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Bundesblatt 77. Jahrgang.

Bern, den 18. Februar 1925.

Band 1.

Erscheint wöchentlich Preis 20 Franken im Jahr, 10 Franken im Halbjahr, zuzüglich Nachnahme- and Postbestellungsgebühr Einrückungsgebühr.' 50 Rappen die Petitzeile oder deren Raum. -- Inserate franko an Stämpfli * de. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Motion des Herrn Ständerat Keller (Aargau) und Mitunterzeichner vom 16. Oktober 1924.

(Vom 10. Februar 1925.)

I. Wir beehren uns, Ihnen im folgenden unsere Antwort auf die vom Ständerat erheblich erklärte Motion zugehen zu lassen, welche lautete: ,,Der Bundesrat wird ersucht, nochmals zu prüfen und darüber zu berichten, ob nicht die Frage der Auslegung des Art. 35 Abs. 3 der Bundesverfassung in dem Sinne zu entscheiden sei, dass die dort vorgesehene Übergangsfrist vom Erwahrungsbeschluss der Bundesversamm-lung an zu laufen begonnenhat a Art. 35 BV lautet : ,,Die Errichtung von Spielbanken ist untersagt.

Als Spielbank ist jede Unternehmung anzusehen, welche Glücksspiele betreibt.

Die jetzt bestehenden Spielbankbetriebe sind innert 5 Jahren nach Annahme dieser Bestimmung zu schliessen.

Der Bund kann auch in Beziehung auf die Lotterien geeignete Massnahmen treffen."

Die Frage, von welchem Zeitpunkte an die Frist des Alinea 3 zu laufen beginne, ist unseres Wissens in der Bundesversammlung zum erstenmal erörtert worden bei Anlass der Ernährung der VolksabstimBundesblatt. 77. Jahrg. Bd. I.

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462 mtrag über den Art. 35. Damals hat im Nati on a] rat der KommissioDSpräsident, Herr Huber, zwar nicht im Namen einer Kommissionsmehrheit oder -minderheit, ausdrücklich erklärt, dass nach seiner Ansicht die Frist vom Abstimmungstage an zu laufen beginne. Er wies darauf hin, dass sowohl die Spielbankbesitzer als ihr Personal hierüber von Anfang an Klarheit haben sollten und eine unzweideutige Meinungsäusserung dee Rates erwünscht sei. Der Vertreter des Bundesrates schloss sich dieser Interpretation ausdrücklich an. Es erfolgte von keiner Seite ein Widerspruch, obwohl schon damals die Interessen der Kursaalbetriebe auch in den Räten nicht vernachlässigt waren. Die Presse, auch diejenige der Kursaalkantone, wenn wir sie so nennen dürfen, schloss sich vorbehaltlos dieser Auffassung an. Das eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat auf Anfrage hin den nämlichen Bescheid am 17. Dezember 1921 der Polizeidirektion des Kantons Waadt, am 29, Dezember 1921 dem Verwaltungsrat der Stadt Genf erteilt, ohne dass dagegen Bedenken erhoben worden wären.

Die Situation änderte sich erst, als am 19. September 1924 dem Bundesrate eine Eingabe der schweizerischen Kursaalgesellschaften zuging, worin diese den Bundesrat ersuchten, die Toleranzfrist des Art. 35 vom Erwahrungstage an zu berechnen, eventuell bei Ablehnung diesel Begehrens die Interprétations frage den eidgenössischen Räten zur Entscheidung zu unterbreiten. Der Bundesrat hat diese Eingabe nach Entgegennahme eines einlässlich begründeten Antrages des zuständigen Departementes abgelehnt, und zwar auch im zweiten, eventuellen Teile. Es wurde die Ablehnung einer Vorlage an die Bundesversammlung damit begründet, dass, weil der Bundesrat für den Vollzug der Verfassung zu sorgen habe (Art. 102, Ziff. 2, BV), es auch s e i n Recht und s e i n e Pflicht sei, in erster Linie die Auslegung der Verfassung vorzunehmen. Er hat darauf hingewiesen, dass der Bundesversammlung die Oberaufsicht zusiehe, die ordentlicherweise auf dem Wege der Geschäftsprüfung ausgeübt wird.

