Untersuchung von besonderen Vorkommnissen am Bundesgericht Bericht der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates vom 6. Oktober 2003

2004-0446

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Zusammenfassung Am 11. Februar 2003 soll Bundesrichter Martin Schubarth in der Eingangshalle des Bundesgerichts in Lausanne in Richtung eines Journalisten gespuckt haben. In den Tagen nach diesem Ereignis wurden Anschuldigungen laut, wonach es am Kassationshof in Strafsachen, einer Abteilung des Bundesgerichts, unter dem Präsidium von Martin Schubarth Unregelmässigkeiten im Verfahren und mithin auch Manipulationen an Urteilen gegeben haben soll.

Am 19. Februar 2003 bestätigte das Bundesgericht in einer Medienmitteilung den von Bundesrichter Martin Schubarth verursachten «Spuck-Vorfall» und missbilligte ihn in aller Form. Das Bundesgericht beschloss zudem mit sofortiger Wirkung, Bundesrichter Martin Schubarth in der Rechtsprechung nicht mehr einzusetzen, und erklärte, seiner Auffassung nach solle Bundesrichter Martin Schubarth den Rücktritt erklären. Bundesrichter Martin Schubarth folgte dieser Aufforderung jedoch nicht.

Er machte geltend, das Ereignis sei mit seiner damaligen Krankheit und einer teilweise verändernden medikamentösen Behandlung, aber auch mit einer gegen ihn geführten Intrige vor seiner Wiederwahl im Dezember 2002 in Zusammenhang gestanden.

Am 5. März 2003 beschlossen die Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates, den Spuck-Vorfall, die behaupteten Unregelmässigkeiten und das Arbeitsklima am Kassationshof abzuklären, und setzten für die Untersuchung die gemeinsame Arbeitsgruppe «Bundesgericht» ein.

Bundesrichter Martin Schubarth hat am Samstag, 4. Oktober 2003, in Kenntnis des Entwurfs des vorliegenden Berichts und zwei Tage vor dessen Verabschiedung durch die Geschäftsprüfungskommissionen seinen Rücktritt auf den 30. Juni 2004 eingereicht.

Aufgrund der Untersuchung gelangen die Geschäftsprüfungskommissionen zu folgenden Feststellungen und Schlussfolgerungen: ­

Die Untersuchung des Spuck-Vorfalls führte zum Ergebnis, dass Bundesrichter Martin Schubarth am Morgen des 11. Februar 2003 in der Eingangshalle des Bundesgerichts die Beherrschung verlor, auf einen ihm verhassten Journalisten spuckte, dabei versehentlich einen Gerichtsschreiber traf und sich anschliessend wortlos entfernte. Die kritische Presse und die Vorfälle vor Schubarths Wiederwahl im Dezember 2002 haben Bundesrichter Martin Schubarth persönlich stark getroffen; sie vermögen aber eine Spuck-Attacke nicht zu rechtfertigen. Bundesrichter Martin Schubarth litt an jenem Morgen an gesundheitlichen Problemen, die zu seiner Überreaktion beigetragen haben mögen; eine verminderte Zurechnungsfähigkeit und damit ein Entschuldigungsgrund ist jedoch auszuschliessen.

Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen zum Schluss, dass sich Bundesrichter Schubarth mit dem Spuck-Vorfall eine grobe Anstandsverletzung hat zu Schulden kommen lassen, die sich mit der Stellung eines Bundesrichters nicht verträgt. Das Vertrauen der Rechtsuchenden in ihn ist damit

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nachhaltig gestört. Das gilt selbst dann, wenn man für die persönliche Krisensituation, in der Bundesrichter Schubarth gestanden haben mag, ein gewisses Verständnis aufbringt. Eine Rückkehr Schubarths in das Gericht hätte zu einer schweren Belastung der Akzeptanz des obersten Gerichts geführt, was dem Rechtsfrieden im Lande abträglich gewesen wäre. Ein solches Risiko hätte aus rechtsstaatlicher Sicht nicht eingegangen werden können. Die Geschäftsprüfungskommissionen sind deshalb der Meinung, dass es keine Alternative zu einem Rücktritt von Bundesrichter Martin Schubarth gab.

Unter den gegebenen Umständen erachten es die Geschäftsprüfungskommissionen als nicht tragbar, dass Bundesrichter Martin Schubarth von seinem Amt erst auf den 30. Juni 2004 zurückzutreten gedenkt. Sie sind entschieden der Meinung, dass Bundesrichter Martin Schubarth im Interesse und zugunsten des Ansehens der Justiz ohne Verzug zurücktreten und damit die längst fällige Konsequenz aus dem Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 ziehen soll.

Falls Bundesrichter Martin Schubarth der Aufforderung zum Rücktritt bis spätestens Ende Jahr nicht Folge leistet, regen die Geschäftsprüfungskommissionen an, dass die Gerichtskommission der eidgenössischen Räte die rechtliche Möglichkeit prüft, dass die in der Dezembersession zu wählende Nachfolge ihre Tätigkeit bereits vor dem Ausscheiden Schubarths aus dem Amt aufnehmen könnte. Falls Als ultima ratio käme allenfalls eine Amtsenthebung von Martin Schubarth in der Form eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses in Frage.

­

Bei der Untersuchung von behaupteten Unregelmässigkeiten am Kassationshof stellten die Geschäftsprüfungskommissionen fest, dass Bundesrichter Martin Schubarth als Präsident des Kassationshofes in einem Fall die Meinung eines Richterkollegen klar übergangen und in Verletzung der Bestimmungen über das Zirkulationsverfahren und die öffentliche Beratung das Urteil auf dem Zirkulationsbogen als einstimmig gefällt deklariert hat, obwohl nur eine Mehrheit, aber keine Einstimmigkeit vorlag. Am Ergebnis des Entscheides hätte jedoch eine korrekte Abwicklung des Verfahrens nichts geändert. Nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen hat Bundesrichter Martin Schubarth damit eine Amtspflicht verletzt. Als Magistratsperson unterliegt er jedoch keiner Disziplinargewalt. Insofern bleiben die Feststellungen der Geschäftsprüfungskommissionen für ihn ohne weitere Folge. Für eine Beurteilung, ob die Amtspflichtverletzung Schubarths allenfalls strafrechtlich relevant ist, ist die Bundesanwaltschaft zuständig.

In zwei näher überprüften Fällen haben die Geschäftsprüfungskommissionen ein eigenmächtiges Vorgehen von Präsident Schubarth bei der Schlussredaktion der Begründung des Urteils festgestellt, indem er die endgültige Version des Urteils nicht mehr unter den beteiligten Richtern zirkulieren liess, obwohl zuvor an Redaktionssitzungen bedeutende Differenzen in der Begründung diskutiert worden waren und die Mehrheit gegen den Präsidenten entschieden hatte. Die Urteilsbegründung entsprach zwar im Ergebnis den Beschlüssen der Redaktionssitzungen, aber damit hat Bundesrichter

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Schubarth seinen präsidialen Ermessensspielraum überdehnt und das Kollegialitätsprinzip missachtet.

In weiteren Beispielen haben die Geschäftsprüfungskommissionen festgestellt, dass Bundesrichter Schubarth als Abteilungspräsident manchmal eigenmächtig und unkollegial vorgegangen ist. Er hat seine präsidialen Kompetenzen sehr weitgehend ausgeschöpft und zuweilen die Grenzen des korrekten Vorgehens überschritten. Nicht selten ging es dabei um Bemühungen Schubarths, seiner Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Charaktereigenschaften Schubarths haben unter anderem zu grossen Spannungen innerhalb des Richterkollegiums am Kassationshof geführt. Sie geben jedoch keinen Grund zur Annahme, dass deswegen Urteile des Bundesgerichts fragwürdig oder gar unhaltbar ausgefallen wären.

Die Geschäftsprüfungskommissionen haben jedoch in keinem Fall eine Urteilsmanipulation in dem Sinne festgestellt, dass ein Entscheid (Dispositiv) den Parteien anders eröffnet worden wäre, als das Richterkollegium beschlossen hat. Aufgrund der Analyse der Verfahrensabläufe am Kassationshof kann festgehalten werden, dass es in der Praxis kaum Raum für echte Urteilsmanipulationen im Sinne von Verfälschungen des Dispositivs gibt. Ganz auszuschliessen ist eine solche Manipulation für einen Mitrichter.

Der Abteilungspräsident kann zwar wesentlich mehr Einfluss auf das Verfahren jedes Einzelfalles nehmen. Mit einer Urteilsmanipulation würde er jedoch ein sehr hohes Risiko eingehen, entdeckt zu werden.

Ferner war Bundesrichter Martin Schubarth in einem näher untersuchten Fall nicht nachzuweisen, dass er seinen grossen Ermessensspielraum als Präsident bei der Besetzung des Spruchkörpers absichtlich dazu missbraucht hätte, einen Entscheid in seinem Sinne herbeizuführen.

Insgesamt kommen die Geschäftsprüfungskommissionen zum Schluss, dass kein Anlass besteht, an der hohen Qualität der Rechtsprechung und an der Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Urteile des Kassationshofes während der Zeit der Präsidentschaft von Bundesrichter Martin Schubarth zu zweifeln.

­

Die Untersuchung des Arbeitsklimas am Kassationshof unter dem Präsidium von Bundesrichter Martin Schubarth hat gezeigt, dass dieses einerseits durch die eigenmächtige Abteilungsführung Schubarths belastet wurde und andererseits stark durch seine Persönlichkeit geprägt war. Bundesrichter Martin Schubarth wurde als intelligente, sehr gebildete Person mit teilweise autoritären, elitären und egozentrischen Zügen beschrieben. Das Klima am Kassationshof verschlechterte sich insbesondere auch durch ein Zerwürfnis zwischen Bundesrichter Martin Schubarth und einem Richterkollegen am Kassationshof.

Die Probleme am Kassationshof entstanden über längere Zeit und waren komplex. Mit der Zeit war die Situation so verfahren, dass die Richter am Kassationshof die Konflikte nicht mehr selbst bewältigen konnten. Der Bundesgerichtspräsident griff relativ spät ein, er war aber von den Konfliktparteien auch nicht beigezogen worden. Als dann schliesslich die Gespräche

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unter seiner Leitung in Gang kamen, hatte er nur sehr beschränkte Handlungsmöglichkeiten. Die am Ende getroffene Lösung führte zwar zu einer äusserlichen Beruhigung, doch war der Konflikt zwischen Bundesrichter Schubarth und seinem Amtskollegen, der durch dessen Kontaktnahme mit einem SP-Parlamentarier vor den Gesamterneuerungwahlen der Bundesrichter im Dezember 2002 noch wesentlich verkompliziert worden war, nicht gelöst.

Die Bewältigung der Konflikte am Kassationshof hat sich als problematisch erwiesen. Dies ist einerseits auf die schwierigen Charakterzüge von Bundesrichter Martin Schubarth zurückzuführen. Andererseits kann auch die institutionelle Struktur des Bundesgerichts, das aus 30 grundsätzlich gleichgestellten Bundesrichtern besteht, zur Entstehung von persönlichen Konflikten unter den Richtern beitragen. Es ist deshalb zu prüfen, ob gerichtsintern die Führungsstrukturen verstärkt und gewisse Aufsichtsmechanismen sowie interne Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung geschaffen werden könnten.

Im Weiteren hat die Arbeitsgruppe «Bundesgericht» im Rahmen ihrer Abklärungen Feststellungen in Bezug auf gerichtsinterne Verfahren wie das Zirkulationsverfahren, die Praxis bei mündlichen Beratungen sowie die Zuteilung der Referenten und die Bildung der Spruchkörper gemacht, welche die Geschäftsprüfungskommissionen zum Anlass nehmen, Empfehlungen an das Bundesgericht zu richten.

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Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung

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Abkürzungsverzeichnis

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1 Einleitung 1.1 Ausgangslage 1.2 Auftrag und Ziele der Inspektion 1.3 Abgrenzungen 1.3.1 Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit 1.3.2 Weitere Abgrenzungen 1.4 Vorgehen und Organisation der Arbeiten 1.4.1 Sitzungen, angehörte Personen 1.4.2 Aktenherausgabe und Informationen zu Verfahren des Bundesgerichts 1.4.3 Anonymisierung 1.5 Zusammenarbeit mit dem Bundesgericht 1.6 Stellungnahmen des Bundesgerichts und von Bundesrichter Martin Schubarth zum vorliegenden Bericht 1.7 Rücktritt von Bundesrichter Martin Schubarth auf den 30. Juni 2004

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2 Klärung des Verfahrens 2.1 Orientierungsschreiben der Arbeitsgruppe vom 17. März 2003 2.2 Schreiben des Bundesgerichts vom 17. März 2003 2.3 Antwort der Arbeitsgruppe vom 21. März 2003 2.4 Antwort des Bundesgerichts vom 24. März 2003

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3 Der Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 3.1 Ablauf der Ereignisse 3.2 Folgen für das Bundesgericht 3.3 Der Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003 und dessen Begründung vom 13. Mai 2003 3.4 Verhältnis von Bundesrichter Martin Schubarth zum Journalisten Markus Felber und zu den Medien 3.5 Reaktionen von Bundesrichter Martin Schubarth nach dem Ereignis 3.5.1 Aussagen von Bundesrichter Martin Schubarth zum SpuckVorfall 3.5.2 Die Erkrankung von Bundesrichter Martin Schubarth 3.5.3 Äusserungen zu einem allfälligen Rücktritt 3.5.4 Angriffe von Bundesrichter Martin Schubarth gegen Richterkollegen und das Bundesgericht 3.6 Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen 3.6.1 Der Spuck-Vorfall 3.6.2 Folgen für das Bundesgericht 3.6.3 Folgen für Bundesrichter Martin Schubarth 3.6.4 Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003 3.6.5 Zur Informationspolitik des Bundesgerichts

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5671 5673 5675 5675 5676 5677 5678 5680 5680 5682 5683 5684 5685

3.7 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 3.7.1 Weiteres Vorgehen betreffend Bundesrichter Martin Schubarth 3.7.2 Regelung de lege ferenda 4 Behauptete Unregelmässigkeiten am Kassationshof 4.1 Gerüchte am Bundesgericht und ihr Weg an die Öffentlichkeit 4.2 Vorgehen der Arbeitsgruppe 4.3 Ergebnisse der Abklärungen 4.3.1 Vorwurf von Urteilsmanipulationen 4.3.1.1 Der Begriff der Urteilsmanipulation 4.3.1.2 Der Fall «Dreierzirkulation» 4.3.1.2.1 Feststellungen der Arbeitsgruppe 4.3.1.2.1.1 Anonymisierung 4.3.1.2.1.2 Die als Gerücht kursierende Version 4.3.1.2.1.3 Der Ablauf 4.3.1.2.1.4 Die interne Besprechung 4.3.1.2.1.5 Weitere Ungereimtheiten im Fall «Dreierzirkulation» 4.3.1.2.1.6 Folgen für den Beschwerdeführer und späterer Entscheid des Bundesgerichts zur Hauptsache 4.3.1.2.2 Bewertung des Falles «Dreierzirkulation» durch die Geschäftsprüfungskommissionen 4.3.1.3 Möglichkeiten von Urteilsmanipulationen 4.3.1.4 Zirkulationsverfahren und mündliche Beratung 4.3.1.4.1 Praxis des Bundesgerichts 4.3.1.4.2 Festgestellte Probleme im Zirkulationsverfahren und bei der mündlichen Beratung 4.3.2 Vorwurf von Manipulationen bei der Bildung der Spruchkörper und bei der Publikation von Urteilen 4.3.2.1 Rechtliche Grundlagen und Praxis 4.3.2.1.1 Bildung der Spruchkörper 4.3.2.1.2 Publikationspraxis des Bundesgerichts 4.3.2.2 Das Gerücht eines «schubladisierten» Falles 4.3.2.3 Zwei Fälle zum Pfändungsbetrug 4.3.2.3.1 Feststellungen der Arbeitsgruppe 4.3.2.3.2 Bewertung des Vorgehens bei den Pfändungs betrugsfällen durch die Geschäftsprüfungskommissionen 4.3.2.4 Möglichkeiten der Einflussnahme bei der Bildung der Spruchkörper 4.3.3 Vorwurf des eigenmächtigen und unkollegialen Verhaltens von Bundesrichter Martin Schubarth als Präsident 4.3.3.1 Allgemeine Aussagen der Richter des Kassationshofes 4.3.3.2 Beispiele von eigenmächtigem Vorgehen und von unkollegialem Verhalten Bundesrichter Martin Schubarths 4.3.3.3 Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen

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4.4 Schlussfolgerungen 4.4.1 Schlussfolgerungen zu den behaupteten Unregelmässigkeiten 4.4.2 Weitere Schussfolgerungen 4.5 Empfehlungen an das Bundesgericht

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5 Arbeitsklima am Kassationshof 5.1 Ausgangslage 5.2 Ergebnisse der Abklärungen 5.2.1 Das Arbeitsklima am Kassationshof unter dem Präsidium von Bundesrichter Martin Schubarth 5.2.2 Zerwürfnis zwischen zwei Richtern 5.2.3 Kontakte zwischen Parlamentsmitgliedern und Bundesrichtern vor den Richterwahlen 2002 5.2.3.1 Kontakt zwischen Bundesrichter Hans Wiprächtiger und einem SP-Parlamentarier 5.2.3.2 Abklärungen der Interfraktionellen Arbeitsgruppe bei Bundesrichtern 5.2.3.3 Anfrage der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates an die Mitglieder des Kassationshofes 5.2.3.4 Die Weitergabe eines zur Publikation vorgesehenen Manuskriptes von Bundesrichter Martin Schubarth an Parlamentsmitglieder 5.2.4 Gerichtsinterne Schlichtungsversuche 5.3 Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen 5.4 Schlussfolgerungen und Empfehlungen

5724 5724 5724

6 Schlussfolgerungen und Empfehlungen im Überblick 6.1 Der Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 6.2 Behauptete Unregelmässigkeiten am Kassationshof 6.3 Arbeitsklima am Kassationshof

5734 5734 5735 5737

7 Weiteres Vorgehen

5737

Anhang 1:

Angehörte Personen

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Anhang 2:

Erlass eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses zur Amtsenthebung von Bundesrichter Martin Schubarth

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5724 5726 5727 5727 5729 5729 5730 5731 5732 5733

Abkürzungsverzeichnis AGRW AP AS BBl BGE BRADOC BV E-BGG EGMR EMRK EVG f.

ff.

FN GK GPK GRN GRS GVG i.V.m insbes.

KGB LeGes NZZ OHG OG ParlG PUK PVBger PVK Rz.

sda SR

Interfraktionelle Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen Associated Press Amtliche Sammlung des Bundesrechts Bundesblatt der Eidgenossenschaft Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesgericht ­ Registratur ­ Automatisation ­ Dokumentation Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) Entwurf des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BBl 2001 4480 ff.)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (SR 0.101) Eidgenössisches Versicherungsgericht folgende fortfolgende Fussnote Gerichtskommission Geschäftsprüfungskommission Geschäftsreglement des Nationalrates vom 22. Juni 1990 (SR 171.13) Geschäftsreglement des Ständerates vom 24. September 1986 (SR 171.14) Geschäftsverkehrsgesetz vom 23. März 1962 (SR 171.11) in Verbindung mit Insbesondere ehemaliger sowjetischer Geheimdienst Gesetzgebung heute ­ Législation d'aujourd'hui ­ Legislazione d'oggi Neue Zürcher Zeitung Opferhilfegesetz vom 4. Oktober 1991 (SR 312.5) Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (Bundesrechtspflegegesetz, SR 173.110) Parlamentsgesetz Parlamentarische Untersuchungskommission Personalverordnung des Bundesgerichts vom 27. August 2001 (SR 172.220.114) Parlamentarische Verwaltungskontrolle Randziffer Schweizerische Depeschenagentur Systematische Sammlung des Bundesrechts 5655

StGB z.B.

ZBJV Ziff.

ZSR

5656

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0) zum Beispiel Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Ziffer Zeitschrift für Schweizerisches Recht

Bericht 1

Einleitung

1.1

Ausgangslage

Am 11. Februar 2003 ereignete sich am Bundesgericht in Lausanne ein Vorfall, der in den folgenden Tagen grosses Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte. Gemäss Darstellung in den Medien soll Bundesrichter Martin Schubarth in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes auf Mon-Repos in Richtung von NZZ-Journalist Markus Felber gespuckt und dabei einen Gerichtsschreiber, der mit Felber ein Gespräch führte, getroffen haben.

In den darauf folgenden Tagen wurde in den Medien nicht nur das besagte Verhalten Schubarths äusserst kritisch beurteilt. Es wurden auch Anschuldigungen laut, wonach es am Kassationshof in Strafsachen, einer Abteilung des Bundesgerichts, unter dem Präsidium von Martin Schubarth Unregelmässigkeiten im Verfahren und mithin auch Manipulationen an Urteilen gegeben haben soll. Weiter wurde der Vorwurf erhoben, Schubarths Eigenwilligkeit habe zu Spannungen am Kassationshof geführt.

Martin Schubarth seinerseits beschuldigte Felber, zusammen mit anderen Journalisten im Dezember des letzten Jahres eine Hetzkampagne gegen seine Wiederwahl angezettelt zu haben. Gleichzeitig warf er gewissen Richterkollegen vor, Felber dabei die Feder geführt und überdies ein unveröffentlichtes Manuskript behändigt und SP-Parlamentariern mit dem Hinweis zugespielt zu haben, Schubarth vertrete darin Positionen, die der Parteiideologie widersprächen, weshalb er nicht mehr wählbar sei1. Den Spuckvorfall selbst erklärte Schubarth gegenüber den Medien damit, bei einem unterdrückten Hustenanfall habe sich Speichel gelöst. Vor dem Hintergrund eines persönlichen Konflikts mit dem NZZ-Korrespondenten habe er sich dabei in dessen Richtung gedreht, was ein «Blödsinn» gewesen sei2.

Am 18. Februar 2003 hörten die beiden Präsidenten der Subkommissionen «Gerichte» der Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat, Nationalrat Hubert Lauper und Ständerat Hans Hess, Bundesgerichtspräsident Heinz Aemisegger und Bundesrichter Martin Schubarth an. Ziel der Anhörung war abzuklären, ob eine Untersuchung durch die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) eingeleitet werden sollte.

Am 19. Februar 2003 beschloss das Bundesgericht mit sofortiger Wirkung, Bundesrichter Martin Schubarth in der Rechtsprechung nicht mehr einzusetzen. Es teilte in einer Medienmitteilung mit, Martin Schubarth sollte den Rücktritt erklären.

Die Präsidenten
der Subkommissionen «Gerichte» beschlossen am 20. Februar 2003, den Geschäftsprüfungskommissionen zu beantragen, die im Zusammenhang mit dem Spuckvorfall laut gewordenen Vorwürfe von Unregelmässigkeiten in der Geschäftsführung des Kassationshofes abzuklären und im Interesse des Ansehens des obersten Gerichts und zur Wiederherstellung des uneingeschränkten Vertrauens in seine Institutionen eine vertiefte Untersuchung am Bundesgericht durchzuführen.

1 2

Tages-Anzeiger vom 14. Februar 2003, S. 6, «Ich streue Asche auf mein Haupt».

Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur (sda) vom 12. Februar 2003.

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Am 5. März 2003 beschlossen die Geschäftsprüfungskommissionen beider Räte in einer gemeinsamen Sitzung einstimmig, eine Inspektion am Bundesgericht zur Untersuchung des Spuck-Vorfalls sowie zur Abklärung der erhobenen Vorwürfe von Unregelmässigkeiten am Kassationshof zu veranlassen. Zur Durchführung der Inspektion setzten sie eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern der beiden Subkommissionen «Gerichte», ein und legten die Untersuchungsbereiche und die Ziele der Inspektion fest (siehe Ziff. 1.2).

Die Arbeitsgruppe «Bundesgericht»3 legte den Geschäftsprüfungskommissionen beider Räte einen Berichtsentwurf vor, den diese am 6. Oktober 2003 nach eingehender Diskussion genehmigten und zur Veröffentlichung freigaben.

1.2

Auftrag und Ziele der Inspektion

Der Untersuchungsauftrag der Geschäftsprüfungskommissionen an die Arbeitsgruppe «Bundesgericht» (nachfolgend Arbeitsgruppe genannt) umfasste folgende Bereiche:

3

1.

Abklärung des Spuck-Vorfalls vom 11. Februar 2003: Solange Bundesrichter Martin Schubarth nicht zurücktritt, besteht für das Parlament und die Öffentlichkeit ein Interesse an einer näheren Abklärung des Vorfalls, insbesondere, weil Schubarth selbst öffentlich von einem Hustenanfall mit Auswurf sprach, während das Bundesgericht von einem absichtlichen Spucken ausging. Damit steht Schubarths Aussage gegen die Aussage des Bundesgerichts. Es kann dabei nicht Aufgabe der Geschäftsprüfungskommissionen sein, dazu einen Schiedsspruch im Sinne eines richterlichen Urteils zu fällen.

Hingegen können sie eine Beurteilung des Sachverhalts nach Plausibilitätsgrundsätzen vornehmen, die Auswirkungen des Vorfalls auf das Bundesgericht bewerten sowie allenfalls Empfehlungen abgeben. Die Arbeitsgruppe soll den Geschäftsprüfungskommissionen entsprechende Vorschläge unterbreiten.

2.

Abklärung von behaupteten Unregelmässigkeiten am Kassationshof: Unabhängig von einem allfälligen Rücktritt Schubarths soll die Arbeitsgruppe die in den Medien wiederholt genannten Vorwürfe von Unregelmässigkeiten in der Amtsführung Schubarths als Präsident des Kassationshofes abklären.

Diese Vorwürfe sind aus der Sicht der Geschäftsprüfungskommissionen geeignet, das Vertrauen in das uneingeschränkte, rechtmässige Funktionieren des Bundesgerichts bzw. des Kassationshofes zu erschüttern. Die Untersuchung der Arbeitsgruppe soll Transparenz schaffen und der Wiederherstellung des Vertrauens dienen.

3.

Arbeitsklima am Kassationshof und Indiskretionsvorwürfe Schubarths gegenüber Richterkollegen: In den Medien warf Schubarth einzelnen Richterkollegen eine mögliche Amtsgeheimnisverletzung vor, weil sie ein unveröffentlichtes Manuskript Drittpersonen zugeleitet hätten. Weiter bezichtigte er sie der Intrigen gegen seine Wiederwahl im Dezember 2002. Die Arbeits-

Der Arbeitsgruppe «Bundesgericht» gehören an: Nationalrat Hubert Lauper (Präsident, CVP, FR), Nationalrätin Brigitta M. Gadient (SVP, GR), die Nationalräte Jean Jacques Schwaab (SP, VD) und Kurt Wasserfallen (FDP, BE), sowie die Ständeräte Hannes Germann (SVP, SH), Jean Studer (SP, NE) und Franz Wicki (CVP, LU).

5658

gruppe soll das Arbeitsklima am Kassationshof unter dem Präsidium von Martin Schubarth sowie dessen Vorwürfe gegenüber Richterkollegen näher untersuchen und daraus allenfalls Schlussfolgerungen in Bezug auf die Mechanismen zur Selbstregulierung und Konfliktlösung ziehen und Empfehlungen zur Regelung künftiger Konflikte am Bundesgericht vorschlagen.

1.3

Abgrenzungen

1.3.1

Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit

Die Geschäftsprüfungskommissionen betonten im Rahmen ihrer Auftragserteilung, dass die Untersuchung hinsichtlich der Unabhängigkeit des Gerichts besondere Regeln beachten muss. Insbesondere sollen die Ergebnisse des Berichts der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates vom 28. Juni 2002 «Parlamentarische Oberaufsicht über die Eidgenössischen Gerichte»4 bei den sich stellenden Abgrenzungsfragen beachtet werden. Danach sind folgende Grundsätze wegleitend: Bei ihrer Untersuchung muss sich die Arbeitsgruppe darauf beschränken, Gerichtsverfahren im Hinblick auf allfällige Amtspflichtverletzungen durch Richter und allenfalls auf Verstösse gegen fundamentale Verfahrensgrundsätze zu überprüfen.

Diese Gerichtsverfahren müssen zudem endgültig abgeschlossen sein (keine hängigen Verfahren). Ausgeschlossen ist in jedem Fall, dass die Geschäftsprüfungskommissionen als Folge ihrer Untersuchung ein Urteil abändern oder aufheben können.

Nicht zur Diskussion stehen rechtliche Würdigungen oder Feststellungen in Gerichtsurteilen. Hingegen können die Fälle hinsichtlich einer Amtspflichtverletzung durch Richter untersucht werden, weil diese die Geschäftsführung und nicht die Rechtsprechung selbst betrifft. Für solche Abklärungen besteht gemäss Artikel 47quater GVG ein Auskunfts- und Akteneinsichtsrecht (vgl. auch Ziff. 2).

Die Arbeitsgruppe hat sich bei ihrer Untersuchung an die vorgenannten Vorgaben gehalten und ist dabei auf keine nennenswerten Probleme gestossen. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass es im vorliegenden Fall möglich war, eine klare Trennung zwischen der Überprüfung der Geschäftstätigkeit des Gerichts, einschliesslich interner Verfahrensabläufe, und der Beurteilung von Rechtsfragen im Rahmen der richterlichen Tätigkeit vorzunehmen. Insofern halten die Geschäftsprüfungskommissionen Befürchtungen, wonach durch eine solche Inspektion die richterliche Unabhängigkeit tangiert werden könnte, für nicht begründet.

1.3.2

Weitere Abgrenzungen

Nach dem Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 sind bei den Geschäftsprüfungskommissionen 21 Aufsichtseingaben von Bürgerinnen und Bürgern eingegangen, die sich direkt auf den Vorfall bezogen und die Überprüfung von sie betreffenden Urteilen des Kassationshofes, an denen Bundesrichter Martin Schubarth beteiligt war, verlangten. Die Arbeitsgruppe hat im Rahmen ihrer Untersuchung keine Einzelurteile materiell überprüft. Dies entspricht der Praxis der Geschäftsprüfungskommissio4

BBl 2002 7625 ff. Siehe auch den Bericht der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK) vom 11. März 2002 «Zur Tragweite der parlamentarischen Oberaufsicht über die Gerichte ­ Positionen in der Rechtslehre», BBl 2002 7690 ff.

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nen bei der Behandlung von Aufsichtseingaben, die Urteilskontrollen beantragen, und ergibt sich klar aus dem Gebot der Gewaltenteilung. Keine der Eingaben hat zudem Hinweise enthalten, die in Bezug auf die Fragestellungen der Inspektion relevant waren.

Die Überprüfung von behaupteten Unregelmässigkeiten beschränkte sich im Übrigen auf den Kassationshof in Strafsachen und betraf die anderen Abteilungen des Bundesgerichts nicht. Da sich die Vorwürfe von Beginn weg nur auf Einzelfälle bezogen, bestand schliesslich auch keine Veranlassung, eine flächendeckende Untersuchung oder eine systematische Überprüfung von Gerichtsfällen durchzuführen.

1.4

Vorgehen und Organisation der Arbeiten

1.4.1

Sitzungen, angehörte Personen

Die Arbeitsgruppe hat zwölf Sitzungen durchgeführt, davon eine am Bundesgericht in Lausanne. Sie hat dabei insgesamt 22 Personen, zum Teil mehrmals, angehört (die Namen der angehörten Personen finden sich in Anhang 1). Zusätzlich zog sie das Protokoll der Anhörungen von Bundesgerichtspräsident Heinz Aemisegger und Bundesrichter Martin Schubarth vom 18. Februar 2003 durch die Präsidenten der Subkommissionen «Gerichte» der beiden Geschäftsprüfungskommissionen bei.

1.4.2

Aktenherausgabe und Informationen zu Verfahren des Bundesgerichts

Auf der Suche nach zwei bestimmten Fällen verlangte die Arbeitsgruppe die Auflistung aller Fälle, die bestimmte Kriterien erfüllten, sowie die Herausgabe von einzelnen Dokumenten aus diesen Fällen. Von sechs Fällen verlangte die Arbeitsgruppe Kopien des gesamten Dossiers oder bestimmter Teile derselben (siehe Ziff. 4.2).

Weiter stellte das Bundesgericht der Arbeitsgruppe auf Verlangen das Protokoll der Plenarsitzung des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003 zu. Im Weiteren verlangte die Arbeitsgruppe die präsidialen Notizen über die Zuteilung der Fälle an die Richter am Kassationshof zur Zeit der Präsidentschaft Schubarths (siehe Ziff. 4.3.2.2).

Die Arbeitsgruppe verlangte zudem Informationen zu bestimmten Verfahrensabläufen in allen Abteilungen des Bundesgerichts.

1.4.3

Anonymisierung

Die Namen der Richterinnen und Richter sowie der Mitarbeitenden des Gerichts werden im Bericht nur genannt, wenn eine Nennung aus Gründen der Transparenz erforderlich erscheint oder Personen durch Veröffentlichungen bereits bekannt oder aufgrund von Funktionen klar identifizierbar sind. Zur Anonymisierung wird im Bericht anstatt der geschlechtsspezifischen Formulierungen nur die maskuline Form verwendet.

5660

1.5

Zusammenarbeit mit dem Bundesgericht

Die Arbeitsgruppe hält fest, dass im Laufe der Inspektion ein gegenseitiger Lernprozess stattfand. Es handelte sich um eine erstmalige Untersuchung dieser Art am Bundesgericht. Zu Beginn der Inspektion musste das Verfahren transparent gemacht und geklärt werden (siehe Ziff. 2). Bei der Suche nach den Fällen, die den Gerüchten und Vorwürfen über Unregelmässigkeiten zu Grunde lagen, stiess die Arbeitsgruppe zunächst auf Vorbehalte. Die Auskünfte wurden erst nach konsequentem Weiterforschen der Arbeitsgruppe offener und substantieller. Die Arbeitsgruppe führt diesen Umstand darauf zurück, dass gewisse Hemmschwellen, die zum Teil in der Befürchtung wurzelten, die richterliche Unabhängigkeit könnte durch die Untersuchung beschränkt werden, überwunden werden mussten. Schliesslich entwickelte sich eine gute Kooperation mit dem Bundesgericht, und die Untersuchungen der Arbeitsgruppe fanden volle Unterstützung.

1.6

Stellungnahmen des Bundesgerichts und von Bundesrichter Martin Schubarth zum vorliegenden Bericht

Der Entwurf des vorliegenden Berichts wurde dem Bundesgericht sowie Bundesrichter Martin Schubarth zugestellt. Ihnen wurde Gelegenheit gegeben, zu den Fragen Stellung zunehmen, ob der Bericht formelle oder materielle Fehler enthalte und ob darin Informationen enthalten sind, gegen deren Veröffentlichung Einwände geltend gemacht werden.

Die Stellungnahmen des Bundesgerichts vom 29. September 2003 sowie von Bundesrichter Martin Schubarth vom 27. September 2003 und vom 30. September 2003 wurden im Bericht berücksichtigt, soweit es die Arbeitsgruppe als erforderlich erachtete. Bundesrichter Martin Schubarth legte Wert auf die Feststellung, dass er mit dem Vorgehen der Arbeitsgruppe nicht einverstanden ist. Dieses richtete sich nach den für die Geschäftsprüfungskommissionen geltenden Verfahrensgrundsätzen (siehe Ziff. 2).

1.7

Rücktritt von Bundesrichter Martin Schubarth auf den 30. Juni 2004

Bundesrichter Martin Schubarth reichte am Samstag, 4. Oktober 2003 seine Demission auf den 30. Juni 2004 ein. Die Geschäftsprüfungskommissionen nahmen anlässlich der Beratung des vorliegenden Berichtes vom Rücktrittsschreiben Kenntnis.

2

Klärung des Verfahrens

Da die Geschäftsprüfungskommissionen bis anhin noch nie eine Inspektion dieser Art am Bundesgericht durchgeführt haben, stellten sich zu Beginn eine Reihe von Verfahrensfragen, die im Rahmen eines Briefwechsels mit dem Bundesgericht geklärt werden mussten.

5661

2.1

Orientierungsschreiben der Arbeitsgruppe vom 17. März 2003

Mit Schreiben vom 17. März 2003 orientierte die Arbeitsgruppe das Bundesgericht über Zweck und Ziel sowie den Gegenstand der Inspektion, das Vorgehen der Arbeitsgruppe und der Geschäftsprüfungskommissionen bis zur Veröffentlichung des Inspektionsberichtes, das Verfahren bei Anhörungen von Personen am Bundesgericht sowie bei der Herausgabe von Akten und über die Vertraulichkeit der Arbeiten der Arbeitsgruppe.

Zweck und Ziel sowie Gegenstand der Inspektion legte die Arbeitsgruppe dem Bundesgericht gemäss Ziffer 1.2 dar.

Zum Vorgehen kündigte die Arbeitsgruppe an, dass sie im Rahmen der Inspektion Personen des Bundesgerichts sowie Aussenstehende anhören und soweit erforderlich die Herausgabe von Akten verlangen werde. Sie behalte sich vor, zur Abklärung von behaupteten Unregelmässigkeiten externe Experten beizuziehen. Weiter orientierte die Arbeitsgruppe über das Vorgehen der Geschäftsprüfungskommissionen bei der Erstellung von Inspektionsberichten und deren Veröffentlichung und über die Vertraulichkeit von Informationen und Dokumenten.

Für die Anhörung von Personen und die Herausgabe von Akten verwies die Arbeitsgruppe auf die Praxis der Geschäftsprüfungskommissionen bei Inspektionen im Bereich des Bundesrates. Die Arbeitsgruppe hielt in Übereinstimmung mit dieser Praxis folgende Punkte fest: Die Arbeitsgruppe wird jeweils eine Kopie der Einladung, in der die anzuhörenden Personen aufgeführt sind, dem Bundesgerichtspräsidenten zustellen. Die Richter und Mitarbeitenden des Bundesgerichts werden als Auskunftspersonen befragt, wobei die wesentlichen Ergebnisse der Befragung protokolliert werden. Die Protokolle werden ausschliesslich an die Mitglieder der Arbeitsgruppe versandt. Die angehörten Personen erhalten den sie betreffenden Protokollauszug und können darin handschriftliche Berichtigungen und allenfalls Ergänzungen anbringen. Die Arbeitsgruppe hielt zudem fest, dass nach ihrer Auffassung die Richter und Mitarbeitenden des Bundesgerichts der Oberaufsichtsbehörde gegenüber keiner Geheimhaltungspflicht unterstehen.

Im Weiteren wies die Arbeitsgruppe auf die Vertraulichkeit der Arbeiten der Arbeitsgruppe hin (Art. 24 GRN und Art. 16 GRS) und leitete daraus folgendes ab: Richter und Mitarbeitende des Bundesgerichts, die durch die Arbeitsgruppe angehört werden, haben über die Befragung allgemein
und namentlich gegenüber Kollegen und Vorgesetzten Stillschweigen zu bewahren. Dies bedeutet umgekehrt, dass Vorgesetzte von angehörten Mitarbeitenden weder Auskunft über die Anhörung noch Einsicht in ihren Protokollauszug verlangen dürfen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Mitarbeitenden unbefangen aussagen können und ihnen aus ihren wahrheitsgemässen Äusserungen keinerlei Nachteile erwachsen (Art. 47quater Abs. 3 i.V.m. Art. 47bis Abs. 5 GVG). Die Vertraulichkeit ist auch zu wahren, wenn die Arbeitsgruppe bei einer Anhörung von Richtern und Mitarbeitenden des Bundesgerichts Dokumente herausverlangt. Die Richter und Mitarbeitenden des Bundesgerichts können die verlangten Unterlagen direkt der Arbeitsgruppe zustellen.

