegt somit in der Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten. Der Selbstbehalt soll daher für Erwachsene auf 20 Prozent erhöht werden. Dabei will der Bundesrat aber den jährlichen Höchstbetrag des Selbstbehaltes von 700 Franken beibehalten. Für Kinder soll der Selbstbehalt weiterhin 10 Prozent betragen. Damit wird die Krankenversicherung entlastet, die Sozialverträglichkeit der Kostenbeteiligung aber nicht gefährdet, werden doch insbesondere chronischkranke Patienten und Patientinnen mit hohen Kosten und Kinder nicht stärker als bisher finanziell belastet.

Im Jahr 2002 betrugen die Ausgaben der Krankenversicherer für Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung 17,1 Milliarden Franken. Davon wurden 2,5 Milliarden Franken als Kostenbeteiligung von den Versicherten getragen.

Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent würden bei Beibehaltung der jährlichen Höchstgrenzen von 700 Franken bei Erwachsenen pro Jahr ungefähr 420 Millionen Franken mehr an Selbstbehalt bezahlt werden. Dies würde bei den Prämien zu einer Entlastung führen, die ungefähr
2,5 Prämienprozenten entspricht.

Die Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent soll von einer Erweiterung der Kompetenz des Bundesrates, die Kostenbeteiligung für bestimmte Leistungen herabzusetzen oder aufzuheben, begleitet werden (Art. 64 Abs. 6 Bst. b KVG).

4362

Botschaft 1

Allgemeiner Teil

Nach Artikel 64 Absatz 2 des Bundesgesetzes vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) beteiligen sich die Versicherten mit einem festen Jahresbetrag (Franchise) und 10 % der die Franchise übersteigenden Kosten (Selbstbehalt) an den Kosten der für sie erbrachten Leistungen. Der Bundesrat bestimmt die Franchise und setzt für den Selbstbehalt einen jährlichen Höchstbetrag fest (Art. 64 Abs. 3 KVG). Für Kinder wird keine Franchise erhoben, und es gilt die Hälfte des Höchstbetrages des Selbstbehaltes. Auf den 1. Januar 2004 hat der Bundesrat die ordentliche Franchise auf 300 Franken und den jährlichen Höchstbetrag des Selbstbehaltes für Erwachsene auf 700 Franken erhöht (Art. 103 Abs. 1 und 2 der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung/KVV: SR 832.102).

1.1

Ausgangslage

1.1.1

Projekt «Grundlagen 3. KVG-Teilrevision»

Der Bundesrat hat anlässlich seiner Klausurtagung vom 22. Mai 2002 das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) unter anderem damit beauftragt, Vorschläge für die Steuerung der Nachfrage durch eine modifizierte Kostenbeteiligung auszuarbeiten und deren ökonomische Anreizwirkung zu analysieren. Diese Arbeiten sollten Grundlagen für eine dritte Revision des KVG bilden.

Gestützt auf diesen Auftrag hat das EDI eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Heinz Schmid, Versicherungmathematiker, eingesetzt. Darin waren der Verband der schweizerischen Krankenversicherer santésuisse, die Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz (heute: Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren), die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), die Schweizerische Patientenorganisation (SPO), die Patientenstelle Zürich sowie das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) vertreten. Diese Arbeitsgruppe hat insbesondere einkommens- und leistungsabhängige Modelle von Kostenbeteiligungen geprüft und Änderungen des geltenden Systems untersucht. Für verschiedene Modelle, die sowohl Änderungen beim System selbst als auch solche, die sich nur auf den Selbstbehalt und oder die Franchise beziehen, beinhalten, wurde Zahlenmaterial zusammengetragen und die Auswirkungen in einem Bericht zusammengefasst.

Dieser noch nicht veröffentlichte Bericht hält fest, dass Untersuchungen über den Einfluss von Kostenbeteiligungen auf das Verhalten der Versicherten heikel sind, weil eher die gesunden und in guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Versicherten höhere Kostenbeteiligungen wählen.

Im Bericht wird namentlich auf eine in den Jahren 1974­1982 in den USA durchgeführte, gross angelegte Studie (Rand Health Insurance Experiment) mit zufälliger Zuordnung der Versicherten zu unterschiedlichen Kostenbeteiligungsmodellen sowie auf eine Studie von S. Felder und A. Werblow von der Universität Magdeburg «Der Einfluss von Zuzahlungen auf die Nachfrage nach medizinischen Leistungen: 4363

Empirische Evidenz aus der Schweiz», Jahrestagung der DGSMP bzw. DGMS, September 2001, hingewiesen (vgl. Ziff. 1.1.2).