Der Bundesrat wies in seiner Antwort an die Kureaalgesellschaften darauf hin, dass möglicherweise diese Geschäftsberichtsdebatte antizipiert werden könnte. Das war im gegebenen Falle deshalb zu begrüssen, weil, wenn wider Erwarten die Bundesversammlung auf dem Wege der Oberaufsicht die Auslegung
des Bundesrates missbilligen sollte, es dann vermieden werden könnte, dass vom 21. März 1925 bis zur Junisession der Bundesversammlung die Spielbetriebe geschlossen würden, um dann nachher wieder vom Juni 1925 bis 14. April 1926 geöffnet zu werden.

Offenbar um die angedeutete Entscheidung des Parlamentes herbeizuführen, wurden am 16. Oktober 1924 die oben erwähnte Motion Keller im Ständerat, das völlig gleichlautende Postulat Zimmerli im Nationalrate eingereicht. Dem Bundesrate wurde damit Gelegenheit geboten, die Auslegungsfrage neuerdings zu prüfen, was er auch getan hat. Er beauftragte

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den Ressortchef, im Parlamente die Interpretation des Bundesrates zu vertreten, dabei aber gleichzeitig die Erklärung abzugeben, dass der Bundesrat eine übereinstimmende abweichende Stellungnahme der beiden Räte als jetzt schon für ihn wegleitend betrachten würde. In diesem Sinne sind denn auch die Anzüge in den beiden Räten beantwortet worden. Es wurde vom Vertreter des Bundesrates erklärt, dass, wenn auch Motion und Postulat nicht imperativ gehalten seien, der Bundesrat ihnen aus praktischen Gründen imperativen Charakter beilegen würde, dasa er aber gerade deshalb die» auch nur dann tun könne und werde, wenn Übereinstimmung der Räte vorliege. Die Räte haben also in voller Kenntnis dieser Situation entschieden. Das Resultat geht dahin, dass der Nationalrat mit 71 gegen 68 Stimmen das Postulat Zimmerli abgelehnt, der Ständerat mit 26 gegen 7 Stimmen die Motion Keller angenommen hat. Im Ständerat hatte bereits der Vertreter des Bundesrates die Erklärung abgeben müssen, dass nach der vorausgegangenen ablehnenden Haltung des Nationalrates die Behandlung im Ständerate eigentlich gegenstandslos sei, weil sie nach dem Ausgangepunkte des Bundesrates .diesen nicht mehr zn einer andern sachlichen Stellungnahme zwingen könnte.

Tatsächlich ist dies auch heute die Stellungnahme des Bundesrates.

Wenn man ihm hat nahelegen wollen, dass er nunmehr bei der Verfassungsinterpretation die Zusammensetzung, die Quantität oder gar Qualität der .Mehrheit und Minderheit in den beiden Räten abzuwägen und sich danach zu richten habe, so muss er das ablehnen. Es gibt für ihn nur Schlussnahmen der Räte; mit Recht wird ihm offiziell die Stimmenzahl gar nicht mitgeteilt -- ganz abgesehen davon, dass eine geringe Mehrheit gar nicht immer auf blossem Zufall und eine grosse Mehrheit gar nicht immer auf lauter grundsätzlichen, verfassungsmässigen Erwägungen zu beruhen braucht. Anderseits nimmt der Bundesrat keinen Anstand, der Einladung zur Erstattung eines schriftlichen Berichtes über seine nochmalige, dritte Prüfung der Auslegungsf'rage zu folgen, auch wenn sie nur von einem Rate ausgeht; er tut dies auch in einem Sonderberiehte und nicht erst im Geschäftsbericht, um selbst den Schein zu meiden, als ob er eine Diskussion in der Märzsession hätte unterdrücken wollen. Nur darf hieraus nicht der falsche Schiusa gezogen werden,
dass er diesmal seine Stellungnahme der Bundesversammlung zur Genehmigung vorlege. Hiezu besteht zurzeit kein Anlass; der Bundesrat beschränkt sich auf die Beantwortung der gestellten Anfrage.