Die Arbeitsgruppe schlug dem Bundesgericht vor, durch geeignete Massnahmen sicherzustellen, dass die Mitarbeitenden des Bundesgerichts darüber informiert werden, welche Rechte und Pflichten ihnen gemäss den vorerwähnten Punkten zustehen, insbesondere, dass sie berechtigt und verpflichtet sind, gegenüber der 5662

Arbeitsgruppe vollständig und wahrheitsgemäss Auskunft zu erteilen und einverlangte Amtsakten herauszugeben.

2.2

Schreiben des Bundesgerichts vom 17. März 2003

Am 17. März 2003 richtete das Bundesgericht (in Kenntnis des Schreibens der Arbeitsgruppe mit gleichem Datum) seinerseits ein Schreiben an die Präsidenten der beiden Räte, die Präsidien der Geschäftsprüfungskommissionen und an die Arbeitsgruppe mit grundsätzlichen Bemerkungen zur angekündigten Inspektion sowie mit verschiedenen Vorschlägen.

Zunächst gab das Bundesgericht seiner allgemeinen Besorgnis darüber Ausdruck, dass der Vorfall vom 11. Februar 2003 in der Presse einen Wirbel verursacht und bei den Rechtssuchenden Fragen aufgeworfen habe. Der Entscheid der Geschäftsprüfungskommissionen, am Bundesgericht eine Inspektion durchzuführen, habe den Eindruck erwecken können, am Bundesgericht gebe es zahlreiche oder sogar generell Unregelmässigkeiten. Diesen Eindruck, der sich zwar auf nichts Konkretes stütze, jedoch die Glaubwürdigkeit des obersten Gerichts untergrabe, gelte es raschmöglichst zu zerstreuen.

Weiter äusserte das Bundesgericht gewisse Bedenken im Hinblick auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit des Gerichts. Deshalb sollten das Bundesgericht und das Parlament unter den gegebenen Umständen sorgfältig gemeinsam festlegen, wie die Oberaufsicht über das Bundesgericht auszuüben sei.

Im Weiteren legte das Bundesgericht seine Sicht der geltenden Rechtslage in Bezug auf die Oberaufsicht über das Bundesgericht dar. Danach unterscheide die Bundesverfassung zwar nicht a priori zwischen der Oberaufsicht über den Bundesrat und die Bundesverwaltung und der Oberaufsicht über die eidgenössischen Gerichte (Art. 169 Abs. 1 BV). Aus dem Gesetz gehe aber klar hervor, dass die beiden Formen der parlamentarischen Kontrolle unterschiedlicher Natur seien. Die allgemeinen Bestimmungen gemäss Artikel 47quater Absatz 1­5 GVG würden für die Bundesverwaltung gelten, während sich die Oberaufsicht über die Rechtspflege gemäss Artikel 47quater Absatz 6 GVG nach den «besonderen Vorschriften über die Organisation der eidgenössischen Gerichte» richte. Dieser Verweis auf Artikel 21 OG regle nicht alle Probleme, sei der Wortlaut doch wenig detailliert. Er müsse entsprechend der jeweiligen Situation, die das Eingreifen des Parlamentes erfordere, ausgelegt werden.

Nichtsdestoweniger bedeute er, dass die gesetzlichen Bestimmungen über die Ausübung der Oberaufsicht über die Bundesverwaltung nicht anwendbar seien. Mit
anderen Worten habe der Gesetzgeber ein spezielles Regime gewollt, um der unterschiedlichen Art der Beziehungen zur politischen Gewalt und zum obersten Gericht Rechnung zu tragen.

Unter diesen Umständen, so das Bundesgericht, erscheine es wünschbar, gemeinsam die Modalitäten der Inspektion festzulegen. In diesem Sinne unterbreitete das Bundesgericht sinngemäss folgende Vorschläge: ­

Rasche Abklärung allfälliger Unregelmässigkeiten: Dem Bundesgericht ist es ein grosses Anliegen, dass die Vorwürfe von Unregelmässigkeiten am Kassationshof in Strafsachen vorweg möglichst rasch abgeklärt und die Resultate veröffentlicht werden, damit das Vertrauen in die Institution des Bundesgerichts nicht weiteren Schaden nimmt. Dies sollte bis Ende April 5663

2003 möglich sein. Das Bundesgericht und der Kassationshof sichern dafür der Arbeitsgruppe jede erforderliche Unterstützung zu.

­

Zum Bereich der Inspektion: Die Inspektion sollte sich auf den Bereich der Untersuchung angeblicher Unregelmässigkeiten beschränken. Die organisatorischen Fragen in Bezug auf die gesamte Institution des Bundesgerichts (Mechanismen zur Selbstregulierung und Konfliktlösung) sollten abgetrennt und im Rahmen der normalen Oberaufsicht über die Geschäftsführung des Bundesgerichts behandelt werden. Das Ansehen des Bundesgerichts wird als Ganzes in Frage gestellt, wenn diese Kontrolle in der Form einer ausserordentlichen Inspektion aufgrund von Unregelmässigkeiten durchgeführt wird.

Im Übrigen ist zweifelhaft, ob es angemessen ist, die Inspektion auf die gesamte Institution auszudehnen, da die erhobenen Verdächtigungen nur die Geschäftsführung einer Abteilung des Gerichts betreffen.

­

Zum Ablauf der Anhörungen: In analoger Anwendung einer Spezialnorm des auf Anfang der nächsten Legislatur in Kraft tretenden Parlamentsgesetzes (ParlG) sollte der Präsident des Bundesgerichts das Recht haben, den Befragungen der Auskunftspersonen beizuwohnen und in bestimmte Dokumente oder Protokolle Einsicht zu nehmen (siehe Art. 167 Abs. 1 i.V.m. Art. 162 Abs. 1 Bst. d ParlG).

­

Zur Entbindung vom Amtsgeheimnis: Das Bundesgericht ist der Meinung, dass trotz des Grundsatzes von Artikel 169 Absatz 2 BV, wonach den Geschäftsprüfungskommissionen keine Geheimhaltungspflichten entgegengehalten werden können, die Gerichtsschreiber und Mitarbeitenden des Bundesgerichts nicht ipso iure oder automatisch aufgrund einer stattfindenden Inspektion vom Amtsgeheimnis entbunden sind. Insbesondere ist Artikel 47quater Absatz 1 GVG wegen Absatz 6 dieses Artikels nicht anwendbar. Das Bundesgericht erklärt sich jedoch bereit, die Entbindung vom Amts- und Berufsgeheimnis gemäss Artikel 84 und 85 der Personalverordnung des Bundesgerichts (PVBger) rasch vorzunehmen, sobald ihm eine Liste der Mitarbeitenden vorliegt, die die Arbeitsgruppe anhören will, so dass die Inspektion nicht behindert wird.

Die Präsidenten von National- und Ständerat traten auf das Schreiben des Bundesgerichts nicht ein mit der Begründung, dass die Oberaufsicht über das Bundesgericht gemäss Artikel 47ter des Geschäftsverkehrsgesetzes den Geschäftsprüfungskommissionen obliege und die Ratspräsidenten prinzipiell nicht in die Arbeit der Kommissionen eingreifen (Brief vom 20. März 2003). Die Präsidien der Geschäftsprüfungskommissionen stellten fest, dass die Arbeitsgruppe «Bundesgericht» im Auftrag der beiden Geschäftsprüfungskommissionen die Inspektion durchzuführen habe und somit zuständig sei, sich mit den Überlegungen des Bundesgerichts zu befassen und diese allenfalls in Betracht zu ziehen.

2.3

Antwort der Arbeitsgruppe vom 21. März 2003

An ihrer Sitzung vom 21. März 2003 befasste sich die Arbeitsgruppe eingehend mit dem Schreiben des Bundesgerichts vom 17. März 2003 und verabschiedete eine Antwort. Sie legte dabei die Grundsätze des Vorgehens abschliessend fest, erklärte sich jedoch bereit, bei der konkreten Durchführung der Inspektion Anliegen und 5664

Wünsche des Bundesgerichts entgegenzunehmen. Die Antwort wird nachfolgend auszugsweise wiedergegeben.

«1. Allgemeines Die Arbeitsgruppe teilt die Sorge des Bundesgerichts, dass die in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe an den Kassationshof zu Verunsicherungen und Fragen geführt haben und einen Vertrauensverlust bewirken können. Aus dieser Sicht ist es auch der Arbeitsgruppe ein Anliegen, dass die Vorwürfe rasch abgeklärt werden. Andererseits kann nur eine seriöse und glaubwürdige Abklärung das erschütterte Vertrauen wiederherstellen.

Eine Abklärung im Schnellverfahren wäre nicht geeignet, dieses Vertrauen zu schaffen.

Eine glaubwürdige Untersuchung bedingt auch ein glaubwürdiges Verfahren. Um ein solches sicherzustellen, hat die Arbeitsgruppe in ihrem Scheiben vom 17. März 2003 die Grundsätze der Vorgehensweise der Geschäftsprüfungskommissionen, die sich bei Inspektionen im Bereich des Bundesrates und anderer Träger öffentlicher Aufgaben des Bundes bewährt haben, dargelegt. Dieses Vorgehen stellt die richterliche Unabhängigkeit des Bundesgerichts in keiner Weise in Frage, und es ist nicht ersichtlich, warum die Oberaufsicht über das Bundesgericht betreffend die Geschäftsführung nach grundsätzlich anderen Regeln erfolgen sollte.

Es liegt einzig in der Verantwortung der Aufsichtsbehörde, über ihr Vorgehen zu entscheiden. Die Arbeitsgruppe ist jedoch bereit, Anträge des Bundesgerichts in ihre Überlegungen einzubeziehen.

2. Gegenstand und Dauer der Inspektion Das Bundesgericht möchte, dass die Arbeitsgruppe die Inspektion ausdrücklich auf die Untersuchung von Unregelmässigkeiten am Kassationshof beschränkt und die Resultate möglichst rasch, d.h. bereits Ende April 2003, veröffentlicht. Die Fragen der Organisation des Gerichts sollten nach Meinung des Bundesgerichts im Rahmen der ordentlichen Oberaufsicht geprüft werden.

Die Stossrichtung der Untersuchung wurde der Arbeitsgruppe von den Geschäftsprüfungskommissionen im Rahmen ihres Auftrages vorgegeben. Eine Trennung der Themen zum vornherein ist nicht sinnvoll [...].

Ein Abschluss der Untersuchung zum Thema Unregelmässigkeiten am Kassationshof per Ende April 2003 ist zeitlich ausgeschlossen (Anhörungen, Berichtsredaktion inkl. Übersetzung, Beratung in der Arbeitsgruppe, ev. Beizug von Experten, Stellungnahme des Bundesgerichts, Beratung in
den beiden Plenarkommissionen). Ein solches Schnellverfahren wäre im Übrigen unglaubwürdig und würde dem Ansehen des Gerichts eher schaden als nützen.

Im Weiteren wäre auch die Glaubwürdigkeit der Geschäftsprüfungskommissionen betroffen.

Die Arbeitsgruppe schliesst jedoch nicht aus, dass, sollte die Abklärung zum Thema Unregelmässigkeiten rasch zeigen, dass die Vorwürfe unbegründet waren, dieser Befund der Öffentlichkeit zu einem vorgezogenen Zeitpunkt bekannt gegeben werden könnte.

5665

3. Verfahren a) Gesetzesgrundlagen der Oberaufsicht über das Bundesgericht Im Gegensatz zur Meinung des Bundesgerichts ist Artikel 47quater Absatz 1­5 GVG auf das Bundesgericht analog anwendbar. Er regelt die Informations- und Auskunftsrechte, Akteneinsichtsrechte, die Rechte von Auskunftspersonen, die Geheimhaltungspflicht der Geschäftsprüfungskommissionen und das ­ für das Bundesgericht wesentliche ­ Gewaltenteilungsgebot (Abs. 4). Absatz 6 besagt, dass sich die Oberaufsicht über die Rechtspflege nach den besonderen Vorschriften über die Organisation der eidgenössischen Gerichte richtet. Diese Norm hat im Gesetz keine Konkretisierung erfahren, wiederholt doch Artikel 21 Absatz 1 OG lediglich die Aufsichtskompetenz der Bundesversammlung über das Bundesgericht gemäss Artikel 169 Absatz 1 BV. Die Norm hat auch in der Praxis keine Bedeutung erlangt. Würde Artikel 47quater Absatz 1­5 GVG für das Bundesgericht nicht gelten, wäre der Geschäftsprüfungskommission eine Oberaufsicht überhaupt nicht möglich, was nicht der Sinn des Gesetzes sein kann. Absatz 6 ist demnach ergänzend und nicht alternativ zu den Absätzen 1­5 zu verstehen. Auch nach geltungszeitlicher Auslegung kann kein Zweifel an der Anwendbarkeit des ganzen Artikel 47quater bestehen, hat doch der Gesetzgeber im Parlamentsgesetz (ParlG), das voraussichtlich im Dezember 2003 in Kraft tritt, ebendiesen Regelungsbereich für die eidgenössischen Gerichte als sinngemäss anwendbar erklärt (Art. 162 Abs. 1 Bst. c i.V.m Art. 153 ParlG). Er ging dabei nicht von einer Neuerung, sondern vom heutigen Verständnis der Oberaufsicht aus.

b) Vorgehen bei den Anhörungen [...] Das Bundesgericht möchte, dass der Bundesgerichtspräsident bei den Anhörungen anwesend sein und in herausgegebene Unterlagen sowie in die Protokolle Einsicht nehmen könnte. Das Bundesgericht stützt sich für dieses Recht auf die analoge Anwendung von Artikel 167 Absatz 1 ParlG. Diese Spezialnorm gilt nur für die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) und ist für die Tätigkeit der Geschäftsprüfungskommissionen nicht anwendbar. Die Arbeitsgruppe kann diesem generellen Wunsch nicht stattgeben. Im Interesse der Wahrheitsfindung ist es bei dieser Inspektion unerlässlich, dass einzelnen Auskunftspersonen die Vertraulichkeit ihrer Aussagen zugesichert werden kann. Für die Arbeitsgruppe ist
es ebenso klar, dass sie dem Bundesgerichtspräsidenten und den betroffenen Bundesrichtern ausreichend Gelegenheit zu Berichtigungen oder Gegendarstellungen zu Aussagen und zu Stellungnahmen zu Dokumenten geben wird. Je nach Situation kann durchaus auch eine gemeinsame oder konfrontative Anhörung sinnvoll sein. Im Einzelfall kann das Bundesgericht entsprechende Vorschläge unterbreiten.

c) Entbindung vom Amtsgeheimnis Die Arbeitsgruppe hält fest, dass es keiner Entbindung der Mitarbeitenden des Bundesgerichts vom Amtsgeheimnis bedarf. Artikel 58 der Personalverordnung des Bundesgerichts (PVBger) über das Berufs- und Amtsgeheimnis schreibt in Absatz 3 vor, dass die Angestellten schriftlich dazu ermächtigt werden müssen, wenn sie sich über Tatsachen, die dem Amtsgeheimnis un5666

terliegen, «als Partei, Zeuge oder gerichtliche Sachverständige» äussern. Die von der Arbeitsgruppe angehörten Personen äussern sich als Auskunftspersonen gegenüber der Aufsichtsbehörde, der keine Amtsgeheimnisse entgegen gehalten werden können. Als solche sind sie offenkundig von dieser Norm nicht erfasst. Gemäss Absatz 4 bleibt Artikel 47bis GVG vorbehalten.

Artikel 47bis Absatz 3 schreibt die Entbindung von der Pflicht der Amtsverschwiegenheit durch den Bundesrat bei Anhörungen vor den Legislativkommissionen vor. Der für die Geschäftsprüfungskommissionen massgebende Artikel 47quater GVG bleibt ausdrücklich vorbehalten. Artikel 47quater GVG, der wie bereits festgestellt auch für das Bundesgericht gilt, enthält keine Bestimmung über eine allfällige Entbindung vom Amtsgeheimnis.

Die Arbeitsgruppe legt Wert darauf, dass die Mitarbeitenden vor der Anhörung vom Gericht darüber informiert werden, dass sie alle zweckdienlichen Aussagen wahrheitsgemäss machen sollen und dürfen. Die Arbeitsgruppe wird dies jeweils zu Beginn der Anhörung überprüfen und Personen nicht befragen, bevor diese Voraussetzung erfüllt ist.» [...]

2.4

Antwort des Bundesgerichts vom 24. März 2003

In einem kurzen Antwortschreiben vom 24. März 2003 erklärte das Bundesgericht, dass es die Darlegungen der Arbeitsgruppe nicht vollumfänglich teilen könne, dass es aber keine Weiterführung der Diskussion über das Verfahren verlange. Die Arbeitsgruppe könne auf die Unterstützung des Bundesgerichts bei der Wahrheitsfindung in Respektierung der gegenseitigen Rechte zählen. Im Weiteren teilte das Gericht mit, dass es das betroffene Personal durch Zustellung einer Kopie des Schreibens der Arbeitsgruppe vom 21. März 2003 informiert habe.

3

Der Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003

Die Überprüfung des Spuck-Vorfalls durch die Geschäftsprüfungskommissionen stellt weder ein Strafverfahren noch ein Disziplinarverfahren gegen Bundesrichter Martin Schubarth dar. Zu solchen Verfahren sind die Geschäftsprüfungskommissionen nicht legitimiert. Die vorliegende Untersuchung hat zum Zweck, gegenüber dem Parlament als Oberaufsichtsbehörde über das Bundesgericht und gegenüber der Öffentlichkeit Transparenz über den Vorfall zu schaffen und allenfalls Lösungswege aufzuzeigen. Die Geschäftsprüfungskommissionen machen aber auch von ihrer Möglichkeit Gebrauch, eine Bewertung des Vorfalls vorzunehmen und Empfehlungen abzugeben.

Im vorliegenden Fall hat Bundesrichter Martin Schubarth dem Entscheid des Bundesgerichts, ihn in der Rechtsprechung nicht mehr einzusetzen, öffentlich die Rechtmässigkeit abgesprochen und ist entgegen der Empfehlung des Bundesgerichts nicht von seinem Amt zurückgetreten. Stattdessen hat er ­ ebenfalls öffentlich ­ versucht, sich zu entlasten bzw. sein Verhalten zu rechtfertigen. Aus diesem Grund erachten es die Geschäftsprüfungskommissionen als angezeigt, die Ergebnisse der Abklärungen detailliert darzustellen.

5667

3.1

Ablauf der Ereignisse

Am Dienstag, 11. Februar 2003, um ca. 8.15 Uhr morgens, begegnete ein Gerichtsschreiber des Kassationshofes unten an der Aussentreppe vor dem Gerichtsgebäude des Bundesgerichts in Lausanne Markus Felber, am Bundesgericht akkreditierter Journalist der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ). Die beiden betraten zusammen das Gerichtsgebäude. Sie blieben am Fuss der Treppe in der Eingangshalle stehen und unterhielten sich. Die Personen, die nach ihnen das Gebäude betraten, mussten hinter Felber hindurchgehen. Der Gerichtsschreiber stand so, dass er sehen konnte, wer zur Eingangstür herein trat, während Felber dem Eingang und den eintretenden Personen den Rücken zukehrte. Der Gerichtsschreiber sah aus den Augenwinkeln, wie Bundesrichter Martin Schubarth das Gerichtsgebäude betrat und hinter Markus Felber hindurchging. Hinter Felber hielt er kurz inne. Der Gerichtsschreiber dachte, Schubarth wolle grüssen, und schaute in seine Richtung. Dann ging der Richter weiter, und im Gehen wandte er sein Gesicht den beiden zu und spuckte. Der Gerichtsschreiber wurde von einem Spritzer im Gesicht getroffen. Bundesrichter Schubarth setzte seinen Gang fort, und als er auf der ersten Treppenstufe angelangt war, rief ihm der Gerichtsschreiber nach: «He, du hast mich ja getroffen!» Daraufhin beschleunigte Schubarth seinen Schritt die Treppe hinauf und verschwand rechts um die Ecke.

Der Gerichtsschreiber sagte aus, er habe ein lautes Spuckgeräusch gehört, und der Gesichtsaudruck Schubarths sei beim Spucken hasserfüllt gewesen. Nach seiner Beschreibung hat Schubarth Speichel im Mund gesammelt und gezielt ausgespuckt.

Ein Hustengeräusch habe er weder vor noch nach dem Ereignis gehört. Markus Felber hat zum Zeitpunkt, als das Spucken erfolgte, Schubarth den Rücken zugekehrt und den Vorfall selbst nicht unmittelbar wahrgenommen. Er sei möglicherweise am Mantel getroffen worden. Im Gesicht hätte er vermutlich nicht getroffen werden können. Nach seiner Darstellung merkte er an der Reaktion seines Gesprächspartners, dass jemand hinter seinem Rücken vorbeiging. Der Gerichtsschreiber nickte leicht in Richtung der Person hinter ihm. Kurze Zeit später hörte er den Gerichtsschreiber erschrocken ausrufen: «Du hast mich getroffen!» Felber drehte sich um und sah Bundesrichter Schubarth davoneilen. Zum Zeitpunkt der Befragung konnte sich Felber
nicht mehr erinnern, ein Spuckgeräusch wahrgenommen zu haben. Ein Husten gehört zu haben, verneinte er.

Der Gerichtsschreiber ging sogleich zu dem ihm direkt vorgesetzten Bundesrichter und erzählte ihm vom Vorfall. Dieser verwies ihn an den Abteilungspräsidenten, Bundesrichter Roland Schneider. Der Gerichtsschreiber suchte daraufhin unverzüglich den Abteilungspräsidenten auf und schilderte ihm, was vorgefallen war. Auf die Frage, ob sich Bundesrichter Schubarth entschuldigt habe, antwortete der Gerichtsschreiber, er habe sich nicht entschuldigt, sondern sei weiter gegangen. Schneider sagte, wenn sich Bundesrichter Schubarth innerhalb der nächsten halben Stunde nicht beim Gerichtsschreiber entschuldige, werde er ihn zur Rede stellen. Der Gerichtsschreiber erklärte im Gespräch mit Schneider, er werde gegen Schubarth keine Strafanzeige erstatten und auch sonst nichts gegen ihn unternehmen.

Der Gerichtsschreiber begab sich anschliessend in sein Büro und bereitete sich auf eine bevorstehende Sitzung vor. Um ca. 9.30 Uhr rief ihn der Abteilungspräsident an und fragte, ob sich Bundesrichter Schubarth bei ihm gemeldet habe, was der Gerichtsschreiber verneinte. Daraufhin suchte Bundesrichter Schneider Schubarth in seinem Büro auf und fragte ihn, ob er sich bewusst sei, dass er an diesem Morgen 5668

den betreffenden Gerichtsschreiber zutiefst verletzt habe und er sich nicht einmal entschuldigt habe. Nach der Aussage des Abteilungspräsidenten hat Schubarth daraufhin zynisch gelächelt und seelenruhig folgende Worte gesagt: «Es gibt zwei Schweine in diesem Haus. Das eine ist Felber, das andere ist [...]5. Wenn man sich mit diesen unterhält, riskiert man, dass man etwas abbekommt.» Kurz darauf, um 10.00 Uhr, fanden am Kassationshof zwei Sitzungen unter dem Präsidium von Bundesrichter Roland Schneider statt. Bei der ersten Verhandlung waren u.a. auch Bundesrichter Schubarth und der vom Spuck-Vorfall mitbetroffene Gerichtsschreiber zugegen. Schubarth und der Gerichtsschreiber waren als erste im Gerichtssaal anwesend. Nach der Darstellung des Gerichtsschreibers trat der Richter zu ihm, drückte ihm die Hand und sagte: «Vergiss den Vorfall von heute Morgen.

Dieser Sauhund, dieser Saukerl, das Saupack von einem Felber und seine Vasallen [...]6; wer bei diesen steht, muss damit rechnen, dass er etwas abbekommt.» Ausser den beiden war zu diesem Zeitpunkt noch niemand im Gerichtssaal anwesend. Die Gerichtsverhandlung verlief problemlos und dauerte ungefähr zwanzig Minuten.

Nach dieser Sitzung sagte Schubarth gemäss dem Gerichtsschreiber nochmals zu ihm: «Vergiss den Vorfall von heute Morgen.» Der Gerichtsschreiber habe darauf geantwortet, Schubarth habe ihn mit diesem Verhalten gekränkt. Da habe Schubarth erstaunt reagiert und gesagt: «Ja, aber ich wollte ja gar nicht Dich treffen, sondern diesen Sauhund von einem Felber.» Um 11.20 Uhr wurde Bundesgerichtspräsident Heinz Aemisegger, der sich in Dorigny an einem Seminar befand ­ telefonisch über den Vorfall orientiert. Er fuhr zurück ins Bundesgericht und setzte mehrere Sitzungen für den Nachmittag an. Er vernahm die direkt betroffenen Personen ein, und gleichentags fand eine wegen des Vorfalls einberufene Präsidentenkonferenz statt. Der Bundesgerichtspräsident erlebte Schubarth bei dessen Einvernahme an diesem Nachmittag als kranken Mann mit Atemproblemen und Auswurf. Das veranlasste ihn zur Frage, ob das Vorkommnis auch im Zusammenhang mit seiner Krankheit stünde, worauf Schubarth sagte, eigentlich nicht, d.h. es könne schon sein, dass die Krankheit auch eine Rolle gespielt habe. Die ganze Nichtwiederwahlkampagne im letzten Dezember hätte ihn dermassen
angegriffen, dass er psychisch und physisch geschwächt gewesen sei.

Schubarth habe jedoch nicht insistiert, dass er nicht absichtlich gespuckt habe.

Ein weiterer an diesem Tag im Bundesgericht anwesender Journalist war bereits am Morgen durch Markus Felber, der ihn unmittelbar nach dem Vorfall im Journalistenzimmer angetroffen hatte, über den Vorfall informiert worden. Er verlangte vom Gericht raschmöglichst Auskünfte über das Ereignis. Am Nachmittag fand im Büro des Bundesgerichtspräsidenten eine Sitzung statt, an der nebst dem Bundesgerichtspräsidenten und dem Generalsekretär auch Markus Felber und der bereits über den Vorfall informierte Journalist anwesend waren. Von Seiten des Gerichts wurde den Journalisten gegenüber die Erklärung Schubarths erwähnt, dass der Vorfall im Zusammenhang mit seiner Krankheit stehe und es sich um einen Hustenanfall gehandelt haben könnte. Die Journalisten äusserten Zweifel an der Husten-Version, da sie bereits von den Aussagen Schubarths gegenüber dem Gerichtsschreiber gehört hatten, die auf ein absichtliches Spucken hinwiesen. Die Gerichtsleitung erklärte, das Bundesgericht wolle die Ereignisse genauer abklären, bevor es offiziell Stellung nehmen könne, und stellte in Aussicht, bis am nächsten Tag um 12.00 Uhr zu infor5 6

Der Name ist der Arbeitsgruppe bekannt.

Die Namen sind der Arbeitsgruppe bekannt.

5669

mieren. Die Pressevertreter erklärten sich damit einverstanden, die Meldung bis dahin zurückzuhalten.

In der Folge erklärten sich die Journalisten nach Rücksprache mit ihren Redaktionen bereit, im Interesse der Institution Bundesgericht darauf zu verzichten, den Vorfall zu publizieren, falls Bundesrichter Schubarth bis am Mittag des nächsten Tages aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt erklären würde. Der Rücktritt Schubarths erfolgte jedoch nicht (ausführlich zu seiner Stellungnahme zum Vorfall siehe Ziff. 3.5.1).

Die Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts, bestehend aus den Abteilungspräsidenten, tagte am späteren Nachmittag. Am folgenden Tag, dem 12. Februar 2003, erging eine Mitteilung der Präsidentenkonferenz an Bundesrichter Schubarth, den betroffenen Gerichtsschreiber, Markus Felber, die Bundesgerichtspresse sowie alle Mitglieder des Gerichts mit folgendem Inhalt: «Die Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts hat von einem Vorfall Kenntnis erhalten, der sich am 11. Februar 2003 zwischen Herrn Bundesrichter Martin Schubarth, Herrn Markus Felber, Korrespondent der NZZ, und einem Gerichtsschreiber des Bundesgerichts im Bundesgerichtsgebäude zugetragen hat. Es wurde ihr mitgeteilt, Herr Bundesrichter Martin Schubarth habe in diesem Zusammenhang gegen das Gebot des Anstandes verstossen. Soweit dies zutrifft, bedauert das Bundesgericht den Vorfall. Es legt Wert darauf, dass sich in seinem Bereich jedermann an die Grundsätze des Anstandes hält und die allgemeinen Formen des Umgangs beachtet. Eine Verletzung dieser Regeln wird missbilligt.»

3.2

Folgen für das Bundesgericht

In den folgenden Tagen wurde der Spuck-Vorfall zu einem Medienereignis. «Vorsicht! Dieser Richter spuckt» und «Untragbar!» titelte die Zeitung «Blick». Die Basler-Zeitung kommentierte, kein Richter, schon gar nicht einer in dieser Position, dürfe sich derart gehen lassen; er werde unglaubwürdig und damit untragbar. Schubarth habe dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des Gerichts massiv geschadet.

Etwas moderater war der Kommentar des Tages-Anzeigers: Im Interesse des Ansehens und der Akzeptanz des Bundesgerichts müsse sich Martin Schubarth wohl doch die Frage stellen, ob sein Verbleib im obersten Gericht heute der Sache der Justiz noch diene. Die Medien griffen zudem Vorwürfe wieder auf, von denen einzelne Zeitungen bereits vor und nach den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts am 11. Dezember 2002 berichtet hatten. Von mangelnder Sozialkompetenz und von eigenmächtiger und angeblich unkorrekter Amtsführung Schubarths als Präsident des Kassationshofes war die Rede gewesen. Hinzu kamen nun noch Vorwürfe von angeblichen Urteilsmanipulationen Schubarths (siehe Ziff. 4).

Das Bundesgericht als Institution und seine 30 Richterinnen und Richter werden selten in den Medien thematisiert. In den Massenmedien wird das Bundesgericht normalerweise nur erwähnt, wenn es einen wichtigen Leitentscheid mit weitreichenden Folgen für die Allgemeinheit gefällt hat. Nun sah sich das oberste Gericht während Tagen der Lächerlichkeit preisgegeben. Innerhalb kurzer Zeit erhielt das Bundesgericht rund 50 Eingaben von empörten Bürgerinnen und Bürgern. Rechtsuchende ersuchten um eine Revision ihres Verfahrens, mit der Begründung, sie lies5670

sen sich nicht von Richtern beurteilen, die sich so aufführten. Anwälte machten deutlich, dass sie künftig darauf beharren würden, dass ihre Klienten nicht mehr von Schubarth beurteilt werden. Das Gericht bekam zu spüren, dass das Vertrauen vieler Rechtssuchender und anderer Bürgerinnen und Bürger in das oberste Gericht erschüttert war.

3.3

Der Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003 und dessen Begründung vom 13. Mai 2003

Am 19. Februar 2003 trat das Gesamtgericht zu einer Plenarsitzung zusammen. Mit Ausnahme von zwei Richtern waren alle Richter, einschliesslich Martin Schubarth, anwesend. Nach einer ungefähr zweistündigen Diskussion veröffentlichte das Bundesgericht seinen Entscheid in einer Medienmitteilung wie folgt: «Der von Herrn Bundesrichter Martin Schubarth am 11. Februar 2003 in der Eingangshalle des Bundesgerichts verursachte , über welchen in der Presse ausführlich berichtet worden ist, wird vom Bundesgericht in aller Form missbilligt. Gestützt auf dieses Vorkommnis hat das Gesamtgericht heute in Anwesenheit von Herrn Bundesrichter Martin Schubarth nach eingehender und offener Diskussion ohne Gegenstimme bei zwei Enthaltungen folgenden Beschluss gefasst: Herr Bundesrichter Martin Schubarth wird gestützt auf die dem Bundesgericht zustehende Organisationskompetenz mit sofortiger Wirkung als Mitglied des Bundesgerichts in der Rechtsprechung nicht mehr eingesetzt. Das Gesamtgericht ist der Auffassung, dass Herr Bundesrichter Martin Schubarth den Rücktritt erklären sollte.» Gleichzeitig teilte der Generalsekretär des Bundesgerichts im Auftrag von Bundesrichter Martin Schubarth der Öffentlichkeit mit: «Herr Bundesrichter Martin Schubarth möchte seine Entscheidung nicht in der heutigen zugespitzten Situation und in seinem derzeitig schlechten Gesundheitszustand treffen.» Das Bundesgericht veröffentlichte zunächst keine nähere Begründung seines Entscheides. Jedoch erläuterte Bundesgerichtspräsident Heinz Aemisegger am Tag darauf den Entscheid vor den Medien. Die bestehenden Gesetze hätten dem Gericht nicht weiter geholfen, da der Gesetzgeber solche Fälle nicht ausdrücklich regle, sagte Aemisegger laut der Zeitung «Der Bund»7. Für ihren Entscheid stützten sich die Richter deshalb auf ihre Organisationskompetenz und interpretierten sie so, dass ein Ausschluss Schubarths zulässig sei. Auf Kritik an dieser Auffassung seien sie gefasst, doch sie hätten gehandelt, sagte Aemisegger laut «Bund».

Im Laufe des Monats April erklärte Bundesrichter Martin Schubarth, er beabsichtige nicht, zurückzutreten und sei nun wieder arbeitsfähig. Überdies zog er die Rechtmässigkeit des Entscheides des Gerichts in Zweifel (siehe Ziff. 3.5.4). Daraufhin bestätigte das Bundesgericht seinen Entscheid vom 19. Februar 2003 nochmals und veröffentlichte eine eingehende Begründung. In der Pressemitteilung des Bundesgerichts vom 13. Mai 2003 heisst es:

7

Der Bund, 21. Februar 2003, S. 7, «Uns ging es um das Ansehen der Justiz».

5671

«1. Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 Ausgangspunkt ist die Spuck-Attacke von Herrn Bundesrichter Martin Schubarth vom 11. Februar 2003. Herr Schubarth hat einen Journalisten, zu dem er ein angespanntes Verhältnis hat, im Vorübergehen angespuckt und dabei versehentlich einen neben diesem Journalisten stehenden Gerichtsschreiber im Gesicht getroffen. Wortlos hat er sich entfernt und später dem Gerichtsschreiber sinngemäss gesagt, wer neben dieser Person stehe, riskiere, selbst getroffen zu werden. In den folgenden Tagen hat er sich nicht entschuldigt.

2. Sitzung des Gesamtgerichts vom 19. Februar 2003 Nachdem intensive Gespräche mit Herrn Schubarth geführt worden waren, fasste das Gesamtgericht am 19. Februar 2003 ohne Gegenstimme den Beschluss, ihn mit sofortiger Wirkung in der Rechtsprechung nicht mehr einzusetzen, und legte ihm nahe, zurückzutreten. Herr Schubarth hat an der ganzen Sitzung persönlich teilgenommen. Dabei hat er sich zur Sache sehr ausführlich geäussert und die Meinungen sämtlicher Kolleginnen und Kollegen zur Kenntnis genommen.

3. Voraussetzungen für den Ausschluss eines Richters aus der Rechtsprechung Bundesrichter werden jeweils auf eine feste Amtsdauer von sechs Jahren gewählt. Eine Abwahl ist im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen. Offensichtlich ging der Gesetzgeber davon aus, dass ein Höchstrichter, welchem ein solches Fehlverhalten vorzuwerfen ist, die Grösse hat, die Konsequenzen zu ziehen und zurückzutreten. In einer Extremsituation kann das Bundesgericht zur Wahrung seiner Glaubwürdigkeit und im Interesse seiner Funktionsfähigkeit verpflichtet sein, einen Richter von der Rechtsprechung auszuschliessen. Dabei muss es sich allerdings um so gravierende Umstände handeln, dass eine weniger einschneidende Massnahme, wie etwa das Versetzen in eine andere Abteilung, als nicht genügend erscheint.

4. Wertung des Spuck-Vorfalls vom 11. Februar 2003 Anspucken ist eine besonders niedrige Art, jemandem Verachtung und Hass zu zeigen. Selbst Kindern lässt man ein solches Verhalten nicht durchgehen.

Bei einer erwachsenen Person lässt es darauf schliessen, dass sie dem Anderen nicht einmal mehr die minimalste Achtung zu zollen bereit ist. Sich so zu benehmen, ist mit den Minimalanforderungen im zwischenmenschlichen Umgang nicht vereinbar. Für eine Richterpersönlichkeit gilt dies in
besonderem Mass. Jeder Angestellte, der so handelt, riskiert, seine Stelle zu verlieren. Mit seinem Verhalten hat Herr Schubarth sich selbst und die Institution, der er angehört, der Lächerlichkeit preisgeben. Wer derart die Selbstkontrolle verliert und grob gegen Sitten und Anstand verstösst, ist für die Rechtsunterworfenen als Richter unzumutbar. Bei dieser Sachlage ist keine Alternative ersichtlich, weshalb das Bundesgericht die Massnahme einer definitiven Freistellung von der Rechtsprechung als verhältnismässig beurteilt hat. [...]» Die von der Arbeitsgruppe befragten Richter erklärten übereinstimmend, dass weder die Spannungen im Kassationshof noch das Schubarth vorgeworfene eigenmächtige Vorgehen als Präsident des Kassationshofes bzw. mutmassliche Unregelmässigkei5672

ten unter seinem Präsidium beim Entscheid, ihn nicht mehr in der Rechtsprechung einzusetzen, eine Rolle gespielt hätten. Es sei einzig der Spuck-Vorfall gewesen, der das Gericht zu dieser präzedenzlosen Entscheidung bewogen habe, weil ein solches Verhalten eines Bundesrichters das Ansehen der Justiz und die Glaubwürdigkeit des Gerichts gefährde und mit der Stellung einer Magistratsperson unvereinbar sei.

3.4

Verhältnis von Bundesrichter Martin Schubarth zum Journalisten Markus Felber und zu den Medien

Markus Felber arbeitet seit 1981 als Journalist am Bundesgericht. Martin Schubarth wurde 1982 als Bundesrichter gewählt. Während vieler Jahre war ihr Verhältnis normal. In den Jahren 1999 und 2000, als Martin Schubarth Gesamtgerichtspräsident und gleichzeitig Präsident des Kassationshofes war, entbrannte zwischen ihm und Felber eine Auseinandersetzung über die Praxis des Bundesgerichts bei der Anonymisierung der Urteile. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes handhabte das Bundesgericht die Anonymisierung der Urteile relativ extensiv, was die am Bundesgericht tätigen Journalisten ihrerseits als Behinderung ihrer Tätigkeit kritisierten.