1.1.2

Forschungsergebnisse

Das in Ziffer 1.1.1 erwähnte Rand Health Insurance Experiment führte zum Ergebnis, dass die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen durch Versicherte mit sehr hoher Kostenbeteiligung gegenüber derjenigen durch Versicherte mit kleiner Kostenbeteiligung mengenmässig um ca. einen Drittel abnahm. Dabei nahmen angemessene und nicht angemessene Behandlungen etwa gleich stark ab. Konsultationen bei Psychotherapeuten und Chiropraktoren nahmen stärker ab. Der Gesundheitszustand bezüglich der untersuchten Indikatoren wurde durch die geringere Inanspruchnahme nicht beeinträchtigt, abgesehen von den zwei Indikatoren Blutdruckkontrolle und Visuskorrektur.

Die ebenfalls in Ziffer 1.1.1 erwähnte Studie von S. Felder und A. Werblow ergab folgende Ergebnisse: «Die Zuzahlungsregelungen haben einen signifikanten Einfluss auf die Nachfrage nach medizinischen Leistungen. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres Leistungen in Anspruch zu nehmen, beträgt bei den Versicherten mit der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestfranchise 80 %, bei den Versicherten mit der maximalen Wahlfranchise jedoch lediglich 43 %. Der Effekt steigt mit zunehmendem Alter der Versicherten. Auf der zweiten Stufe sind die Wirkungen ebenfalls signifikant: Eine um eine Stufe erhöhte Wahlfranchise reduziert den Umfang der Leistungsinanspruchnahme um 7,7 %. Wenn man Proxies (=Indikatoren) für den Gesundheitszustand der Versicherten einbezieht, werden die Effekte geringer, bleiben jedoch signifikant.»

1.1.3

Daten zur Kostenbeteiligung

Im Jahr 2002 betrugen die Ausgaben der Krankenversicherer für Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung 17,1 Milliarden Franken. Davon wurden 2,5 Milliarden Franken als Kostenbeteiligung von den Versicherten getragen. Die Kostenbeteiligung setzt sich zusammen aus der Franchise (gemäss BAG-interner Berechnung rund 60 Prozent der Kostenbeteiligung) und dem Selbstbehalt (rund 40 Prozent).

Im Jahr 2002 hatten 51,8 Prozent der Versicherten eine Versicherung mit ordentlicher Franchise. 40,5 Prozent der Versicherten waren einem Versicherungsmodell mit wählbarer Franchise und 7,7 Prozent einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers oder einer Bonusversicherung angeschlossen. Unter den erwachsenen Versicherten mit wählbaren Franchisen hatten 24,5 Prozent eine Franchise von 400 Franken, 10,0 Prozent eine Franchise von 600 Franken, 2,5 Prozent eine Franchise von 1200 Franken und 11,5 Prozent eine Franchise von 1500 Franken.

4364

1.2

Revisionsbestrebungen

1.2.1

Parlamentarische Vorstösse

In ihrer am 7. Juli 2003 eingereichten Motion (03.3425) beauftragte eine Minderheit Gross Jost der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates den Bundesrat, spätestens mit der dritten KVG-Revision die Kostenbeteiligung für kostenintensive Behandlungen von Geburtsgebrechen oder schweren langjährigen Erkrankungen zu differenzieren oder gänzlich darauf zu verzichten. Der Bundesrat erklärte am 3. September 2003, der Zweck der Kostenbeteiligung, das Verhalten der Versicherten zu steuern, entfalle bei Chronischkranken, da sie nicht auf bestimmte Leistungen verzichten könnten. Da gegenwärtig Modelle für eine modifizierte Kostenbeteiligung zur Steuerung der Nachfrage im Rahmen der Vorarbeiten für eine dritte KVG-Revision vertieft geprüft würden, sei er bereit, das Anliegen der Motion aufzugreifen. Er beantragte, die Motion in ein Postulat umzuwandeln. Der Vorstoss wurde am 8. Dezember 2003 vom Nationalrat denn auch als Postulat überwiesen.

1.2.2

Zweite KVG-Revision

Im Laufe der Beratungen der vom Parlament in der Schlussabstimmung in der Wintersession 2003 verworfenen 2. KVG-Revision wurde ein Antrag auf Erhöhung des Selbstbehaltes abgelehnt. Danach hätte der Selbstbehalt für Versicherte, die nicht im Rahmen einer besonderen Versicherungsform mit Budgetverantwortung versichert sind, auf 20 Prozent erhöht werden sollen. Nach eingehenden Beratungen wurde jedoch in der Schlussversion an einem Selbstbehalt von 10 Prozent festgehalten. Der Bundesrat hätte ihn aber für Versicherte, die nicht eine kostengünstige besondere Versicherungsform gewählt haben, auf höchstens 20 Prozent erhöhen können.

1.3

Vernehmlassungsverfahren zum Vorschlag des Bundesrates zu einer Teilrevision des KVG

Der Entwurf des Bundesrates zur Teilrevision des KVG im Bereich der Kostenbeteiligung wurde den Kantonen, politischen Parteien und interessierten Kreisen im März 2004 zur Vernehmlassung unterbreitet.