II, Soweit die formelle Rechtslage. -- Selbstverständlich hätte es dem Bundesrate freigestanden, aus eigener Entschliessung1 auf seinen frühern Standpunkt zurückzukommen. Er tut das nicht, weil er ihn für richtig hält. Er ist gern bereit, Ihnen auch noch schriftlich darzulegen, was er Ihnen im wesentlichen bereits mündlich zur Begründung seiner Ansicht hat vortragen lassen.

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Wann hat die Annahme der Verfassungsbestimmung stattgefunden?

Die unbefangene Antwort lautet : am eidgenössischen Abstimmungstage ; denn ,,angenommen" oder ,,verworfen" wird eine Vorlage mit dem ,,Ja" oder ,,Nein" der Stimmenden. Wenn die Annahme am Erwahrungstag erfolgen würde, so müsste jemand da sein, der die Vorlage an diesem Tage annimmt ; das wäre dann also die Bundesversammlung. Denkt jemand hieran? Oder sagt jemand: ,,Die Verfassungsbestimmung ist heute verworfen worden", an dem Tage, wo die Erwahrung eine Verwerfung ergeben hat? Die Erwahrnng der Annahme ist eben nicht die Annahme selbst.

Das geben indirekt auch die Gegner zu, indem sie gegenüber der natürlichen Auslegung zu der künstlichen Konstruktion einer " Annahm e im Rechtssinne" greifen. Damit will gesagt werden, dass die Erwahrung zur Perfektion der A n n a h m e gehöre. Das beruht aber auf Irrtum, und zwar auf einer Verwechslung von Annahme und Rechtskraft. Die R e c h t s k r a f t einer Verfassungsbestimmung hat unter allen Umständen z w e i Voraussetzungen: einmal die Annahme durch Volk und Stände, sodann die Erwahrung. So hat auch der zu Unrecht fürs Gegenteil angerufene Staatsrechtslehrer Burckhardt in seinem nicht ad hoc geschriebenen Kommenta zum Art. 123 BV das Verhältnis von Annahme und Rechtskraft genau umschrieben: Die Annahme ist die materielle Hauptvoraussetzung, zu der die Erwahrung als formelle Nebenvoraussetzung hinzukommen muss, um zusammen -- nicht die Annahme, sondern -- die Rechtskraft und die Promulgation zu ermöglichen. Dieser Gedanke tritt auch ganz deutlich zutage in der Formel des Erwahrungsbeschlusses vom 16. April 1921, wonach die Bundesversammlung erklärt: ,,I, Der mit Initiativbegehren vom Jahre 1914 beantragte abgeänderte Artikel 35 der Bundesverfassung ist von der Mehrheit der stimmenden Schweizerbürger, sowie der Stände angenommen, und tritt mit h e u t i g e m Tage in K r a f t . " Die beiden Momente der Annahme und der Rechtskraft sind hier absichtlich scharf auseinandergehalten.

Die Regel ist also die, dass das ganze Verfassungswerk, sei es eine Total-, sei es eine Partialrevision, seine Wirkungen, die Rechtskraft, mit dem Erwahrungstage und der anschliessenden Promulgation beginnen lässt.