Mit der Zeit wurde die Auseinandersetzung persönlich: In der NZZ vom 17. Juni 2000 warf Felber Schubarth vor, er habe in Urteilen zur Zürcher Wirteaffäre im Zusammenhang mit dem Bestechungsfall Raphael Huber die Namen der Beteiligten abdecken lassen, obwohl sie zu Recht wegen aktiver Bestechung verurteilt worden waren. Die Anonymisierung sei zusätzlich erschwert worden, indem ein und derselbe Hauptangeklagte einmal X und einmal A genannt worden sei. Weiter schrieb Felber, besonders «perfid» erscheine die höchstrichterliche Irreführung der Presse dort, wo einem anonymisierten Verurteilten ein falsches Strafmass zugeordnet worden sei8. Schubarth, der damals Abteilungspräsident des Kassationshofes und Bundesgerichtspräsident war, fasste den Artikel als Angriff auf seine Person und auf die Institution des Bundesgerichts auf. Er hätte erwartet, dass Felber aufgrund des bisher guten Verhältnisses seine Kritik zuerst vorgebracht hätte, dann hätte das Problem bereinigt werden können. Es hätte sich rasch gezeigt, dass bei der Anonymisierung, die im Übrigen nicht von den Richtern, sondern von Gerichtsschreibern und vom Kanzleipersonal durchgeführt werde, ein Missverständnis aufgetreten war.

Schubarth war darüber sehr erzürnt und schrieb deswegen an den Chefredaktor der NZZ, ohne grossen Erfolg, wie er sagt. In anderen Fällen, wo Felber etwas beanstandete, habe das Gericht die Sache mit ihm besprochen und gesagt, man sehe das Problem. Trotzdem habe Felber daraufhin einen Artikel geschrieben, wie wenn das Gericht nicht auf seine Kritik reagiert hätte. Da fühle man sich ins falsche Licht gesetzt. Das sei mehrfach vorgekommen.

Die Spannungen zwischen Schubarth und Felber waren
mit der Zeit im ganzen Bundesgericht bekannt. Die beiden verkehrten nur noch schriftlich miteinander.

Nach Aussagen von Richterkollegen Schubarths am Kassationshof flammte der Konflikt regelmässig neu auf, wenn Felber wieder eine Kritik publiziert hatte. Schubarth habe sich jeweils stark aufgeregt, und die Kollegen hätten ihn wieder zu beruhigen versucht.

8

NZZ vom 17. Juni 2000, S. 47, «Bestätigte Schuldsprüche wegen Bestechung».

5673

Eine Zuspitzung erfuhr das gespannte Verhältnis mit den Artikeln Felbers in der NZZ vor und nach den Erneuerungswahlen der Bundesrichter vom 11. Dezember 2002 für die Amtsperiode von 2003 bis 2008. Am Tag nach der Wahl schrieb Felber9, mit einiger Spannung sei das Ergebnis der Wiederwahl von Bundesrichter Martin Schubarth erwartet worden, dessen Charakter und Amtsführung seit dem Sommer Gegenstand von Gesprächen und in den Tagen vor der Wahl auch von Zeitungsartikeln gewesen sei. Dabei sei mehr oder weniger offen auf seine eigensinnige und wenig umgängliche Art sowie auf seine medienfeindliche Beeinflussung der Rechtsprechung angespielt worden. Das habe seine Wiederwahl offensichtlich nicht zu gefährden vermocht. «Gefährlich hätten ihm dagegen einige der hinter vorgehaltener Hand erhobenen Vorwürfe werden können, bei denen es im Wesentlichen um die eigenmächtige und angeblich unkorrekte Amtsführung Schubarths als Präsident des Kassationshofes in Strafsachen geht. Zu einer Klärung der Sache kam es indes nicht, weil das Gericht es ablehnte, die Fakten auf den Tisch zu legen. Die vornehme Zurückhaltung mag mit Rücksicht auf das Ansehen der Justiz gerechtfertigt sein, erstaunte aber doch, weil gleichzeitig die heimlich gehegte Hoffnung unverkennbar war, der Störefried könnte das absolute Mehr auch so verfehlen. Doch der Versuch ist gescheitert, dem ungeliebten den Pelz zu waschen, ohne das eigene Fell nass zu machen.» Besonders betroffen machte Schubarth, dass er beim Lesen dieser Artikel den Eindruck erhielt, Felber müsse seine Informationen von Richterkollegen und von Mitarbeitenden des Bundesgerichts, möglicherweise unter Verletzung des Amtsgeheimnisses, erhalten haben. Deshalb war Felber aus seiner Sicht ein Teil eines gegen seine Person gerichteten Komplottes von Richterkollegen.

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass mehrere Bundesrichter gegenüber Markus Felber ihr Missfallen betreffend dessen persönlichen Angriff auf Schubarth im Artikel vom 17. Juni 2000 ausgedrückt haben. Zu relativieren ist ebenfalls die in den Medien mehrfach wiederholte Darstellung, Bundesrichter Schubarth sei für mehrere so genannt «medienfeindliche» Urteile10 der letzten Jahre verantwortlich. Die betreffenden Urteile kamen alle durch Mehrheiten am Kassationshof zu Stande. Aus den Urteilen ist nicht ersichtlich,
welchen konkreten Beitrag Schubarth dazu geleistet hat. Die unter Medienschaffenden vorherrschende Meinung, Schubarth habe diese Urteile massgebend bestimmt, kann aufgrund der Arbeitsweise des Kassationshofes von der Arbeitsgruppe nicht bestätigt werden. Dass Schubarth allgemein eine medienfeindliche Haltung nachgesagt wird, hängt einerseits damit zusammen, dass er sich zuweilen pointiert zu den Medien geäussert hat, und andererseits der Kassa9 10

NZZ vom 12. Dezember 2002, S. 19, «Alle 29 Bundesrichter wiedergewählt ­ Auch Martin Schubarth klar über dem absoluten Mehr».

Z.B. «Fall Jagmetti», BGE 126 IV 236/6S.425/2000: Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung eines Journalisten der «Sonntags-Zeitung» wegen Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 StGB), weil er Auszüge aus einem Strategiepapier des damaligen Schweizer Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti, veröffentlicht hatte; BGE 127 IV 122/6S.49/2000: Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung eines «Blick»-Reporters wegen Anstiftung zur Amtsgeheimnisverletzung, weil er eine Verwaltungsassistentin der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich veranlasst hatte, ihm Angaben über Vorstrafen von im Zusammenhang mit dem Fraumünsterpostraub verhafteten Personen herauszugeben; BGE 127 IV 166/6P.152/2000: Das Bundesgericht urteilte, die Verurteilung eines italienischen Journalisten zu einer Busse wegen illegalem Grenzübertritt verstosse nicht gegen die Pressefreiheit. Der Journalist hatte sich zusammen mit Flüchtlingen von Schleppern über die Grenze bringen lassen, um Informationen aus «erster Hand» zu sammeln.

5674

tionshof, den Schubarth während der letzten vier Jahre präsidierte, Urteile im Spannungsfeld zwischen der Medienfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit zu fällen hat, die naturgemäss von den Medienschaffenden kritisch beobachtet werden.

3.5

Reaktionen von Bundesrichter Martin Schubarth nach dem Ereignis

3.5.1

Aussagen von Bundesrichter Martin Schubarth zum Spuck-Vorfall

Am Nachmittag des 11. Februar 2003 gab der Bundesgerichtspräsident gegenüber den beiden anwesenden Journalisten die Erklärung Schubarths wie folgt wieder: Martin Schubarth, der stark erkältet sei, hätte sehr starke Emotionen gehabt, als er den Korrespondenten der NZZ gesehen habe. Dabei sei ihm etwas hochgekommen, und er hätte husten müssen. Unglücklicherweise hätte er sich in diesem Moment zu den beiden in ein Gespräch vertieften Herren umgedreht. Dabei habe ein Auswurf den Gerichtsschreiber im Gesicht getroffen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Bundesgericht seine eigenen Abklärungen des Vorfalls noch nicht abgeschlossen.

In einer von der Schweizerischen Depeschenagentur (sda) am 12. Februar 2003 verbreiteten Meldung heisst es, nach Darstellung Schubarths habe sich bei einem unterdrückten Hustenanfall Speichel gelöst. Vor dem Hintergrund eines persönlichen Konflikts mit dem NZZ-Korrespondenten habe er sich dabei in dessen Richtung gedreht, was ein «Blödsinn» gewesen sei. Er bedaure den Vorfall, schliesse aber einen Rücktritt deswegen aus. «Ich will nichts beschönigen» sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur AP. Er sei möglicherweise durch die Anwesenheit Felbers provoziert worden, der ihn in verschiedenen Artikeln angegriffen habe. Deshalb habe er einen Hustenreiz bekommen. «Da ist etwas hochgekommen, und ich habe mich in diesem Moment unglücklicherweise zu ihm umgedreht.» Am 18. Februar 2003 wurde Bundesrichter Schubarth von den beiden Präsidenten der Subkommissionen «Gerichte» der Geschäftsprüfungskommissionen zum Vorfall befragt. Bundesrichter Schubarth erklärte, er bedaure den Vorfall ausserordentlich.

Dieser selbst sei nicht zu beschönigen. Er sei an jenem Tag ­ an nichts Böses denkend ­ in das Gericht gekommen. Da habe er geglaubt, er sehe Herrn Felber im Gespräch mit jemandem, was er gar nicht weiter beachtet habe. Er sei an ihm vorbeigegangen, und dann habe er einen Hustenanfall gehabt. Er habe versucht, ihn zu unterdrücken, was ihm nicht ganz gelungen sei. Da sei ihm etwas hochgekommen und dann ­ was er sich heute nicht erklären könne ­ habe er sich in Richtung von Herrn Felber umgedreht. Auf die Frage, ob er denn absichtlich gespuckt habe, antwortete Schubarth: «Ich kann nicht mehr sagen, was in meinem Kopf vorging. Es ging etwas vor, und ich drehte mich um.» Vor der Arbeitsgruppe
sagte Schubarth am 27. März 2003 nicht mehr ausdrücklich, er habe sich im fraglichen Moment zu Markus Felber gedreht, sondern er habe sich umgedreht, «und ein Auswurf ging in Richtung der beiden Gesprächspartner». Auf die Frage, was der Vorfall mit Felber zu tun gehabt habe, antwortete er: «Ich kann mir nicht erklären, warum ich an diesem Tag etwas gegen ihn hätte unternehmen wollen. Deshalb sehe ich keinen Zusammenhang mit seiner Präsenz.» Auf entsprechende Nachfrage räumte er ein, vielleicht sei der Hustenanfall, von ihm unbewusst, durch die Präsenz von Herrn Felber ausgelöst worden. Vielleicht sei der Anfall auch 5675

durch den Durchzug in der Halle ausgelöst worden. Er vermute, die Anwesenheit von Herrn Felber habe in ihm etwas provoziert. Das Ganze sei ihm rätselhaft, deshalb könne er keine präzise Antwort geben. Er habe im Moment nicht realisiert, was vorgegangen sei, und sei in sein Büro gegangen.

Konfrontiert mit seiner Aussage gegenüber dem Gerichtsschreiber, wer neben Felber stehe, müsse damit rechnen, dass er etwas abbekomme, sagte Schubarth: «Wenn ich das wirklich gesagt haben sollte, würde ich es ausserordentlich bedauern. Ich kann mich nicht erinnern, eine solche Äusserung gemacht zu haben.» Später sagte er gegenüber der «Weltwoche», konfrontiert mit seiner zweiten Aussage gegenüber dem Gerichtsschreiber, er habe ja nicht ihn, sondern Felber treffen wollen, ob er das wirklich gesagt habe, dies sei ihm völlig neu. Er könne das nicht bestätigen, möchte aber auch niemanden der falschen Zeugenaussage bezichtigen. Er wisse nicht, was ihm in jenem Moment durch den Kopf gegangen sei11.

In Bezug auf seine Entschuldigung bei Markus Felber sagte Schubarth, er habe am Tag des Vorfalls in Anwesenheit des Bundesgerichtspräsidenten ein Gespräch mit Felber geführt. Da habe er sich bei ihm für den Vorfall entschuldigt, sagte Schubarth gegenüber der Arbeitsgruppe. Aus einer Aktennotiz des Bundesgerichts zu den zum Vorfall geführten Gesprächen geht hervor, dass Schubarth in Anwesenheit der Gerichtsleitung und von Markus Felber sagte, wenn Herr Felber den Vorfall tatsächlich so verstanden habe, dass er sich ihm gegenüber habe geringschätzig äussern wollen, so bedaure er dies. Felber teilte Schubarth in einem Schreiben vom 17. Februar 2003 mit, die Sache sei für ihn erledigt. In einem persönlichen Entschuldigungsschreiben an den vom Vorfall betroffenen Gerichtsschreiber vom 15. Februar 2003, das am 18. Februar 2003 bei diesem eintraf, schreibt Schubarth: «Ich habe Dich am Dienstag schwer getroffen; Du sollst wissen, wie sehr mir das leid tut, und ich bitte Dich, [...] meine Entschuldigung entgegenzunehmen. Ich leide selbst sehr darunter, dass Du [...] in eine solche Situation gebracht wurdest. [...]»

3.5.2

Die Erkrankung von Bundesrichter Martin Schubarth

Bereits am Tag des Vorfalls wies Bundesrichter Martin Schubarth auf seinen schlechten Gesundheitszustand hin (siehe Ziff. 3.1). Am 18. Februar 2003, also eine Woche nach dem Vorfall, gab Martin Schubarth bei der Anhörung durch die Präsidenten der Subkommissionen «Gerichte» der Geschäftsprüfungskommissionen zu Protokoll, seine Gesundheit sei angeschlagen. Seit einem Monat sei er durch eine Bronchitis und anschliessend durch Asthma mit Komplikationen geschwächt. Er habe mehrfach während der Nacht Erstickungsanfälle erlitten; er sei durch diese Krankheit und teilweise verändernde medikamentöse Behandlung beeinträchtigt.

Am 27. März 2003 stellte Schubarth gegenüber der Arbeitsgruppe einen klaren Zusammenhang zwischen seiner Krankheit und dem Spuck-Vorfall her. Er sei bereits seit Mitte Januar krank gewesen. In der Meinung, es habe sich um eine normale Bronchitis gehandelt, sei er schon bald wieder an die Arbeit gegangen. Im Rückblick sehe er, dass alles viel schlimmer gewesen sei. Es handle sich um Bronchialasthma, 11

Zitiert nach Weltwoche Nr. 22.03 vom 29. Mai 2003, S. 46, «Der Richter und seine Henker».

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das in einer psychischen Überbelastung begründet sei, die ihre Wurzeln in den Ereignissen am Bundesgericht im letzten Jahr hätte. Die Ärzte hätten eine larvierte Depression festgestellt, die möglicherweise durch die Vorfälle im letzten Jahr verstärkt worden sei. Er habe zudem in den Tagen vor dem Ereignis viermal nächtliche Erstickungsanfälle erlitten, die bei ihm einen Angstzustand ausgelöst hätten. In den Tagen des fraglichen Vorfalls habe er zudem ein Medikament einnehmen müssen, das ihn möglicherweise stärker beeinflusst habe, als er gemerkt habe. Auf die Frage, wie er sich seine Reaktion vom 11. Februar 2003 erkläre, sagte Schubarth: «Ich habe nicht realisiert, dass ich schon seit längerer Zeit unter einer Depression leide. Im Nachhinein ist mir auch deutlich geworden, dass ich des öftern nicht die gleichen gesunden Reaktionen hatte, wie früher, wahrscheinlich bedingt durch meine Depression.» Der «Weltwoche» gegenüber sagte Schubarth später, ein Psychiater hätte ihm erklärt, es komme bei Depressionen oft vor, dass Ereignisse retardiert wahrgenommen würden. Er glaube heute, vielleicht habe es ihm deshalb erst nachträglich gedämmert, dass in der Halle etwas Gravierendes vorgefallen sei. Als man ihm dann gesagt habe, er habe in Richtung Felber gespuckt, habe er automatisch angenommen, dass dies wohl so gewesen sein müsse12.

In einem ärztlichen Zeugnis vom 25. März 2003 schreibt sein Arzt, Schubarth leide an einer zum Teil larvierten Depression, die sich im Laufe der letzten Monate progredient entwickelt habe. Zudem sei er im Januar 2003 an einer subakuten Tracheobronchitis (Atemwegsinfektion) mit bronchialer Hyperreaktivität erkrankt, die sich durch einen zum Teil unkontrollierbaren explosiven Hustenreiz und durch wiederholte nächtliche Erstickungsanfälle äusserte. Trotz medikamentöser Behandlung habe zweimal der Notarzt beigezogen werden müssen. Diese Situation habe zu einer psychischen Belastung und zu einer akuten Verschlechterung der bereits latent vorhandenen Depression geführt. Ausserdem sei darauf hinzuweisen, dass seit dem 7. Februar 2003 eine verstärkte Therapie angeordnet worden sei. In diesem Zusammenhang sei neu ein Medikament zur Hemmung der Magensäurebildung (Nexium 40) verordnet worden, bei dessen Nebenwirkungen unter anderem Fälle von kurzdauernden Verhaltensstörungen beschrieben
worden seien (gemäss ArzneimittelKompendium der Schweiz). Weiter schreibt der Arzt: «Der Vorfall vom 11. Februar 2003 muss aus medizinischer Sicht im Rahmen des erwähnten aussergewöhnlichen und schwerwiegenden Krankheitsbildes gewürdigt werden, umso mehr als das Ereignis aufgrund meiner langjährigen Kenntnis der Person von Herrn Schubarth als nicht persönlichkeitsadäquat angesehen werden kann.»

3.5.3

Äusserungen zu einem allfälligen Rücktritt

In den Tagen nach dem Spuck-Vorfall wurde in einigen Medien und von Politikern Schubarths Rücktritt gefordert. Gegenüber der Schweizerischen Depeschenagentur schloss Schubarth zunächst einen Rücktritt aus13. Kurz darauf erklärte Schubarth gegenüber dem Tages-Anzeiger: «Wenn eine überzeugende neutrale Instanz eine

12 13

Weltwoche Nr. 22.03 vom 29. Mai 2003, S. 47, «Der Richter und seine Henker».

Meldung der Schweizerischen Depeschenagentur (sda) vom 12. Februar 2003.

5677

Empfehlung darüber abgeben würde, was nun zu geschehen habe ­ ich wäre bereit, es in Betracht zu ziehen14.» Am 18. Februar 2003 erklärte Schubarth zur Frage seines allfälligen Rücktrittes, er frage sich, ob eine solche Entscheidung nicht ohne den gegenwärtigen massiven äusseren Druck getroffen werden sollte, schon um den Eindruck zu vermeiden, dass man dem Druck der Presse, die offenbar ultimative Forderungen an den Bundesgerichtspräsidenten gestellt habe, nachgegeben habe und ob es denn nicht auch andere Sanktionen als die Demission gebe. Die Pressemitteilung der Präsidentenkonferenz vom 12. Februar 2003 habe jedenfalls einen deutlichen Tadel an seine Adresse enthalten. Ein Tadel sei berechtigt, das wolle er ohne weiteres akzeptieren.

Unmittelbar nach dem Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003, ihn von der Rechtsprechungstätigkeit freizustellen und ihm den Rücktritt zu empfehlen, teilte Schubarth der Öffentlichkeit mit, er möchte seine Entscheidung nicht in der heutigen zugespitzten Situation und in seinem derzeitig schlechten Gesundheitszustand treffen.

Ende März 2003 sagte Schubarth vor der Arbeitsgruppe, alle neutralen Personen, die er kontaktiert habe, seien der Meinung, ein Rücktritt nach 20 Jahren loyalem Dienst am Bundesgericht wäre eine total unverhältnismässige Reaktion. Er denke im Moment nicht daran, zurückzutreten. Seine Ärzte sagten ihm, er werde in einem überschaubaren Zeitraum wieder gesund.

Anfangs Juli sagte Schubarth, er danke der Vereinigten Bundesversammlung, dass sie ihn im letzten Dezember wieder gewählt habe. Er sei bereit, die ihm damit übertragenen Pflichten auszuüben, und bedaure, dass er im Moment daran gehindert werde. Seine Atemprobleme seien bereinigt, und er sei total gesund. Mit Bezug auf das angespannte Klima am Bundesgericht betreffend seine Person erklärte er, er sehe da kein Problem und sei immer bereit, mit den Leuten zu sprechen.

3.5.4

Angriffe von Bundesrichter Martin Schubarth gegen Richterkollegen und das Bundesgericht

In den Tagen nach dem Spuck-Vorfall begründete Bundesrichter Martin Schubarth seinen Groll gegenüber dem NZZ-Journalisten Markus Felber in den Medien damit, dieser habe vor den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts im Dezember 2002 «eine wahre Hetzkampagne» gegen seine Wiederwahl angezettelt. Andererseits erhob er auch schwere Vorwürfe gegenüber Mitrichtern: Ganz offensichtlich hätten gewisse Richterkollegen ihre Reservepflicht verletzt und Felber praktisch die Feder geführt. Die gleichen Kollegen hätten auch ein unveröffentlichtes Manuskript unter fragwürdigen Umständen entwendet und SP-Parlamentariern in Bern zugestellt, mit dem Hinweis, er vertrete Positionen, welche der Parteiideologie widersprächen, und sei deshalb nicht mehr wählbar15. Er wisse, «dass ein Bundesrichter unter krasser Verletzung richterethischer Prinzipien mich in Bern bei einem Parla-

14 15

Zitiert nach Tages-Anzeiger vom 14. Februar 2003, S. 6, «Ich streue Asche auf mein Haupt».

Zitiert nach Tages-Anzeiger vom 14. Februar 2003, S. 6, «Ich streue Asche auf mein Haupt».

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mentarier angeschwärzt hat. Während Monaten wurde meine Abwahl angestrebt ­ mit KGB-Methoden»16 (siehe dazu auch Ziff. 5).

Ende April 2003 äusserte Martin Schubarth gegenüber der Sonntags-Zeitung die Meinung, das Bundesgericht habe seinen Entscheid, ihn von der Rechtsprechung auszuschliessen, ohne Rechtsgrundlage gefällt. Dieser sei unverhältnismässig. Die Sonntags-Zeitung veröffentlichte zudem Schubarths Einwände betreffend seine gesundheitlichen Einschränkungen zum Zeitpunkt des Spuck-Vorfalls und das Medikament Nexium 40, das bei ihm möglicherweise zu «kurz andauernden Verhaltensstörungen» geführt habe.17 Schliesslich verlangte Schubarth informell vom Bundesgericht, dass es seinen Fall neu aufrolle. Ein Wiedererwägungsgesuch wollte er aber nicht stellen, weil er damit die Legitimation des Gerichts zum Entscheid vom 19. Februar 2003 anerkannt hätte.

Nach diesen Bemühungen Schubarths, an das Gericht zurückkehren zu können, veröffentlichte das Bundesgericht am 13. Mai 2003 eine ausführliche Begründung zu seinem Entscheid vom 19. Februar 2003 (siehe Ziff. 3.3). Am gleichen Tag gab Bundesrichter Schubarth den Medien folgende Stellungnahme zur Pressemitteilung des Bundesgerichts bekannt (Originaltext Französisch): Um aus der momentanen Sackgasse zu finden, schlägt Bundesrichter Schubarth ­ mangels gesetzlicher Grundlagen ­ vor, den Fall einem Schlichtungskollegium aus Altbundesrichtern zu unterbreiten.

Bundesrichter Schubarth hat bereits gegenüber dem Präsidenten des Bundesgerichts mündlich seinen Wunsch geäussert, das Bundesgericht möge auf seine Beschlüsse vom 19. Februar 2003 zurückkommen. Er könne kein formelles Gesuch an das Bundesgericht stellen, da dessen Beschlüsse jeglicher Rechtsgrundlage entbehrten und offensichtlich gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit verstossen würden.

Im Weitern erinnert Bundesrichter Schubarth daran, dass er sich bei den Betroffenen klar entschuldigt und danach sein Bedauern auch öffentlich ausgedrückt habe. Nach dem Vorfall hätten verschiedene Ärzte festgehalten, dass sich die Vorkommnisse unmittelbar auf seine angeschlagene Gesundheit sowie auf die Wirkung der verschriebenen Medikamente zurückführen liessen. Diesen neuen Aspekt verschweige das Bundesgericht.

Nach Auffassung verschiedener Experten habe sich das Bundesgericht am 19. Februar 2003 eine Kompetenz
herausgenommen, die es nicht besitze.

Bundesrichter Schubarth kann diese Beschlüsse nicht akzeptieren, welche die Institution, die Recht sprechen sollte, diskreditieren. Er wies darauf hin, dass er dem Bundesgericht zur Verfügung stehe und bereit sei, dort zu arbeiten.

In den folgenden Tagen warf Schubarth dem Bundesgericht in den Medien fehlende Gesprächsbereitschaft vor18. Schliesslich schrieb der Journalist Hanspeter Born19 in

16 17 18 19

Sonntags-Zeitung vom 16. Februar 2003, S. 5, «Intrigen am Bundesgericht».

Sonntags-Zeitung vom 27. April 2003, S. 7, «Comeback von Martin Schubarth».

Berner-Zeitung vom 15. Mai 2003, S. 3, «Wir müssen doch miteinander reden».

Hanspeter Born wurde bekannt durch sein Buch «Mord in Kehrsatz» (1993), in dem er Gründe für die Unschuld Zwahlens, der zu Mord verurteilt worden war, darlegte. Später kam es zu einer Revision des Urteils durch das Geschworenengericht Bern-Mittelland.

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der «Weltwoche» einen Artikel, der quasi Schubarths Verteidigung übernahm20. Da sich das Gericht gegenüber Born im Rahmen von dessen Recherchen bewusst nicht äusserte, ist davon auszugehen, dass Born sich einzig auf die Aussagen Schubarths abstützt, wenn er schreibt: «... das Recht auf Gehör, das Verbot der Willkür, den kontradiktorischen und objektiven Charakter eines solchen Verfahrens [gemeint ist Disziplinarverfahren]. Diese Prinzipien sind im Falle Schubarth missachtet worden.

Er ist nie gründlich zum Vorfall befragt und mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen konfrontiert worden. [...] In einem Fall mit derart gravierenden Folgen hätte man Schubarth im Beisein der andern Partei Gelegenheit geben müssen, sich zu erklären.»

3.6

Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen

3.6.1

Der Spuck-Vorfall

Nach den Äusserungen Schubarths gegenüber dem Gerichtsschreiber und gegenüber Bundesrichter Roland Schneider kurze Zeit nach dem Vorfall, wer neben Felber stehe, müsse damit rechnen, etwas abzubekommen, muss klar davon ausgegangen werden, dass sich an diesem Morgen in der Eingangshalle des Bundesgerichts eine Tatabsicht Schubarths gegenüber dem NZZ-Korrespondenten Markus Felber manifestiert hat. Noch deutlicher wird diese Absicht in der weiteren Aussage Schubarths gegenüber dem Gerichtsschreiber, er habe ja nicht diesen, sondern Felber treffen wollen. Dass Schubarth gegenüber Felber einen tiefen Groll hatte, ist erwiesen und wird von Schubarth nicht in Abrede gestellt. Von ebenso grosser Bedeutung ist die Tatsache, dass Schubarth nie mit klaren Worten dementierte, absichtlich gespuckt oder allenfalls absichtlich einen Hustenauswurf in Richtung Felber gelenkt zu haben.

Seine Äusserungen zum entscheidenden Moment lassen immer sowohl den Schluss auf ein absichtliches Spucken als auch auf ein unabsichtliches Husten zu. Seine Aussagen wirken verklausuliert: «Ich kann nicht mehr sagen, was in meinem Kopf vorging. Es ging etwas vor, und ich drehte mich um», «Da ist etwas hochgekommen, und ich habe mich in diesem Moment unglücklicherweise zu ihm umgedreht», oder: «Das Ganze ist mir rätselhaft; deshalb kann ich keine präzise Antwort geben.» Auch die gegenüber dem Gerichtsschreiber und Bundesrichter Schneider gemachten Äusserungen will er weder bestätigen noch dementieren: «Ich kann mich nicht erinnern, eine solche Äusserung gemacht zu haben», oder «Habe ich das wirklich gesagt? Das ist mir völlig neu». Hätte es sich um einen reinen Hustenanfall gehandelt, bei dem versehentlich ein Spritzer den Gerichtsschreiber getroffen hätte, und hätte Schubarth dies im Moment nicht realisiert, so hätte er spätestens im Gespräch mit Bundesrichter Schneider klar dementiert, irgend eine Absicht gegenüber dem Gerichtsschreiber oder Felber gehabt zu haben. So gesehen entlasten ihn auch die schriftliche Entschuldigung gegenüber dem Gerichtsschreiber und das gegenüber Felber ausgedrückte Bedauern nicht.

Die unpräzisen Aussagen Schubarths lassen die zwei Erklärungsvarianten offen, dass er durch seine Krankheit und das von ihm eingenommene Medikament entweder in seinem Verhalten derart gestört gewesen wäre, dass er spuckte, obwohl er dies eigentlich gar nicht wollte und dies ein ihm völlig fremdes Verhalten darstellte, oder 20

Weltwoche Nr. 22.03 vom 29. Mai 2003, S. 44 ff., «Der Richter und seine Henker»

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aber dass er in seiner Wahrnehmung derart beeinträchtigt gewesen wäre, dass er sich gar nicht bewusst war, dass er spuckte bzw. dass er sich hinterher an die Umstände des Vorfalls und die danach gemachten Äusserungen zum Gerichtsschreiber und zu Bundesrichter Schneider nicht mehr erinnern konnte.

Beide Varianten sind aus folgenden Gründen nicht glaubhaft: Mit dem Hinweis auf das im fraglichen Zeitraum eingenommene Medikament und mit Hilfe eines Arztzeugnisses versucht Schubarth, den Spuck-Vorfall durch eine «kurzdauernde Verhaltensstörung» zu erklären, die durch das Medikament Nexium 40 verursacht worden sein könnte. In einem von der Arbeitsgruppe eingeholten Kurzgutachten kommt Dr. med. Clive Wilder-Smith21 zum Schluss, dass eine Verhaltens- oder Bewusstseinsstörung der hier zur Diskussion stehenden Art als Folge der Einnahme von Nexium 40 extrem unwahrscheinlich und praktisch auszuschliessen sei. Von Gedächtnisstörungen oder zwanghaften Handlungen sei bisher noch nie berichtet worden. Ein direkter Zusammenhang zwischen der Wirkung des Medikaments und dem Vorfall müsse insgesamt als äusserst unwahrscheinlich angesehen werden.

Im Zusammenhang mit der erst nach dem Vorfall diagnostizierten larvierten Depression, die durch nächtliche Erstickungsanfälle vor dem Ereignis stark verschlimmert worden sei, macht Schubarth geltend, stark beeinträchtigt gewesen zu sein und möglicherweise Dinge erst im Nachhinein wahrgenommen zu haben. Unter einer larvierten (maskierten) Depression versteht man eine Depression, die nicht durch die typischen Symptome einer Depression, sondern durch körperliche Probleme zum Ausdruck kommt. Zweifellos ging es Bundesrichter Schubarth am Tage des Vorfalls gesundheitlich schlecht. Er litt an einer Bronchitis mit Hustenanfällen und machte sich grosse Sorgen wegen seiner nächtlichen Erstickungsanfälle, deren Ursache noch unklar war. Dieser beeinträchtigte Gesundheitszustand könnte jedoch nicht derart erhebliche Wahrnehmungs- oder Gedächtnisstörungen erklären, die bei Schubarth hätten vorliegen müssen, damit er unwissentlich oder unwillentlich eine solche Ausfälligkeit begangen hätte bzw. sich hinterher nicht an seine Aussagen dazu hätte erinnern können. Immerhin war er fähig, ans Gericht zu gehen und ­ an diesem Tag ­ an zwei Gerichtsverhandlungen teilzunehmen. Die Bundesrichter,
die ebenfalls an diesen Verhandlungen teilnahmen, haben im Übrigen keine Anzeichen von verminderter Zurechnungsfähigkeit oder einem auffälligen Verhalten Schubarths bemerkt.

Zum Hergang der Tat kann davon ausgegangen werden, dass Schubarth stark emotional reagierte, als er Felber in der Eingangshalle erblickte. Als er hinter Felber vorbeiging, muss er die Beherrschung verloren und affektartig den Tatentschluss gefasst haben, bevor er in Richtung von Felber spuckte und dabei versehentlich den Gerichtsschreiber traf. Klar ist, dass er Felber nicht in das Gesicht hätte treffen können, da das Anspucken von hinten oder seitlich von hinten erfolgte. Es ist anzunehmen, dass er spontan und ohne viel zu überlegen auf Felber spuckte, um seiner tiefen Abneigung gegen den Journalisten Luft zu machen, der aus seiner Sicht böswillig seine Wiederwahl zu vereiteln versucht hatte und vielleicht von ihm nun auch noch als mitverantwortlich für seinen schlechten Gesundheitszustand empfunden 21

Der Gutachter ist Facharzt für Magen-Darm-Krankheiten in Bern und Spezialist für Wirkstoffe im Bereich des Magen-Darm-Trakts. Er leitet die international tätige Forschungsgruppe Brain-Gut Research Group, die wesentlich an der Entwicklung von Nexium 40 beteiligt war. Nexium 40 enthält den Wirkstoff Esomeprazol und wird gegen übermässige Magensäurebildung, Sodbrennen und saures Aufstossen verabreicht.

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wurde. Dabei war es gar nicht von Belang, ob dieser etwas davon merkte oder nicht.

Möglicherweise hat er in seiner Erregung nicht realisiert, dass ihm der Gesprächspartner Felbers dabei zusah oder aber er erkannte den Gerichtsschreiber sehr wohl, ging aber davon aus, dass dieser nichts nach aussen tragen würde. Doch letztlich können die Beweggründe und Gedanken Schubarths nicht vollständig geklärt werden, solange er sie nicht offenbart.

Aufgrund seines Gesundheitszustandes ist es denkbar, dass ihn ein Hustenanfall überkam, den er zu unterdrücken versuchte. In diesem Fall müsste davon ausgegangen werden, dass er den hochkommenden Hustenauswurf in Richtung Felber gespuckt hat.

Ob ein Hustenanfall Ausgangspunkt des Vorfalls war oder nicht, ändert aber nichts am Ergebnis, dass Bundesrichter Martin Schubarth die Beherrschung verlor, auf einen ihm verhassten Journalisten spuckte, dabei versehentlich einen Gerichtsschreiber traf und sich anschliessend wortlos entfernte. Dass bei Bundesrichter Schubarth angesichts des NZZ-Korrespondenten starke Emotionen ausgelöst wurden, ist aus der Sicht Schubarths nachvollziehbar. Die kritische Presse und die Vorfälle vor seiner Wiederwahl hatten ihn persönlich stark getroffen. Doch würden diese Vorfälle eine Spuck-Attacke nicht zu rechtfertigen vermögen. Die tatsächlich vorhandenen Gesundheitsprobleme können auch dazu beigetragen haben, dass die Reaktion Schubarths auf eine starke Gemütsregung angesichts des als Feind empfundenen Journalisten heftiger ausgefallen ist als unter normalen Umständen. Eine verminderte Zurechnungsfähigkeit und damit ein Entschuldigungsgrund ist jedoch auszuschliessen.

Das Bespucken einer missliebigen Person ist ein den Anstand verletzendes und ehrenrühriges Verhalten, das auch strafrechtlich relevant ist und als Beschimpfung nach Artikel 177 des Strafgesetzbuches bestraft werden kann. Das Delikt ­ ein Ehrverletzungstatbestand ­ ist aber nur auf Antrag strafbar. Die in diesem Fall betroffenen Personen haben auf einen Antrag verzichtet.

3.6.2

Folgen für das Bundesgericht

Das letztinstanzlich urteilende Bundesgericht ist in besonderem Mass auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in seine Integrität und Glaubwürdigkeit angewiesen. An eine Richterpersönlichkeit werden entsprechend hohe Erwartungen gestellt. Das Betragen, das Bundesrichter Schubarth zur Last gelegt werden muss, ist mit der Würde des Bundesgerichts nicht vereinbar und schadet dem Ansehen der Justiz. Ein Bundesrichter, der so die Beherrschung verliert, dass er jemand bespuckt, wird von den Rechtsuchenden nicht mehr als Mitwirkender an einem Richterspruch in ihrer Sache akzeptiert. Daran ändert auch nichts, dass sich Bundesrichter Martin Schubarth nach der übereinstimmenden Darstellung der befragten Richterkollegen und Mitarbeitenden des Bundesgerichts bisher keinerlei Ausfälligkeit dieser Art hat zu Schulden kommen lassen. Ebenso wenig kann der entstandene Vertrauensverlust durch die Tatsache wett gemacht werden, dass sich Bundesrichter Martin Schubarth während 20 Jahren Tätigkeit als Bundesrichter und auch als Gesamtgerichtspräsident grosse Verdienste erworben hat und dass er einen ausgezeichneten Ruf als Jurist und Rechtsgelehrter geniesst, der am Bundesgericht zu massgebenden Entwicklungen im Strafrecht beitrug.

5682

Von entscheidender Bedeutung ist sodann die Frage, ob das angeschlagene Vertrauen der Öffentlichkeit in einen Richter nach einer solchen einmaligen Entgleisung mit dem Zeitablauf heilbar ist. Es geht dabei nicht etwa darum, ob es den Richterkollegen am Bundesgericht oder den Mitarbeitenden zumutbar sei, nach diesem Vorfall weiterhin mit Martin Schubarth zusammenzuarbeiten. Von ihnen könnte und müsste verlangt werden, dass sie über einen solchen Fehltritt hinwegsehen, zumal ein tolerantes Zusammenarbeiten es erfordert, dass man einem Menschen eine zweite Chance zugesteht. Für die Träger mancher untergeordneten Funktion wäre nach einer Spuckaffäre wohl ein Ausweg denkbar, etwa durch eine angemessene Sanktionierung. Aber ein Bundesrichter übt eine spezielle Funktion aus. Er wirkt an Entscheiden mit, die für die Rechtsuchenden oft von einschneidender Bedeutung sind (das gilt insbesondere für den Kassationshof in Strafsachen) oder auch allgemein von grosser politischer Tragweite sein können (so zum Beispiel die jüngsten Einbürgerungsentscheide der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung). Die Urteile des Bundesgerichts hinterlassen regelmässig unzufriedene Rechtsuchende, die nicht oder nicht vollumfänglich Recht erhalten haben. Die Unterlegenen werden ein gegen sie gefälltes Urteil nicht akzeptieren, wenn ein Richter mitwirkt, der ­ und sei es nur als einmalige Entgleisung ­ Sitte und Anstand verletzt hat. Es ist deshalb grundsätzlich nicht mehr möglich, das fehlende Vertrauen in einen Richter, der jemanden bespuckt hat, wieder herzustellen. Würde Bundesrichter Schubarth an das Bundesgericht zurückkehren, würde er immer als der spuckende Richter in Erinnerung bleiben. Aus diesem Grund ist er als Bundessrichter untragbar geworden.