Im Bereich der Kostenbeteiligung enthielt er zwei Gesetzesänderungen. Mit der einen Änderung sollte der Selbstbehalt von 10 auf 20 Prozent erhöht werden. Dabei sicherte der Bundesrat zu, dass er den jährlichen Höchstbetrag des Selbstbehaltes auf 700 Franken für Erwachsene belassen werde, um die Kranken nicht zu sehr zu belasten. Artikel 64 Absatz 4 KVG, wonach der Höchstbetrag des Selbstbehaltes für Kinder die Hälfte des Höchstbetrages für Erwachsene beträgt, blieb unverändert. Mit der anderen Gesetzesänderung sollte im Sinne einer Abfederung der Erhöhung des Selbstbehaltes die Zuständigkeit des Bundesrates erweitert werden, die Kostenbeteiligung für bestimmte Leistungen herabzusetzen oder aufzuheben, ohne an Voraussetzungen gebunden zu sein. Bisher konnte er die Kostenbeteiligung nur für Dauerbehandlungen sowie für Behandlungen schwerer Krankheiten herabsetzen oder aufheben.

4365

Zusammen mit den Änderungen des KVG wurde auch eine Teilrevision der KVV im Bereich der wählbaren Franchisen vorgeschlagen.

Die Stellungnahmen waren kontrovers. Mehrere Vernehmlassende begrüssten die Erhöhung des Selbstbehaltes, weil damit die Eigenverantwortung der Versicherten gestärkt werde. Einige Vernehmlassende stimmten der Erhöhung des Selbstbehaltes nur unter der Bedingung zu, dass dessen jährlicher Höchstbetrag für Erwachsene weiterhin 700 Franken betrage. Es wurde auch vorgeschlagen, diesen Höchstbetrag im Gesetz zu verankern. Die Versicherer befürchteten, dass die Erhöhung des Selbstbehaltes bei einigen unter ihnen zu einer Abwehrhaltung gegenüber der Aufnahme von Versicherten, deren jährliche Behandlungskosten voraussichtlich mehr als 3800 Franken betragen werden, führen könnte.

Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren und zahlreiche weitere Vernehmlassende sorgten sich um die sozialen Auswirkungen der Erhöhung des Selbstbehaltes. Die meisten bemängelten, dass Familien mit Kindern von der Erhöhung des Selbstbehaltes besonders betroffen werden und schlugen daher vor, die Kinder seien von der Erhöhung auszunehmen. Mehrere Kantone und andere Vernehmlassende lehnten die Erhöhung grundsätzlich ab, weil sie zu einer stärkeren Belastung der Kranken führe, die ihre Behandlungskosten nur beschränkt beeinflussen könnten. Einige Kantone beanstandeten, dass sie durch zusätzliche Kosten bei den Ergänzungsleistungen und bei der Sozialhilfe stärker belastet würden. Einzelne Vernehmlassende schlugen vor, anstelle der Erhöhung des Selbstbehaltes einkommensabhängige Franchisen einzuführen.

Die Erweiterung der Zuständigkeit des Bundesrates, die Kostenbeteiligung herabzusetzen oder aufzuheben, wurde als Abfederung der Erhöhung des Selbstbehaltes von mehreren Vernehmlassenden begrüsst. Einzelne beantragten, die Kostenbeteiligung insbesondere für kostensparende besondere Versicherungsformen oder für bestimmte Gruppen von Versicherten herabzusetzen oder aufzuheben. Als Beispiel für solche Gruppen wurden die Kinder genannt. Zudem wurde vorgeschlagen, dem Bundesrat die Zuständigkeit, die Kostenbeteiligung zu erhöhen, zu entziehen, falls der Selbstbehalt auf 20 Prozent erhöht werde.

2

Grundzüge der Vorlage

2.1

Stossrichtung

Der Bundesrat schlägt vor, weiterhin einen prozentualen Selbstbehalt im Gesetz festzulegen. In der gescheiterten 2. KVG-Revision war vorgesehen, dass der Bundesrat für Leistungen, die nicht im Rahmen einer besonderen Versicherungsform nach den Artikeln 41 Absatz 4 und 62 Absatz 2 des Gesetzes erbracht werden, einen Selbstbehalt von bis zu 20 Prozent festlegen kann. Dieser Vorschlag wird im vorliegenden Entwurf umgekehrt, indem der für die erwachsenen Versicherten auf 20 Prozent erhöhte Selbstbehalt ins KVG aufgenommen wird. Zugleich sollen die Kompetenzen des Bundesrates für abweichende Prozentsätze nach unten erweitert werden. Die heutigen Kompetenzen des Bundesrates, die Kostenbeteiligung herabzusetzen oder aufzuheben, sind zu eng, wenn der Selbstbehalt auf Gesetzesstufe auf 20 Prozent festgelegt wird.