Das kann nun aber für einzelne Teile der Verfassung anders gehalten werden, indem für diese die Rechtskraft
noch von einer dritten Voraussetzung, dem Ablaufe einer Frist, abhängig gemacht wird. Diese Frist, ihr Ausgangspunkt oder ihr Ablauf, kann auf die verschiedenste Art bezeichnet werden. Wenn kein bestimmter Ausgangspunkt genannt ist, wird richtigerweise die gesetzte Spezialfrist von dem Momente an berechnet, in welchem für das G a n z e die Rechtskraft eingetreten ist, also von der Erwahrung an. Es ist mithin durchaus mit Recht seinerzeit die fünf-

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jährige Frist des Art. 4 der Übergangsbestimmungen BV von dem Erwahrungsdatum an berechnet worden. -- Die Frist kann aber auch in anderer Weise bestimmt sein. Sie kann z. B. auf einen Fixtermin lauten, wie im .Schlusssatze des Art. 32 BV. Sie kann auf ein ganz unbestimmtes Ereignis abstellen, wie z. B. im Art. 6, AI. l, der Übergangsbestimmungen BV. Sie kann eine Frist aufstellen, die nicht von der Rechtskraft der Gesamtvorlage an läuft, sondern von einem andern Datum, wie in Art. 32'", AI. 2, und in Art. 35, AI. 3, hier also von der Annahme der Vorlage an. Wir gehen nun mit den Gegnern unserer Anschauung darin einig, dase in allen diesen Fällen für das Inkrafttreten n e b e n dem Fristablauf auch sowohl die Annahme als die Erwahrung nötig ist und dass, wenn eines dieser Erfordernisse fehlen würde, die Frist bei der Ausführung erstreckt werden muss, bis auch sie vorhanden sind. Wir sind also einverstanden damit, dass, wenn z. B. die Frist des Art. 35 nur auf ein Jahr gelautet hätte, der Verfassungsartikel nicht am 21. März 1921 hätte in Kraft treten können. Aber die Korrektur hätte nicht darin bestanden, dass nun das Jahr von der Erwahrung an hätte berechnet werden müssen ; sondern der ganze Artikel wäre eben am Tage der Erwahrung in Kraft getreten. Wenn aber, wie dies in Wirklichkeit der Fall war, die bewilligte Übergangsfrist weit über den Erwahrungstag hinausgeht, so liegt weder ein praktischer, noch ein logischer Zwang vor zu einer Erstreckung der Frist. Die Gegner geben denn auch zu, dass eine solche Andersdeutung ausgeschlossen wäre, wenn der Verfassungsartikel statt der ,,Annahme" den ,,Abstimmungstag"1 expressis verbis genannt hätte ; und doch hätte die gleicheUhepretische Möglichkeit einer Unstimmigkeit mit der Erwahrung ja dann auch bestanden, sofern statt 5 Jahren l Jahr eingesetzt worden wäre.

Ja, noch mehr; es würde die Möglichkeit bestehen, dass auch bei Ansetzung eines Fixtermines als Ende der Übergangsfrist das gleiche passiert wäre.

Wie leicht hätten die Initianten anno 1914, als sie die Initiative lancierten, in besten Treuen z. B. den 1. Januar 1921 als Ende der Frist bezeichnen können ! In den beiden genannten Beispielen hätte die Lösung der Unstimmigkeit nicht in der Konstruktion eines ,,Abstimmungstages im Rechtssinne1* oder eines ,,1. Januar 1921 im Rechtssinne1*, sondern
ganz einfach darin bestanden, dass eben das Inkrafttreten auch der Teilbestimmung bis zum Inkrafttreten des ganzen Verfassungsartikels, nämlich bis zu der Erwahrung, hätte verschoben werden müssen und daes die Gnadenfrist eben durch die Verzögerung im einen Falle der Erwahrung, im andern Falle der Abstimmung selbst konsumiert worden wäre. Das Argument, daes man in der Zeit zwischen Abstimmungstag und Erwahrungstag ja im Ungewissen sei und sich deshalb nicht einrichten könne, trifft auf alle normalen Abstimmungen, wo keine Sonderfrist angesetzt ist, ebenfalls zu ; da muss sich auch jeder Schweizerbürger schon nach Bekanntwerden der noch nicht erwahrten Abstimmungsresultate darauf einrichten, dass die Erwahrung dem erstpublizierten Resultate entsprechen werde.