3.6.3

Folgen für Bundesrichter Martin Schubarth

Eine Angestellte oder ein Angestellter des Bundesgerichts müsste nach einem Fehltritt dieser Art damit rechnen, die Stelle zu verlieren. Ein Bundesrichter geniesst jedoch als Magistratsperson eine besondere Stellung: Er ist nach heutiger Rechtslage nicht abwählbar und untersteht auch keiner Disziplinargewalt. Von einer Magistratsperson wird erwartet, dass sie von sich aus zurücktritt, wenn ihr ein Fehlverhalten vorzuwerfen ist, das sich mit ihrer Funktion und Stellung nicht verträgt. Auch Mitglieder des Bundesrates sind Magistratspersonen und können als solche weder abgewählt noch disziplinarisch belangt werden. Während ein Bundesrat aber politisch gewählt wird und vom Parlament auch politisch zur Verantwortung gezogen werden kann, muss das Parlament gegenüber einem Bundesrichter der richterlichen Unabhängigkeit Rechnung tragen und darf keinen politisch motivierten Druck ausüben. Bei der Forderung nach einem Rücktritt eines Bundesrichters ist deshalb grosse Zurückhaltung zu üben. Umso mehr muss von einem Bundesrichter erwartet werden, dass er selber die Konsequenzen zieht, wenn ihm ein Fehler unterlaufen ist, der die Glaubwürdigkeit des obersten Gerichtes in Frage stellt. Wer den Vorteil des hohen Ansehens und der geschützten Stellung einer Magistratsperson geniesst, muss auch die Nachteile einer Funktion, die gegenüber Beeinträchtigungen der Vertrauenswürdigkeit empfindlich ist, in Kauf nehmen.

Statt klar zu seinem Fehlverhalten zu stehen, hat sich Martin Schubarth als Strafverteidiger seiner selbst in Szene gesetzt und versucht, sich mit der Hustenversion, den gesundheitlichen Problemen und dem Intrigenvorwurf gegen Richterkollegen im Vorfeld seiner Wiederwahl der Verantwortung zu entziehen. Anstatt mit magistraler Grösse die Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen und im Interesse der staatstragenden Institution, der er angehört, zurückzutreten, hat er mit seinem Gang an die 5683

Medien und den Gegenangriffen gegen das Bundesgericht dem Ansehen der Justiz weiteren Schaden zugefügt.

3.6.4

Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003

Der Entscheid des Bundesgerichts, Martin Schubarth endgültig nicht mehr zur Rechtsprechung zuzulassen, hat in der Rechtswissenschaft Diskussionen ausgelöst.

Es wird die Meinung vertreten, das Bundesgericht sei für einen solchen Entscheid nicht zuständig gewesen, oder der Entscheid sei ohne Rechtsgrundlage gefällt worden und unverhältnismässig.

Die Geschäftsprüfungskommissionen betrachten es nicht als ihre Aufgabe, zu beurteilen, ob das Bundesgericht zu diesem Entscheid legitimiert war und ob dieser rechtmässig erfolgte. Sie nehmen jedoch davon Kenntnis, dass das Bundesgericht selbst den Entscheid auf seine Organisationskompetenz abstützte. Nach Darstellung von angehörten Bundesrichtern stellte dieser Entscheid keine Disziplinarmassnahme dar, denn zu einer solchen wäre das Bundesgericht ihrer Meinung nach nicht legitimiert gewesen. Doch das Gericht habe sich in einer ausserordentlichen Lage befunden, die einen raschen und klaren Entscheid erforderte, um das Funktionieren des Gerichts zu gewährleisten. Dass das Gericht in einer derartigen Situation einen solchen Entscheid fällen können müsse, um weiteren Schaden von der Justiz abzuwenden, ergebe sich aus der Bundesverfassung.

Für die Geschäftsprüfungskommissionen ist nachvollziehbar, dass sich das Bundesgericht zu raschem Handeln veranlasst sah. Sie gehen davon aus, dass das Bundesgericht den Spuck-Vorfall innerhalb einer Woche genügend abgeklärt hatte, um sich eine Meinung zu bilden. Mit Martin Schubarth fanden intern mehrere Gespräche statt, und er konnte sich in der Plenarsitzung vom 19. Februar 2003 während dreiviertel Stunden ausführlich äussern. Das Bundesgericht hatte bei seinem Entscheid wenig Spielraum. Schubarth vom Kassationshof in Strafsachen in eine andere Abteilung zu versetzen, hätte das Problem nicht gelöst, weil das Vertrauen der Rechtsuchenden auch im öffentlichrechtlichen oder im zivilrechtlichen Bereich nicht mehr gegeben gewesen wäre. Die Möglichkeit, Schubarth «bis auf Weiteres» von der Funktion als Mitglied des Kassationshofes freizustellen, verwarf das Gericht, weil es der Meinung war, an der Tatsache, dass Schubarth mit der Spuck-Attacke in seiner Funktion als Bundesrichter untragbar geworden sei, werde sich nichts mehr ändern.

Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen im Ergebnis zum gleichen Schluss wie das Bundesgericht,
nämlich dass Bundesrichter Martin Schubarth in der Funktion als Bundesrichter nicht mehr einsetzbar ist. Jedoch stellen sich aus der Retrospektive insbesondere zwei Fragen: 1. Hätte das Bundesgericht nicht voraussehen können, dass sein harter und endgültiger Entscheid, der wegen der fehlenden ausdrücklichen Gesetzesgrundlage ­ und dessen war sich das Bundesgericht bewusst22 ­ umstritten sein würde, bei Bundesrichter Schubarth eine trotzige Reaktion hervorrufen konnte? Eine «vorläufige Einstellung in der Funktion» hätte den Zweck einer sofortigen Beruhigung in der laufenden Rechtsprechungstätigkeit am Kassationshof und in der Öffentlichkeit wohl ebenfalls erfüllt. Gleichzeitig hätte das Bundesgericht eine aussenstehende 22

Der Bund, 21. Februar 2003, «Uns ging es um das Ansehen der Justiz».

5684

Behörde, z.B. die Oberaufsichtsbehörde des Parlaments oder ein Gremium von ehemaligen Bundesrichtern, anrufen können, um den Sachverhalt, den das Bundesgericht geklärt hatte, überprüfen zu lassen. Ein definitiver Entscheid hätte später aufgrund des Befundes des angerufenen oder eingesetzten Organs oder aufgrund eines Gesuches von Schubarth um Aufhebung der vorläufigen Massnahme, immer noch gefällt werden können. Dieses Vorgehen wäre der heiklen rechtlichen Lage besser gerecht geworden und hätte überdies Bundesrichter Schubarth weniger unter Druck gesetzt. Es ist dem Bundesgericht jedoch zuzugestehen, dass sich am Ergebnis, dass Bundesrichter Schubarth nicht mehr in seine Funktion als Richter zurückkehren kann, nichts geändert hätte.

2. Aus der Sicht der Oberaufsicht stellt sich die Frage, warum das Bundesgericht nicht gleichzeitig mit seinem Entscheid über die Einstellung Schubarths in der Rechtsprechungsfunktion beschlossen hat, intern die laut gewordenen Vorwürfe von Unregelmässigkeiten und Urteilsmanipulationen zu untersuchen und die Öffentlichkeit anschliessend über die Ergebnisse zu informieren. Die Gerüchte um mögliche Unregelmässigkeiten haben ebenso sehr zur Untergrabung des Vertrauens in das oberste Gericht beigetragen wie der Spuck-Vorfall. Das Bundesgericht hätte aufgrund seiner Organisationskompetenz und im Sinne der Gewährleistung des Funktionierens des Bundesgerichtes eine entsprechende Untersuchung durchführen können. Nach Angaben des Bundesgerichts führte der Bundesgerichtspräsident gleich nach der Unterredung mit den beiden Präsidenten der Subkommissionen «Gerichte» der Geschäftsprüfungskommissionen am 18. Februar 2003 eine erste Befragung der Mitglieder und Gerichtsschreiber des Kassationshofes durch. Nach dem Entscheid des Bundesgerichts vom 19. Februar 2003 habe die Präsidentenkonferenz die Frage geprüft, ob eine weitergehende formelle interne Untersuchung durchgeführt werden sollte. Die Präsidentenkonferenz habe jedoch mit Rücksicht auf die Amtstätigkeit des Parlamentes, die ihrer Meinung nach mit der Anhörung vom 18. Februar 2003 bereits eingesetzt hatte, davon abgesehen. Die Geschäftsprüfungskommissionen teilen die Auffassung, dass eine Behörde grundsätzlich nicht eine Untersuchung anordnen sollte, nachdem die Oberaufsicht eine solche bereits eingeleitet hat. Aus dieser Sicht ist der Entscheid der Präsidentenkonferenz nicht zu beanstanden.

3.6.5

Zur Informationspolitik des Bundesgerichts

Der Vorfall vom 11. Februar 2003 löste am Bundesgericht eine Krisensituation aus, die während Tagen und Wochen andauerte. Diese stellte hohe Anforderungen an das Krisenmanagement und die Informationspolitik des Bundesgerichts, die im Folgenden kurz dargestellt werden.

Die erste Stellungnahme des Bundesgerichts am 12. Februar 2003 fiel äusserst vorsichtig aus, da das Gericht zu diesem Zeitpunkt den Vorfall noch nicht vollständig abgeklärt hatte. Es teilte der Bundesgerichtspresse mit, soweit es zutreffe, dass Martin Schubarth gegen das Gebot des Anstandes verstossen habe, bedaure das Bundesgericht den Vorfall (vgl. Ziff. 3.1). Da das Bundesgericht wusste, dass die Medien an diesem Tag über den Vorfall berichten würden, sah es sich genötigt, in irgendeiner Form Stellung zu beziehen. Gleichzeitig wollte es eine Vorverurteilung vermeiden. Das ist nur halbwegs gelungen: Einerseits nannte die Mitteilung den Vorfall nicht beim Namen und liess offen, ob überhaupt eine Anstandsverletzung stattgefunden hatte. Andererseits betonte es in allgemeiner Form, dass es eine Ver5685

letzung der Anstandsregeln missbillige, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellt, aber doch eher vermuten lässt, es sei ein den Anstand verletzendes Ereignis vorgefallen. Es hätte wohl genügt, zu sagen, das Bundesgericht kläre intern den Vorfall ab und werde sich danach dazu äussern.

Am Tage des Vorfalls hatten sich die bereits informierten Medienvertreter bereit erklärt, den Vorfall nicht zu veröffentlichen, wenn Bundesrichter Schubarth aus gesundheitlichen Gründen seine Demission bekannt gebe. Aus nachträglicher Sicht kann gesagt werden, dass sich der Vorfall kaum hätte verheimlichen lassen. Der Arbeitsgruppe liegen Informationen vor, wonach der «Blick» bereits am Abend des 11. Februar 2003 eine Information über den Vorfall erhalten hatte. Zweifellos stand das Bundesgericht am Tag des Vorfalls unter einem gewissen Druck der Medien, was Bundesrichter Schubarth unter anderem darin bestärkte, nicht zu demissionieren, weil seiner Meinung nach diesem Druck nicht nachgegeben werden durfte. Die Ursache dafür ist jedoch nicht den Medien anzulasten, sondern liegt im SpuckVorfall selbst begründet: Nach dem Selbstverständnis der Medien fühlten sich diese aufgrund ihres Informationsauftrages verpflichtet, über das Ereignis zu informieren.

Mit einem Rücktritt Schubarths wäre das öffentliche Interesse an der Information über den Vorfall weit weniger aktuell gewesen, so dass sie von einer Veröffentlichung des Vorfalls hätten absehen können.

Den sehr weitgehenden Entscheid vom 19. Februar 2003, Bundesrichter Schubarth nicht mehr zur Rechtsprechung zuzulassen und ihm den Rücktritt zu empfehlen, gab das Bundesgericht mit knappen Worten bekannt. Man habe Bundesrichter Schubarth möglichst lange die Türe zum Rücktritt offen halten und alles unternehmen wollen, um die Dinge nicht weiter eskalieren zu lassen, erklärte das Bundesgericht gegenüber der Arbeitsgruppe. Der Bundesgerichtspräsident gab die Gründe für den Entscheid am nächsten Tag an einer Pressekonferenz bekannt und stellte sich den Fragen der Medien. Eine schriftliche Begründung lieferte das Bundesgericht dann am 13. Mai 2003, nachdem Bundesrichter Schubarth entgegen den Erwartungen nicht zurücktrat und stattdessen in den Medien seine Sicht der Dinge darlegte. Nach dem präzedenzlosen Entscheid des Gerichts herrschte in der Öffentlichkeit
Erklärungsbedarf. Diesem wurde die sehr knappe Verlautbarung kaum gerecht. Dies mag dazu beigetragen haben, dass der Entscheid zunächst nicht überall verstanden und teilweise kritisiert wurde.

3.7

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

3.7.1

Weiteres Vorgehen betreffend Bundesrichter Martin Schubarth

Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen zum Schluss, dass sich Bundesrichter Schubarth mit dem Spuck-Vorfall eine grobe Anstandsverletzung hat zu Schulden kommen lassen, die sich mit der Stellung eines Bundesrichters nicht verträgt. Das Vertrauen der Rechtsuchenden in ihn ist damit nachhaltig gestört. Das gilt selbst dann, wenn man für die persönliche Krisensituation, in der Bundesrichter Schubarth gestanden haben mag, ein gewisses Verständnis aufbringt. Eine Rückkehr Schubarths in das Gericht hätte zu einer schweren Belastung der Akzeptanz des obersten Gerichts geführt, was dem Rechtsfrieden im Lande abträglich gewesen wäre. Ein solches Risiko hätte aus rechtsstaatlicher Sicht nicht eingegangen werden können.

5686

Die Geschäftsprüfungskommissionen sind deshalb der Meinung, dass es keine Alternative zu einem Rücktritt von Bundesrichter Martin Schubarth gab.

Bundesrichter Martin Schubarth hat am Samstag, 4. Oktober 2003, in Kenntnis des Entwurfs des vorliegenden Berichts und zwei Tage vor dessen Verabschiedung durch die Geschäftsprüfungskommissionen seinen Rücktritt auf den 30. Juni 2004 eingereicht. Er gab Teile des Inhalts des vertraulichen Berichtsentwurfs bekannt und beschuldigte die Arbeitsgruppe «Bundesgericht», ihn nicht gebührend angehört, politisch unter Druck gesetzt und ein Verfahren durchgeführt zu haben, das eines Rechtsstaates unwürdig sei.

Martin Schubarth untersteht als Bundesrichter der Oberaufsicht durch das Parlament. Die Untersuchungen der Geschäftsprüfungskommissionen unterliegen für die der Oberaufsicht unterstehenden Behörden und Funktionsträger dem Amtsgeheimnis. Mit seinem beispiellosen Vorgehen hat Bundesrichter Martin Schubarth nicht nur das Amtsgeheimnis verletzt, sondern auch die Kompetenz des Parlamentes als oberste Gewalt des Bundes und als Oberaufsichtsbehörde missachtet. Er hat sich auch damit seiner Stellung als Magistratsperson unwürdig erwiesen.

Unter den gegebenen Umständen erachten es die Geschäftsprüfungskommissionen als nicht tragbar, dass Bundesrichter Martin Schubarth von seinem Amt erst auf den 30. Juni 2004 zurückzutreten gedenkt. Sie sind entschieden der Meinung, dass Bundesrichter Martin Schubarth im Interesse und zugunsten des Ansehens der Justiz ohne Verzug zurücktreten und damit die längst fällige Konsequenz aus dem SpuckVorfall vom 11. Februar 2003 ziehen soll.

Die heute bestehende Lücke im Kassationshof sollte nach Ansicht der Geschäftsprüfungskommissionen so rasch als möglich geschlossen werden. Der Kassationshof kann zur Zeit mit nur vier tätigen Richtern keine Grundsatzentscheide zu fünft in ordentlicher Besetzung fällen und muss für Entscheide in Fünferbesetzung wechselnde Lösungen mit Ersatzrichtern suchen. Dieser Zustand dauert nun bereits seit dem Februar dieses Jahres an und entspricht nicht dem Sinne des Gesetzgebers. Falls Bundesrichter Martin Schubarth der Aufforderung zum Rücktritt bis spätestens Ende Jahr nicht Folge leistet, regen die Geschäftsprüfungskommissionen an, dass die Gerichtskommission die rechtliche Möglichkeit prüft, dass die in
der Dezembersession zu wählende Nachfolge ihre Tätigkeit bereits vor dem Ausscheiden Schubarths aus dem Amt aufnehmen könnte. Das Bundesrechtspflegegesetz hält fest, dass das Bundesgericht aus 30 Mitgliedern besteht (Art. 1. Abs. 1 OG). Diese Bestimmung kann so verstanden werden, dass das Bundesgericht 30 «ihre Funktion ausübende» Mitglieder umfasst.

Als ultima ratio käme allenfalls eine Amtsenthebung von Martin Schubarth in der Form eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses in Frage. Ein Rechtsgutachten23, das die Arbeitsgruppe beim Bundesamt für Justiz in Auftrag gegeben hat, schliesst grundsätzlich eine solche Lösung nicht aus, weist jedoch auf einige Besonderheiten und Probleme hin, die zu beachten wären (Auszug aus dem Gutachten siehe Anhang 2).

23

Disziplinarmassnahmen gegen Bundesrichter und Massnahmen zur Konfliktregelung am Bundesgericht, Rechtsgutachten vom 14. August 2003 des Bundesamtes für Justiz zu Handen der Geschäftsprüfungskommissionen, Arbeitsgruppe «Bundesgericht».

5687

Bundesrichter Martin Schubarth hat seit seiner Einstellung in der Funktion als Bundesrichter im Februar 2003 sein volles Gehalt bezogen. Das Jahresgehalt beträgt zur Zeit 327 000 Franken. Sein Ruhegehalt wird sich auf 163 500 Franken jährlich belaufen. Die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte wird eingeladen zu prüfen, ob unter den gegebenen Umständen eine Reduktion angemessen wäre.

Schlussfolgerung 1 Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen zum Schluss, dass Bundesrichter Martin Schubarth aus dem Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 die längst fällige Konsequenz ziehen und im Interesse und zugunsten des Ansehens der Justiz ohne Verzug zurücktreten soll.

Empfehlung 1

Prüfung der Möglichkeit einer Nachfolge Schubarths im Bundesgericht vor dessen Ausscheiden aus dem Amt

Falls Bundesrichter Martin Schubarth der Aufforderung zum Rücktritt bis spätestens Ende Jahr nicht Folge leistet, regen die Geschäftsprüfungskommissionen an, dass die Gerichtskommission der eidgenössischen Räte die rechtliche Möglichkeit prüft, dass die in der Dezembersession zu wählende Nachfolge ihre Tätigkeit bereits vor dem Ausscheiden Schubarths aus dem Amt aufnehmen könnte.

Empfehlung 2

Prüfung einer Amtsenthebung von Bundesrichter Martin Schubarth

Sollte sich die Regelung der Nachfolge im Bundesgericht vor dem formellen Ausscheiden Schubarths aus dem Amt (gemäss Empfehlung 1) als rechtlich problematisch erweisen, wird der Gerichtskommission der eidgenössischen Räte empfohlen, die Möglichkeit einer Amtsenthebung in der Form eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses in der Dezembersession 2003 zu prüfen.

Empfehlung 3

Prüfung einer allfälligen Reduktion des Gehaltes von Bundesrichter Schubarth

Die Geschäftsprüfungskommissionen laden die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte ein zu prüfen, ob unter den gegebenen Umständen eine Reduktion des Gehaltes von Bundesrichter Martin Schubarth angemessen wäre.

5688

3.7.2

Regelung de lege ferenda

Der Fall Schubarth wirft die Frage auf, ob im Hinblick auf die Einführung eines Amtsenthebungsverfahrens für Bundesrichter genereller Handlungsbedarf besteht.

Das im Auftrag der Arbeitsgruppe verfasste Rechtsgutachten des Bundesamtes für Justiz zeigt auf, dass die Einführung eines Amtsenthebungsverfahrens nur im Rahmen einer Gesamtschau und insbesondere unter Beachtung der Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit in Betracht gezogen werden kann24.

Diese Frage stellt sich seit Bestehen des Bundesgerichts während 129 Jahren zum ersten Mal. Nach Meinung der Geschäftsprüfungskommissionen liegt ein singulärer Fall vor, der sich kaum wiederholen dürfte. Von einem einzigen und einzigartigen Fall sollte nicht auf die Notwendigkeit eines Systemwechsels geschlossen werden.

4

Behauptete Unregelmässigkeiten am Kassationshof

4.1

Gerüchte am Bundesgericht und ihr Weg an die Öffentlichkeit

In den letzten Jahren tauchten innerhalb des Bundesgerichtes sporadisch Gerüchte auf, wonach es unter dem Präsidium von Martin Schubarth zu Unregelmässigkeiten am Kassationshof in Strafsachen gekommen sei. Die Vorwürfe reichten von eigenmächtigem Vorgehen des Präsidenten, Manipulationen bei der Zusammensetzung der Spruchkörper und Abänderungen von Urteilsbegründungen bis zu Urteilsmanipulationen. Diese Gerüchte kursierten vorwiegend bei Gerichtsschreibern und Richtern des Kassationshofes, kamen aber auch Richtern und Mitarbeitenden anderer Abteilungen zu Ohren. Eine grössere Gerüchtewelle war vor ungefähr zwei Jahren zu verzeichnen. Im Sommer und Herbst 2002, also vor den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts im Dezember 2002, flammten dieselben Gerüchte erneut auf.

Auch die am Bundesgericht akkreditierten Journalisten erfuhren von diesen Gerüchten. Sie standen vor der Frage, ob sie etwas darüber schreiben sollten, umso mehr als ihnen die Quellen ­ es handelte sich um Gerichtsschreiber und Richter ­ ziemlich zuverlässig erschienen. Sie sahen jedoch davon ab, weil sie davon ausgingen, dass die Informanten nach einer Veröffentlichung nicht mehr zu ihren Aussagen stehen würden. Teilweise bestanden auch Befürchtungen, dass Informanten wegen Amtsgeheimnisverletzung belangt werden könnten. Erst am Tag nach den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts vom 11. Dezember 2002 deutete Markus Felber in der NZZ an, es würden hinter vorgehaltener Hand Vorwürfe von einer eigenmächtigen und angeblich unkorrekten Amtsführung Schubarths erhoben25. In der Folge des Spuck-Vorfalls vom 11. Februar 2003 thematisierten schliesslich mehrere Zeitungen die Unregelmässigkeiten und verlangten deren Abklärung.

24 25

Rechtsgutachten (FN 23), S. 12 ff.

NZZ vom 12. Dezember 2002, S. 19, «Alle 29 Bundesrichter wiedergewählt ­ Auch Martin Schubarth klar über dem absoluten Mehr».

5689

4.2

Vorgehen der Arbeitsgruppe

In einer ersten Phase sammelte die Arbeitsgruppe die am Bundesgericht kursierenden Gerüchte und sonderte diejenigen aus, die von mehreren Seiten übereinstimmend genannt wurden, die genügend substantiiert und detailliert waren und die zudem aus relativ zuverlässigen Quellen zu stammen schienen.

In einer zweiten Phase versuchte die Arbeitsgruppe, diese Gerüchte bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen. Dabei stiess die Arbeitsgruppe auf überraschend grosse Widerstände. Die meisten befragten Gerichtsschreiber nannten konsequent keine Namen von Personen, die direkt bei den besprochenen Vorfällen involviert waren, und von Personen, von denen sie Informationen erhalten hatten, dies, obwohl sie darüber informiert waren, dass sie gegenüber der Arbeitsgruppe keiner Schweigepflicht unterstanden und dass ihre Namen als Informanten vertraulich behandelt werden würden. Die angehörten Journalisten nannten unter Berufung auf den Quellenschutz aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls keine Namen von Informanten.

Auch die Richter des Kassationshofes zeigten in dieser Phase in Bezug auf die Gerüchte über Unregelmässigkeiten grosse Zurückhaltung, insbesondere in Bezug auf einen konkreten Fall, der nachstehend als Fall «Dreierzirkulation» beschrieben wird und der in der Form des kursierenden Gerüchts als gravierend bezeichnet werden musste. Die Befragten gaben Antworten zu Protokoll, die, aus der Rückschau betrachtet, zwar nicht unrichtig waren, der Arbeitsgruppe jedoch nicht konkret weiterhalfen. Die Antworten lauteten etwa: «Ich war nie bei einem solchen Fall dabei», oder «Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt», wobei anzumerken ist, dass sich die der Arbeitsgruppe vorliegende Version des Gerüchtes später als in einzelnen Punkten unpräzise erwies.

Da die Befragungen allein nicht zum Ziel führten, verlangte die Arbeitsgruppe in einer dritten Phase die Auflistung der Fälle, die bestimmte, der Arbeitsgruppe bekannte Kriterien erfüllten, sowie die Herausgabe von bestimmten Dokumenten aus diesen Fällen. Die Arbeitsgruppe visierte auf diese Weise eine Eingrenzung zweier Fälle an, die aufgrund der ihr vorliegenden Informationen gravierend erschienen. Die Arbeitsgruppe plante, aufgrund einer Vorprüfung der so erhaltenen Dokumente eine Akteneinsichtnahme vor Ort durchzuführen.

Zusammen mit den einverlangten Akten (Teile
aus insgesamt 212 Dossiers) stellte der Kassationshof der Arbeitsgruppe Akten in Kopie aus einem Fall zu, mit dem Hinweis, dass es sich dabei mutmasslich um einen der von der Arbeitsgruppe gesuchten Fälle handle. Der Kassationshof sei aufgrund eigener Nachforschungen auf das Dossier gestossen. Die Arbeitsgruppe führte in der Folge eine eingehende Befragung aller am Fall beteiligten Richter und Gerichtsschreiber durch (Fall «Dreierzirkulation», siehe Ziff. 4.3.1.2).

4.3

Ergebnisse der Abklärungen

4.3.1

Vorwurf von Urteilsmanipulationen

4.3.1.1

Der Begriff der Urteilsmanipulation

Der Begriff «Urteilsmanipulation» bedarf vorweg einer Klärung. Unter Urteilsmanipulationen werden im Folgenden Abänderungen des Entscheides in dem Sinne verstanden, dass ein Dispositiv den Parteien anders eröffnet wird als es von den 5690

urteilenden Richtern gefällt worden ist. Das Dispositiv umfasst die rechtlich verbindlichen Anordnungen des Gerichts. Als Hauptpunkt enthält das Dispositiv den Entscheid über das eingereichte Rechtsmittel, im Fall des Kassationshofes der Nichtigkeitsbeschwerde, der Verwaltungsgerichtsbeschwerde oder der staatsrechtlichen Beschwerde. Dieser Entscheid lautet zum Beispiel: «Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.», «Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.», «Die staatrechtliche Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen und das Urteil des Gerichts A des Kantons B wird aufgehoben.» oder «Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Gerichts X des Kantons Y wird aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Behörde Z zurückgewiesen.» Weiter enthält das Dispositiv Entscheide über Gesuche, z.B. um unentgeltliche Rechtspflege, Entscheide über Kosten, Entschädigungen und Gerichtsgebühren, sowie die Angabe, welchen Personen und Stellen das Urteil zu eröffnen ist. Das Dispositiv umfasst somit das Urteil im engeren Sinn und ist von der am Schluss zugestellten Urteilsschrift, die neben dem Dispositiv auch die Begründung des Entscheids umfasst, zu unterscheiden. Wenn die an einem Entscheid mitwirkenden Richter über die Punkte des Dispositivs entschieden haben, ist das Urteil gefällt, selbst wenn später noch Differenzen über die Begründung des Urteils bereinigt werden.

4.3.1.2

Der Fall «Dreierzirkulation»

4.3.1.2.1

Feststellungen der Arbeitsgruppe

4.3.1.2.1.1

Anonymisierung

Der im Folgenden dargestellte Fall wird so anonymisiert, dass er nicht identifiziert werden kann, weil die Namen der nebst dem Präsidenten des Kassationshofes beteiligten Richter aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und zur Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit nicht bekannt gegeben werden sollen. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Urteilsmanipulation stattfand, sowie für die Nachvollziehbarkeit der Abklärung durch die Arbeitsgruppe sind die Kenntnis des zu Grunde liegenden Rechtsproblems und deren Beurteilung durch die beteiligten Richter nicht erforderlich.

4.3.1.2.1.2

Die als Gerücht kursierende Version

Ausgangspunkt für den Vorwurf von «Urteilsmanipulationen» bildete das folgende Gerücht, das am Bundesgericht zirkulierte: Es geht um einen Dreierentscheid mit Bundesrichter Schubarth als Präsident, einem Richter A als Referent und einem dritten Richter B. Der Referent habe einen Antrag gestellt, dem sich der dritte Richter angeschlossen habe. Herr Schubarth sei anderer Meinung gewesen. Dann sei ein Dispositiv im Sinne von Herrn Schubarth hinausgegangen.

5691

4.3.1.2.1.3

Der Ablauf

Aufgrund der Gerichtsakten und der Anhörung aller Beteiligten stellt sich der Arbeitsgruppe der Ablauf des Falles «Dreierzirkulation» wie folgt dar: «Der Fall betraf eine vorsorgliche Massnahme im Rahmen eines Verwaltungsgerichtsverfahrens. Der Beschwerdeführer focht eine Zwischenverfügung eines kantonalen Verwaltungsgerichts mit einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor dem Bundesgericht an. Neben dem Hauptantrag, diese Zwischenverfügung sei aufzuheben, stellte er ein Gesuch betreffend eine vorsorgliche Massnahme, die das Verfahren vor Bundesgericht betraf. Es entspricht einer Besonderheit dieses Falles, dass dieses Gesuch genau die gleiche verfahrensleitende vorsorgliche Massnahme betraf wie der Zwischenentscheid im vorinstanzlichen Verfahren, der vom Bundesgericht zu beurteilen war. Da bei vorsorglichen Massnahmen in der Regel rasch entschieden werden muss, unterbreitete ein Gerichtsschreiber des Präsidialsekretariates dem Präsidenten umgehend einen Entwurf für eine Präsidialverfügung, die auf Abweisung des Gesuches lautete. Der Präsident hiess den Entwurf gut und unterzeichnete die Präsidialverfügung. Gleichentags beauftragte der Präsident einen Gerichtsschreiber des Gerichtsschreiberpools des Kassationshofes, ein Referat für den Entscheid der Beschwerde in der Sache zu entwerfen. Damit teilte er, formell gesehen, den Fall sich selbst als Referenten zu.

Rund zwei Wochen später ­ es war an einem Freitag ­ gab der Gerichtsschreiber dem Präsidenten seinen Entwurf ab. Er lautete auf Gutheissung der Beschwerde. Am gleichen Tag traf ein Gesuch des Beschwerdeführers beim Präsidenten ein, worin er diesen ersuchte, die zwei Wochen zuvor ergangene Präsidialverfügung in Wiedererwägung zu ziehen (Wiedererwägungsgesuch) und sein Gesuch gutzuheissen. Das Wiedererwägungsgesuch war mit dem gleichen Argument begründet, das der Gerichtsschreiber inzwischen in seinem Referatsentwurf herangezogen hatte und das für eine Gutheissung der Beschwerde sprach.

Jetzt hatte der Präsident ein Problem: Dem Argument, das für die Gutheissung der Beschwerde sprach, konnte er durchaus folgen, denn es entsprach der Praxis des Kassationshofes. Sollte er also dem Wiedererwägungsgesuch entsprechen und das Gesuch gutheissen? In der Präsidialverfügung war ein Umstand im Sachverhalt übersehen worden, der eher für eine Gutheissung sprach
oder zumindest hätte erwogen werden müssen. Eben diesen Umstand führte der Gerichtsschreiber nun in seinem Referatsentwurf als Begründung für eine Gutheissung der Beschwerde und Zurückweisung an die Vorinstanz zur Neubeurteilung an, weil die Vorinstanz bei ihrem Entscheid diesem Umstand keine Rechnung getragen hatte. Der Vorinstanz wurde also genau das Versehen vorgeworfen, das dem Präsidenten des Kassationshofes bei seiner Verfügung unterlaufen war.

Eine Gutheissung der Beschwerde lief also auf eine Blossstellung der Präsidialverfügung hinaus. Aber mit einer allfälligen Gutheissung war noch ein weiteres Problem verbunden: Vor einer Gutheissung der Beschwerde musste eine Vernehmlassung von der Vorinstanz eingeholt werden, um dieser das rechtliche Gehör zu gewähren. Bisher war noch keine Vernehmlassung eingeholt worden, weil man aufgrund der Präsidialverfügung von einer Abweisung oder von einem möglichen Rückzug der Beschwerde ausgegangen war. Wahrscheinlich dachte der Präsident an diesem Tag zunächst daran, dass man nun wohl gutheissen müsse, denn er schrieb folgende Anweisung in das Dossier, abgestempelt mit dem Tagesdatum und visiert: Vernehmlassung von Vorinstanz zum Gesuch und zur Hauptsache, plus Akten. Frist: 5692

[zehn Tage]». Diese Anweisung wurde aber von ihm selbst wieder durchgestrichen, wahrscheinlich, weil er es sich dann anders überlegte und nicht mehr mit einer Gutheissung der Beschwerde rechnete.

Da kam dem Präsidenten plötzlich, wie er sagte, ein Geistesblitz: Es gab im Sachverhalt noch etwas anderes, was bisher übersehen worden war und das erlaubte, die Beschwerde mit einer anderen Begründung abzuweisen. Auf diese Weise konnte der Präsident einigermassen das Gesicht wahren. Was aber sollte mit dem Wiedererwägungsgesuch geschehen? Angesichts der Sachlage konnte der Präsident das Wiedererwägungsgesuch nicht guten Gewissens behandeln, ohne dem Entscheid in der Sache vorzugreifen. Es musste deshalb gleichzeitig entschieden werden. Damit war ein Entscheid dringend geworden. Deshalb begab sich der Präsident noch am Samstag in sein Büro und verfasste einen handschriftlichen Gegenantrag auf Abweisung der Beschwerde mit einer substituierten Begründung.

Der Präsident vermerkte auf dem Dossier «eilt» und setzte den Fall noch gleichentags zusammen mit dem Referatsentwurf des Gerichtsschreibers und seinem handschriftlichen Antrag auf Abweisung bei den Richtern A und B in Zirkulation. Der Zirkulationsbogen ­ ein A3-Blatt, das bei Zirkulationen vorne in das Dossier geheftet wird und auf welchem die beteiligten Richter ihre Anträge, Gegenanträge und Bemerkungen mit Datum und Unterschrift eintragen ­ enthielt den Vorschlag des Gerichtsschreibers auf Gutheissung. Daneben hatte der Präsident notiert: «Siehe beiliegende Bemerkungen mit Antrag auf Abweisung.» Am darauf folgenden Montag vermerkte Richter A auf dem Zirkulationsbogen «Antrag auf Gutheissung» und fügte eine Begründung an, in der er auf die bisherige Praxis des Kassationshofes hinwies. Richter B trug auf dem Zirkulationsbogen ein: «Antrag auf Gutheissung, Begründung gemäss Referat und Richter A». Am folgenden Tag bestellte der Präsident die beiden beteiligten Richter zu sich in sein Büro zu einer internen Besprechung. Der den Fall bearbeitende Gerichtsschreiber war nicht anwesend. Ob dieser an jenem Tag nicht abkömmlich war oder ob ihn der Präsident nicht beizog, lässt sich nicht mehr feststellen. Der Gerichtsschreiber hatte jedenfalls in seiner Agenda an diesem Tag keine Abwesenheit notiert. Nach der Besprechung verfasste der Präsident eine Notiz mit
dem Titel «Interne Besprechung mit Richter B und Richter A». Darin ist festgehalten: «Ergebnis: Abweisung der Beschwerde, keine Kosten, keine Entschädigung.» Das Papier enthält zusätzlich Hinweise zur Begründung zu Handen des Gerichtsschreibers. Gleichentags vermerkte der Präsident auf dem Zirkulationsbogen: «Interne Besprechung: Abweisung im Sinne der Erwägungen, keine Kosten, keine Entschädigung.» Zudem setzte er auf dem Zirkulationsbogen das Urteilsdatum und sein Visum ein und übergab das Dossier dem Gerichtsschreiber zur Ausfertigung des Urteils. Zwei Wochen später wurde das Dispositiv verschickt. Zwei Tage danach übergab der Gerichtsschreiber dem Präsidenten den gemäss seinen Anweisungen ausgefertigten Urteilsentwurf. Einige Wochen später zirkulierte der Urteilsentwurf bei den beteiligten Richtern, die keine nennenswerten Korrekturen anbrachten. Anschliessend wurde das Urteil verschickt.

4.3.1.2.1.4

Die interne Besprechung

Der geschilderte Sachverhalt vermittelt den Eindruck, dass die Richter A und B im Rahmen der Zirkulation zunächst im Sinne des Referates des Gerichtsschreibers und entgegen dem Antrag des Präsidenten für Gutheissung der Beschwerde waren, dass 5693

sie sich aber an der internen Besprechung der Meinung des Präsidenten anschlossen und der Abweisung zustimmten. Nach der gesetzlichen Regelung kann das Bundesgericht nur auf dem Weg der Aktenzirkulation entscheiden, wenn sich Einstimmigkeit ergibt und kein Richter mündliche Beratung verlangt (Art. 36b OG). Besteht aufgrund des Zirkulationsverfahrens unter den beteiligten Richtern keine Einigkeit, so muss eine mündliche Beratung, d.h. eine Sitzung angesetzt werden. An Sitzungen werden Fälle mündlich beraten, und anschliessend wird darüber abgestimmt, wobei für einen Entscheid die Mehrheit genügt. Im vorliegenden Fall hätte es eine offiziell angesetzte, öffentliche Sitzung26 im Beisein des Gerichtsschreibers sein müssen.

Eine solche fand hier nicht statt. Weder auf dem Zirkulationsbogen noch sonst im Dossier findet sich aber eine Bestätigung der beteiligten Richter A und B mit ihrer Unterschrift, dass sie sich, nach anfänglicher Unterstützung der Gutheissung, schliesslich der Meinung des Präsidenten, die Beschwerde sei abzuweisen, anschlossen. Entscheidend ist demnach die Frage, was an der internen Besprechung, die im Büro des Präsidenten unter den drei Richtern stattfand, beraten und entschieden wurde.

Richter A sagte vor der Arbeitsgruppe, er sei in der Zirkulation wie Richter B mit dem Vorschlag des Gerichtsschreibers auf Gutheissung einverstanden gewesen. Der Präsident hätte bei dieser Sachlage eine öffentliche Sitzung ansetzen müssen, was einige Zeit in Anspruch nehme. Deshalb habe der Präsident sie beide kurzfristig zu sich gebeten. Man habe den Fall diskutiert. Richter A sei der Meinung gewesen, der vom Gerichtsschreiber ausformulierte Vorschlag sei der einzig richtige. «Ich wollte den vorinstanzlichen Entscheid nicht , weil ich ihn für falsch gehalten habe», betonte Richter A. Der Präsident habe gemeint, man könnte die Verwaltungsgerichtsbeschwerde eventuell mit einer anderen Begründung abweisen. Er werde den Gerichtsschreiber einen entsprechenden Entwurf ausarbeiten lassen. Es müsse aber schnell gehen. Dann könnten die beiden Richter den Entwurf nochmals anschauen.