4366

Der Bundesrat bevorzugt damit eine Lösung, wonach die Höhe des Selbstbehaltes in seiner Grundform weiterhin im Gesetz verankert ist und allfällige Abweichungen als Ausnahmen auf Verordnungsebene geregelt werden. Die Höchstgrenze des jährlich zu leistenden Selbstbehaltes soll auf der aktuellen Höhe belassen werden, damit die Sozialverträglichkeit weiterhin gewährleistet ist.

Aufgrund der Vernehmlassung hat der Bundesrat beschlossen, die Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent auf die Erwachsenen zu beschränken. Die Kinder sollen weiterhin einen Selbstbehalt von 10 Prozent bezahlen.

Die allgemeine Erhöhung des Selbstbehaltes für Erwachsene auf 20 Prozent dürfte keine Umsetzungsprobleme ergeben. Die Ausweitung der Kompetenz des Bundesrates, für bestimmte Leistungen die Kostenbeteiligung herabzusetzen oder aufzuheben, bedeutet, dass vorerst abgeklärt werden muss, für welche Leistungen auf Verordnungsstufe sinnvollerweise eine tiefere Kostenbeteiligung festgelegt oder die Kostenbeteiligung aufgehoben werden soll.

2.2

Politische Zielsetzungen

Der Bundesrat will mit den hier vorgeschlagenen Änderungen eine möglichst einfache Regelung schaffen. Dabei sollen die Anreize zu mehr Eigenverantwortung der Versicherten bei der Beanspruchung von Leistungen erhöht werden. Es sollen aber Leitplanken festgelegt werden, welche eine unzumutbare Mehrbelastung von kranken Versicherten und eine Gefahr der Risikoselektion verhindern. Von der Erhöhung des Selbstbehaltes für Erwachsene verspricht sich der Bundesrat eine Ausweitung des Kostenbewusstseins der Versicherten und eine kostendämpfende Wirkung. Um die Familien mit Kindern nicht allzu stark mit Kostenbeteiligungen zu belasten, wird von einer Erhöhung des Selbstbehaltes für Kinder abgesehen.

Um diese Zielvorgaben zu erreichen soll im Gesetz der Selbstbehalt für Erwachsene von 10 auf 20 Prozent erhöht werden und dabei dem Bundesrat erweiterte Kompetenzen für eine Senkung oder Aufhebung des Selbstbehalts für bestimmte Leistungen gewährt werden. Der Bundesrat beabsichtigt, den jährlichen Höchstbetrag von 700 Franken beizubehalten.

Der Bundesrat sieht vor, dass diese Gesetzesänderung von den Räten im beschleunigten Verfahren behandelt werden soll, auch wenn das Inkrafttreten erst auf den 1. Januar 2006 möglich sein wird. Dies weil die Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent die Prämienberechnung stark beeinflusst. Die Versicherer sind darauf angewiesen, dass ihnen die definitive Kostenbeteiligungsregelung spätestens Mitte Jahr bekannt gegeben wird, damit sie die Prämienkalkulation für das Folgejahr rechtzeitig vornehmen können. Zwar wird in der Vorlage zur Gesamtstrategie festgehalten, dass auch das Gesetzgebungspaket 2 in der Wintersession 2004 verabschiedet werden kann. Verzögerungen sind aber nicht auszuschliessen, weshalb diese Vorlage vorsichtshalber ins Gesetzgebungspaket 1 aufgenommen wurde.

4367

2.3

Sozialpolitische Wirkung

Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent werden vor allem die erwachsenen Versicherten, welche Kosten in der Grössenordnung von 300 bis 7300 Franken im Jahr verursachen, mit einer höheren Kostenbeteiligung rechnen müssen. Die jährliche Höchstbeteiligung für erwachsene Versicherte mit ordentlicher Franchise beträgt gleich wie heute 1000 Franken (300 Fr. Franchise und 700 Fr. Selbstbehalt).

Dieser Höchstbetrag wird neu bereits bei jährlichen Kosten von 3800 Franken erreicht statt wie bisher bei 7300 Franken. Vor allem Chronischkranke mit hohen Kosten, die schon heute 1000 Franken Kostenbeteiligung bezahlen, werden nicht zusätzlich belastet. Versicherten in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, namentlich den Bezügerinnen und Bezügern von Ergänzungsleistungen werden die Kostenbeteiligungen ganz oder teilweise rückerstattet. Die Erhöhung des Selbstbehaltes bewegt sich damit in einem Rahmen, der den Betroffenen zugemutet werden kann. Da der Selbstbehalt für die Kinder unverändert bleibt, werden die Familien mit Kindern nicht zusätzlich belastet. Die Belastung der Versicherten bei verschiedenen Jahreskosten ist unten ersichtlich (siehe Tabelle). Aufgrund verwaltungsinterner Schätzungen wird das mit Prämien zu deckende Kostenvolumen durch dieses Vorgehen insgesamt um rund 2,5 Prozent reduziert.