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Wir möchten noch auf eine weitere Konsequenz aufmerksam machen, welche die künstliche Verschiebung der ,,Annahme" auf den Erwahrungstag im Gefolge hätte -- eine Konsequenz, die einen weitern Faustschlag ins Angesicht der natürlichen Auffassung bedeuten würde. Die fünfjährige -Frist ist nur für die ,,jetzt bestehenden Spielbankbetriebe" gewährt worden.

Das Wort 1%jetzt" kann sich logischer- und praktischerweise auch nur auf den Zeitpunkt der Annahme, der im gleichen Satze genannt ist, beziehen Wird die Annahme auf den 16. April 1921 verlegt, so geniessen auch diejenigen Spielbetriebe die Schonfrist, welche zwischen dem Abstimmungsund dem Erwahrungstage noch neu eingerichtet worden sind. Kann das die Ansicht und Absicht des annehmenden Sehweizervolkes gewesen sein, dass man ihm nach seiner Willenserklärung noch eine Nase drehen könne?

Ein letztes Auslegungsargument der Gegner weist auf das Präjudiz des Art. 32'er hin. Dem Buchstaben nach haben sie recht. Man hat im Jahre 1910 bei einer ähnlichen Rechtslage die zweijährige Frist für den Vollzug des Absinthverbotes vom Erwahrungstage an berechnet. Das stenographische Bulletin beweist aber, dass das mit sehr schlechtem Gewissen geschah, indem auch nicht ein Votant zu behaupten wagte, dass das die richtige Auslegung sei, sondern alle, die Referenten, die Kommissionsmitglieder, der Vertreter des Bundesrates andeuteten, dass man kaum gemäss dem Willen des Volkes handle, dass man aber in einer Zwangslage sei, weil man mit der vom Art. 32tor ebenfalls geforderten Bundesgesetzgebung im Zeitpunkte des richtig berechneten Fristenablaufs noch nicht bereit war. Das einzig Korrekte wäre damals gewesen, ganz einfach darauf hinzuweisen, dass eben auch diese letztere Voraussetzung erfüllt sein müsse und dass das ohne Verschulden innerhalb der zwei Jahre nicht möglich gewesen sei. Jedenfalls darf aus einem solchen Präjudiz, dessen wackeliges Fundament schon damals offen zugestanden wurde, nicht das Recht abgeleitet werden, den gleichen Fehler nochmals zu begehen, III. Der Bundegrat ist nicht nur von den Kuraaalgesellschaften, sondern auch von den Kantonsregierungen, welche solche mit Spielbetrieben verbundene Kursäle auf ihrem Territorium haben, um eine wohlwollende Auslegung der sehwebenden Rechtsfrage ersucht worden unter Hinweis darauf, dass der Spielertrag fast
unerlässlich sei für die Aufrechterhaltung der Kursäle selbst, der von diesen gebotenen edlern Darbietungen .und unterhalteneu Anlagen usw. Der Bundesrat, welcher seinerzeit nicht auf dem Boden der Initiative, sondern des Gegenentwurfs der Bundesversammlung stand, bringt den wirtschaftlichen Sorgen dieser Fremdenzentren volles Verständnis entgegen, steht aber nicht vor einer Sachlage, wo er ein diskretionäres Wohl- oder Übelwollen ausüben könnte. Er hat ganz einfach, unter Hintansetzung eigener milderer Anschauungen, den Verfassungswillen auszuführen. Auch in der Auslegung hat er sich auf die Mentalität der mit Mehrheit annehmenden und nicht der verwerfenden

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Schweizerbürger einzustellen. Das ist speziell hervorzuheben gegenüber der auch in der Rätediskussion wohl zu Unrecht angerufenen Rechtsparömie ,,in dubio mitius" oder gar ,,in dubio pro reo". Nach der Ansicht der Mehrheit des Schweizervolkes -- auch der Mehrheit in vier von den sechs Kursaalkantonen -- ist eben der Spielbetrieb ein sittlich unerwünschter, dem Volkswohl schädlicher Betrieb, der Gewinn daraus ein sittlich unerwünschter Gewinn, dessen Fortsetzung das Volk also im Zweifel kaum verlangen wird.