Dann habe Richter A eine Weile nichts mehr gehört. Als er bei Gelegenheit den Gerichtsschreiber gefragt habe, was nun mit diesem Dossier los sei, habe dieser geantwortet, der Fall sei doch schon lange entschieden.
Richter A nahm daraufhin Kontakt mit dem Präsidenten und mit Richter B auf. Mit Präsident Schubarth habe er eine relativ heftige Auseinandersetzung wegen des Vorfalls gehabt. Er habe ihm gesagt, er hätte nicht nachgegeben und verlangt, zuerst einen Entwurf zu erhalten, um zu sehen, ob er mit der anderen Begründung leben könnte. Jedenfalls habe er keine Zustimmung im Sinne, wie dann entschieden wurde, gegeben. Auf diese Intervention gab ihm der Präsident zur Antwort, dann müsse es ein Missverständnis gewesen sein. Richter A nahm mit Richter B telefonisch Kontakt auf. Dieser sagte, er würde sich nicht an die Einzelheiten der Besprechung erinnern. Daraufhin habe Richter A keine weiteren Konsequenzen gezogen, weil er mit seiner Auffassung alleine dastand. Er habe auch nicht den Gesamtgerichtspräsidenten um Intervention angegangen, denn es sei Aussage gegen Aussage gestanden.

Deshalb habe er die Sache auf sich beruhen lassen. Er wolle Martin Schubarth nicht eine Manipulation vorwerfen, da er diese nicht beweisen könne. Aber er betrachte das Vorgehen des Präsidenten als Vertrauensmissbrauch.

26

Die Sitzungen des Kassationshofes werden gemäss Artikel 17 Absatz 1 OG nicht öffentlich durchgeführt, mit Ausnahme der Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Administrativmassnahmen im Strassenverkehr im Bereich der Führerausweisentzüge (BGE 117 Ib 94) und der staatsrechtlichen Beschwerden, soweit deren Beratung ohne Bezugnahme auf die konnexen Nichtigkeitsbeschwerden möglich ist (BGE 117 Ia 508).

5694

Als später der ausgefertigte Urteilsentwurf zirkulierte, habe er sich nur noch damit befasst, ob die Begründung korrekt erfolgt sei, denn der Entscheid sei ja gefällt gewesen und das Dispositiv inzwischen verschickt worden. In der Redaktionsphase müsse man sich umstellen, wenn man in der Sache unterlegen sei. Die Begründung sei aus der Sicht des anderen Standpunktes korrekt gewesen. Einzig bei der Frage, ob die Begründung in die interne Dokumentation des Bundesgerichts aufgenommen werden sollte, habe er sich entschieden gewehrt und «nein!» dazu vermerkt.

Zur Vorgehensweise des Präsidenten, eine interne Besprechung durchzuführen, erklärte Richter A, solche internen Besprechungen seien eigentlich im OG nicht vorgesehen, doch würden sie ab und zu praktiziert, um kleinere Differenzen wie etwa die Parteientschädigung zu bereinigen, nicht aber, um über das Hauptproblem zu entscheiden. In der Regel müsste aber auch der Gerichtsschreiber anwesend sein, denn dieser habe beratende Stimme und könne ausserdem gerade Aufträge entgegennehmen. Im vorliegenden Fall hätte der Präsident das Dossier ein zweites Mal mit dem abgeänderten Entwurf zirkulieren lassen müssen. Wenn er dann festgestellt hätte, dass die Zirkulation zwei zu eins ergab, hätte er zu einer öffentlichen Sitzung einladen müssen.

Richter B erklärte gegenüber der Arbeitsgruppe, er habe den Fall nicht so erlebt, dass er ihm in Erinnerung geblieben sei. Offenbar habe diese interne Besprechung stattgefunden. Er könne sich jedoch nicht daran erinnern. Er gehe davon aus, dass er dem Gegenantrag des Präsidenten zugestimmt habe. Es sei letztlich eine reine Ermessensfrage gewesen. Man habe so oder so entscheiden können. Es sei um eine Interessenabwägung gegangen. Er und Richter A hätten zuerst dem Vorschlag des Gerichtsschreibers auf Gutheissung zugestimmt. Die Überlegungen des Präsidenten seien jedoch absolut vertretbar gewesen. Deshalb sei er überzeugt, dass er im Interesse einer speditiven Behandlung des Falles zugestimmt habe.

Zur Vorgehensweise des Präsidenten, eine interne Besprechung durchzuführen, erklärte Richter B, es komme in allen Abteilungen vor, dass kleinere Probleme an internen Besprechungen gelöst würden, weil offizielle Sitzungen sehr aufwändig seien. Richtigerweise hätte ohne offizielle Sitzung eine zweite Zirkulation stattfinden
müssen. Das sei in diesem Fall falsch gelaufen. Aussergewöhnlich sei auch gewesen, dass der Präsident das Ergebnis der Sitzung auf dem Zirkulationsbogen vermerkt habe. Soweit er sich erinnern könne, sei dies das einzige Mal gewesen, wo das vorgekommen sei.

Präsident Schubarth antwortete auf die Frage, was genau an der internen Besprechung geschehen sei, diese Besprechung habe stattgefunden. Das Ergebnis habe er protokolliert. «Schreibe ich hier, das sei das Ergebnis, dann war es das Ergebnis.» Das Ergebnis sei einstimmig gewesen. Er höre heute zum ersten Mal, dass Richter A eine andere Meinung gehabt habe. Im Übrigen habe dieser bei der Zirkulation dem Urteilsentwurf zugestimmt. Spätestens da hätte er intervenieren müssen. Das habe er nicht getan. Im Übrigen seien Missverständnisse immer möglich. Er schliesse auch nicht aus, dass Richter A unter dem Einfluss von starken Medikamenten, die er damals habe einnehmen müssen, etwas anderes mitbekommen habe.

Zur Frage, warum er keine öffentliche Sitzung angesetzt habe, sagte Schubarth, eine öffentliche Beratung nehme Zeit in Anspruch. Der Fall habe aber geeilt. Ausserdem sei er am darauf folgenden Tag für einige Tage verreist. Indem man den Fall an der internen Besprechung gelöst habe, habe man klar im Interesse des Beschwerdeführers gehandelt, da man so noch vor seiner Abreise eine Lösung gefunden habe.

5695

Ausserdem sei der Streitgegenstand nicht sehr gravierend gewesen. Das sei auch ein Grund, einen Fall intern zu erledigen. Es entspreche zudem der Praxis des Hauses, Fälle mit internen Beratungen zu lösen, um keine öffentlichen Beratungen durchführen zu müssen. Hätten die beiden anderen Richter gewünscht, im Sinne des Vorschlages des Gerichtsschreibers gutzuheissen, hätte er das akzeptiert. Eine zweite Zirkulation wäre möglich gewesen, aber dann hätte der Fall an diesem Tag nicht erledigt werden können.

Der am Fall beteiligte Gerichtsschreiber erklärte, er habe es noch nie erlebt, dass ein Gerichtsschreiber bei einer Sitzung nicht dabei gewesen sei. Das sei aussergewöhnlich gewesen. Aber es habe sich um einen eiligen Fall, der nicht besonders schwergewichtig war, gehandelt. Als er nach der internen Besprechung das Dossier per Weibeldienst erhalten habe, habe er aufgrund des Eintrages des Präsidenten auf dem Zirkulationsbogen und dessen Aktennotiz keinen Anlass gehabt, daran zu zweifeln, dass die drei Richter so entschieden hätten. Zur Abweisung der Beschwerde mit der substituierten Begründung meinte er, im Ergebnis sei der Entscheid sicher vertretbar, die substituierte Begründung überzeuge ihn jedoch nicht besonders.

4.3.1.2.1.5

Weitere Ungereimtheiten im Fall «Dreierzirkulation»

Im Fall «Dreierzirkulation» gab es eine Reihe von weiteren Ungereimtheiten, die teils auf die Verkettung von unglücklichen Umständen und Versehen, teils aber auch auf die Führung des Dossiers durch den Präsidenten zurückzuführen sind. An dieser Stelle sollen diese Fehler nicht verschwiegen werden, obwohl sie nicht im Zusammenhang mit einer Urteilsmanipulation stehen.

Üblicherweise wird eine beim Kassationshof eingehende Beschwerde erst zur Behandlung einem Richter zugeteilt, wenn der Kostenvorschuss vom Beschwerdeführer eingegangen ist. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass auf eine Beschwerde nicht eingetreten wird, wenn die Kosten nicht innert der festgesetzten Frist eingehen (Art. 150 OG). Den Fall «Dreierzirkulation» teilte der Präsident unmittelbar nach der Unterzeichnung der Präsidialverfügung einem Gerichtsschreiber zur Bearbeitung zu, obwohl er wusste, dass der Kostenvorschuss erst an diesem Tag eingefordert wurde. Er nahm damit das Risiko in Kauf, dass die Bearbeitung des Falles umsonst gewesen wäre, wenn der Kostenvorschuss nicht fristgerecht eintreffen sollte. Der Fall habe geeilt, sagte Schubarth als Begründung. Man könne nicht immer auf den Kostenvorschuss warten. Notfalls könne man die Kosten, wenn solche gesprochen werden, erst nach dem Entscheid einfordern.

Am Tag nachdem der Präsident auf dem Zirkulationsbogen das Urteilsdatum eingetragen hatte, traf beim Kassationshof ein Fristerstreckungsgesuch des Beschwerdeführers für den Kostenvorschuss ein. Der Präsident war soeben verreist. Im Präsidialsekretariat herrschte einige Verwirrung über den derzeitigen Stand des Verfahrens.

Der Gerichtsschreiber, der den Fall bearbeitete, hatte das Dossier vom Präsidenten mit dem Urteilsstempel erhalten. Da normalerweise ohne Kostenvorschuss keine Fälle bearbeitet, geschweige denn entschieden werden, kamen das Präsidialsekretariat und der Gerichtsschreiber zum Schluss, dass dieses Datum wohl noch nicht definitiv sein könne. Das Präsidialsekretariat gewährte die Fristerstreckung und der Gerichtsschreiber wartete dementsprechend noch mit der Zustellung des Dispositivs (bzw. Entscheid, siehe Ziff. 4.3.1.1) an den Beschwerdeführer. Schubarth meinte 5696

dazu, da sei ein Versehen passiert. Das Dispositiv hätte sofort versandt werden müssen. Man habe übersehen, dass keine Kosten gesprochen wurden. Da mache es keinen Sinn, auf den Kostenvorschuss zu warten.

Im Weiteren war nach der abweisenden Präsidialverfügung die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass der Beschwerdeführer seine Beschwerde zurückziehen würde, da die Präsidialverfügung ein starkes Präjudiz dafür darstellte, dass die Beschwerde abgelehnt werden würde. Der Gerichtsschreiber, der die Präsidialverfügung vorbereitet hatte, hatte den Präsidenten auf diesen Umstand hingewiesen. Der Beschwerdeführer versuchte es stattdessen noch mit einem Wiedererwägungsgesuch (vgl. Ziff.

4.3.1.2.1.3). Nach knapp drei Wochen, in denen der Beschwerdeführer nichts vom Bundesgericht gehört hatte, reichte er den Rückzug seiner Beschwerde ein und teilte mit, er habe sich nun der vorsorglichen Massnahme, die er mit der Beschwerde bekämpfen wollte, unterziehen müssen. Er wusste nicht, dass inzwischen das Urteil bereits gefällt worden war. Nach Eingang des Rückzuges ordnete der Präsident an, das Dispositiv sofort zu verschicken. Eine Abschreibung von der Geschäftsliste oder ein Rückkommen auf den Entscheid waren nicht mehr möglich, nachdem das Urteil bereits gefällt war.

4.3.1.2.1.6

Folgen für den Beschwerdeführer und späterer Entscheid des Bundesgerichts zur Hauptsache

Mit der Abweisung der Beschwerde entstand dem Beschwerdeführer gegenüber einer Gutheissung nur ein geringfügiger Nachteil. Da das Bundesgericht in der Begründung immerhin durchblicken liess, dass sein hängiger Rekurs vor der Vorinstanz im Falle einer Abweisung vor dem Bundesgericht durchaus Chancen haben würde, waren seine Aussichten für das weitere Verfahren intakt. Allerdings nahm die Vorinstanz in der Folge keine Notiz von den Hinweisen des Bundesgerichts und lehnte den Rekurs in der Hauptsache ab, was dazu führte, dass das Bundesgericht sich sechs Monate nach dem ersten Entscheid auch noch zur Hauptsache äussern musste. Der Kassationshof entschied diese Verwaltungsgerichtsbeschwerde zur Hauptsache ebenfalls in Dreierbesetzung und hiess die Beschwerde einstimmig gut.

Präsident Schubarth war in diesem Fall Referent. In seinem schriftlichen Kurzreferat beantragte er Gutheissung der Beschwerde, regte aber an, dass «in der Urteilsbegründung eselsdeutlich zu Handen der kantonalen Instanzen und des Beschwerdeführers» das Konzept dargelegt werden solle, das bereits dem früheren Entscheid zu Grunde lag. Dann führte er nochmals die Argumentation aus, die im Fall «Dreierzirkulation» als substituierte Begründung für die Abweisung herangezogen worden war. Die Darlegungen des Präsidenten wurden schliesslich ausführlich in das Urteil aufgenommen. Ob sie in der Praxis der kantonalen Behörden einen Niederschlag gefunden haben, hat die Arbeitsgruppe nicht untersucht. Richter B war an diesem Entscheid ebenfalls beteiligt. Er hat sowohl die Gutheissung der Beschwerde unterstützt, als auch die Darlegungen des Präsidenten im Urteilsentwurf gutgeheissen.

5697

4.3.1.2.2

Bewertung des Falles «Dreierzirkulation» durch die Geschäftsprüfungskommissionen

Der Vorwurf einer Urteilsmanipulation ist schwerwiegend. Deshalb hat die Arbeitsgruppe grosses Gewicht auf eine sorgfältige Abklärung des Falles «Dreierzirkulation», der Anlass zur Verbreitung eines entsprechenden Gerüchtes bildete (vgl. Ziff.

4.3.1.2.1.2), gelegt. Die Geschäftsprüfungskommissionen bewerten die oben dargestellten Feststellungen wie folgt: 1. Zur Frage einer möglichen Urteilsmanipulation Eine Urteilsmanipulation durch den Präsidenten würde im Fall «Dreierzirkulation» dann vorliegen, wenn die Richter A und B bis zuletzt für eine Gutheissung gewesen wären und der Präsident, im Wissen um die Meinung der Mitrichter, als Urteil eine Abweisung auf dem Zirkulationsblatt vermerkt und in seiner Notiz festgehalten hätte.

Richter B kann sich nicht mehr an die interne Besprechung erinnern, geht jedoch in der Retrospektive davon aus, er habe sich der Meinung Schubarths angeschlossen.

Dafür spricht, dass er sich bei der Urteilszirkulation nach dem Versand des Dispositivs dafür aussprach, die Erwägung mit der von Schubarth neu eingebrachten substituierten Begründung in die Dokumentation des Bundesgerichts aufzunehmen. Auch im späteren Entscheid zur Hauptsache unterstützte er bei der Urteilsredaktion die erneute Darlegung jener Argumentation.

Hätte eine zweite Zirkulation mit dem Entwurf stattgefunden, wie er im vorliegenden Fall als definitives Urteil verschickt wurde, und hätte Richter A sich nicht einverstanden erklärt, hätte eine öffentliche Sitzung angesetzt werden müssen.

Richter B erklärte, er hätte seine Meinung nachher in der Sitzung nicht mehr geändert, nachdem er vorher dem Antrag Schubarths zugestimmt habe. Es wäre also in jedem Fall bei der Abweisung der Beschwerde geblieben.

Die Geschäftsprüfungskommissionen schliessen somit eine Urteilsmanipulation im oben erwähnten Sinne aus. Nicht auszuschliessen, aber auch nicht zu beweisen ist, dass sich Richter B dem Druck beugte, den der Präsident zur Erledigung und zur Abweisung dieses Falles ausübte.

2. Zur Frage eines möglichen Übergehens der Meinung eines Mitrichters Allerdings wäre es auch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn Präsident Schubarth bewusst die Meinung eines Mitrichters übergangen und in Verletzung der Zirkulationsvorschrift und der Vorschrift über die mündliche Beratung das Urteil auf dem Zirkulationsbogen
als einstimmig gefällt erklärt hätte, wenn in Wirklichkeit keine Einstimmigkeit vorlag.

Die Aussagen von Richter A sind klar: Er war nicht einverstanden mit einer Abweisung und war der Meinung, der Vorschlag des Gerichtsschreibers auf Gutheissung sei das einzig Richtige. Er hatte seine Meinung auch bereits in der Zirkulation auf dem Zirkulationsbogen klar und stringent zum Ausdruck gebracht. Er macht den Eindruck, dass er seine Meinung klar auszudrücken pflegt. Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass Präsident Schubarth an der internen Besprechung verstanden haben konnte, Richter A schliesse sich seiner Meinung an. Richter A hat zudem umgehend beim Präsidenten protestiert, sobald er in Erfahrung gebracht hatte, dass

5698

das Dispositiv bereits draussen war. Es gibt keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln.

Dagegen ist nicht glaubhaft, dass Schubarth von der Intervention von Richter A nichts gewusst haben will. Noch bevor ihm die Arbeitsgruppe dies mitgeteilt hatte, erklärte Schubarth in der Anhörung, er höre zum ersten Mal, dass Richter A eine andere Meinung gehabt habe. Er war lediglich gefragt worden, ob es ihm an der internen Besprechung gelungen sei, Richter A, der auf dem Zirkulationsbogen klar eine andere Meinung geäussert habe, von seiner Meinung zu überzeugen. Im Übrigen ist der Versuch Schubarths, die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Richter A mit dem Hinweis auf dessen medikamentöse Behandlung in Zweifel zu ziehen, mehr als unwürdig. Auch das Argument, Richter A sei ja bei der Zirkulation des Urteilsentwurfs einverstanden gewesen, ist ein Ablenkungsmanöver. Schubarth muss es klar sein, dass die Urteilsredaktion unter anderen Gesichtspunkten beurteilt wird, nachdem das Urteil bereits feststeht, und dass somit die Zustimmung von Richter A zur Redaktion des Urteils nicht gleichbedeutend ist mit einer Zustimmung zum Entscheid selbst.

Von Bedeutung ist weiter, dass Präsident Schubarth Motive hatte, die Beschwerde unbedingt abweisen zu wollen. Ob dabei im Vordergrund stand, dass er eine Desavouierung seines abweisenden Präsidialentscheides verhindern wollte oder ob es vor allem seine neue Idee war, die hier als substituierte Begründung für eine Abweisung dienen konnte und die erst noch ermöglichte, eine neue Praxis einzuleiten, die ihm am Herzen lag, kann nicht festgestellt werden. Es gab jedenfalls genug Gründe, auf eine Abweisung zu drängen.

Die geltend gemachte Dringlichkeit ist zu relativieren. Einerseits hatte Schubarth die Dringlichkeit mit seiner präjudizierenden Präsidialverfügung selbst geschaffen. Zum anderen wäre es nach dem Eingang des Wiedererwägungsgesuchs durchaus möglich gewesen, bei der Vorinstanz mit einer superprovisorischen Verfügung den Vollzug bis zum Entscheid des Bundesgerichts zu hemmen, um einen möglichen Schaden für den Beschwerdeführer zu verhindern. Gleichzeitig hätte man bei der Vorinstanz, wie Schubarth dies zuerst erwogen hatte, eine Vernehmlassung einholen können. Das hätte der sonst am Kassationshof geübten Praxis entsprochen. Damit hätte er den Richterkollegen noch einen
freien Entscheid über Gutheissung oder Abweisung ermöglicht.

In Bezug auf die interne Besprechung steht fest, dass diese keine ordentliche Sitzung gemäss Artikel 17 Absatz 1 OG darstellte, an der mit zwei zu eins hätte entschieden werden dürfen. Sie konnte höchstens zur Beschleunigung des Zirkulationsverfahrens dienen, das jedoch gemäss Artikel 36b OG Einstimmigkeit der Richter erfordert.

Das Zirkulationsverfahren hätte demnach in ordentlicher Weise zu Ende geführt werden müssen, indem der abgeänderte Entwurf des Gerichtsschreibers in eine zweite Zirkulation hätte gesetzt werden müssen. Hätte dann Richter A nicht zugestimmt, hätte der Präsident eine öffentliche Sitzung ansetzen müssen.

Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass Bundesrichter Martin Schubarth Richter A missverstanden hätte und von dessen Zustimmung ausgegangen wäre, hätte er das Urteil nicht ohne die Unterschriften der beiden Mitrichter als gefällt erklären dürfen.

Nach Abwägung aller Umstände kommen die Geschäftsprüfungskommissionen zum Schluss, dass Bundesrichter Schubarth im vorliegenden Fall die Meinung eines Richterkollegen klar übergangen und in Verletzung der Bestimmungen über das 5699

Zirkulationsverfahren und die öffentliche Beratung das Urteil auf dem Zirkulationsbogen als einstimmig gefällt erklärt hat, obwohl nur eine Mehrheit, aber keine Einstimmigkeit vorlag. Nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen hat Bundesrichter Martin Schubarth damit eine Amtspflicht verletzt.

3. Zu den übrigen Ungereimtheiten im Fall «Dreierzirkulation» Der derzeitige Präsident des Kassationshofes erklärte gegenüber der Arbeitsgruppe, dass ihm kein Dossier bekannt sei, das derart viele Fehler enthalte. So ein Fall komme höchstens einmal in zehn Jahren vor. Nach den Feststellungen der Arbeitsgruppe ist die Häufung von Versehen und Missverständnissen einerseits darauf zurückzuführen, dass sich einmal gemachte Fehler bis zuletzt auswirkten. Andererseits sind sie aber zum Teil auf eine schlechte Dossierführung in diesem Fall durch den damaligen Präsidenten des Kassationshofes, Bundesrichter Martin Schubarth, zurückzuführen. Er hätte sehen müssen, dass die Präsidialverfügung über das Gesuch betreffend eine vorsorgliche Massnahme eine derart präjudizierende Wirkung haben musste, dass sie gar nicht erlassen werden konnte, ohne dem Entscheid in der Sache vorzugreifen. Aus den Akten wäre zudem zu entnehmen gewesen, dass die Präsidialverfügung gar nicht so dringlich war, so dass das Gesuch auch erst mit der Sache selbst hätte entschieden werden können. Allenfalls hätte bereits zu diesem Zeitpunkt eine superprovisorische Vollzugshemmung bis zum Entscheid des Kassationshofes verfügt werden können. Die Zuteilung des Falles zur Bearbeitung, bevor der Kostenvorschuss eingegangen war, war unüblich und trug zur Verwirrung der Situation bei. Der Gerichtsschreiber wartete mit dem Versand des Dispositivs, weil er zusammen mit dem Präsidialsekretariat zum Schluss kam, dass das Urteilsdatum wohl noch nicht endgültig sein könne. Diese Zweifel waren berechtigt, nicht nur wegen des ausstehenden Kostenvorschusses, sondern auch, weil auf dem Zirkulationsbogen die Unterschriften der zwei Mitrichter fehlten, die deren Zustimmung zur Abweisung der Beschwerde bestätigt hätten. Zudem war der Vermerk Schubarths auf dem Zirkulationsbogen über die interne Besprechung, bei welcher der Gerichtsschreiber nicht anwesend war, absolut unüblich. Das Zuwarten mit dem Versand des Dispositivs führte dazu, dass der Beschwerdeführer
die Beschwerde zurückzog, obwohl der Fall bereits entschieden war. Als schliesslich der Rückzug der Beschwerde eintraf, ordnete Präsident Schubarth die sofortige Zustellung des Dispositivs an.

Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen zum Schluss, dass die im Fall «Dreierzirkulation» festgestellten Versehen und Missverständnisse zum Teil auf die mangelhafte Dossierführung durch Präsident Martin Schubarth zurückzuführen sind.

Bei der Bewertung dieser Ungereimtheiten muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Kassationshof allgemein unter einem starken Erledigungsdruck steht und dass der vorliegende Fall ein vergleichsweise wenig schwergewichtiges Thema betraf.

Versehen dieser Art sind unter diesen Umständen nie ganz vermeidbar. Sie stellen insgesamt die Qualität der Rechtsprechung des Kassationshofes nicht in Frage.

4. Zur Frage der Verbreitung von Gerüchten zum Fall «Dreierzirkulation» Es ist davon auszugehen, dass Richter A irgendwann irgendwo im Hause seinem Unmut über das Vorgehen des Präsidenten im Fall «Dreierzirkulation» Ausdruck verlieh und dass von da an die Geschichte weiterverbreitet wurde. Der Unmut von Richter A hat sich als nicht unbegründet erwiesen. Eine Absicht, Bundesrichter Schubarth im Hinblick auf die Wiederwahl im Dezember 2002 zu schaden, wie sie 5700

Schubarth im Zusammenhang mit der Verbreitung von Gerüchten gegen seine Person vermutet, kann bei Richter A schon deshalb ausgeschlossen werden, weil dieses Gerücht bereits lange vor den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts erstmals kursierte.

Die Verbreitung des Gerüchts um den Fall «Dreierzirkulation» macht zweierlei deutlich: Einerseits zeigten die hartnäckig kursierenden Gerüchte, dass eine Unregelmässigkeit nicht spurlos unter den Teppich gekehrt werden kann. Die Befragungen durch die Arbeitsgruppe haben gezeigt, dass sowohl die Richter als auch die Gerichtsschreiber ein hohes Qualitätsbewusstsein und ein ausgeprägtes Gespür dafür haben, was zulässig und regelkonform ist und was nicht. Der Fall «Dreierzirkulation» hat die wissenschaftlichen Mitarbeiter am Gericht zu Recht beschäftigt. Andererseits wirft die Art, wie diese Gerüchte immer weitere Kreise zogen und sich verselbständigten, Fragen in Bezug auf den Umgang des Bundesgerichts mit gemachten Fehlern auf.

5. Zum Umgang des Bundesgerichts mit Fehlern Am Bundesgericht herrscht die Meinung vor, dass nichts an die Öffentlichkeit dringen darf, was dem Ansehen des Gerichts schaden könnte, und dass, wer eine Ungereimtheit nach aussen weitergibt, dem Ansehen des Gerichts Schaden zufügt.

Tatsächlich ist das oberste Gericht in besonderem Masse empfindlich gegenüber jeder Art von Negativschlagzeilen. Dies nicht zuletzt, weil die Allgemeinheit auf solche Ereignisse rasch mit Unsicherheit und Zweifeln darüber reagiert, ob die vom Bundesgericht gefällten Urteile noch richtig, zuverlässig und vertrauenswürdig gefällt werden, selbst wenn in Tat und Wahrheit die Qualität der Urteile durch das betreffende Ereignis nicht gefährdet ist.

Eine «Kontrolle» durch die Öffentlichkeit ist wegen der Vertraulichkeit der Entscheidfindung und der Parteiinteressen sowie der richterlichen Unabhängigkeit nur sehr beschränkt möglich. Das darf aber nicht dazu führen, dass Regelwidrigkeiten oder persönliches Fehlverhalten von Richtern unter Verschluss gehalten werden, ohne dass sie gleichzeitig innerhalb des Gerichts geahndet bzw. berichtigt werden.

Sonst besteht die Gefahr, dass eigenmächtiges oder selbstherrliches Verhalten einzelner das Klima belastet. Die richterliche Unabhängigkeit darf auch nicht zum Vorwand für die Duldung von persönlichem Fehlverhalten
einzelner Richter werden. Es müssen deshalb interne Mechanismen bestehen, die Gewähr dafür bieten, dass über Fehler offen gesprochen werden kann und sogar muss, wenn ernsthafte Probleme vorliegen, und dass daraus die nötigen Konsequenzen gezogen werden.

4.3.1.3

Möglichkeiten von Urteilsmanipulationen

Im Zusammenhang mit dem Vorwurf einer Urteilsmanipulation ist von Interesse, ob und inwieweit es überhaupt theoretische und praktische Möglichkeiten von Urteilsmanipulationen am Kassationshof gibt. Aufgrund der Analyse der Verfahrensabläufe am Kassationshof kommt die Arbeitsgruppe zum Schluss, dass es in der Praxis kaum Raum für echte Urteilsmanipulationen im Sinne von Verfälschungen des Dispositivs gibt. Auszuschliessen ist eine solche Manipulation für einen Mitrichter.

Der Abteilungspräsident kann wesentlich mehr Einfluss auf das Verfahren jedes Einzelfalles nehmen. Er ist an jedem Fall beteiligt und bestimmt zum Beispiel, ob und wann eine Sitzung durchzuführen ist, ob eine weitere Zirkulationsrunde erfor5701

derlich ist und in welchem Zeitpunkt ein Urteil im Zirkulationsverfahren als gefällt gelten soll. Mit einer Urteilsmanipulation würde er jedoch ein sehr hohes Risiko eingehen, entdeckt zu werden. Das Verfahren erfordert, dass so viele Personen an einem Fall beteiligt sind, dass es praktisch immer Zeugen geben würde. Der Fall «Dreierzirkulation» hätte allerdings eine ­ sicher seltene ­ Konstellation dargestellt, wo unter Umständen eine Manipulation hätte vorkommen können, nämlich dann, wenn beide Mitrichter anderer Meinung geblieben wären als der Präsident und sie bei der Entdeckung des falschen Dispositivs wegen der geringen Bedeutung des Falles darauf verzichtet hätten, das Dispositiv zu widerrufen. Doch könnte man dann möglicherweise von einer nachträglichen Genehmigung des Dispositivs sprechen.

Der Fall «Dreierzirkulation» war jedoch in mancher Hinsicht ein Sonderfall. Eine ähnliche Konstellation kommt mit grosser Wahrscheinlichkeit selten vor.

4.3.1.4

Zirkulationsverfahren und mündliche Beratung

4.3.1.4.1

Praxis des Bundesgerichts

Auf Ersuchen der Arbeitsgruppe hat das Bundesgericht mit Schreiben vom 4. August 2003 die geltende Praxis beim Zirkulationsverfahren und bei der Durchführung von mündlichen Beratungen dargelegt. Mit Schreiben vom 29. September 2003 ergänzte das Bundesgericht seine Ausführungen mit weiteren Präzisierungen.

Seine Praxis umschreibt das Bundesgericht sinngemäss wie folgt: Im Zirkulationsverfahren (Art. 36b OG) findet in der Regel eine Zirkulation statt.

Weitere Zirkulationen werden in Ausnahmefällen durchgeführt, z.B. zur Klärung möglicher Missverständnisse oder wenn Aussicht auf Einstimmigkeit besteht. Der Antrag des Referenten sowie die Zustimmung bzw. die Nichtzustimmung der Mitrichter zum Antrag werden auf dem Zirkulationsbogen vermerkt und unterzeichnet.

Ohne die entsprechenden Unterschriften kommt im Zirkulationsverfahren kein Urteil zustande, wobei das Gesetz Einstimmigkeit voraussetzt. Bei Uneinigkeit über das Urteilsdispositiv wird grundsätzlich eine mündliche Beratung angesetzt (gemäss Art. 17 OG).

Interne Besprechungen finden ausnahmsweise statt, wenn ein Richter die Klärung von Zweifeln in einer Diskussion wünscht, und nur zur Bereinigung von Unklarheiten. Interne Besprechungen kommen gemessen an der Anzahl erledigter Fälle selten vor. Das Resultat wird je nach Situation auf dem Zirkulationsbogen festgehalten oder fliesst in die Urteilsbegründung ein. Ergibt sich bei einer internen Besprechung ein Konsens über das Urteilsdispositiv, unterschreiben sämtliche Richter das entsprechende Dispositiv auf dem Zirkulationsblatt. Verbleiben entscheidrelevante Meinungsverschiedenheiten, so wird eine mündliche Beratung nach Artikel 17 OG durchgeführt.

Das Urteilsdatum wird nach Abschluss des Zirkulationsverfahrens, d.h. wenn unter den beteiligten Richtern Einstimmigkeit herrscht, vom Präsidenten festgelegt. Es wird auf dem Zirkulationsbogen mit Datum und Unterschrift des Präsidenten festgehalten. Mit dem Urteilsdatum wird häufig (je nach Abteilung in 50 bis 80 Prozent der Urteile) zugleich die Urteilsbegründung genehmigt (ausgefertigtes Urteil). In diesen Fällen wird das Urteil nicht separat im Dispositiv eröffnet, sondern es findet innert ein bis zwei Wochen eine Eröffnung des vollständig begründeten Urteils statt.

5702

Eine mündliche Beratung (Sitzung gemäss Art. 17 OG27) findet statt, wenn sich im Zirkulationsverfahren keine Einstimmigkeit ergibt oder wenn ein Richter es verlangt (Art. 36b OG). Sie wird angesetzt, sobald die Uneinigkeit feststeht bzw. sobald ein Richter eine Sitzung verlangt. In gewissen wichtigen Fällen, in welchen sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen, setzt der Präsident von sich aus eine Sitzung an. An Sitzungen wird über das Urteilsdispositiv abgestimmt. Das Dispositiv wird noch am Sitzungstag oder am darauf folgenden Arbeitstag vom Gerichtsschreiber verschickt. Später erfolgt die separate Zustellung des ausgefertigten Urteils.

4.3.1.4.2

Festgestellte Probleme im Zirkulationsverfahren und bei der mündlichen Beratung

Im Rahmen der Überprüfung des Falles «Dreierzirkulation» stellte die Arbeitsgruppe folgende Probleme in Bezug auf das Zirkulationsverfahren und die mündliche Beratung fest: 1. Transparenz des Zirkulationsverfahrens Im Fall «Dreierzirkulation» hat die Arbeitsgruppe festgestellt, dass der Präsident das Ergebnis der internen Besprechung auf dem Zirkulationsbogen vermerkte, dass aber weder auf dem Zirkulationsbogen noch sonst im Dossier die Unterschriften der beteiligten Richter vorhanden sind, die belegen, dass sie ihre Meinung geändert hätten. Unter der Praxis von Bundesrichter Schubarth als Präsident des Kassationshofes kam es auch vor, dass er Bereinigungen von Differenzen nach telefonischen oder mündlichen Rückfragen bei einzelnen Richtern auf dem Zirkulationsbogen vermerkte, ohne das Visum der Betreffenden einzuholen.

Um ein transparentes und nachvollziehbares Zirkulationsverfahren zu gewährleisten, aber auch um Missverständnissen und Fehlern vorzubeugen, müssen nach Ansicht der Geschäftsprüfungskommissionen wesentliche Meinungsäusserungen der Richter mit Unterschrift versehen und auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden.

2. Interne Besprechungen als Teil des Zirkulationsverfahrens Der Fall «Dreierzirkulation» wurde nach Auffassung von Bundesrichter Schubarth an der internen Besprechung mit den drei beteiligten Richtern entschieden. Mit der internen Besprechung wurde somit praktisch eine öffentliche Sitzung ersetzt. Schubarth erklärte vor der Arbeitsgruppe, dass es sich rechtfertige, kleinere oder eilige Fälle in internen Besprechungen zu erledigen.

Interne Besprechungen sind im Organisationsgesetz (OG) nicht vorgesehen. Sie dienen in der Praxis dazu, kleinere Differenzen, die sich im Zirkulationsverfahren ergeben, zu bereinigen, um die vom Gesetz verlangte Einstimmigkeit im Zirkulationsverfahren zu erzielen.

Interne Besprechungen dürfen nach Meinung der Geschäftsprüfungskommissionen mündliche Beratungen nicht ersetzen, d.h. an internen Besprechungen dürfen nicht formelle Entscheide gefällt werden. Das Zirkulationsverfahren muss ordnungsge27

Das Gesetz unterscheidet in Artikel 17 OG zwischen öffentlichen (Abs. 1), parteiöffentlichen (Abs. 2) und nichtöffentlichen (Abs. 1 und 3) Sitzungen.

5703

mäss zu Ende geführt werden. Soweit interne Besprechungen stattfinden, bilden sie Teil des Zirkulationsverfahrens; sie müssen im Zirkulationsverfahren transparent gemacht werden. Wesentliche Resultate müssen dann mit Unterschrift der beteiligten Richter auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden.

3. Verhandlungsprotokolle über mündliche Beratungen Finden am Kassationshof mündliche Beratungen (Sitzungen) statt, fehlt im Dossier ein Hinweis darauf, wie und mit welchem Stimmenverhältnis die Richter entschieden haben. Es wird kein Sitzungsprotokoll erstellt. Die von der Arbeitsgruppe angehörten Gerichtsschreiber erklärten, dass sie an den Sitzungen zwar persönliche Notizen machen, diese aber weder im Dossier noch sonst am Gericht aufbewahrt würden. Die Gerichtsschreiber erstellen aufgrund ihrer Notizen dann sofort das Dispositiv, das anschliessend verschickt wird. Das Bundesgerichtsreglement hält in Artikel 10 Absatz 3 bei den Aufgaben der Gerichtsschreiber fest, dass sie «die Protokolle der Verhandlungen» führen.

Die Praxis in den anderen Abteilungen wurde von der Arbeitsgruppe nicht überprüft.

Heute findet sich im Dossier eines Falles des Kassationshofes, der in einer mündlichen Beratung entschieden wurde, der Zirkulationsbogen, aus dem hervorgeht, dass keine Einstimmigkeit erzielt wurde. Da steht z.B., dass Richter A und Richter B für Abweisung waren und die Richter C, D und E für Gutheissung. Dass und wann eine Sitzung stattgefunden hat, ersieht man aus dem Urteilskopf, wo es heisst: «Sitzung vom ...». Ob der Fall an der Sitzung mit drei zu zwei oder mit vier zu einer Stimme oder einstimmig entschieden wurde, ist im Dossier nirgends ersichtlich. Dass das Stimmenverhältnis nicht im Urteil publiziert wird, wird hier nicht kritisiert. Es entspricht dem Schweizerischen System, dass keine «dissenting opinion» (abweichende Meinung) in das Urteil aufgenommen wird.

Die Geschäftsprüfungskommissionen sind der Meinung, dass die Entscheidfindung im Dossier bis zum Schluss überprüfbar sein sollte. Das Ergebnis der mündlichen Beratungen sollte deshalb in Form eines Verhandlungsprotokolls festgehalten werden. Dies würde sowohl der internen Transparenz unter den Richtern der Abteilung als auch der nachträglichen Nachvollziehbarkeit der Entscheidfindung dienen. Das Verhandlungsprotokoll braucht dabei kein
aufwendiges Dokument zu sein. Ein formalisiertes Protokoll mit dem Stimmenverhältnis und den Schlusspositionen der mitwirkenden Richter würde wohl genügen. Dieses könnte gleichzeitig mit der Urteilsredaktion zirkulieren, damit sich die beteiligten Richter von dessen Richtigkeit überzeugen könnten.

4. Einführung der Dreierzirkulation mit Mehrheitsbeschluss Der Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes sieht in Artikel 54 E-BGG vor, dass Entscheide in Dreierzirkulation neu auch im Mehrheitsverhältnis gefällt werden können und nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich ist. Einstimmigkeit würde nur noch bei Fünferzirkulationen verlangt (BBl 2001 4492).

Diese Änderung wird in der Botschaft des Bundesrates damit begründet, dass «die manchmal problematischen Bemühungen, in möglichst vielen Fällen Einstimmigkeit herbeizuführen», entfallen. Insbesondere das Eidgenössische Versicherungsgericht hat im Rahmen der Teilrevision des OG vom 23. Juni 2000 (AS 2000 2719) diese Neuerung gewünscht (BBl 1999 9518), mit der Begründung, dass damit das Verfah-

5704

ren beschleunigt werden könne, weil weniger mündliche Beratungen erforderlich würden. Die Neuerung wurde damals nicht in die Revision aufgenommen.