Belastung der erwachsenen Versicherten bei verschiedenen Jahreskosten und Franchisen in Franken Jahresbehandlungskosten

1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 8000 9000 *

Franchise 300 Fr.

Franchise 1500 Fr

SB* 10 %

SB 20 %

SB 10 %

SB 20 %

370 470 570 670 770 870 970 1000 1000

440 640 840 1000 1000 1000 1000 1000 1000

1000 1550 1650 1750 1850 1950 2050 2150 2200

1000 1600 1800 2000 2200 2200 2200 2200 2200

SB = Selbstbehalt

3

Besonderer Teil: Erläuterungen der einzelnen Bestimmungen

Art. 64 Abs. 2 Bst. b Der Selbstbehalt soll bei den Erwachsenen von 10 auf 20 Prozent erhöht werden.

Ziel dieser Massnahme ist einerseits, die Krankenversicherung zu entlasten.

Andererseits soll sie die Versicherten und Leistungserbringer zu kostenbewussterem Verhalten veranlassen.

4368

Die Verdoppelung des Selbstbehaltes soll einen Anreiz für die Versicherten schaffen, weniger und preisgünstigere Leistungen zu beziehen. Zudem sollen die Leistungserbringer veranlasst werden, ihre Leistungen wirtschaftlicher zu erbringen und den Versicherten deren Kosten zu begründen.

Damit die Verdoppelung des Selbstbehaltes die Versicherten mit schweren und chronischen Krankheiten nicht stärker als bisher belastet, wird der Bundesrat den jährlichen Höchstbetrag des Selbstbehaltes in Artikel 103 Absatz 2 KVV auf 700 Franken für Erwachsene belassen. Der Bundesrat beabsichtigt, auch die Grundfranchise auf 300 Franken zu belassen.

Eine versicherte Person mit Grundfranchise beteiligt sich somit weiterhin höchstens mit 1000 Franken jährlich an den Kosten. Während sie diesen Betrag bisher mit Kosten von 7300 Franken erreicht hatte, erreicht sie ihn neu bereits mit Kosten von 3800 Franken. Stärker belastet werden somit vor allem die erwachsenen Versicherten mit Kosten zwischen 300 und 7300 Franken im Jahr.

Die Kostenbeteiligung der Kinder wird auf 10 Prozent belassen. Artikel 61 Absatz 3 des Gesetzes, wonach die Versicherer für Kinder eine tiefere Prämie als für Erwachsene festzusetzen haben, gilt weiterhin.

Art. 64 Abs. 6 Bst. b Der Bundesrat kann für bestimmte Leistungen eine höhere Kostenbeteiligung vorsehen (Bst. a). Bisher konnte er für Dauerbehandlungen sowie für Behandlungen schwerer Krankheiten die Kostenbeteiligung herabsetzen oder aufheben (bisheriger Bst. b). Der Bundesrat hat diese Zuständigkeit dem EDI übertragen (siehe Art. 105 Abs. 1 und 3 KVV). Das EDI hat von dieser Zuständigkeit bisher noch keinen Gebrauch gemacht.

Da der Selbstbehalt für Erwachsene auf 20 Prozent erhöht werden soll, sind dem Bundesrat erweiterte Kompetenzen bei der Herabsetzung und Aufhebung der Kostenbeteiligung einzuräumen. Diese Möglichkeit soll ihm neu unabhängig von der Dauer der Behandlung und von der Schwere der Krankheit gegeben werden. Damit soll der Bundesrat den Selbstbehalt unterschiedlich festlegen können (siehe Ziff. 2.1).

4

Zusammenwirken des Vorschlages mit anderen in Diskussion stehenden Gesetzesänderungen

Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes sollen die Anreize verstärkt werden, dass sich Leistungserbringer und Versicherte kostenbewusster verhalten. In diesem Zusammenhang steht das Zusammenwirken von kostendämpfenden Versicherungsmodellen (Managed Care) mit attraktiveren Kostenbeteiligungen im Vordergrund. Schon heute steht es den Versicherern frei, bei einer Versicherung mit eingeschränkter Wahl des Leistungserbringers auf die Erhebung des Selbstbehaltes und der Franchise ganz oder teilweise zu verzichten (Art. 64 Abs. 6 Bst. c KVG i. V. m. Art. 99 Abs. 2 KVV). Somit können die Versicherer bereits heute finanzielle Anreize schaffen, eine Versicherung mit eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer abzuschliessen.