Die Anrufung des Billigkeitsstandpunktes wäre vielleicht begreiflicher, wenn die Kursaalgesellschaften sich darauf berufen würden, sie hätten sich auf die bevorstehende Schliessung der Spielbetriebe eingestellt, benötigten aber noch ein Jahr zur Umstellung, Tatsächlich geht aber ihre Argumentation vielmehr dahin, dass sie ohne den Spielbetrieb überhaupt nicht existieren können und diesen darum solange als möglich fortführen wollen. Sie geben auch offen zu, dass bereits ein Aktionskomitee besteht, um eine Initiative zur Aufhebung des Art. 35 BV. in seiner jetzigen Form einzuleiten. Die Gewinne dieses Jahres müssten also wohl auch noch zur Äufnung eines Kriegsfonds für die neue Initiative dienen. Wir gestehen offen, dass uns diese Situation in dem Festhalten an unserer pflichtgemässen Auslegung des Verfassungsartikels nur zu bestärken vermag.

Die Kursäle würden im April 1926 sonst vor genau der gleichen schmerzlichen Lage stehen. Die wirtschaftlichen Erwägungen wären auch für Bundesrat und Parlament genau dieselben und die Versuchung, angesichts der ausgelösten Initiative nochmals ,,einen Suspensiveffekt zu gewähren"1, wäre ebenso gross. Wir befurchten, dass den eidgenössischen Behörden der Vorwurf nicht erspart bliebe, sie hätten Buchstaben und Geist der Verfassung willkürlich gebeugt.

Damit erhebt sich die Bedeutung der heutigen Interpretationsfrage weit über die wirtschaftliche Bedeutung eines weitern Schonjahres hinaus, das an sich sicherlich auch manchem Anhänger der seinerzeitigen Initiative gleichgültig hätte sein können. Wir haben schon vor den Räten darauf hingewiesen, dass die Initiauten des Jahres 1914, als sie aus freien Stücken eine fünfjährige Abbaufrist aufnahmen, eine weise Mässigung an den Tag gelegt haben, die man nicht immer bei der Ausarbeitung von Initiativvorschlägen
antrifft. Wir befürchten sehr, dass, wenn diese Mässigung nun durch eine als willkürlich empfundene Auslegung seitens der Behörden, die seinerzeit der Initiative einen Gegenvorschlag gegenübergestellt hatten, bestraft wird, dies zur Folge haben werde, dass bei der Redaktion künftiger Initiativbegehren überhaupt keine Übergangszeit mehr bewilligt werde. Ob dann korrigierende Gegenvorschläge des Parlaments bessern Erfolg haben werden als am 21. März 1920, wird fraglich sein.

Wir riskieren damit, Verfassungsbestimmungen zu erhalten, die dann von viel weiteren Kreisen und mit viel mehr Grund als wirtschaftlich un-

468 erträglich empfunden werden, denn die sehr anständige fünfjährige Schonzeit des Art. 35 BV. Es ist nicht zuletzt dieser Ausblick in die Zukunft, der uns bewegen hat, der Auslegungsfrage mehr Raum zu widmen, als sie, von allem andern losgelöst, verdienen würde.

Wir ersuchen Sie, von vorstehendem Berichte Kenntnis zu nehmen.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung.

B e r n , den 10. Februar 1925.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Bundespräsident: Musy.

Der Bundeskanzler;

Steiger.

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Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Motion des Herrn Ständerat Keller (Aargau) und Mitunterzeichner vom 16. Oktober 1924. (Vom 10. Februar 1925.)

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18.02.1925

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