Im Lichte der Feststellungen der Arbeitsgruppe stellt sich die Frage, ob der Abteilungspräsident mit Mehrheitsentscheiden im Zirkulationsverfahren nicht noch mehr Einflussmöglichkeiten erhält (vgl. auch Ziff. 4.3.2.4) und das Problem von Missverständnissen unter den Richtern steigt. In welchem Moment kann der Präsident das Urteil als gefällt erklären? Tut er dies bei Dreierzirkulation dann, wenn zwei Richter in allen Punkten, auch den Nebenpunkten einig sind? Wie merkt der Unterlegene, dass er unterlegen ist, und wie kann sichergestellt werden, dass er eine Sitzung verlangen kann? Versuchen dann zwei Richter unter Ausschluss des dritten, sich zu einigen? Der Unterlegene könnte demnach gar nichts mehr einbringen. Wie könnten sich die beiden Mitrichter einigen, wenn der Präsident in die Minderheit versetzt würde?

Die Geschäftsprüfungskommissionen sind der Meinung, dass in der parlamentarischen Beratung geprüft werden muss, ob im Rahmen dieser Regelung ein faires und transparentes Entscheidverfahren unter den beteiligten Richtern sichergestellt werden kann und ob eine gleichberechtigte Einflussmöglichkeit der beteiligten Richter gewährleistet ist.

4.3.2

Vorwurf von Manipulationen bei der Bildung der Spruchkörper und bei der Publikation von Urteilen

4.3.2.1

Rechtliche Grundlagen und Praxis

4.3.2.1.1

Bildung der Spruchkörper

Zur Bildung der Spruchkörper durch die Abteilungspräsidenten des Bundesgerichts gibt es auf Gesetzes- und Verordnungsstufe sehr wenige Vorschriften. Nach Artikel 13 Absatz 3 des Bundesrechtspflegegesetzes (OG) bezeichnet der Abteilungspräsident die Instruktionsrichter und Berichterstatter (Referenten). Artikel 9 des Bundesgerichtsreglementes28 besagt, dass die Abteilungspräsidenten die Geschäfte unter den Mitgliedern ihrer Abteilung verteilen. Zur Grösse der Spruchkörper (Quorum) schreibt Artikel 15 Absatz 1 OG vor, dass die Abteilungen in der Regel in der Besetzung mit drei Richtern entscheiden. Über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder auf Anordnung des Abteilungspräsidenten entscheiden sie in der Besetzung mit fünf Richtern (Art. 15 Abs. 2 OG). Gemäss Praxis kann auch jeder Richter eine Fünferbesetzung verlangen. In bestimmten Fällen entscheiden die öffentlichrechtlichen Abteilungen in der Besetzung mit sieben Richtern (Art. 15 Abs. 3 OG).

Für die konkrete Bestimmung der Referenten und die Zusammensetzung der Spruchkörper durch die Abteilungspräsidenten in jedem Einzelfall verweist das Bundesgericht in einer Stellungnahme vom 4. August 2003 an die Arbeitsgruppe auf eine «gefestigte und bewährte Praxis», die sich über Jahrzehnte entwickelt habe.

Danach berücksichtigt der Präsident bei der Zuteilung der Fälle verschiedene Gesichtspunkte: Sprache, Arbeitsbelastung (z.B. grosse Fälle), fachliche Schwerpunkte, spezielle Kenntnisse oder Erfahrung in einem bestimmten Bereich, Mitwirkung in 28

Reglement für das Schweizerische Bundesgericht vom 14. Dezember 1978 (SR 173.111.1).

5705

ähnlichen Fällen, Geschlecht, Einsatz in allen Fachbereichen der Abteilung, Zufälligkeiten wie Abwesenheiten, Ferien oder Krankheit. Gemäss der vom Bundesgericht dargelegten Praxis bemüht sich der Präsident, «die Arbeit der Abteilung gerecht und gleichmässig zu verteilen. Durch Gespräche mit den Mitgliedern achtet er auf ein ausgewogenes, einvernehmliches Vorgehen.» In seiner Stellungnahme zur Botschaft des Bundesrates zur Totalrevision der Bundesrechtspflege hielt das Bundesgericht im Zusammenhang mit dem neuen Artikel 20 des Entwurfs des Bundesgerichtsgesetzes (E-BGG) fest: «Die Zuteilung der Geschäfte auf die einzelnen Richter erfolgt durch den Abteilungspräsidenten unter Berücksichtigung der Sprache, der Sachgebiete, der Sachzusammenhänge und der Auslastung, wobei im Interesse einer sachgerechten und zeitlich gleichmässigen Erledigung der Fälle eine gewisse Flexibilität unverzichtbar ist.»29. Artikel 20 E-BGG sieht vor, dass das Bundesgericht die Bildung der Spruchkörper sowie den Einsatz der Ersatzrichter und -richterinnen auf Reglementsstufe regeln soll.

Zu seiner Praxis als Präsident des Kassationshofes hielt Bundesrichter Martin Schubarth in einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber der Arbeitsgruppe fest, dass er sich stets an die oben erwähnte Praxis des Bundesgerichts gehalten habe. Bei der Referatszuteilung wies er auf die Sprache als wichtigstes Kriterium hin, da die Urteile in der Sprache der Beschwerdeführer ausgefertigt werden müssen. Im Übrigen habe es bei der Zuteilung keine festen Regeln gegeben. Die Besetzung der Richterbank bei Fünferzirkulationen sei in der Regel problemlos gewesen, da der Kassationshof nur über fünf ordentliche Richter verfüge. Besondere Fragen hätten sich im Kassationshof nur dann ergeben, wenn ein Referat von einem Ersatzrichter erstellt worden sei. Bei der Besetzung der Richterbank mit drei Richtern habe er eine fortlaufende Liste mit allen möglichen Dreierkombinationen gehabt, an deren Reihenfolge er sich in der Regel gehalten habe. Diese Liste habe insbesondere die Funktion gehabt, sicherzustellen, dass alle Richter ungefähr gleich stark belastet waren. Sie hätten überdies der Kontrolle gedient, wann ein Fall in welche Dreierbesetzung gegeben worden sei. Jedoch seien aus verschiedenen Gründen Abweichungen von der Endlosliste nötig gewesen, so vor
allem bei französischsprachigen Fällen und bei Ferienabwesenheit oder Krankheit oder wenn auf die starke Beanspruchung eines Richters mit anderen Aufgaben habe Rücksicht genommen werden müssen. Weiter hätte etwa die besondere Sachkunde eines Richters in einer Spezialmaterie zur Abweichung von der Liste geführt. Bei der Zuteilung von Fällen an Ersatzrichter und bei der Bezeichnung des dritten Richters bei Ersatzrichterreferaten habe es keine fixen Regeln gegeben.

4.3.2.1.2

Publikationspraxis des Bundesgerichts

Zur Publikation von Urteilen gelten am Bundesgericht folgende Regeln: Als publizierte Entscheide des Bundesgerichts gelten jene Urteile, die in der amtlichen Sammlung der Bundesgerichtsentscheide (BGE) publiziert worden sind. Es sind Leitentscheide, die für die Praxis der Rechtsprechung des Bundesgerichts von Bedeutung sind. Von einer Praxisänderung kann in der Regel dann gesprochen werden, wenn das Bundesgericht in einem publizierten Entscheid von einer Praxis 29

Stellungnahme des Bundesgerichts vom 23. Februar 2001, BBl 2001 5890 ff., insbes.

5896.

5706

abweicht, die sich aus einem oder mehreren früher publizierten Leitentscheiden ergibt. Jede Abteilung bestimmt selbst, welche ihrer Entscheidungen in die amtliche Sammlung aufgenommen werden (Art. 18 Bundesgerichtsreglement). Am Kassationshof entscheidet die Mehrheit der an einem Urteil beteiligten Richter darüber, ob dieses in der amtlichen Sammlung publiziert wird. Die Leitentscheide des Bundesgerichts ab 1954 sind heute auf Internet (Homepage des Bundesgerichts, www.bger.ch/jurisdiction-recht) abrufbar.

Seit dem 1. Januar 2000 wird zusätzlich ein grosser Teil der Urteile des Bundesgerichts in anonymisierter Form im Internet veröffentlicht (www.bger.ch/jurisdictionrecht). Über die Veröffentlichung der Urteile im Internet entscheidet der Abteilungspräsident. Die Veröffentlichung erfolgt nach von der Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts festgelegten Kriterien.

Am Bundesgericht gibt es zudem ein internes elektronisches Dokumentationssystem (BRADOC), in welches wichtige Erwägungen aus den Entscheiden aufgenommen werden. Es erleichtert den Richtern und Mitarbeitenden des Bundesgerichts den Überblick über die gesamte Rechtsprechung. Die an einem Fall mitwirkenden Richter können die Aufnahme einzelner Erwägungen in das System verlangen.

Seit dem 1. Januar 2003 werden sämtliche Urteile des Bundesgerichts gemäss Artikel 30 Absatz 3 BV und Artikel 6 Ziffer 1 EMRK (Gebot der öffentlichen Verkündung) in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes in Form von Dispositiv und Rubrum öffentlich aufgelegt. Diese Auflage erfolgt von gewissen in den Artikel 5 OHG und 17 OG genannten Ausnahmen abgesehen in nicht anonymisierter Form, d.h. unter Angabe der Namen der Parteien, wie sie auch in Sitzungen mit öffentlichen Beratungen regelmässig angegeben werden.

4.3.2.2

Das Gerücht eines «schubladisierten» Falles

Der Arbeitsgruppe wurde folgender schwerwiegende Vorwurf zugetragen, der als Gerücht am Bundesgericht die Runde machte: Eine Rechtsfrage sei in Fünferbesetzung am Kassationshof entschieden worden, wobei Präsident Schubarth mit seiner Meinung unterlegen sei. Das Urteil sei dann nicht verschickt, sondern für einige Monate schubladisiert worden. Dann habe der Präsident denselben Fall wieder hervor genommen und in Dreierbesetzung mit dem Richter, der zuerst mit ihm gestimmt habe, und einem Ersatzrichter neu beurteilt, wobei dann der Fall im Sinne des Präsidenten entschieden worden sei.

Zur Überprüfung dieses Vorwurfs hat die Arbeitsgruppe zunächst versucht, durch Befragungen die Quelle dieses Gerüchtes zu finden. Dieses Vorgehen führte nicht zum Ziel. Zweitens versuchte sie, mit einer systematischen Suche einen solchen oder ähnlichen Fall ausfindig zu machen. Sie hat dazu die Fallzuteilungsblätter (präsidiale Notizen über die Zuteilung der Fälle an die Richter am Kassationshof) im fraglichen Zeitraum sowie nach bestimmten Kriterien zusammengestellte Listen von Fällen verlangt. Die Fallzuteilungsblätter des Präsidenten waren bis auf einige Blätter aus der letzten Zeit am Gericht nicht mehr vorhanden. Auf Anfrage teilte Bundesrichter Schubarth der Arbeitsgruppe mit, diese Notizen seien ausschliesslich persönliche Hilfsmittel für seine Präsidialarbeit. Deshalb habe er sie in periodischen Abständen entfernt. Er wies im Übrigen darauf hin, dass sich alle rechtserheblichen Daten eines Falles, insbesondere betreffend die Besetzung der Richterbank, in den einzelnen 5707

Dossiers befinden. Die Arbeitsgruppe stellte fest, dass keine Vorschriften bestehen, die die Abteilungspräsidenten verpflichten, über ihre Fallzuteilungen an die Richter als Referenten und die Zusammensetzung der Spruchkörper Buch zu führen. Die Anordnungen der Präsidenten werden jedoch spätestens nach Abschluss der Zirkulation in die elektronische Dossierverwaltung eingegeben, wo sie eingesehen werden können.

Ohne die präsidialen Notizen über die Fallzuteilung wäre eine systematische Suche nur mit einem unverhältnismässigen Aufwand möglich gewesen. Die Arbeitsgruppe beschränkte sich deshalb darauf abzuklären, ob sich aufgrund der Verfahrensabläufe am Kassationshof und aufgrund von Praktikabilitätsüberlegungen ein solcher Fall überhaupt hätte zutragen können. Aufgrund der Anhörung aller Richter und mehrerer Gerichtsschreiber des Kassationshofes kam die Arbeitsgruppe zum Schluss, dass ein solcher Fall praktisch undenkbar ist. Ein solches Vorgehen wäre höchstwahrscheinlich nur durch ein kriminelles Vorgehen des Präsidenten wie Urkundenfälschung oder Aktenvernichtung möglich, das zudem in jedem Fall von einem Mitrichter oder von einem Gerichtsschreiber bemerkt worden wäre. Zu solchen Verdächtigungen besteht nach Meinung der Arbeitsgruppe kein Anlass.

4.3.2.3

Zwei Fälle zum Pfändungsbetrug

Am Kassationshof wurde intern nach Fällen gesucht, die Anlass zu dem vorgenannten kursierenden Gerücht gegeben haben könnten. Man kam zum Schluss, dass sich das Gerücht wahrscheinlich auf einen Fall beziehe, der innerhalb des Hauses ebenfalls zu Kritik Anlass gab und gewisse Ähnlichkeiten zum «schubladisierten» Fall hatte, der jedoch einen wesentlichen Unterschied aufwies: Während im «schubladisierten» Fall von einem unzulässigen Austausch von Richtern in ein und demselben Fall die Rede war, ging es hier um zwei verschiedene Entscheide, die im Abstand von zweieinhalb Jahren gefällt wurden.

Die Kritik zu diesen zwei Fällen lautete, der erste Fall sei in Fünferbesetzung entschieden worden, wobei Präsident Schubarth unterlegen sei. Der Präsident habe dann diesen Fall nicht publiziert. Einige Zeit später sei ein Fall mit der gleichen Rechtsfrage beim Kassationshof eingegangen, den der Präsident zusammen mit dem Richter, der im ersten Fall mit ihm in der Minderheit war, und einem Ersatzrichter in seinem Sinne entschieden habe. Dieser Fall sei auf Internet publiziert worden, und somit sei der in Dreierbesetzung gefällte Entscheid zur offiziellen Meinung des Bundesgerichts zu dieser Rechtsfrage erhoben worden. Die beiden Fälle wurden in der juristischen Fachzeitschrift «Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins ZBJV» beschrieben.30 Die Sonntags-Zeitung griff den Fall während der laufenden Untersuchung durch die Arbeitsgruppe auf und behauptete gar, bloss drei Richter hätten über eine Praxisänderung entschieden und mit der Publikation des zweiten Falles im Internet sei Schubarths Meinung zum Leiturteil geworden, nach dem sich nun alle Anwälte und Richter richteten.31

30 31

ZBJV 1999 707 ff. und ZBJV 2002 280.

Sonntags-Zeitung vom 1. Juni 2003, S. 10, «200 Urteile werden überprüft».

5708

4.3.2.3.1

Feststellungen der Arbeitsgruppe

In beiden Fällen ging es um das Thema des Pfändungsbetruges (seit dem 1. Januar 1995 wird der Tatbestand gemäss revidiertem Strafgesetzbuch «Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung» genannt). Im zweiten Fall standen allerdings noch andere komplexe Rechtsfragen zur Diskussion.

Im ersten Fall ging es im Wesentlichen um die Frage, ob sich ein Taxiunternehmer eines Pfändungsbetruges gemäss Artikel 164 des Strafgesetzbuches (in der Fassung bis zum 1. Januar 1995) schuldig gemacht hatte. Er hatte einen Taxifahrer, gegen den Pfändungen bevorstanden, zu einem Monatslohn von brutto 1500 Franken angestellt, was höchstens der Hälfte des üblichen Lohnes entsprach. Die Parteien hatten den tiefen Lohn vereinbart, weil sie verhindern wollten, dass dem Arbeitnehmer Lohn gepfändet werden konnte.

Der Fall wurde in der Besetzung der fünf ordentlichen Richter des Kassationshofes behandelt und entschieden. Im Rahmen des Zirkulationsverfahrens fand in zwei Runden eine intensive fachliche Auseinandersetzung statt, in der drei Richter insgesamt fünf schriftliche Stellungnahmen verfassten. Davon stammten zwei engagierte Gegenreferate von Präsident Schubarth und zwei vom Referenten. Nachdem im Zirkulationsverfahren keine Einigkeit unter den Richtern erzielt werden konnte, wurde der Fall an einer Sitzung mit drei zu zwei Stimmen im Sinne des Referenten und entgegen der Meinung des Präsidenten entschieden. Die Mehrheit befand, der Taxiunternehmer sei zu Recht wegen Pfändungsbetrugs schuldig gesprochen worden, weil der mit dem Taxichauffeur abgeschlossene Arbeitsvertrag zu einem viel zu tiefen Lohn sittenwidrig gewesen sei, und wies die Nichtigkeitsbeschwerde ab. Der Entscheid wurde nicht in der amtlichen Sammlung der Bundesgerichtsentscheide (BGE) publiziert, nachdem sich keiner der Richter für eine Publikation ausgesprochen hatte. Die wesentlichen Erwägungen wurden jedoch in das interne Dokumentationssystem BRADOC aufgenommen.

Im zweiten Fall ging es um die Frage, ob sich ein betriebener Angestellter einer AG, deren Alleinaktionärin seine Ehefrau war, eines Pfändungsbetruges schuldig machte, weil er seinen Lohn auf das betreibungsrechtliche Minimum reduziert hatte, so dass seine Gläubiger nichts aus seinem Lohn ausbezahlt erhalten konnten. Daneben warf der Fall weitere komplexe Fragen auf. Präsident Schubarth teilte
den Fall einem Ersatzrichter zu, der in seinem Referat zu diesem Punkt Antrag auf Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde stellte, was in Bezug auf die zur Diskussion stehende Rechtsfrage bedeutete, dass ein Pfändungsbetrug verneint werden sollte. Präsident Schubarth legte zur Behandlung des Falles eine Dreierbesetzung fest. Ausser ihm selbst (der Abteilungspräsident wirkt normalerweise bei jedem Fall mit) war jener Richter als dritter Richter beteiligt, der im früheren Fall zusammen mit Schubarth in der Minderheit geblieben war. Dieser Richter stellte im Rahmen des Zirkulationsverfahrens einen Gegenantrag auf Abweisung der Nichtigkeitsbeschwerde. In seinen schriftlichen Bemerkungen wies er auf den früheren Entscheid hin und legte diesen sowie die im Dokumentationssystem BRADOC enthaltenen Erwägungen aus diesem Fall dem Dossier bei. Er erklärte vor der Arbeitsgruppe, dass er zwar mit dem ersten Entscheid nicht einverstanden gewesen sei, dass es im zweiten Fall jedoch Abweichungen im Sachverhalt gegeben habe, die ihn zu einer Abweisung bewogen. Präsident Schubarth verfasste ­ als letzter in der Dreierzirkulation ­ ebenfalls schriftliche Bemerkungen, in denen er auf den ersten Entscheid einging. Dieser sei «ein Urteil, von dem auch die damalige Mehrheit heute nicht mehr überzeugt ist, dass es 5709

stimmt.» Weil in der Zirkulation keine Einigung erzielt wurde, wurde der Fall an einer Sitzung entschieden. Die Nichtigkeitsbeschwerde wurde in diesem Punkt im Sinne des Antrages des Ersatzrichters gutgeheissen. Das Urteil wurde im Internet aufgeschaltet, aber nicht in der amtlichen Sammlung der Bundesgerichtsentscheide publiziert. Eine Erwägung wurde in die interne Dokumentation BRADOC aufgenommen.

Die überwiegende Mehrheit der zu diesem Fall befragten Richter und Gerichtsschreiber ist aus der Retrospektive der Auffassung, man hätte auch im zweiten Fall in einer Fünferbesetzung entscheiden sollen, da in der Urteilsbegründung eine allgemeine Aussage gemacht wurde, die im Widerspruch zum früheren Fünferentscheid steht. Als nicht korrekt wurde auch die Tatsache bezeichnet, dass der erste Entscheid im zweiten Entscheid nicht zitiert wurde. In diesem Punkt gehen die Meinungen allerdings auseinander, da nichtpublizierte Entscheide nur ausnahmsweise in späteren Entscheiden zitiert werden.

4.3.2.3.2

Bewertung des Vorgehens bei den Pfändungsbetrugsfällen durch die Geschäftsprüfungskommissionen

Die Kritik an Bundesrichter Martin Schubarths Vorgehen als Präsident des Kassationshofes im oben dargestellten Fall geht dahin, er habe eine ihm wichtige Rechtsfrage in seinem Sinn entscheiden und als Praxis des Kassationshofes einführen wollen, indem er im zweiten Fall den Spruchkörper so zusammensetzte, dass die drei Richter mit entgegengesetzter Meinung ausgeschaltet waren und er zusammen mit dem Richter, der gleicher Meinung gewesen war wie er, in einer Dreierbesetzung die Mehrheit bilden würde. Weiter wird unterstellt, dass er dem zweiten Urteil Nachachtung verschaffen wollte, indem er es auf Internet publizierte, während er den ersten Entscheid nicht veröffentlicht habe. Die Geschäftsprüfungskommissionen bewerten die oben dargestellten Feststellungen wie folgt: Der erste Entscheid wurde in Fünferbesetzung nach einer fairen und transparenten Auseinandersetzung entschieden. Die Tatsache, dass sich niemand, auch nicht der Referent, für die Publikation des Entscheides in der amtlichen Sammlung ausgesprochen hat, lässt darauf schliessen, dass die Richter zumindest noch Zweifel daran hatten, ob in der zur Diskussion stehenden Rechtsfrage im Rahmen dieses Falles bereits eine wegweisende und tragfähige Lösung gefunden worden war. Die Frage, ob der Fall auf Internet veröffentlicht werden sollte, stellte sich damals noch nicht, da der Entscheid vor dem 1. Januar 2000 gefällt worden war.

Aus den Akten geht hervor, dass Bundesrichter Schubarth in beiden Fällen seine Auffassung mit Engagement verteidigte. Die zur Diskussion stehende Rechtsfrage war ihm wichtig. Doch deutet auch im zweiten Fall nichts auf eine Unregelmässigkeit beim Verfahren zur Entscheidfindung hin. Es erscheint allerdings unschön, dass als dritter Richter gerade jener Richter eingesetzt wurde, der im ersten Fall mit Schubarth in der Minderheit war. Schubarth führt dafür nachvollziehbare Gründe wie die Belastung der anderen Richter durch grosse Fälle an. Dass er den Fall nicht in eine Fünferbesetzung geben wollte, begründet er damit, dass dieser komplex und deshalb zeitaufwendig war und er darum nicht fünf Richter damit beanspruchen wollte. Auch die beiden Mitrichter hatten Kenntnis davon, dass in einem früheren

5710

Entscheid ein ähnlicher Sachverhalt anders entschieden worden war. Sie hätten eine Aufstockung auf fünf Richter verlangen können, was sie nicht getan haben.

Von einer Änderung der Rechtsprechung in einer Dreierbesetzung kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil weder der erste noch der zweite Entscheid in der amtlichen Sammlung publiziert wurden. Der zweite Entscheid wurde zwar auf dem Internet veröffentlicht und ist somit leichter zugänglich als der erste Entscheid.

Er kann aber nicht als Leitentscheid des Bundesgerichts bezeichnet werden. Dass der erste Entscheid nicht auf Internet erschien, liegt daran, dass er gefällt wurde, bevor die Veröffentlichung der meisten Urteile auf Internet eingeführt wurde.

Insgesamt kommen die Geschäftsprüfungskommissionen zum Schluss, dass Bundesrichter Schubarth nicht nachgewiesen werden kann, dass er seinen grossen Ermessensspielraum als Präsident bei der Besetzung des Spruchkörpers im zweiten Fall absichtlich dazu missbraucht hätte, einen Entscheid in seinem Sinne herbeizuführen.

4.3.2.4

Möglichkeiten der Einflussnahme bei der Bildung der Spruchkörper

Der Präsident einer Abteilung des Bundesgerichts verfügt über einen beträchtlichen Ermessensspielraum bei der Bildung der Spruchkörper. Er teilt die Fälle den Richtern und Ersatzrichtern als Referenten zu, bestimmt die Zusammensetzung der Spruchkörper und ist an jedem Fall mitbeteiligt. Die Mitrichter können zwar Wünsche anbringen, etwa Referate zu bestimmten Themen zugeteilt zu erhalten, aber ihnen kommt kein formalisiertes Mitspracherecht zu. Der Präsident kann zudem anordnen, dass ein Fall in Fünferbesetzung entschieden wird (vgl. Ziff. 4.3.2.1).

Der grosse Spielraum des Präsidenten dient einerseits einer effizienten Arbeitsweise und ermöglicht, auf die verschiedensten Gegebenheiten wie Sprache, Sachgebiete, besondere Kenntnisse und Auslastung flexibel zu reagieren. Andererseits erlauben ihm die grossen Freiheiten bei der Zusammensetzung der Richterbank ohne Zweifel, weit stärker auf die Rechtsprechung Einfluss zu nehmen, als es die anderen Richter der Abteilung können.

Am grössten ist der Spielraum des Präsidenten bei Dreierbesetzungen, weil hier aus dem Richterkollegium ausgewählt werden muss. Allerdings werden in Dreierbesetzungen nicht Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung entschieden, und Dreierentscheide werden in aller Regel nicht als Leitentscheide in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. Seit dem 1. Januar 2000 werden nun jedoch auch die Dreierentscheide, die von einer gewissen Bedeutung sind, auf dem Internet zugänglich gemacht. Wieweit diese Entscheide die Tätigkeit der Gerichte und Anwälte wegen des vereinfachten Zugangs beeinflussen, ist noch wenig geklärt.32 Für die Rechtsprechung von weit grösserer Bedeutung ist die Zusammensetzung der Spruchkörper in Fünferbesetzung, weil Grundsatzentscheide und Rechtsprechungsänderungen in Fünferbesetzung gefällt werden müssen (Art. 15 Abs. 2 OG). Das Problem der Auswahl der Richter bei Fünferbesetzungen stellt sich im Kassationshof mit fünf ordentlichen Richter weniger als in den übrigen Abteilungen, die sechs 32

Zur Frage, wie sich die Veröffentlichung von Urteilen im Internet auf die Sorgfaltspflicht der Anwälte auswirkt, siehe Caroline Flühmann, Patrick Sutter, «Duty to browse», Neue Zürcher Zeitung vom 25. Juni 2003, S. 14.

5711

(II. öffentlichrechtliche Abteilung und die beiden Zivilabteilungen) bzw. sieben (I. öffentlichrechtliche Abteilung) ordentliche Richter umfassen.

Es stellt sich die Frage, wie die Zuteilung der Fälle an die Referenten und die Bildung der Spruchkörper ­ nicht nur am Bundesgericht ­ möglichst gerecht und neutral erfolgen kann. Grundsätzlich haben Kollegialgerichte den Sinn, dass Entscheide durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Standpunkten diskursiv zustande kommen. Dadurch erhöht sich die Chance eines richtigen und gerechten Urteils33.

Dabei soll die Mitwirkung der Mitglieder des Kollegialgerichts grundsätzlich gleichwertig sein. Deshalb sollte einem Ungleichgewicht im Spruchkörper durch zu grosse Machtkonzentrationen entgegengewirkt werden. Mit der Einführung des Zirkulationsverfahrens als Folge der permanenten Überlastung des Bundesgerichts 1992 ist das Ungleichgewicht innerhalb des Spruchkörpers grösser geworden. Im Zirkulationsverfahren haben der Referent und damit auch der Präsident, der diesen bestimmt und überdies das Verfahren leitet, grösseren Einfluss, weil es weniger zu diskursiven Auseinandersetzungen unter den mitwirkenden Richtern kommt. Heute werden am Bundesgericht insgesamt über 97 Prozent der Urteile im Zirkulationsverfahren entschieden, am Eidgenössischen Versicherungsgericht (EVG) gar über 99 Prozent.

Wie erwähnt ermöglicht die weitgehende Handlungsfreiheit des Präsidenten einerseits eine effiziente Zuteilung und Behandlung der Dossiers. Andererseits ist aber auch grosses Gewicht auf die individuelle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter bei der Zusammensetzung der Spruchkörper zu legen. Der vom Bundesrat im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege vorgeschlagene Artikel 20 des Entwurfs des Bundesgerichtsgesetzes (E-BGG)34, der das Bundesgericht verpflichtet, die Bildung der Spruchkörper sowie den Einsatz der Ersatzrichter und -richterinnen auf Reglementsstufe zu regeln, ist deshalb zu begrüssen. Die Regelung belässt dem Bundesgericht genügend Spielraum, bei der Ausgestaltung des Reglementes auf eine effiziente Arbeitsweise Rücksicht zu nehmen.

Zu denken ist aber auch an eine angemessene Mitsprache der Mitrichter. Die Richter einer Abteilung haben kein formalisiertes Mitspracherecht bei der Bildung der Spruchkörper. Zur Frage, wie weit die Richter
heute Einblick in die Fallzuteilung durch den Präsidenten und die Zusammensetzung der Spruchkörper erhalten, erklärte das Bundesgericht in seinen Stellungnahmen vom 4. August 2003 und vom 29. September 2003, dass die Zuteilung an den Referenten und den mitwirkenden Gerichtsschreiber auf dem Deckblatt des Dossiers festgehalten werde und diese Angaben nach der Zuteilung in der elektronischen Dossierverwaltung vermerkt würden. Einige Präsidenten führten zudem eine eigene Kontrolle. Die Präsidenten könnten bei der Zuteilung die statistischen Angaben des Dossierprogramms beiziehen. Die Zuteilung an die weiteren mitwirkenden Richter erfolge durch Eintragung auf dem Zirkulationsbogen. Bei Anordnung einer Sitzung werde die Besetzung der Richterbank nach Anweisung des Präsidenten auf der Sitzungsliste festgehalten.

Alle Zuteilungen und die Mitwirkenden seien in der elektronischen Dossierverwaltung enthalten und für sämtliche Richter einsehbar. Alle Urteile, die in das interne Dokumentationssystem BRADOC aufgenommen werden, und alle veröffentlichten

33 34

Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Verfassungsrechtliche Anforderungen an Richter und Gerichte, Bern, 2001, S. 338.

BBl 2001 4484

5712

Urteile zirkulierten zudem nach der Zustellung des begründeten Urteils bei allen Richtern der Abteilung in Papierform.

In der Praxis ist es allerdings ­ zumindest im Kassationshof ­ so, dass bei Dreierzirkulationen die Angaben über den dritten Richter und in vielen Fällen auch über den Gerichtsschreiber erst nach Abschluss der Zirkulation in das System eingegeben werden. Die Richter können also erst im Nachhinein erfahren, in welchen Fällen und zu welchen Rechtsfragen sie nicht beigezogen wurden. Sie müssen überdies die entsprechenden Informationen gezielt im elektronischen System suchen.

Nach Meinung der Geschäftsprüfungskommissionen könnte durch eine angemessene Mitsprache der Mitrichter bei der Bildung der Spruchkörper durch den Präsidenten das Gleichgewicht unter den Richtern im Richterkollegium verbessert werden. Das Bundesgericht sollte die Einführung entsprechender Möglichkeiten bereits unter dem geltenden Recht, insbesondere aber im Hinblick auf die Umsetzung von Artikel 20 E-BGG prüfen.

4.3.3

Vorwurf des eigenmächtigen und unkollegialen Verhaltens von Bundesrichter Martin Schubarth als Präsident

4.3.3.1

Allgemeine Aussagen der Richter des Kassationshofes

Bundesrichter Martin Schubarth wurde nachgesagt, er sei als Präsident des Kassationshofes eigenmächtig und angeblich unkorrekt vorgegangen, was auch in der Presse nach den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts im Dezember 2002 berichtet wurde35. Die Arbeitsgruppe forderte alle Bundesrichter des Kassationshofes sowie ein ehemals am Kassationshof tätiger Bundesrichter auf, zu diesem Punkt konkret Stellung zu nehmen.

Die Befragung ergab allgemein folgendes Bild: Bundesrichter Martin Schubarth sei generell ein sehr eigenmächtiger Präsident gewesen, der seine präsidialen Befugnisse voll ausgeschöpft habe. Er habe seine präsidiale Verantwortung sehr eigenwillig wahrgenommen, teilweise auch gegenüber Gerichtsschreibern. Er sei manchmal unkollegial, provokativ und zum Teil auch unkorrekt vorgegangen. Das Verfahren sei nicht immer genügend transparent und klar gewesen. Man habe immer wieder intervenieren und verlangen müssen, Schritt für Schritt vorzugehen, wie dies in den anderen Abteilungen üblich sei. Er habe die Abteilung auch in gerichtsinternen Angelegenheiten oft nach eigenem Gutdünken geführt und die Meinung der Mitrichter dabei zuweilen ignoriert.

Schubarth sei ein ausgezeichneter Jurist, habe einen sehr vifen Geist und z.T. unkonventionelle Ideen. Doch seien seine Ideen und seine Auffassung für ihn sakrosankt gewesen. Wenn man sich seiner Meinung nicht habe unterziehen wollen, sei er sehr aufsässig geworden und habe alles versucht, um diese im Verfahren, in einer zweiten oder dritten Runde oder bei der Begründung des Urteils einzubringen, wogegen sich die andern wieder hätten wehren müssen. Er habe den am Kassations-

35

NZZ vom 12. Dezember 2002, S. 19, «Alle 29 Bundesrichter wiedergewählt ­ Auch Martin Schubarth klar über dem absoluten Mehr».

5713

hof verwendeten «grünen Stempel»36 oft dazu gebraucht, die Diskussion immer wieder neu zu führen, wenn es darum gegangen sei, seine Meinung durchzusetzen.

Es sei auch vorgekommen, dass er im Laufe einer Sitzung, wenn er mit dem absehbaren Ergebnis nicht einverstanden gewesen sei, die Sitzung unterbrochen und den Fall vertagt habe. Wenn er in einer Sache unterlegen sei, habe er das Thema bei der nächsten Gelegenheit wieder auf den Tisch gebracht. Es sei für die Kollegen oft ermüdend gewesen, immer gleiche und bereits entschiedene Fragen nochmals diskutieren zu müssen, nur weil die Lösungen Bundesrichter Schubarth nicht gefallen hätten.

Die angehörten Richter betonten jedoch übereinstimmend, dass es ihres Wissens zu keinen offensichtlichen Amtspflichtverletzungen, illegalen Handlungen oder zu strafrechtlich relevanten Vorfällen gekommen sei. Es sei ihnen auch in keinem Fall bekannt, dass ein Urteil des Kassationshofes in einer manipulierten Form oder anderweitig unkorrekt das Haus verlassen habe. Wären solche Fälle vorgekommen, hätten sie dies nicht akzeptiert und wären unverzüglich eingeschritten.

4.3.3.2

Beispiele von eigenmächtigem Vorgehen und von unkollegialem Verhalten Bundesrichter Martin Schubarths

Im Folgenden werden einige Beispiele zur Illustration der Aussagen der Richter des Kassationshofes aufgeführt: 1. Fehlende Zirkulation der Schlussredaktion von Urteilen Die Arbeitsgruppe überprüfte zwei Fälle, bei denen Präsident Martin Schubarth die Schlussredaktion der Urteile bei den Richtern nicht mehr in Zirkulation gegeben haben soll, obwohl zuvor an Redaktionssitzungen bedeutende Differenzen in der Begründung diskutiert worden seien und die Mehrheit gegen den Präsidenten entschieden habe.

Im ersten Fall, der zu fünft entschieden wurde, war Präsident Schubarth Referent und beantragte die Abweisung der Beschwerde. In der Zirkulation gab es unter den Richtern keine Einigkeit. Das heisst, es musste eine mündliche Beratung angesetzt werden. In der Sitzung wurde erst in einem wesentlichen Punkt ein Entscheid getroffen. Die Mehrheit kam zu einem anderen Schluss als der Referent, nämlich zur Gutheissung der Beschwerde. Der aufgrund der Sitzung erstellte zweite Urteilsentwurf zirkulierte erneut und stiess wieder auf einen Einspruch. Man bemerkte, dass man einen Punkt nicht ausdiskutiert hatte. Deshalb kam der Fall an eine zweite Sitzung, an der entschieden wurde. Man nahm dabei eine Praxisänderung vor. Die daraufhin zirkulierende Urteilsredaktion stiess erneut ­ diesmal bei drei Richtern 36

Der «grüne Stempel» wird am Kassationshof seit längerer Zeit als Arbeitsinstrument verwendet. Er beinhaltet den Text «Urteilsdatum nach der Zirkulation und nach der Genehmigung des Urteilsentwurfs» und wird auf den Zirkulationsbogen gesetzt, wenn die Meinungen der Richter im Wesentlichen gemacht sind und sich Einstimmigkeit abzeichnet, aber der Entscheid noch ausgesetzt werden muss, z.B. weil noch eine Vernehmlassung ausstehend ist, oder weil es angezeigt erscheint, den Entscheid nochmals zu überdenken. Der Stempel bedeutet, dass ein Fall noch nicht endgültig entschieden ist und man auf das provisorisch Entschiedene noch zurückkommen kann. Erst mit dem Eintragen des Datums ist der Fall entschieden.

5714

und wegen einer anderen Erwägung ­ auf Widerstand. An einer Redaktionssitzung wurde gegen den im Auftrag von Präsident Schubarth erstellten Redaktionsentwurf und für eine andere Begründung entschieden. Die aufgrund der Redaktionssitzung erstellte letzte Fassung des Urteils liess Präsident Schubarth bei den Richtern nicht mehr zirkulieren, obwohl darin eine entscheidende Erwägung völlig neu formuliert worden war. Die Erwägung wurde in der amtlichen Sammlung publiziert.

Nach Meinung eines Bundesrichters des Kassationshofes lag hier eine Eigenmächtigkeit des Präsidenten vor, die man auch als Unkorrektheit bezeichnen könnte, denn die Schlussredaktion hätte hier eindeutig noch einmal bei den Richtern zirkulieren müssen, da sie eine völlig neue Begründung in einem entscheidenden Punkt enthielt.

Dies hätte sich umso mehr aufgedrängt, als zuvor mehrere Urteilsentwürfe auf Widerstand gestossen waren und die Schlussfassung die Mehrheitsmeinung der Richter wiedergeben musste, wobei Schubarth unterlegen war. Im Nachhinein habe er aber festgestellt, dass die Mehrheitsmeinung korrekt umgesetzt worden sei. Deshalb habe sich ein Rückruf des Urteils nicht aufgedrängt.

Im zweiten Fall war ebenfalls Bundesrichter Schubarth Referent. Er beantragte die Gutheissung der Beschwerde, d.h. die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. Alle Richter des Kassationshofes stimmten im Ergebnis der Gutheissung zu, waren jedoch mit der im Referat enthaltenen Begründung in wesentlichen Punkten nicht einverstanden. Deshalb kam es zu einer Redaktionssitzung, an der über die Begründung diskutiert wurde. Der Gerichtsschreiber Schubarths hatte für diese Redaktionssitzung einen zweiten Urteilsentwurf unterbreitet, anhand dessen die Begründung und die Formulierung verschiedener Erwägungen im Einzelnen diskutiert wurden.

Es sei eine sehr emotionale Sitzung gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil Präsident Schubarth mit all seinen Anträgen unterlegen sei, berichtete ein Richter des Kassationshofes. Die Mehrheit entschied, dass eine Erwägung wesentlich gekürzt und eine weitere Erwägung neu gefasst werden müsse. Gestützt auf diese Redaktionssitzung wurde dann eine Schlussredaktion ausgearbeitet, die bei den Richtern nicht mehr zirkulierte.