4369

Die vom Parlament in der Wintersession 2003 verworfene KVG-Revision sah vor, dass der Bundesrat den Selbstbehalt für Versicherte, die die ordentliche Krankenversicherung abgeschlossen haben, von 10 auf 20 Prozent hätte erhöhen können. Damit hätte er vor allem für kranke Personen einen finanziellen Anreiz für den Abschluss einer kostengünstigen besonderen Versicherungsform schaffen können, da der Selbstbehalt für diese weiterhin 10 Prozent hätte betragen sollen.

Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent für Erwachsene und dem beabsichtigten Ausbau der Managed Care-Modelle werden die Möglichkeiten, finanzielle Anreize zum Abschluss von besonderen Versicherungsformen zu schaffen, erweitert. Managed Care-Modelle können zum Beispiel damit gefördert werden, dass der Selbstbehalt auf 10 Prozent festgelegt wird. Die Frage, ob es den Versicherern wie heute freigestellt sein soll, in welchem Ausmass sie bei Managed CareModellen die Kostenbeteiligung herabsetzen oder ob der Bundesrat dazu weitere Vorgaben schaffen soll, wird Gegenstand der Umsetzung der Gesetzesbestimmungen auf Verordnungsstufe sein.

Ein Zusammenwirken der Änderungen bei der Kostenbeteiligung mit den weiteren in Diskussion stehenden Gesetzesänderungen ist im Übrigen marginal.

5

Auswirkungen

5.1

Finanzielle Auswirkungen

5.1.1

Auswirkungen auf den Bund

Mit der Erhöhung des Selbstbehaltes auf 20 Prozent für Erwachsene dürften im Rahmen der Bundesbeiträge an die Kantone für die Gewährung von Ergänzungsleistungen gemäss Artikel 1a Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3d Absatz 1 Buchstabe f des Bundesgesetzes vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.3) Mehrbelastungen von schätzungsweise 7 Millionen Franken entstehen.

5.1.2

Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden

Die Erhöhung des Selbstbehaltes für Erwachsene belastet die Kantone bei der Übernahme der Kostenbeteiligung im Rahmen der Ergänzungsleistungen gemäss Artikel 3d Absatz 1 Buchstabe f ELG stärker als heute. Die Mehrbelastung der Kantone bei den Ergänzungsleistungen dürfte schätzungsweise 26 Millionen Franken betragen.

Auf Grund von kantonalen Regelungen werden bei Sozialhilfeempfängern in der Regel auch Kostenbeteiligungen im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen. Demnach werden auch die Sozialhilfebudgets der Kantone und Gemeinden durch die Erhöhung des Selbstbehaltes vermehrt belastet. Der Bund verfügt jedoch über keine diesbezüglichen Daten.

4370

5.2

Auswirkungen auf die Krankenversicherung

Die Erhöhung des Selbstbehalts der Erwachsenen von 10 auf 20 Prozent hat zur Folge, dass die erkrankten erwachsenen Versicherten im Rahmen der Kostenbeteiligung stärker belastet werden und die Versicherer und damit die Gesamtheit der Versicherten bei den Prämien entsprechend entlastet werden. Diese Entlastung hängt von der gewählten Franchise ab. Auf Grund verwaltungsinterner Schätzungen werden die Kosten zulasten der Versicherer für die Versicherung mit der Grundfranchise von 300 Franken um 3,3 Prozent gemindert. Für die Versicherung mit höheren Franchisen sinkt dieser Satz und beträgt für die Wahlfranchise von 1500 Franken noch 2,6 Prozent. Berücksichtigt man die Verteilung der Versicherten auf die verschiedenen Franchisestufen, ergibt sich eine Entlastung für die Versicherer von insgesamt rund 420 Millionen Franken oder rund 2,5 Prozent der Prämien der Erwachsenen und Kinder insgesamt. Diese Schätzungen gehen davon aus, dass der Bundesrat den maximalen jährlichen Selbstbehalt von 700 Franken sowie die Grundfranchise von 300 Franken für Erwachsene beibehält.

5.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Erhöhung des Selbstbehalts der Erwachsenen von 10 auf 20 Prozent ist einerseits ein Lenkungsinstrument, andererseits ein Finanzierungsinstrument. Mit einem hohen Selbstbehalt sollen die Versicherten veranlasst werden, medizinische Leistungen bewusst zu konsumieren, das heisst von der Inanspruchnahme überflüssiger Leistungen abzusehen. Es ist allgemein anerkannt, dass mit einem Anstieg der Selbstbehalte eine geringere Inanspruchnahme von Leistungen verbunden ist. Greift das Instrument, führt die Erhöhung des Selbstbehalts zu einem gesamtgesellschaftlichen Effizienzgewinn: Wegen des Verzichts auf überflüssige Leistungen können, bei gleichem Ergebnis für den Gesundheitszustand, finanzielle Ressourcen für einen anderen Zweck verwendet werden. Zur Begrenzung der sozialpolitisch unerwünschten Wirkungen behält der Bundesrat die Belastungsobergrenze von 700 Franken bei.

Mit der vorgeschlagenen Erhöhung wird das Kostenvolumen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung um etwa 2,5 Prozent vermindert. In etwa diesem Ausmass werden die künftigen Prämien vermindert, das heisst nur das über die geschätzten Kosten von 420 Millionen Franken hinausgehende Kostenwachstum wirkt im Jahr der Gesetzesänderung prämiensteigernd. Ob es sich um eine einmalige Verschiebung zu Lasten jener Versicherten, welche Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in Anspruch nehmen, handelt, oder ob die Erhöhung des Selbstbehalts eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt, wird erst im Nachhinein beurteilt werden können. Selbst wenn das Instrument die gewünschten Wirkungen entfaltet, dürften die Folgen der Verhaltensänderung nur nach und nach sichtbar werden; ein plötzlicher und starker Einfluss auf den privaten Konsum und dessen Wirkung auf den Arbeits- und den Gütermarkt ist nicht zu erwarten. Im Übrigen entsprechen 420 Millionen Franken weniger als einem Promille des Bruttoinlandprodukts beziehungsweise 2 Promille des Konsums der privaten Haushalte. Auch diese Relationen lassen darauf schliessen, dass die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf die Volkswirtschaft marginal sein dürften.

4371

6

Verhältnis zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen

Mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs sollen Aufgaben, Kompetenzen und Finanzströme zwischen Bund und Kantonen entflochten und die Verantwortlichkeiten der beiden Staatsebenen geklärt werden (Botschaft des Bundesrates vom 14. November 2001 in BBl 2002 2291). Im Rahmen der Arbeiten wird auch im Bereich der Sozialversicherung eine Aufgabenentflechtung geprüft. Nicht betroffen von dieser Entflechtung ist die Frage der Kostenbeteiligung, wie sie Thema dieser Revision bildet.

7

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist im Bericht über die Legislaturplanung 2003­2007 vom 25. Februar 2004 angekündigt und als Richtliniengeschäft aufgeführt (BBl 2004 1176).

8

Verhältnis zum europäischen Recht

8.1

Vorschriften der europäischen Gemeinschaft

Artikel 2 des Vertrages der Europäischen Gemeinschaft (EG) überträgt der Gemeinschaft die Aufgabe, ein hohes Mass an sozialem Schutz zu fördern. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist in Artikel 39 des EG-Vertrages geregelt. Das Freizügigkeitsprinzip verlangt eine Koordination der einzelstaatlichen Systeme der Sozialen Sicherheit, wie dies in Artikel 42 des EG-Vertrages festgelegt ist. Das Gemeinschaftsrecht bezweckt keine Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Die Mitgliedstaaten können die Ausgestaltung, den persönlichen Geltungsbereich, die Finanzierungsmodalitäten sowie die Organisation ihrer Systeme der sozialen Sicherheit weiterhin bestimmen. Die Koordination der einzelstaatlichen Systeme der Sozialen Sicherheit wird durch die Verordnung Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sowie durch die entsprechende Durchführungsverordnung Nr. 574/72 (Kodifiziert durch die Verordnung des Rates Nr. 118/97; ABl Nr. L 28 vom 30.1.1997, S. 1; zuletzt geändert durch die Verordnung des Rates Nr. 859/2003, ABl Nr. L 124 vom 20.05.2003, S. 1) geregelt. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union am 1. Juni 2002 ist die Schweiz Teil des multilateralen Koordinationssystems.

Die Empfehlung vom 27. Juli 1992 über die Annäherung der Ziele und der Politiken im Bereich des sozialen Schutzes (ABl Nr. L 245 vom 26.8.1992, S. 49) forderte die Mitgliedstaaten auf, für die rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Personen den Zugang zur notwendigen Gesundheitsversorgung sowie zu den Krankheitsvorsorgemassnahmen zu ermöglichen.

4372

8.2

Die Instrumente des Europarates

Was die wirtschaftlichen und sozialen Rechte anbelangt, stellt die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 die Entsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention dar. In Artikel 12 ist das Recht auf Soziale Sicherheit verankert: Die Vertragsparteien verpflichten sich, ein System der Sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten, dieses auf einem befriedigenden Stand zu halten, sich zu bemühen, das System fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen und Massnahmen zu ergreifen, welche die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit ihren eigenen Staatsangehörigen gewährleisten. Die Schweiz hat die Charta am 6. Mai 1976 unterzeichnet; eine Ratifizierung wurde jedoch 1987 vom Parlament abgelehnt, so dass dieses Übereinkommen für unser Land nicht bindend ist.