Nach Auffassung eines Richters des Kassationshofes hätte auch diese Schlussredaktion nochmals bei den
Richtern zirkulieren müssen, da aufgrund der Redaktionssitzung grössere Änderungen an zwei Erwägungen vorgenommen werden mussten.

Hinzu komme, dass Präsident Schubarth, der in allen Punkten unterlegen sei, schlecht in der Lage gewesen sei, zu beurteilen, ob diese neue Fassung die Mehrheitsmeinung richtig wiedergebe. Es hätte sich deshalb aufgedrängt, sie im Sinne der Transparenz allen Richtern zur Kontrolle nochmals zu unterbreiten. Im Ergebnis sei aber auch dieses Urteil korrekt gewesen, wie er nachträglich habe feststellen können.

Der betreffende Bundesrichter teilte Präsident Schubarth mit, dass er mit diesem Vorgehen nicht einverstanden sei. Dieser habe sich allerdings wenig einsichtig gezeigt und gefunden, eine weitere Zirkulation sei zu wenig effizient und er wolle darauf nicht eintreten. Bundesrichter Schubarth erklärte dazu in seiner Stellungnahme an die Arbeitsgruppe, er sei bereit gewesen, in Zukunft bei einer Redaktionssitzung jeweils ausdrücklich abzusprechen, ob der Entwurf noch einmal zirkulieren solle.

Der Bundesrichter erklärte, dass dem Präsidenten tatsächlich ein gewisses Ermessen zukomme und dass es keine schriftlichen Regeln für das Vorgehen in solchen Fällen gebe. Es bestehe jedoch eine langjährige und klare Praxis. Andere Abteilungspräsidenten, mit denen er über diese Fälle gesprochen habe, hätten jedenfalls kein Ver5715

ständnis für dieses Vorgehen Schubarths gezeigt. Ähnliche Fälle, wie die zwei besprochenen, sind nach Aussage des Bundesrichters in regelmässigen Abständen vorgekommen und führten innerhalb des Kassationshofes zu Diskussionen.

2. Eigenmächtiges Vorgehen in einem Ersatzrichterfall Ein Bundesrichter des Kassationshofes erläuterte vor der Arbeitsgruppe folgenden Fall, in dem er als dritter Richter mitwirkte: Ein Ersatzrichter war Referent in einem Fall, der in Dreierbesetzung entschieden wurde. Er beantragte Gutheissung der Beschwerde. Der dritte Richter stimmte dem Referat mit einer kurzen Bemerkung zu. Bundesrichter Schubarth als Präsident vermerkte am folgenden Tag auf dem Zirkulationsbogen, dass er unter dem Vorbehalt der Vernehmlassung bei der Staatsanwaltschaft zustimme. Eine Vernehmlassung musste noch eingeholt werden, weil ein Antrag auf Gutheissung vorlag. Der Präsident setzte gemäss der geübten Praxis am Kassationshof den grünen Stempel «Urteilsdatum nach der Zirkulation und nach der Genehmigung des Urteilsentwurfs» auf den Zirkulationsbogen (zum «grünen Stempel» siehe Ziff. 4.3.3.1). Nach dem Eingang der Vernehmlassung legte der Präsident einen Urteilsentwurf vor mit einem Antrag, der entgegen dem Resultat der ersten Zirkulation und entgegen dem Referat des Ersatzrichters, welchem der Präsident zugestimmt hatte, auf Abweisung lautete.

Er hatte offensichtlich den Gerichtsschreiber beauftragt, einen Gegenentwurf zu verfassen, denn von sich aus hätte dieser nicht einen Urteilsentwurf entgegen dem Referat und dem Resultat der Zirkulation verfasst. Dazu vermerkte der Präsident: «Im Lichte des beiliegenden Urteilsentwurfes scheint mir abweichend vom Zirkulationsergebnis eine Abweisung angebracht.» Weiter schrieb er: «Wenn dem nicht gefolgt wird, bitte angeben, ob Beratung verlangt wird.» Der dritte Richter verlangte daraufhin eine Sitzung, an der der Präsident unterlag.

Der dritte Bundesrichter schilderte diesen Fall vor der Arbeitsgruppe als Beispiel für ein in seinen Augen unkorrektes und unkollegiales Verhaltens eines Präsidenten.

3. Missachtung eines Referats eines Mitrichters und Verweigerung einer Sitzung Ein Bundesrichter des Kassationshofes erläuterte folgenden Fall als Beispiel, bei welchem Bundesrichter Schubarth die Grenze des korrekten Verhaltens als Abteilungspräsident überschritten
habe: Der berichtende Bundesrichter war Referent in einem Fall, der zu fünft entschieden wurde, bei dem es um eine Nichtigkeitsbeschwerde und eine konnexe staatsrechtliche Beschwerde ging. Er stellte in einem selbst verfassten Referat Antrag auf Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde und auf Gegenstandslosigkeit der staatsrechtlichen Beschwerde. Der zweite und der dritte Richter im Zirkulationsverfahren folgten dieser Auffassung ohne Kommentar, der vierte Richter war mit dem Antrag zur Nichtigkeitsbeschwerde mit Formulierungsänderungen einverstanden, wollte aber die staatsrechtliche Beschwerde behandeln.

Der Präsident schickte dem Referenten das Dossier ohne eigenen Kommentar zum Fall zurück, mit der Bitte um Stellungnahme zur Auffassung des vierten Richters.

Der Referent begründete erneut schriftlich, weshalb er an seiner Haltung festhalte, insbesondere am Verzicht auf die Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde, und machte zudem Vorschläge, wie man den Entscheid der Nichtigkeitsbeschwerde

5716

anders formulieren könnte, um den Einwendungen des vierten Richters gerecht zu werden.

Einige Tage später kam der Gerichtsschreiber, der als Assistent des Referenten für die Urteilsredaktion vorgesehen war, zu seinem Chef und erklärte, er habe soeben einen Zettel vom Präsidenten mit der Aufforderung erhalten, er solle zwei Urteilsentwürfe (für die Nichtigkeitsbeschwerde und für die staatsrechtliche Beschwerde) im Sinne des vierten Richters verfassen, da er selber noch keine Zeit gehabt habe, den Fall anzuschauen. Der Gerichtsschreiber wusste nicht, was er tun sollte. Als persönlicher Assistent des Referenten erhielt er dessen Antrag und gleichzeitig eine anders lautende Anweisung des Abteilungspräsidenten. Daraufhin schickte der Referent das Dossier mit der Bitte um Ansetzung einer Sitzung an den Präsidenten zurück. Der Präsident rief daraufhin den Gerichtsschreiber zu sich und legte ihm dar, weshalb er keine Sitzung wolle, und verlangte, dass er diese beiden Entwürfe zu machen habe. Für den Referenten waren damit die Grenzen überschritten. Er nahm das Dossier, ging zu Bundesrichter Schubarth ins Büro und sagte ihm, das Dossier bleibe bei ihm unter Verschluss, bis eine Sitzung abgehalten werde.

4. Missachtung von Mehrheitsentscheiden des Kassationshofes und der Präsidentenkonferenz Einzelne Bundesrichter des Kassationshofes erklärten der Arbeitsgruppe, dass es immer wieder vorgekommen sei, dass sich Bundesrichter Schubarth als Präsident über Mehrheitsentscheide des Kassationshofes in internen Angelegenheiten oder auch über Entscheide der Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts hinweggesetzt bzw. Beschlüsse nicht umgesetzt habe. Folgende Beispiele wurden genannt: ­

Der Kassationshof hatte einen seiner Gerichtsschreiber der Anklagekammer zuzuteilen, weil es dort zu einem Wechsel gekommen war. Präsident Schubarth schlug für diese Aufgabe einen langjährigen und bewährten Gerichtsschreiber vor. Die vier Mitrichter erklärten sich damit nicht einverstanden.

Einige Wochen später schlug der Präsident den Mitrichtern an einer Abteilungssitzung erneut den besagten Gerichtsschreiber vor. Die vier Mitrichter sprachen sich erneut dagegen aus, weil der vielseitig einsetzbare Gerichtsschreiber ihrer Meinung nach wegen grosser Arbeitsbelastung und Krankheitsfällen in der Abteilung nicht zu entbehren war. Dessen ungeachtet stellte der Präsident diesen Gerichtsschreiber der Anklagekammer zur Verfügung.

­

Bei der Frage der Anonymisierung von Urteilen, die im Internet veröffentlicht werden, wollten vier Mitglieder des Kassationshofes entgegen der Meinung von Präsident Schubarth die Anonymisierung so verstanden wissen, dass z.B. Namen bekannter Personen, deren Fall die ganze Schweiz kennt, nicht anonymisiert werden sollten. Dieser Mehrheitsmeinung leistete der Präsident keine Folge. Es störte ihn nicht, dass vier Richter anderer Meinung waren.

­

Es wurde im Quervergleich innerhalb des Bundesgerichts festgestellt, dass der Kassationshof weit unter 50 Prozent der Entscheide auf Internet veröffentlichte, während es bei der I. öffentlichrechtlichen Abteilung etwa 80 Prozent der Urteile waren, die im Internet erschienen. An einer Sitzung mit Bundesrichter Schubarth als Abteilungspräsident wurde mit vier gegen Schubarths Stimme beschlossen, die Praxis des Kassationshofes zu ändern 5717

und mindestens eine mittlere Quote zu erreichen. Der Präsident setzte diesen Beschluss in der Folge nicht um.

­

4.3.3.3

Die Präsidentenkonferenz des Bundesgerichts entschied ebenfalls sinngemäss, dass alle Urteile, die der Presse abgegeben wurden, im Internet veröffentlicht werden sollten. Dies waren durchschnittlich über 50 Prozent der Urteile. Auch diesen Beschluss setzte Schubarth als Präsident des Kassationshofes nicht um.

Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen

In zwei näher überprüften Fällen (Beispiel 1 unter Ziff. 4.3.3.2) haben die Geschäftsprüfungskommissionen ein eigenmächtiges Vorgehen des Präsidenten bei der Schlussredaktion der Begründung des Urteils festgestellt, indem er die endgültige Version der Urteile nicht mehr unter den beteiligten Richtern zirkulieren liess, obwohl zuvor an Redaktionssitzungen bedeutende Differenzen in der Begründung diskutiert worden waren und die Mehrheit gegen den Präsidenten entschieden hatte.

Die Urteilsbegründungen entsprachen zwar im Ergebnis den Beschlüssen der Redaktionssitzungen, aber die Richterkollegen wurden der Möglichkeit beraubt, sich selbst von der Richtigkeit der Urteilsbegründungen zu überzeugen. Das Vorgehen des Präsidenten stand im Widerspruch zur sonst am Bundesgericht geübten Praxis der Mitwirkung der Richter in der Urteilszirkulation. Damit hat Bundesrichter Schubarth seinen präsidialen Ermessensspielraum überdehnt und das Kollegialitätsprinzip missachtet.

In dem von der Arbeitsgruppe überprüften Fall, wo ein Ersatzrichter ein Referat verfasst hatte (Beispiel 2 unter Ziff. 4.3.3.2), änderte Präsident Schubarth plötzlich seine Meinung, nachdem der Fall so gut wie entschieden war. Dies war zwar zu diesem Zeitpunkt noch möglich, aber statt sofort eine Sitzung anzusetzen, da der Ersatzrichter als Referent und der dritte Richter ja anderer Meinung waren, erteilte er einem Gerichtsschreiber den Auftrag, ein Gegenreferat zum Referat des Ersatzrichters zu verfassen, und liess mit seiner Notiz, wer seiner Meinung nicht folge, solle angeben, ob Beratung verlangt werde, durchblicken, dass seiner Meinung wohl kaum widersprochen werden könne. Auf diese Weise hätte er seine Meinung ohne viel Aufwand durchbringen können. Der dritte Richter verlangte jedoch eine Sitzung, und in der Folge unterlag der Präsident. Mit seinem Vorgehen hat Präsident Schubarth einerseits einen Ersatzrichter und einen Mitrichter desavouiert und andererseits mit seiner eigenmächtigen Auftragserteilung an den Gerichtsschreiber unnötige Arbeit verursacht.

In einem weiteren von der Arbeitsgruppe überprüften Fall, bei dem es um zwei konnexe Beschwerden ging, hatte ein Mitrichter des Kassationshofes ein selbstverfasstes Referat vorgelegt (Beispiel 3 unter Ziff. 4.3.3.2). Präsident Schubarth verletzte die Kollegialität diesem gegenüber
schwer, indem er, ohne den Fall selbst studiert zu haben, sich anmasste, dem persönlichen Assistenten dieses Richters hinter dessen Rücken eine Anweisung zu erteilen, die klar im Widerspruch zum Antrag des Richters stand. Obwohl daraufhin der Referent berechtigt war, eine Sitzung zu verlangen (Art. 36b OG), die der Präsident angesichts einer sich abzeichnenden Uneinigkeit von sich aus hätte ansetzen müssen, verweigerte Schubarth zunächst die Einberufung einer solchen und versuchte erneut, Druck auf den persönlichen Assistenten des 5718

Referenten auszuüben. Mit Blick auf eine kollegiale Zusammenarbeit in einem Richterkollegium ist dieses Vorgehen inakzeptabel.

Die von den Bundesrichtern des Kassationshofes dargelegten Beispiele machen deutlich, dass Bundesrichter Schubarth als Abteilungspräsident manchmal eigenmächtig und unkollegial vorgegangen ist. Er hat seine präsidialen Kompetenzen sehr weitgehend ausgeschöpft und zuweilen die Grenzen des korrekten Vorgehens überschritten. Nicht selten ging es dabei um Bemühungen Schubarths, seiner Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Charaktereigenschaften Schubarths haben unter anderem zu grossen Spannungen innerhalb des Richterkollegiums am Kassationshof geführt. Sie geben jedoch keinen Grund zur Annahme, dass deswegen Urteile des Bundesgerichts fragwürdig oder gar unhaltbar ausgefallen wären. Die eigenmächtige Amtsführung von Bundesrichter Schubarth hat aber das Klima belastet und war der Qualität der Arbeit des Kassationshofes nicht förderlich (vgl. dazu auch Ziff. 5).

4.4

Schlussfolgerungen

Aufgrund der Untersuchung von behaupteten Unregelmässigkeiten am Kassationshof in Strafsachen unter dem Präsidium von Bundesrichter Martin Schubarth gelangen die Geschäftsprüfungskommissionen zu folgenden Schlussfolgerungen:

4.4.1 1.

Schlussfolgerungen zu den behaupteten Unregelmässigkeiten Die Geschäftsprüfungskommissionen haben in keinem Fall eine Urteilsmanipulation in dem Sinne festgestellt, dass ein Entscheid (Dispositiv) den Parteien anders eröffnet worden wäre, als das Richterkollegium beschlossen hat.

In einem Fall hat aber Bundesrichter Martin Schubarth als Präsident des Kassationshofes die Meinung eines Richterkollegen klar übergangen und in Verletzung der Bestimmungen über das Zirkulationsverfahren und die öffentliche Beratung das Urteil auf dem Zirkulationsbogen als einstimmig gefällt deklariert, obwohl nur eine Mehrheit, aber keine Einstimmigkeit vorlag.

Nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen hat Bundesrichter Martin Schubarth damit eine Amtspflicht verletzt. Am Ergebnis des Entscheides hätte jedoch eine korrekte Abwicklung des Verfahrens nichts geändert (siehe Ziff. 4.3.1.2.2).

Im gleichen Fall stellten die Geschäftsprüfungskommissionen weitere Versehen und Missverständnisse fest, die zum Teil durch die mangelhafte Dossierführung durch den Präsidenten zurückzuführen sind. Bei der Bewertung dieser Ungereimtheiten muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Kassationshof allgemein unter einem starken Erledigungsdruck steht und dass der vorliegende Fall ein vergleichsweise wenig schwergewichtiges Thema betraf. Versehen dieser Art sind unter diesen Umständen nie ganz vermeidbar.

Sie stellen insgesamt die Qualität der Rechtsprechung des Kassationshofes nicht in Frage (siehe Ziff. 4.3.1.2.2).

5719

2.

Aufgrund der Analyse der Verfahrensabläufe am Kassationshof kommen die Geschäftsprüfungskommissionen zum Schluss, dass es in der Praxis kaum Raum für echte Urteilsmanipulationen im Sinne von Verfälschungen des Dispositivs gibt. Ganz auszuschliessen ist eine solche Manipulation für einen Mitrichter. Der Abteilungspräsident kann zwar wesentlich mehr Einfluss auf das Verfahren jedes Einzelfalles nehmen. Mit einer Urteilsmanipulation würde er jedoch ein sehr hohes Risiko eingehen, entdeckt zu werden, denn das Verfahren erfordert die Beteiligung einer Reihe von Personen (siehe Ziff. 4.3.1.3).

3.

Bundesrichter Martin Schubarth ist in einem näher untersuchten Fall nicht nachzuweisen, dass er seinen grossen Ermessensspielraum als Präsident bei der Besetzung des Spruchkörpers absichtlich dazu missbraucht hätte, einen Entscheid in seinem Sinne herbeizuführen (siehe Ziff. 4.3.2.3.2).

4.

In zwei näher überprüften Fällen haben die Geschäftsprüfungskommissionen ein eigenmächtiges Vorgehen von Präsident Schubarth bei der Schlussredaktion der Begründung des Urteils festgestellt, indem er die endgültige Version des Urteils nicht mehr unter den beteiligten Richtern zirkulieren liess, obwohl zuvor an Redaktionssitzungen bedeutende Differenzen in der Begründung diskutiert worden waren und die Mehrheit gegen den Präsidenten entschieden hatte. Die Urteilsbegründung entsprach zwar im Ergebnis den Beschlüssen der Redaktionssitzungen, aber die Richterkollegen wurden der Möglichkeit beraubt, sich selbst von der Richtigkeit der Urteilsbegründung zu überzeugen. Damit hat Bundesrichter Schubarth seinen präsidialen Ermessensspielraum überdehnt und das Kollegialitätsprinzip missachtet (siehe Ziff. 4.3.3).

5.

Die von den Bundesrichtern des Kassationshofes dargelegten Beispiele machen deutlich, dass Bundesrichter Schubarth als Abteilungspräsident manchmal eigenmächtig und unkollegial vorgegangen ist. Er hat seine präsidialen Kompetenzen sehr weitgehend ausgeschöpft und zuweilen die Grenzen des korrekten Vorgehens überschritten. Nicht selten ging es dabei um Bemühungen Schubarths, seiner Meinung zum Durchbruch zu verhelfen.

Diese Charaktereigenschaften Schubarths haben unter anderem zu grossen Spannungen innerhalb des Richterkollegiums am Kassationshof geführt. Sie geben jedoch keinen Grund zur Annahme, dass deswegen Urteile des Bundesgerichts fragwürdig oder gar unhaltbar ausgefallen wären. Die eigenmächtige Amtsführung von Bundesrichter Schubarth hat aber das Klima belastet und war der Qualität der Arbeit des Kassationshofes nicht förderlich (siehe Ziff. 4.3.3, vgl. dazu auch Ziff. 5).

5720

Schlussfolgerung 2 Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen insgesamt zum Schluss, dass Bundesrichter Martin Schubarth in einem Fall eine Verletzung der Bestimmungen über das Zirkulationsverfahren und die öffentliche Beratung vorzuwerfen ist. Er hat die Meinung eines Richters klar übergangen und das Urteil auf dem Zirkulationsbogen als einstimmig gefällt erklärt, obwohl nur eine Mehrheit vorlag. Die gerichtsinterne Verfahrensverletzung unterliegt keiner Beschwerdemöglichkeit. Es kam dadurch auch niemand zu Schaden. Nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen hat Bundesrichter Martin Schubarth damit eine Amtspflicht verletzt. Als Magistratsperson unterliegt er jedoch keiner Disziplinargewalt. Insofern bleiben die Feststellungen der Geschäftsprüfungskommissionen für ihn ohne weitere Folge.

Für eine Beurteilung, ob die Amtspflichtverletzung Schubarths allenfalls strafrechtlich relevant ist, ist die Bundesanwaltschaft zuständig.

In mehreren Fällen hat Bundesrichter Martin Schubarth zudem durch sein eigenmächtiges Vorgehen das Kollegialitätsprinzip verletzt.

Schlussfolgerung 3 Aufgrund der in der Untersuchung gemachten Feststellungen kommen die Geschäftsprüfungskommissionen insgesamt zum Schluss, dass kein Anlass besteht, an der hohen Qualität der Rechtsprechung und an der Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Urteile des Kassationshofes während der Zeit der Präsidentschaft von Bundesrichter Martin Schubarth zu zweifeln.

4.4.2

Weitere Schussfolgerungen

Umgang mit Fehlern 1.

Die hartnäckig kursierenden Gerüchte am Bundesgericht machen deutlich, dass eine Unregelmässigkeit nicht spurlos unter den Teppich gekehrt werden kann. Die Untersuchung hat gezeigt, dass sowohl die Richter als auch die Gerichtsschreiber ein hohes Qualitätsbewusstsein und ein ausgeprägtes Gespür dafür haben, was zulässig und regelkonform ist und was nicht. Andererseits wirft die Art, wie diese Gerüchte immer weitere Kreise zogen und sich verselbständigten, Fragen in Bezug auf den Umgang des Bundesgerichts mit gemachten Fehlern auf (siehe Ziff. 4.3.1.2.2).

2.

Am Bundesgericht herrscht die Meinung vor, dass nichts an die Öffentlichkeit dringen darf, was dem Ansehen des Gerichts schaden könnte, und dass wer eine Ungereimtheit nach aussen weitergibt, dem Ansehen des Gerichts schweren Schaden zufügt. Tatsächlich ist eine «Kontrolle» durch die Öffentlichkeit wegen der Vertraulichkeit der Entscheidfindung und der Parteiinteressen sowie der richterlichen Unabhängigkeit nur sehr beschränkt möglich.

Das darf aber nicht dazu führen, dass Regelwidrigkeiten oder persönliches 5721

Fehlverhalten von Richtern unter Verschluss gehalten werden, ohne dass sie gleichzeitig innerhalb des Gerichts geahndet bzw. berichtigt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass eigenmächtiges oder selbstherrliches Verhalten einzelner das Klima belastet. Die richterliche Unabhängigkeit darf nicht zum Vorwand für die Duldung von persönlichem Fehlverhalten einzelner Richter werden. Es müssen deshalb intern Mechanismen geschaffen werden, die Gewähr dafür bieten, dass über Fehler und Probleme offen gesprochen wird und die nötigen Konsequenzen gezogen werden (siehe Ziff. 4.3.1.2.2).

Zirkulationsverfahren und mündliche Beratung 3.

Unter dem Präsidium von Bundesrichter Schubarth kam es am Kassationshof vor, dass Bereinigungen von Differenzen nach telefonischen oder mündlichen Rückfragen bei einzelnen Richtern auf dem Zirkulationsbogen ohne Visum der Betreffenden vermerkt wurden. Um ein transparentes und nachvollziehbares Zirkulationsverfahren zu gewährleisten, aber auch um Missverständnissen und Fehlern vorzubeugen, müssen nach Ansicht der Geschäftsprüfungskommissionen wesentliche Meinungsäusserungen der Richter mit Unterschrift versehen und auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden (siehe Ziff. 4.3.1.4.2).

4.

Interne Besprechungen dürfen nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen mündliche Beratungen nicht ersetzen, d.h. an internen Besprechungen dürfen nicht formelle Entscheide gefällt werden. Das Zirkulationsverfahren muss vielmehr ordnungsgemäss zu Ende geführt werden.

Soweit interne Besprechungen stattfinden, bilden sie Teil des Zirkulationsverfahrens; sie müssen im Zirkulationsverfahren transparent gemacht werden. Wesentliche Resultate müssen dann mit Unterschrift der beteiligten Richter auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden (siehe Ziff.

4.3.1.4.2).

5.

Die Geschäftsprüfungskommissionen sind der Meinung, dass die Entscheidfindung im Dossier bis zum Schluss überprüfbar sein sollte. Das Ergebnis der mündlichen Beratungen sollte in Form eines Verhandlungsprotokolls festgehalten werden. Dies würde sowohl der internen Transparenz unter den Richtern der Abteilung als auch der nachträglichen Nachvollziehbarkeit der Entscheidfindung dienen (siehe Ziff. 4.3.1.4.2).

6.

Der Entwurf des Bundesgerichtsgesetzes sieht in Artikel 54 E-BGG vor, dass Entscheide in Dreierzirkulation neu auch im Mehrheitsverhältnis gefällt werden können und nicht mehr Einstimmigkeit erforderlich ist. Die Geschäftsprüfungskommissionen regen an, dass in der parlamentarischen Beratung geprüft werden sollte, ob im Rahmen dieser Regelung ein faires und transparentes Entscheidverfahren unter den beteiligten Richtern sichergestellt werden kann und eine gleichberechtigte Einflussmöglichkeit der beteiligten Richter gewährleistet ist (siehe Ziff. 4.3.1.4.2).

Zuteilung der Fälle und Bildung der Spruchkörper durch den Präsidenten 7.

5722

Die weitgehende Handlungsfreiheit des Abteilungspräsidenten bei der Zusammensetzung der Spruchkörper dient einerseits einer effizienten Arbeitsweise und ermöglicht, auf die verschiedenen Gegebenheiten wie Sprache, Sachgebiete, besondere Kenntnisse und Auslastung flexibel zu reagieren.

Andererseits erlaubt sie dem Präsidenten, weit stärker auf die Rechtspre-

chung Einfluss zu nehmen, als es die anderen Richter der Abteilung können.

Die Mitwirkung der Mitglieder eines Kollegialgerichts sollte grundsätzlich gleichwertig sein. Deshalb sollte einem Ungleichgewicht im Spruchkörper durch zu grosse Machtkonzentrationen entgegengewirkt werden. Der vom Bundesrat im Rahmen der Totalrevision der Bundesrechtspflege vorgeschlagene Artikel 20 des Entwurfs des Bundesgerichtsgesetzes (E-BGG), der das Bundesgericht verpflichtet, die Bildung der Spruchkörper sowie den Einsatz der Ersatzrichter und -richterinnen auf Reglementsstufe zu regeln, ist deshalb zu begrüssen (siehe Ziff. 4.3.2.4).

8.

Durch eine angemessene Mitsprache der Mitrichter bei der Bildung der Spruchkörper durch den Präsidenten könnte das Gleichgewicht unter den Richtern im Richterkollegium verbessert werden. Das Bundesgericht sollte die Einführung entsprechender Möglichkeiten bereits unter dem geltenden Recht, insbesondere aber im Hinblick auf die Umsetzung von Artikel 20 E-BGG prüfen (siehe Ziff. 4.3.2.4).

4.5

Empfehlung 4

Empfehlungen an das Bundesgericht

Massnahmen zur Förderung eines offenen Umgangs mit Fehlern

Das Bundesgericht prüft Massnahmen zur Förderung eines Umgangs mit Fehlern, der es erlaubt, intern über gemachte Fehler zu sprechen und die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen.

Empfehlung 5

Transparente und nachvollziehbare Zirkulationsverfahren

Das Bundesgericht sorgt für transparente und nachvollziehbare Zirkulationsverfahren. Wesentliche Meinungsäusserungen werden auf dem Zirkulationsbogen festgehalten und mit der Unterschrift der beteiligten Richter versehen.

Empfehlung 6

Interne Besprechungen bilden Teil des Zirkulationsverfahrens

Das Bundesgericht sorgt dafür, dass die vom Gesetz vorgesehenen mündlichen Beratungen nicht durch interne Besprechungen unterlaufen werden. Soweit interne Besprechungen stattfinden, bilden sie Teil des Zirkulationsverfahrens und werden in diesem transparent gemacht. Wesentliche Resultate müssen mit Unterschrift der beteiligten Richter auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden.

5723

Empfehlung 7

Verhandlungsprotokolle über mündliche Beratungen

Das Bundesgericht sorgt dafür, dass die Entscheidfindung bei mündlichen Beratungen (Sitzungen) im Dossier nachvollziehbar ist und das Ergebnis der Beratungen in Form eines Verhandlungsprotokolls festgehalten wird.

Empfehlung 8

Mitsprache der Richter einer Abteilung bei der Bildung der Spruchkörper

Das Bundesgericht prüft die Schaffung eines angemessenen Mitspracherechts der Mitrichter einer Abteilung bei der Bildung der Spruchkörper durch den Präsidenten.

5

Arbeitsklima am Kassationshof

5.1

Ausgangslage

In den Tagen nach dem Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 warf Bundesrichter Martin Schubarth in den Medien einzelnen Richterkollegen eine Intrige gegen seine Wiederwahl im Dezember 2002 vor (siehe auch Ziff. 3.4 und 3.5.4)37. Die bereits vor den Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts im Dezember 2002 in den Medien erhobenen Vorwürfe, Bundesrichter Martin Schubarth sei eigensinnig, und sein zunehmender Mangel an Sozialkompetenz wirke sich auf das Gericht fatal aus38, wurden erneut in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Weil Probleme des Arbeitsklimas am Kassationshof und die Vorfälle vor den Bundesrichterwahlen offensichtlich im Zusammenhang mit dem Spuck-Vorfall standen, untersuchten die Geschäftsprüfungskommissionen diese ebenfalls (siehe Ziff. 1.2).

5.2

Ergebnisse der Abklärungen

5.2.1

Das Arbeitsklima am Kassationshof unter dem Präsidium von Bundesrichter Martin Schubarth

Bundesrichter Martin Schubarth war von Anfang 1999 bis Ende 2002 Präsident des Kassationshofes. In den Jahren 1999 und 2000 war er gleichzeitig Bundesgerichtspräsident. Die Anhörungen der Richter des Kassationshofes sowie einzelner langjähriger Richter anderer Abteilungen und mehrerer Gerichtsschreiber hat gezeigt, dass das Klima am Kassationshof unter dem Präsidium Schubarths einerseits durch die bereits unter Ziffer 4.3.3 beschriebene eigenmächtige Abteilungsführung belastet wurde, andererseits auch stark durch seine Persönlichkeit geprägt war. Aus den Anhörungen ergab sich folgendes Bild:

37 38

Tages-Anzeiger vom 14. Februar 2003, S. 6, «Ich streue Asche auf mein Haupt».

NZZ am Sonntag vom 8. Dezember 2002, «Zunehmender Eigensinn».

5724

Bundesrichter Martin Schubarth wurde als intelligente, sehr gebildete Persönlichkeit mit teilweise autoritären, elitären und egozentrischen Zügen beschrieben. Er sei eine schillernde Figur und in mancher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung, sowohl was seine positiven als auch seine negativen Eigenschaften anbelange. Er sei ein ausgezeichneter Jurist, ein hervorragender Redner, vertrete interessante Fragestellungen, sei eloquent sowie kulturell bewandert, und vermöge mit seinen interessanten Ausführungen zu einem beliebigen Thema viele Sympathien zu gewinnen. Schubarth wurde wegen seines grossen fachlichen Wissens und seiner Fähigkeiten nicht nur vom wissenschaftlichen Personal, sondern auch von Kollegen bewundert und geschätzt. Er wurde aber auch als impulsiver Mensch, der zu Überreaktionen neigt, und als kaum diskussionsfähige Person wahrgenommen. Zudem vermittelte er den Eindruck, den anderen überlegen zu sein und besser zu wissen, was im Strafrecht gilt. Als Professor für Strafrecht habe er einen grossen Fundus gehabt und sei in der Lage gewesen, Argumente aus dem Stand heraus in der Luft zu zerfetzen. Man habe Rückgrat gebraucht und sich seiner Sache sicher sein müssen, um ihm zu widersprechen. Wegen seines zuweilen arroganten Auftretens sei es oft nicht leicht gewesen, ihm gegenüber eine andere Meinung zu vertreten.

Im Umgang mit den Mitrichtern und mit Mitarbeitern habe Bundesrichter Martin Schubarth einen autoritären Führungsstil an den Tag gelegt. Mit einzelnen Gerichtsschreibern habe er ein gutes Verhältnis gehabt, andere hätten ihn gefürchtet. Er habe ein allgemeines Klima des Misstrauens geschaffen. Man sei ihm wenn möglich aus dem Weg gegangen.

Mehrere Bundesrichter berichteten, ein besonders schwieriger Charakterzug von Bundesrichter Martin Schubarth sei es gewesen, ständig über Richterkollegen, Mitarbeiter und andere Personen schlecht zu reden, was sehr belastend gewesen sei.

Einzelne Bundesrichter erinnerten daran, dass es in den 20 Jahren, in denen Martin Schubarth als Bundesrichter tätig war, in den betroffenen Abteilungen immer Spannungen im zwischenmenschlichen Bereich gegeben habe. Vor 13 Jahren wechselte zum Beispiel Bundesrichter Edwin Weyermann, damals Präsident des Kassationshofes, wegen eines Streits mit Schubarth die Abteilung.

Noch im Jahr 2000 hatte eine Mehrheit der
Richter am Kassationshof klar befürwortet, dass Martin Schubarth nach Ablauf seines Gesamtgerichtspräsidiums Ende 2000 das Amt des Abteilungspräsidenten für weitere zwei Jahre weiterführen konnte, obwohl üblicherweise gleichzeitig mit dem Amt des Bundesgerichtspräsidenten das Abteilungspräsidium abgegeben wird. Dies liege im Interesse der Abteilung und entspreche dem Wunsch dieser Mehrheit, heisst es in einem Plenarprotokoll des Bundesgerichts. Dabei spielte auch eine wesentliche Rolle, dass die anderen Richter des Kassationshofes das Abteilungspräsidium entweder nicht übernehmen wollten oder als Abteilungspräsident nicht mehrheitsfähig waren. Das zeigt immerhin, dass es am Kassationshof unter Präsident Schubarth auch bessere Zeiten gab. Doch glauben einige Richter, in den letzten zwei Jahren, d.h. seit Martin Schubarth Ende 2000 das Gesamtpräsidium abgegeben hatte, bei ihm eine Persönlichkeitsveränderung festgestellt zu haben. Auch habe er sich immer mehr von den Leuten zurückgezogen.

5725

5.2.2

Zerwürfnis zwischen zwei Richtern

Das Klima am Kassationshof verschlechterte sich insbesondere auch durch ein Zerwürfnis, das sich zwischen Bundesrichter Martin Schubarth und Bundesrichter Hans Wiprächtiger entwickelte. Hans Wiprächtiger kam 1990 ans Bundesgericht und ist seither am Kassationshof tätig. Er befreundete sich mit Martin Schubarth, der wie er der Sozialdemokratischen Partei (SP) angehörte. Zusammen bildeten sie oft ein erfolgreiches Gespann, das in den 90-er Jahren zu einer regen Entwicklung der Rechtsprechung im Strafrecht beitrug.

Doch in den letzten Jahren ihrer Zusammenarbeit kühlte sich ihr Verhältnis ab, und schliesslich entwickelte sich ein tiefer Konflikt, dem persönliche und fachliche Differenzen zugrunde lagen. Hans Wiprächtiger hatte viel Bewunderung für den fähigen Juristen Schubarth gehabt, doch mit der Zeit trat er aus dessen Schatten heraus, zum Beispiel, als er zwei vielbeachtete Bundesstrafprozesse leitete. Martin Schubarth habe es nicht gepasst, dass er dabei teilweise seine Vorstellung von Öffentlichkeit und vom Kontakt zu den Medien habe durchsetzen können, sagte Hans Wiprächtiger gegenüber der Arbeitsgruppe. Er habe Interviews gegeben und hätte in einem Fall auch im Fernsehen einen Kurzkommentar abgeben wollen. Diese Möglichkeit sei ihm dann, u.a. durch Martin Schubarth, verbaut worden. Von da an habe sich zwischen Schubarth und ihm ein tiefer Graben in Bezug auf die Vorstellungen von Öffentlichkeit und vom Umgang des Gerichtes mit den Medien aufgetan. Dort hätten auch die materiellen Differenzen zwischen ihnen begonnen.

Ein weiterer Konflikt zwischen ihnen habe sich an der Person des NZZKorrespondenten Markus Felber entzündet, den er von Luzern her gut kenne und mit dem er ein gutes Verhältnis habe, erklärte Wiprächtiger. Schubarth habe von ihm verlangt, dem kollegialen Verhältnis zu Felber «abzuschwören», nachdem dieser in der NZZ im Zusammenhang mit Schubarth als damaligem Gerichtspräsidenten den Begriff «perfid» verwendet hatte (siehe Ziff. 3.4).

Bundesrichter Hans Wiprächtiger erklärte gegenüber der Arbeitsgruppe, der Hauptgrund seiner Schwierigkeiten mit Martin Schubarth liege jedoch in der Veränderung von dessen Persönlichkeit. Schubarth habe sich ihm gegenüber menschenverachtend verhalten. Das habe ihn auf die Dauer stark belastet.

Dieser Darstellung gegenüber hält Bundesrichter Martin
Schubarth fest, er habe Hans Wiprächtiger in Bezug auf seine Medienkontakte nichts verbaut, sondern einige Kollegen seien der Meinung gewesen, Wiprächtiger sei als Präsident des Bundesstrafgerichts mit seiner Medienzusammenarbeit zu weit gegangen. Darauf habe er, Schubarth, das Thema in der Präsidentenkonferenz zur Sprache gebracht, die daraufhin Empfehlungen zum Umgang mit den elektronischen Medien im Gerichtsgebäude herausgegeben habe. In Bezug auf das Verhältnis Wiprächtigers zu Felber habe ihn die fehlende Solidarität Wiprächtigers zu ihm als langjährigem Kollegen nach dem fraglichen Artikel Felbers verletzt.

Bundesrichter Martin Schubarth seinerseits übte in einer Stellungnahme an die Arbeitsgruppe Kritik an Bundesrichter Hans Wiprächtiger. Dessen häufige Abwesenheiten hätten zu Problemen geführt. Der Kassationshof habe sich nicht wegen ihm, Schubarth, sondern wegen der besonderen Persönlichkeit Wiprächtigers in einer unglücklichen Dynamik befunden. Insbesondere betrachtete Schubarth die Kontaktnahme Wiprächtigers mit einem SP-Parlamentarier im Sommer vor den

5726

Richterwahlen hinter seinem Rücken als massiven Vertrauensbruch. Als er Wiprächtiger deswegen habe zur Rede stellen wollen, sei dieser ihm mehrfach ausgewichen.

Die Richterkollegen des Kassationshofes bestätigten der Arbeitsgruppe, dass das Verhältnis zwischen Martin Schubarth und Hans Wiprächtiger äusserst gespannt gewesen sei. Schubarth habe Wiprächtiger oft unnötig verletzt, indem er ihm wie ein Lehrer Zensuren ausgeteilt und zum Beispiel gesagt habe, er habe ein schlechtes Referat geschrieben. Umgekehrt sei Wiprächtiger sehr verletzlich gewesen und habe impulsiv reagiert, wenn Schubarth ihn gerügt habe.