Mit der Europäischen Sozialcharta (revidiert) vom 3. Mai 1996 wurde der materielle Inhalt der Charta von 1961 aktualisiert und angepasst. Es handelt sich dabei um ein von der Europäischen Sozialcharta gesondertes Abkommen, welches diese nicht aufhebt. Das Recht auf Soziale Sicherheit ist ebenfalls in Artikel 12 enthalten. Die revidierte Sozialcharta ist am 1. Juli 1999 in Kraft getreten. Die Schweiz hat dieses Instrument nicht ratifiziert.

Die Schweiz hat die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 1964 (AS 1978 1491) am 16. September 1977 ratifiziert. Unser Land hat jedoch Teil II über die ärztliche Betreuung nicht angenommen. Jeder Staat, der den aus Teil II der Ordnung hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen will, ist verpflichtet, den geschützten Personen medizinische Versorgung bei Krankheit ohne Rücksicht auf ihre Ursache sowie bei Mutterschaft zu gewährleisten. Der Leistungsempfänger kann zur Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten medizinischen Versorgung verpflichtet werden. Zudem kann die Dauer der erbrachten Leistungen für die einzelnen Fälle auf 26 Wochen beschränkt werden.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit wird durch ein Protokoll, das höhere Normen festlegt, ergänzt. Die Schweiz hat das Protokoll zur Ordnung der Sozialen Sicherheit nicht ratifiziert.

Die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit (revidiert) vom 6. November 1990 ist ebenfalls ein von der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit zu unterscheidendes Abkommen, sie ersetzt
jene nicht. Durch die (revidierte) Ordnung werden die Normen der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit erweitert, namentlich durch die Ausdehnung des persönlichen Anwendungsgebietes, durch die Gewährung von neuen Leistungen sowie durch die Erhöhung des Betrags für Sachleistungen. Parallel wird eine grössere Flexibilität eingeführt, indem die Ratifizierungsbedingungen erleichtert und die Normen so formuliert wurden, dass den einzelstaatlichen Regelungen bestmöglich Rechnung getragen wird. Die (revidierte) Ordnung ist noch von keinem Staat ratifiziert worden und deshalb noch nicht in Kraft getreten.

Von den Instrumenten des Europarats sind zudem die folgenden Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zu erwähnen: ­

Empfehlung Nr. R (80) 15 vom 14. November 1980 über eine bessere Verteilung der medizinischen Versorgung innerhalb und ausserhalb der Spitäler;

4373

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8.3

Empfehlung Nr. R (86) 5 vom 17. Februar 1986 über die allgemeine Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung.

Vereinbarkeit der Vorlage mit dem europäischen Recht

Der Revisionsentwurf sieht vor, den Selbstbehalt der Versicherten von 10 auf 20 % der die Franchise übersteigenden Kosten zu erhöhen. Gemäss Artikel 10 Paragraph 2 der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit kann der Leistungsempfänger oder der für ihn Unterhaltspflichtige zur Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten ärztlichen Betreuung verpflichtet werden; die Beteiligung darf jedoch keine zu hohe Belastung verursachen. Die revidierte Ordnung sieht eine analoge Bestimmung vor (Art. 10 Par. 2). Was genau unter einer zu hohen Belastung zu verstehen ist, wird weder in der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit noch in der revidierten Ordnung näherer festgelegt. Die Kontrollorgane verfügen demnach über einen Ermessensspielraum. Das Protokoll zur Ordnung sieht vor, dass die Beteiligung an den Kosten der bei Krankheit gewährten ärztlichen Betreuung 25 % nicht übersteigen darf. Ist die Kostenbeteiligung für jeden Fall der Betreuung oder jede Verordnung von Arzneien mit einem einheitlichen Betrag festgesetzt, so darf, gemäss Protokoll, der Gesamtbetrag, der von allen geschützten Personen aufgebracht wird, 25 % der Gesamtkosten für diese Leistung innerhalb einer bestimmten Zeit nicht übersteigen. Der Revisionsentwurf sieht vor, den Selbstbehalt der Versicherten zu verdoppeln. Auf Grund des jährlichen Höchstbetrages beim Selbstbehalt stellt letzterer keine zu hohe Belastung im Sinne der Europäischen Ordnung und des Protokolls dar. Die Vorlage entspricht somit den Normen des Europarats.

9

Rechtliche Grundlagen

9.1

Verfassungsmässigkeit

Die Vorlage stützt sich auf Artikel 117 Bundesverfassung.

9.2

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die zur Durchführung der sozialen Krankenversicherung notwendigen Regelungskompetenzen (Erlass der Vollzugsbestimmungen) werden dem Bundesrat in Artikel 96 KVG delegiert. Im Rahmen dieser Vorlage ist der Bundesrat überdies befugt, im folgenden Bereich Bestimmungen zu erlassen: Abweichungen vom Selbstbehalt von 20 Prozent für Erwachsene und von 10 Prozent für Kinder nach oben und nach unten (Art. 64 Abs. 6).

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