Nach Einschätzung eines Richters ertrug es Martin Schubarth schlecht, dass sich Hans Wiprächtiger von ihm abnabelte, sich ein grosses eigenes Beziehungsnetz aufbaute und es auch wagte, andere Rechtsauffassungen zu vertreten. Anlass zu Konflikten habe unter anderem gegeben, dass Hans Wiprächtiger zusammen mit Professor Marcel Niggli den Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch herausgab und dass Wiprächtiger ein Gesuch an die Präsidentenkonferenz stellte, einen Lehrauftrag an der Universität Freiburg als Nebentätigkeit übernehmen zu können. Umgekehrt habe Hans Wiprächtiger die ständigen Korrekturen und die Einflussnahme Schubarths ebenfalls schlecht ertragen.

Die Spannungen wirkten sich nach Aussage eines Richters vereinzelt auch auf die Rechtsprechung aus, nicht in dem Sinn, dass Urteile falsch oder schlechter herausgekommen wären, jedoch indem die Abläufe darunter litten. Es sei vorgekommen, dass sich die beiden Richter gegenseitig blockiert hätten. Insgesamt sei das Klima am Kassationshof durch die immer häufiger auftretenden und heftigeren Auseinandersetzungen stark in Mitleidenschaft gezogen worden.

5.2.3

Kontakte zwischen Parlamentsmitgliedern und Bundesrichtern vor den Richterwahlen 2002

5.2.3.1

Kontakt zwischen Bundesrichter Hans Wiprächtiger und einem SP-Parlamentarier

Am 13. August 2002 suchte Bundesrichter Hans Wiprächtiger Nationalrat Erwin Jutzet in Freiburg auf. Jutzet war Vertreter der SP-Fraktion in der Interfraktionellen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen39. Jutzet erklärte gegenüber der Arbeitsgruppe «Bundesgericht», Wiprächtiger sei an ihn gelangt, um ihn darüber zu informieren, dass es am Kassationshof ein schwerwiegendes Problem gebe, dass es mit Bundesrichter Martin Schubarth nicht mehr gehe und etwas unternommen werden müsse, sei es eine Abwahl oder eine interne Versetzung. Er habe nicht gesagt, er solle dafür sorgen, dass Bundesrichter Schubarth nicht wiedergewählt werde. Jutzet sagte, er habe den Eindruck gehabt, Wiprächtiger sei in einer Art Gewissensnot zu ihm gekommen.

Nach Darstellung von Bundesrichter Hans Wiprächtiger vor der Arbeitsgruppe sei es bei diesem Gespräch seine Absicht gewesen, dass die SP-Fraktion mit den Bundesrichtern spreche. Sie sollten versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen, 39

Die Interfraktionelle Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen (AGRW) wurde durch die neu geschaffene Gerichtskommission (GK) abgelöst, die für die Vorbereitung der Richterwahlen zuständig ist (Art. 54bis GVG) und am 19. März 2003 ihre Tätigkeit aufgenommen hat.

5727

nachdem mehrere Versuche innerhalb des Kassationshofes, mit Bundesrichter Schubarth zu sprechen, gescheitert seien. Er, Wiprächtiger, habe Jutzet ausdrücklich gebeten, dass die SP-Fraktion die SP-Bundesrichterinnen und ­richter sowie die Kollegen vom Kassationshof über die Situation befragen solle, bevor etwas gegen Schubarth unternommen werde. Er habe sich frühzeitig an die Fraktion wenden wollen, damit genügend Zeit bis zu den Wahlen bleibe, nicht wie vor zwölf Jahren, als am Vorabend der Wahl noch Absprachen stattfanden40. Er sei aber im Unterschied zu anderen Kollegen, die ebenfalls mit Parlamentariern gesprochen hätten, offen dazu gestanden, weil er der Meinung sei, die Justiz habe in ausserordentlichen Lagen ­ und das sei eine solche gewesen ­ eine Pflicht zur Kooperation mit dem Wahlorgan.

Zum Vorwurf Schubarths, im Vorfeld der Wahlen dem NZZ-Journalisten Markus Felber praktisch die Feder geführt und gerichtsinterne Dinge nach aussen getragen zu haben41, betonte Wiprächtiger, er habe seit Mitte Oktober nichts mehr gegen Bundesrichter Schubarth unternommen und weder mit Parlamentariern noch mit Journalisten gesprochen. Er sei beruhigt gewesen, als Schubarth im Oktober 2002 das Präsidium des Kassationshofes abgegeben habe. Ausserdem sei er wegen seiner Kontaktnahme mit Jutzet innerhalb des Gerichtes gerügt worden und habe von allem genug gehabt. Sein letzter Kontakt habe Mitte Oktober mit einem SP-Parlamentarier im Bundeshaus stattgefunden, der ihn zur Situation befragen wollte. Er habe diesem sogar gesagt, mit dem Rücktritt Schubarths als Präsident des Kassationshofes sei die Angelegenheit für ihn erledigt, und er könne damit in Zukunft leben. Er habe dabei auch die positiven Seiten Schubarths erwähnt.

Nach dem Gespräch mit Bundesrichter Hans Wiprächtiger informierte Erwin Jutzet die Mitglieder der SP-internen Gruppe für die Richterwahlvorbereitung über die Vorwürfe. Diese nahm daraufhin Kontakt mit den SP-Bundesrichterinnen und Bundesrichtern, auch mit Bundesrichter Martin Schubarth, auf.

Zur Kontaktnahme Hans Wiprächtigers mit Nationalrat Erwin Jutzet äusserte der damalige Bundesgerichtspräsident Hans Peter Walter, dies sei nicht der richtige Weg gewesen. Zuerst müssten die internen Behelfe ausgeschöpft werden. Wenn eine Abteilung ein Problem nicht selber lösen könne, solle sie sich an
den Gerichtspräsidenten wenden. Dessen Aufgabe sei es, zu vermitteln. Es scheine ihm gefährlich und unzweckmässig, an das Parlament zu gelangen, um solche Probleme zu lösen. Dieses Vorgehen sei gerichtsintern einhellig verurteilt worden.

40

41

Bei den Bestätigungswahlen der Bundesrichterinnen und Bundesrichter vom 5. Dezember 1990 wurde Bundesrichter Martin Schubarth überraschend nicht wiedergewählt. Er erhielt 95 Stimmen bei einem absoluten Mehr von 116 Stimmen. Weder in der Vereinigten Bundesversammlung anlässlich der Wahlen noch zuvor in der Interfraktionellen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen waren Einwände gegen die Wiederwahl Schubarths vorgebracht worden. In der darauf folgenden Woche wurde in den Medien berichtet, in der SVP-Fraktion sei aus Solidarität mit Bundesrichter Edwin Weyermann (SVP) eine starke Strömung gegen Schubarth entstanden, weil Weyermann als Präsident des Kassationshofes im Sommer 1990 wegen eines Streits mit Schubarth in eine andere Abteilung gewechselt habe und deswegen auf das Vizepräsidium des Bundesgerichts habe verzichten müssen. In der CVP-Fraktion seien Zweifel an der Teamfähigkeit Schubarths laut geworden (Berner Zeitung, 8. Dezember 1990). In der Woche vor den Wahlen hatte unter Parlamentsmitgliedern auch ein Schreiben der Vereinigung «Pro Tell» kursiert, in dem Schubarths politische Haltung und seine Rechtsprechung kritisiert worden waren. Am 12. Dezember 1990 bestätigte dann die Vereinigte Bundesversammlung Martin Schubarth mit 127 Stimmen bei einem absoluten Mehr von 105 Stimmen.

Tages-Anzeiger vom 14. Februar 2003, S. 6, «Ich streue Asche auf mein Haupt».

5728

5.2.3.2

Abklärungen der Interfraktionellen Arbeitsgruppe bei Bundesrichtern

Der Präsident der Interfraktionellen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen, Ständerat Bruno Frick, wurde bereits im Sommer 2002 von einem Journalisten kontaktiert und informiert, dass es schwerwiegende persönliche Probleme zwischen Bundesrichter Schubarth und einzelnen Mitrichtern gebe und auch die Rede von Manipulationen an Urteilen und Urteilsbegründungen sei. Bruno Frick informierte im September die Interfraktionelle Arbeitsgruppe über diese Vorwürfe.

Man einigte sich darauf, dass die Mitglieder der Interfraktionellen Arbeitsgruppe Kontakte zu den Richtern der eigenen Partei im Kassationshof aufnehmen sollten, um die Vorwürfe abzuklären. In der Folge fanden solche Gespräche mit den Mitgliedern des Kassationshofes sowie mit anderen Bundesrichtern statt. An einer weiteren Sitzung wurden die Ergebnisse der Gespräche besprochen. Die Interfraktionelle Arbeitsgruppe kam nach Auskunft von Bruno Frick zum Ergebnis, dass am Kassationshof Spannungen bestanden, die für einzelne Richter sehr schwierig waren, dass sich aber eine Beruhigung abzeichnete, nachdem Martin Schubarth seinen Rücktritt als Abteilungspräsident angekündigt hatte. Die Vorwürfe von Urteilsabänderungen hätten sich nicht erhärten lassen. Einzig bei den Begründungen habe Schubarth offenbar die Spielregeln nicht immer eingehalten. Die Interfraktionelle Arbeitsgruppe sei aufgrund dieses Befundes zum Schluss gekommen, es gebe keinen Grund, Bundesrichter Schubarth nicht zur Wiederwahl vorzuschlagen, und es sei den Fraktionen freigestellt, den festgestellten Umständen Rechnung zu tragen. In der Folge hat einzig die SVP-Fraktion die Wiederwahl Schubarths nicht unterstützt. Am 11. Dezember 2002 wurde Martin Schubarth mit 146 Stimmen bei einem absoluten Mehr von 106 Stimmen wiedergewählt.

5.2.3.3

Anfrage der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates an die Mitglieder des Kassationshofes

Parallel zu den laufenden Abklärungen der Interfraktionellen Arbeitsgruppe informierte Ständerat Bruno Frick den Präsidenten der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates und den Präsidenten der für das Bundesgericht zuständigen Subkommission EJPD/Gerichte darüber, dass es offenbar Probleme am Kassationshof gebe. Daraufhin richtete der Präsident der Subkommission EJPD/Gerichte der GPK des Ständerates, Ständerat Hans Hess, am 18. Oktober 2002 eine schriftliche Anfrage an die Mitglieder des Kassationshofes, ob die Informationen, wonach das Arbeitsklima am Kassationshof schlecht sei, den Tatsachen entspräche und ob Bedarf bestehe, dass sich die Subkommission des Problems annehme. Mit Schreiben vom 21. November 2002 antwortete der damalige Bundesgerichtspräsident Hans Peter Walter, es treffe zu, dass innerhalb des Kassationshofes gewisse Schwierigkeiten, wie sie sich in jeder Kollegialbehörde ergeben könnten, bestanden hätten. Ihre Lösung sei hausintern angebahnt und auf guten Wegen. Ein Handlungsbedarf des Parlamentes oder seiner Kommissionen bestehe aus der Sicht des Gerichts nicht. Im Übrigen verwies der Bundesgerichtspräsident darauf, das Bundesgericht sei der Auffassung, die aufsichtsrechtlichen Beziehungen zum Parlament sollten auf der Ebene der Institutionen und nicht direkt von einzelnen Mitgliedern gepflegt werden.

Die allgemeine Geschäftsleitung obliege nach Artikel 6 Absatz 2 OG dem Bundes5729

gerichtspräsidenten, und dieser vertrete nach Artikel 22 Absatz 2 des Bundesgerichtsreglementes das Gericht gegenüber der Bundesversammlung und anderen hochgestellten Behörden.

5.2.3.4

Die Weitergabe eines zur Publikation vorgesehenen Manuskriptes von Bundesrichter Martin Schubarth an Parlamentsmitglieder

Besonders betroffen hatte Bundesrichter Martin Schubarth gemacht, dass offenbar ein von ihm verfasstes unveröffentlichtes Manuskript SP-Parlamentsmitgliedern zugeleitet worden war, mit dem Hinweis, er vertrete darin Positionen, die mit der Parteilinie der SP nicht vereinbar seien. Als er davon am 2. Oktober 2002 erfahren habe, sei für ihn eine Welt zusammengebrochen, erklärte Martin Schubarth der Arbeitsgruppe. An einer Stelle habe er darin das Problem der richterlichen Überprüfung negativer Einbürgerungsentscheide eingebracht. Wenn dann jemand diesen Artikel behändige und damit beweisen wolle, dass er ein schlechter Zeitgenosse sei, könne er dies nicht mehr nachvollziehen. Schubarth erklärte der Arbeitsgruppe, er habe das Manuskript im Juni 2002 in das Dossier eines Falles gelegt, bei dem es u.a.

um eine Frage gegangen sei, die er in dem zur Veröffentlichung bestimmten Artikel behandelt habe. Die vier Richterkollegen am Kassationshof sowie der für den Fall zuständige Gerichtsschreiber hätten Zugang zu dem Manuskript gehabt. Weiter habe er das Manuskript nur noch zwei weiteren Gerichtskollegen sowie einem Professor zugestellt. Ausserdem habe der Artikel bei den Redaktoren der Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) zirkuliert.42 Nationalrat Erwin Jutzet bestätigte der Arbeitsgruppe, dass das unveröffentlichte Manuskript zusammen mit weiteren publizierten Artikeln von Martin Schubarth der SP-internen Gruppe für die Richterwahlvorbereitung vorgelegen habe. Die Artikel seien in der Sitzung auf dem Tisch aufgelegt gewesen. Er wisse aber nicht, wie sie zu ihnen gelangt seien. Er könne jedenfalls nicht sagen, ob sie ihnen vom Bundesgericht zugegangen seien.

Bundesrichter Hans Wiprächtiger, der wegen seiner Kontaktaufnahme mit Erwin Jutzet am meisten verdächtigt wurde, das Manuskript weitergeleitet zu haben, bestritt dies gegenüber der Arbeitsgruppe vehement. Er habe dieses Papier weder behändigt noch weitergegeben. Ausserdem sei für ihn die politische Ausrichtung von Martin Schubarth und ob er diese allenfalls geändert habe, nebensächlich gewesen. Es sei normal, dass es in einem Richterkollegium die unterschiedlichsten Anschauungen gebe. Er wisse aber, dass Martin Schubarth am Gericht viele Gegner gehabt habe, auch unter den SP-Bundesrichtern. Das Manuskript sei zudem offenbar bereits zum Druck freigegeben gewesen und im Hause diskutiert worden.

42

Der Artikel wurde inzwischen publiziert (Schubarth, Martin: Die Bedeutung der verfassungsmässigen Ordnung für das Verhältnis von Richter und Bundesgesetz, ZSR 2003 169 ff.).

5730

5.2.4

Gerichtsinterne Schlichtungsversuche

Unter den Richtern am Kassationshof gab es mehrere Versuche, die Probleme zu lösen. Ein Richter verlangte im Januar 2002 eine Aussprache in der Abteilung. Noch vor den Sommerferien wurden die Kontrahenten Schubarth und Wiprächtiger von ihren Richterkollegen aufgefordert, ihre Differenzen zu bereinigen. Die Resultate dieser Bemühungen seien sehr bescheiden gewesen, berichtete ein Richter des Kassationshofes der Arbeitsgruppe.

Die vier Mitrichter am Kassationshof stellten in der Folge im Rahmen von kollegialen Gesprächen fest, dass eine Mehrheit unter ihnen der Meinung war, Bundesrichter Martin Schubarth solle das Abteilungspräsidium auf Ende des Jahres 2002 abgeben.

Da die Präsidien alle zwei Jahre erneuert werden, stand die Frage ohnehin für Ende 2002 an. Somit stellte sich die Frage in diesem Zusammenhang. Einer der Richter teilte in der Folge Präsident Schubarth mit, eine Mehrheit der Richter würde eine Verlängerung seines Präsidiums über 2002 hinaus nicht akzeptieren.

Schubarth erfuhr im September 2002 von der Kontaktaufnahme Wiprächtigers mit Nationalrat Erwin Jutzet. Da habe sich ihm sofort die Frage gestellt, ob er als Abteilungspräsident unter diesen Umständen noch agieren könne. Unabhängig davon habe er dann von den Kollegen erfahren, dass die Tendenz war, ihn zu bitten, das Abteilungspräsidium im nächsten Jahr nicht weiterzuführen. Aus diesen Gründen habe er beim Gerichtspräsidenten seinen Rücktritt als Präsident des Kassationshofes eingereicht.

Bundesgerichtspräsident Hans Peter Walter erfuhr erst im Oktober, als er von einem Auslandaufenthalt zurückkehrte, und zwar durch einen Anruf von einem Ständerat, dass die Spannungen am Kassationshof offenbar gravierender waren als angenommen, und dass Kontakte zwischen Bundesrichtern und den Mitgliedern der Interfraktionellen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen stattgefunden hatten. Vom Kassationshof hatte sich niemand an ihn gewandt. Hausintern habe man zwar von Spannungen gewusst, aber nicht, dass diese eskaliert seien. Bundesrichter Martin Schubarth hatte zuvor mit Schreiben vom 29. September 2002 seinen Rücktritt als Präsident des Kassationshofes eingereicht. Dies nahm der Bundesgerichtspräsident zusammen mit dem Anruf des Ständerates zum Anlass, zu intervenieren.

Er habe mit den Mitgliedern des Kassationshofes mehrere
Sitzungen durchgeführt, um die Situation zu besprechen. Es sei einerseits um die Frage der Nachfolge für das Präsidium am Kassationshof gegangen, und andererseits um die Suche nach einer Lösung des Konflikts zwischen Bundesrichter Hans Wiprächtiger und Bundesrichter Martin Schubarth. Man habe die Lösung geprüft, dass jemand die Abteilung wechseln würde. Aber keiner der beiden sei zu einem Wechsel bereit gewesen. Zudem hätte dabei auch jemand von einer anderen Abteilung Hand für einen Wechsel bieten müssen, was allgemein schwierig sei. Weiter habe er nach jemandem gesucht, der bereit gewesen wäre, im Kassationshof das Präsidium zu übernehmen. Dazu habe sich niemand finden lassen, der von den übrigen Mitgliedern des Kassationshofes akzeptiert worden wäre. Schliesslich sei man übereingekommen, dass alle bisherigen Bundesrichter am Kassationshof bleiben und Bundesrichter Roland Schneider das Präsidium auf Anfang 2003 übernehmen solle. Diese Lösung wurde noch vor den Richterwahlen bekannt gegeben. Er habe damit die Angelegenheit als geregelt betrachtet, erklärte der damalige Bundesgerichtspräsident Hans Peter Walter.

5731

Ein Mitrichter berichtete der Arbeitsgruppe, man habe im Laufe des Herbstes, als die Auseinandersetzungen zwischen den Bundesrichtern Schubarth und Wiprächtiger, unerträglich geworden seien, auch diskutiert, ob das Problem nicht im Rahmen einer ­ wie auch immer ausgestalteten ­ Supervision oder Mediation angegangen werden könnte. Die Mehrheit sowie der Gesamtgerichtspräsident seien jedoch dagegen gewesen.

5.3

Bewertung durch die Geschäftsprüfungskommissionen

1. Kontaktnahme eines Bundesrichters mit Parlamentsmitgliedern im Hinblick auf eine mögliche Nichtwiederwahl eines Richterkollegen Die Kontaktnahme eines Bundesrichters mit der Wahlbehörde im Hinblick darauf, dass diese die Wiederwahl eines Richterkollegen überprüfen soll, wirft hinsichtlich des Kollegialitätsprinzips innerhalb des Richterkollegiums Fragen auf. Im vorliegenden Fall ist nachvollziehbar, dass Bundesrichter Martin Schubarth das Vorgehen von Bundesrichter Hans Wiprächtiger als schweren Vertrauensbruch ihm gegenüber und als Verletzung der Kollegialität empfand. Andererseits befand sich Hans Wiprächtiger offensichtlich in einer persönlichen Notsituation, für die man ein gewisses Verständnis haben kann. Immerhin ist er offen zu seinem Vorgehen gestanden. Seine frühzeitige Intervention hat es der Interfraktionellen Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Richterwahlen zudem ermöglicht, die nötigen Abklärungen zu treffen. So gesehen war Wiprächtigers Gang zu einem SP-Parlamentarier eine wichtige Information und nicht eine Denunziation.

Das Vorkommnis wirft zudem die grundsätzliche Frage auf, wie im schweizerischen System, das die Wahl der Bundesrichter für eine Amtsdauer von jeweils sechs Jahren kennt, die Wahlbehörde überhaupt feststellen kann, ob ein Richter nicht wiedergewählt werden sollte. Politischen Druckversuchen gegen missliebige Richter muss das Parlament mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz zwar widerstehen, aber das Parlament sollte schwerwiegende Verletzungen von Amtspflichten oder von Verhaltenspflichten oder auch klar unzureichende Leistungen bei der Wiederwahl berücksichtigen können. Solche sind heute für das Parlament schwierig festzustellen. Es ist daher unter Umständen nötig, dass das Gericht dem Parlament entsprechende Informationen zukommen lässt.

2. Weitergabe eines unveröffentlichten Manuskripts an Parlamentsmitglieder Die Arbeitsgruppe konnte nicht feststellen, durch wen das unveröffentlichte Manuskript von Bundesrichter Martin Schubarth zur SP-internen Gruppe für die Richterwahlvorbereitung gelangte. Die Geschäftsprüfungskommissionen sind jedoch der Ansicht, dass es mit Blick auf die richterliche Unabhängigkeit innerhalb des Richterkollegiums grundsätzlich äusserst fragwürdig wäre, wenn ein Richter wegen seiner gegenteiligen
politischen Ansichten oder seiner anderen Rechtsauffassung bei der Wahlbehörde angeschwärzt würde. Würde dies toleriert, könnte sich ein Bundesrichter nicht mehr frei fühlen, zu seiner Meinung zu stehen, weil er allenfalls befürchten müsste, denunziert zu werden. Im vorliegenden Fall muss aber nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass die Weitergabe durch einen Richter erfolgte, da der Artikel bereits weiter verbreitet und zur Publikation freigegeben war.

5732

3. Konfliktbewältigung am Bundesgericht Die Probleme am Kassationshof entwickelten sich über längere Zeit und waren komplex. Mit der Zeit war die Situation so verfahren, dass die Richter am Kassationshof die Konflikte nicht mehr selbst bewältigen konnten. Aus nachträglicher Sicht hat der Bundesgerichtspräsident wohl erst sehr spät eingegriffen. Aber er wurde von den Konfliktparteien auch nicht beigezogen. Als dann schliesslich die Gespräche unter seiner Leitung in Gang kamen, hatte er nur sehr beschränkte Handlungsmöglichkeiten. Die am Ende getroffene Lösung führte zwar zu einer äusserlichen Beruhigung, doch war der Konflikt zwischen den Bundesrichtern Schubarth und Wiprächtiger, der durch die Kontaktnahme Wiprächtigers mit einem SP-Parlamentarier vor den Richterwahlen noch wesentlich verkompliziert worden war, keineswegs gelöst. Es habe eines Tages etwas passieren müssen, umschrieb ein Richter die gespannte Situation am Kassationshof. Der Spuck-Vorfall sei für ihn deshalb keine Überraschung gewesen. Es habe nur noch ein kleiner Funke für eine Explosion gefehlt.

Die Bewältigung der Konflikte am Kassationshof hat sich als sehr problematisch erwiesen. Das ist einerseits auf die schwierigen Charakterzüge von Bundesrichter Martin Schubarth zurückzuführen, die im Übrigen seit 20 Jahren immer wieder zu Problemen im zwischenmenschlichen Bereich geführt haben. Andererseits stellt sich aber auch die Frage, wieweit die institutionellen Strukturen am Bundesgericht geeignet sind, zur Konfliktbewältigung beizutragen. Das Bundesgericht besteht aus 30 Richterinnen und Richtern, die im Prinzip gleichberechtigt sind. Die wenigen formellen Hierarchiestufen wie die Wahl der Präsidien oder die Sprechordnung während den Verhandlungen und die Reihenfolge in den Zirkulationsverfahren werden in der Regel durch das Anciennitätsprinzip bestimmt, wonach die Amtsältesten Vorrang haben. Diese Struktur ist grundsätzlich gewollt, doch sie kann auch zur Entstehung von persönlichen Konflikten unter den Richtern beitragen. Für die Lösung von solchen internen Konflikten gibt es heute keine formellen Regeln.

5.4

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Es ist nötig, dass das Bundesgericht Informationen über Probleme betreffend die Amtführung oder das persönliche Fehlverhalten von Bundesrichtern an die Wahlbehörde weiterleitet. Zuvor sollte jedoch das Bundesgericht alle möglichen Vorkehren treffen, um die Probleme intern selbst zu lösen. Es ist zu prüfen, ob gerichtsintern die Führungsstrukturen verstärkt und gewisse Aufsichtsmechanismen geschaffen werden könnten. Das neue Bundesgerichtsgesetz (BGG), das zur Zeit im Parlament beraten wird, sieht für das Bundesgericht eine weitgehende Organisations- und Verwaltungsautonomie vor (Art. 12 und Art. 14 Abs. 1 lit. b E-BGG). Das Bundesgericht könnte z.B. auf Reglementsstufe Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung schaffen.43 Wenn das Gericht gravierende Mängel in der Amtsführung oder im Verhalten von Richtern feststellt, sollte es der Oberaufsicht des Parlamentes von sich aus Bericht erstatten. Die Geschäftsprüfungskommissionen können dann genauere Abklärungen treffen und gemäss dem neuen Artikel 54bis Absatz 7 GVG Feststellungen, welche

43

Siehe auch Rechtsgutachten (FN 23), S. 21 ff.

5733

die fachliche oder persönliche Eignung von Richtern ernsthaft in Frage stellen, der Gerichtskommission zur Kenntnis bringen.

Empfehlung 9

Schaffung von Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung

Das Bundesgericht prüft die Schaffung von Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung im Rahmen seiner Organisations- und Verwaltungsautonomie.

6

Schlussfolgerungen und Empfehlungen im Überblick

6.1

Der Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003

Schlussfolgerung 1 Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen zum Schluss, dass Bundesrichter Martin Schubarth aus dem Spuck-Vorfall vom 11. Februar 2003 die längst fällige Konsequenz ziehen und im Interesse und zugunsten des Ansehens der Justiz ohne Verzug zurücktreten soll (siehe Ziff. 3.7).

Empfehlung 1

Prüfung der Möglichkeit einer Nachfolge Schubarths im Bundesgericht vor dessen Ausscheiden aus dem Amt

Falls Bundesrichter Martin Schubarth der Aufforderung zum Rücktritt bis spätestens Ende Jahr nicht Folge leistet, regen die Geschäftsprüfungskommissionen an, dass die Gerichtskommission der eidgenössischen Räte die rechtliche Möglichkeit prüft, dass die in der Dezembersession zu wählende Nachfolge ihre Tätigkeit bereits vor dem Ausscheiden Schubarths aus dem Amt aufnehmen könnte (siehe Ziff. 3.7).

Empfehlung 2

Prüfung einer Amtsenthebung von Bundesrichter Martin Schubarth

Sollte sich die Regelung der Nachfolge im Bundesgericht vor dem formellen Ausscheiden Schubarths aus dem Amt (gemäss Empfehlung 1) als rechtlich problematisch erweisen, wird der Gerichtskommission der eidgenössischen Räte empfohlen, die Möglichkeit einer Amtsenthebung in der Form eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses in der Dezembersession 2003 zu prüfen (siehe Ziff. 3.7).

5734

Empfehlung 3

Prüfung einer allfälligen Reduktion des Gehaltes von Bundesrichter Schubarth

Die Geschäftsprüfungskommissionen laden die Finanzdelegation der eidgenössischen Räte ein zu prüfen, ob unter den gegebenen Umständen eine Reduktion des Gehaltes von Bundesrichter Martin Schubarth angemessen wäre (siehe Ziff. 3.7).

6.2

Behauptete Unregelmässigkeiten am Kassationshof

Schlussfolgerung 2 Die Geschäftsprüfungskommissionen kommen insgesamt zum Schluss, dass Bundesrichter Martin Schubarth in einem Fall eine Verletzung der Bestimmungen über das Zirkulationsverfahren und die öffentliche Beratung vorzuwerfen ist. Er hat die Meinung eines Richters klar übergangen und das Urteil auf dem Zirkulationsbogen als einstimmig gefällt erklärt, obwohl nur eine Mehrheit vorlag. Die gerichtsinterne Verfahrensverletzung unterliegt keiner Beschwerdemöglichkeit. Es kam dadurch auch niemand zu Schaden. Nach Auffassung der Geschäftsprüfungskommissionen hat Bundesrichter Martin Schubarth damit eine Amtspflicht verletzt. Als Magistratsperson unterliegt er jedoch keiner Disziplinargewalt. Insofern bleiben die Feststellungen der Geschäftsprüfungskommissionen für ihn ohne weitere Folge.

Für eine Beurteilung, ob die Amtspflichtverletzung Schubarths allenfalls strafrechtlich relevant ist, ist die Bundesanwaltschaft zuständig.

In mehreren Fällen hat Bundesrichter Martin Schubarth zudem durch sein eigenmächtiges Vorgehen das Kollegialitätsprinzip verletzt (siehe Ziff. 4.4).

Schlussfolgerung 3 Aufgrund der in der Untersuchung gemachten Feststellungen kommen die Geschäftsprüfungskommissionen insgesamt zum Schluss, dass kein Anlass besteht, an der hohen Qualität der Rechtsprechung und an der Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Urteile des Kassationshofes während der Zeit der Präsidentschaft von Bundesrichter Martin Schubarth zu zweifeln (siehe Ziff. 4.4).

5735

Empfehlung 4

Massnahmen zur Förderung eines offenen Umgangs mit Fehlern

Das Bundesgericht prüft Massnahmen zur Förderung eines Umgangs mit Fehlern, der es erlaubt, intern über gemachte Fehler zu sprechen und die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen (siehe Ziff. 4.5).

Empfehlung 5

Transparente und nachvollziehbare Zirkulationsverfahren

Das Bundesgericht sorgt für transparente und nachvollziehbare Zirkulationsverfahren. Wesentliche Meinungsäusserungen werden auf dem Zirkulationsbogen festgehalten und mit der Unterschrift der beteiligten Richter versehen (siehe Ziff. 4.5).

Empfehlung 6

Interne Besprechungen bilden Teil des Zirkulationsverfahrens

Das Bundesgericht sorgt dafür, dass die vom Gesetz vorgesehenen mündlichen Beratungen nicht durch interne Besprechungen unterlaufen werden. Soweit interne Besprechungen stattfinden, bilden sie Teil des Zirkulationsverfahrens und werden in diesem transparent gemacht. Wesentliche Resultate müssen mit Unterschrift der beteiligten Richter auf dem Zirkulationsbogen festgehalten werden (siehe Ziff. 4.5).

Empfehlung 7

Verhandlungsprotokolle über mündliche Beratungen

Das Bundesgericht sorgt dafür, dass die Entscheidfindung bei mündlichen Beratungen (Sitzungen) im Dossier nachvollziehbar ist und das Ergebnis der Beratungen in Form eines Verhandlungsprotokolls festgehalten wird (siehe Ziff. 4.5).

Empfehlung 8

Mitsprache der Richter einer Abteilung bei der Bildung der Spruchkörper

Das Bundesgericht prüft die Schaffung eines angemessenen Mitspracherechts der Mitrichter einer Abteilung bei der Bildung der Spruchkörper durch den Präsidenten (siehe Ziff. 4.5).

5736

6.3

Empfehlung 9

Arbeitsklima am Kassationshof

Schaffung von Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung

Das Bundesgericht prüft die Schaffung von Mechanismen zur internen Konfliktbewältigung im Rahmen seiner Organisations- und Verwaltungsautonomie (siehe Ziff. 5.4).

7

Weiteres Vorgehen

Die Geschäftsprüfungskommissionen erwarten vom Bundesgericht eine Stellungnahme zum vorliegenden Bericht und zu den Empfehlungen bis Ende Februar 2004.

6. Oktober 2003

Im Namen der Geschäftsprüfungskommissionen des Nationalrates und des Ständerates Die Präsidentin der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates: Brigitta M. Gadient Der Präsident der Geschäftsprüfungskommission des Ständerates: Michel Béguelin Der Präsident der Arbeitsgruppe «Bundesgericht»: Hubert Lauper Die Sekretärin der Arbeitsgruppe «Bundesgericht»: Irene Moser

5737

Anhang 1

Angehörte Personen (ausgeübte Funktion zum Zeitpunkt der Befragung) ­

Aemisegger Heinz, Bundesgerichtspräsident, Präsident der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung

­

Baumann J. Alexander, Nationalrat

­

Boog Markus, Gerichtsschreiber am Kassationshof

­

Borner Armin, Gerichtsschreiber am Kassationshof

­

Burkart Monika, Gerichtsschreiberin, Präsidialsekretärin, Kassationshof

­

Escher Elisabeth, Bundesrichterin, II. Zivilabteilung

­

Felber Markus, Journalist der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), akkreditiert am Bundesgericht

­

Frick Bruno, Ständerat

­

Härri Matthias, Gerichtsschreiber an der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung

­

Inderbitzin Urs-Peter, Journalist, akkreditiert am Bundesgericht

­

Jutzet Erwin, Nationalrat

­

Karlen Peter, Bundesrichter, Kassationshof

­

Kolly Gilbert, Bundesrichter, Kassationshof

­

Monn Christian, Gerichtsschreiber am Kassationshof

­

Näf Marcel, Gerichtsschreiber am Kassationshof

­

Schneider Roland, Bundesrichter, Präsident des Kassationshofes

­

Schubarth Martin, Bundesrichter

­

Schweiger Rolf, Ständerat

­

Störi Gilg, Gerichtsschreiber an der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung

­

Walter Hans Peter, Bundesrichter, I. Zivilabteilung

­

Weissenberger Philippe, Gerichtsschreiber am Kassationshof

­

Wiprächtiger Hans, Bundesrichter, Kassationshof

5738

Anhang 2

Erlass eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses zur Amtsenthebung von Bundesrichter Martin Schubarth (Auszug aus einem Rechtsgutachten des Bundesamtes für Justiz44) Mit Blick auf die Singularität des Vorfalls vom 11. Februar 2003 (etwas Ähnliches ist während 129 Jahren zuvor nie passiert und dürfte sich höchstwahrscheinlich auch in Zukunft nicht wiederholen), wurde die Frage aufgeworfen, ob der Gesetzgeber allenfalls einen Einzelakt zur Amtsenthebung von Herrn Bundesrichter Schubarth in Form eines referendumspflichtigen Bundesbeschlusses erlassen könnte.

[...]

(Mit einem in der Literatur so genannten Einzelfall-Gesetz) reagiert der Gesetzgeber auf einen einmaligen konkreten Sachverhalt. Er erlässt einen Einzelakt, der nach dem Legalitätsprinzip eigentlich auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen müsste, für den der Gesetzgeber aber keine generell-abstrakte (und damit für weitere Fälle anwendbare) Regelung schaffen will45. Eine solche Konstellation würde in casu vorliegen.

Bei entsprechendem politischem Willen wurde die Zulässigkeit derartiger EinzelfallGesetze angenommen. Jedenfalls kommen in der Praxis einige Einzelfall-Gesetze vor. Sie wurden unter der alten Bundesverfassung in der Form des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses46, unter der neuen in Form des Bundesgesetzes47 erlassen. Diese Praxis wird nun im Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002 (ParlG; BBl 2002 8160)48 kodifiziert. Artikel 29 Absatz 2 ParlG lautet wie folgt: «Einzelakte der Bundesversammlung, für welche die notwendige gesetzliche Grundlage weder in der Bundesverfassung noch in einem Bundesgesetz besteht, werden in der Form des Bundesbeschlusses dem Referendum unterstellt.» Mit Blick auf die geübte Praxis, die im Parlamentsgesetz ihren Niederschlag findet, wird man die Zulässigkeit eines Einzelfall-Gesetzes (bzw. referendumspflichtigen «Einzelfall-Bundesbeschlusses») nicht grundsätzlich bestreiten können. Der konkrete Fall einer Amtsenthebung eines Bundesrichters reicht aber ­ vom Inhalt her ­ über die allgemeine Problematik der Zulässigkeit von Einzelfall-Gesetzen hinaus.

Anders als beispielsweise bei der Sanierung der Compagnie des Chemins de fer fribourgeois (vgl. FN 47) geht es nicht nur um einen in sich abgeschlossenen Sach44

45 46 47 48

Disziplinarmassnahmen gegen Bundesrichter und Massnahmen zur Konfliktregelung am Bundesgericht, Rechtsgutachten vom 14. August 2003 des Bundesamtes für Justiz zu Handen der Geschäftsprüfungskommissionen, Arbeitsgruppe «Bundesgericht», S. 20 f.

Luzian Odermatt, Erlassformen der Bundesversammlung für Rechtsetzungsakte und Einzelakte (erscheint demnächst in: LeGes 2003), Ziff. 2.

Beispiel: Bundesbeschluss vom 17.3.1989 über eine Vereinbarung betreffend Nichtrealisierung des Kernkraftwerkes Kaiseraugst (AS 1989 1413).

Beispiel: Bundesgesetz vom 23.6.2000 über die Sanierung der Compagnie des Chemins de fer fribourgeois (AS 2001 132).

Das Parlamentsgesetz soll am 1.12.2003 in Kraft treten. Zu Art. 29 Abs. 2 ParlG vgl.

Jean-François Aubert, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse, Zürich 2003, Art. 163, Rz. 25.

5739

verhalt. Die Amtsenthebung eines Bundesrichters via Bundesbeschluss weist über den Einzelfall hinaus eine rechtsstaatliche Dimension auf: Die richterliche Unabhängigkeit und das Rückwirkungsverbot sind tangiert, wenn der Gesetzgeber auf ein bestimmtes Verhalten eines Richters nachträglich auf die Weise reagieren kann, dass er ihn gewissermassen «per Dekret» seines Amtes enthebt. Damit könnte ein Präjudiz geschaffen werden für weitere Fälle mit anders gelagerter (politischer) Motivation.

Problematisch ist dieses Vorgehen auch im Hinblick auf die mangelnden Mitwirkungsrechte des Betroffenen49 und den fehlenden Rechtsschutz. Ein «EinzelfallBundesbeschluss» würde im Verfahren der Rechtsetzung erlassen, bei dem der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) nicht gilt. Trotzdem sollte der Betroffene in geeigneter Form zur Sache angehört werden (z.B. vor der zuständigen Kommission), nachdem der fragliche Bundesbeschluss unmittelbar in seine Rechtsstellung eingreift. Eine Rechtsmittelmöglichkeit gegen einen «Einzelfall-Bundesbeschluss» besteht auf nationaler Ebene nicht. Ebenso wenig könnte der EGMR angerufen werden50.

49

50

Zum Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) führt das Bundesgericht in BGE vom 9.7.2003, 1P.1/2003, E. 3.2. aus: «In BGE 119 Ia 141 (E. 5c/dd S. 151) hat das Bundesgericht klargestellt, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör grundsätzlich auch dann besteht, wenn ein individueller Hoheitsakt, der die Rechtsstellung eines Einzelnen unmittelbar betrifft, ausnahmsweise nicht von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde, sondern vom Parlament ausgeht. Ausgeschlossen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör dagegen in Rechtssetzungsverfahren (BGE 121 I 230 E. 2c S. 232 mit Hinweisen).» Jedenfalls nicht wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (vgl. Urteil EGMR Pitkevich c. Russland vom 8.2.2001, Nr. 47936/99: Abberufung eines Richters fällt nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK).

5740