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Bericht der

ständeräthlichen Commission über den Recurs Mordasini und Genossen.

(Vom 10. März 1876.)

Tit.!

Mit Eingabe v. 12. April875 führten Herr Advokat Mordasini in Comologno und 6 Genossen beim Bundesrath Beschwerde über die Bestimmung des Art. 32 der Tessiner-Verfassung, gemäß welcher die Wahlen in den Großen Rath in 38 Kreisen ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszahl der einzelnen Kreise in der Weise vorzunehmen sind, daß jeder Kreis je 3 Mitglieder des Großen Rathes zu wählen hat.

Die Petenten machen geltend, daß die Bevölkerung dieser Kreise eine sehr ungleiche sei, und daß zufolge dessen in diesem Repräsentations-Verhältniß eine Verlezung der Art. 4 und 6 der Bundesverfassung liege. Sie stellen das Gesuch : 1. daß eine Neuwahl des Großen Rathes im Verhältniß der Bevölkerung der Kreise angeordnet werde, und 2. daß, wenn der Kanton zu einer Revision der Verfassung eingeladen werde, die Vornahme dieser Revision durch einen im Verhältniß der Bevölkerung zu wählenden Verfassungsrath verlangt werden solle.

Der Große Rath von Tessin, eben mit einer partiellen Revision der Verfassung beschäftigt, und von dieser Beschwerde in Kenntniß gesezt, beschloß (27. Mai 1875), auf das Begehren, als inopportun und unbegründet, nicht einzutreten.

685 Er beendigte (Mai 1875) die erste Berathung der Partial-Révision, ohne in diese eine Aenderung des Art. 32 aufzunehmen.

In der vom Bureau des Großen Rathes an den Bundesrath eingereichten Vernehmlassung wird wörtlich gesagt, daß mit dem Rekurse, sofern er im Sinne seiner Schlüsse anerkannt werden sollte, ,,die abgefeimteste Heuchelei und die schwärzeste Bosheit zur Geltung kommen würde, vermöge derer das Volk in seinem guten Glauben um die Ausübung seiner verfassungsmäßigen Rechte durch seine obersten kantonalen Behörden betrogen wäre." Der Staatsrath hinwieder, welchem die ,,Rekursbeschwerde nachträglich ebenfalls zum Zweke seiner Meinungsäußerung mitgetheilt worden war, erklärte dieselbe als völlig zeitgemäß und gerecht.

Seit Jahren schon, bemerkt der Staatsrath, stehe diese Frage auf der Tagesordnung der öffentlichen Meinung, und wenn dieselbe nicht früher schon gelöst worden sei, so beruhe dies, wie namentlich anläßlich der Wirren vom Jahre 1870, auf Opportunitäts - Rüksichten, welche zur Zeit nicht mehr bestehen.

Inzwischen trat im November 1875 der Große Rath in die u. Berathung des Revisions-Entwurfes ein. Dieser Entwurf enthielt, wie schon bemerkt, keine Bestimmung, welche das RepräsentationsVerhältniß im Großen Rathe einer Abänderung unterworfen hätte.

Gegentheils wird in Art. 14 dieses Entwurfes vorgesehen, daß für den Fall, als zu gewisser Zeit durch die Mehrheit der Bürger eine Revision der Verfassung durch einen Verfassungsrath beschlossen werden sollte, die Wahlen in diesen Verfassungsrath wieder auf dieselbe Weise zu geschehen hätten, wie dieses für die Wahlen in den Großen Rath vorgeschrieben sei.

Diese Bestimmung veranlaßte den Bundesrath, mittelst eines Télégrammes vom 18. November v. J. zu interveniren und die Aufmerksamkeit des Großen Rathes darauf zu lenken, ob es nicht angezeigt wäre, die zweite Berathung des Revisions-Eutwurfes für so lange zu sistiren, bis die Bundesversammlung über den derselben vorzulegenden Bericht betreffend den Art. 32 der Verfassung entschieden haben werde.

Der Große Rath, dem dieses Telegramm noch rechtzeitig genug zukam, glaubte jedoch dem darin gestellten Ansinnen keine Berüksichtigung schenken zu sollen, schloß die Re visions-Arbeit ab und sezte die Volks - Abstimmung darüber auf den 19. Dezember 1875 an.

Das Volk hat, wie bekannt, mit Mehrheit das Revisionsprojekt angenommen.

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Durch dasselbe wird unter Anderai die Amtsdauer und Wahlart des Staatsrathes abgeändert und es soll, zufolge dessen, nachdem die eidgenössische Garantie ertheilt sein wird, sofort der Staatsrath durch den Großen Rath neu gewählt werden.

Nachdem auf solche Art die Revision des Art. 32 aus dieser Partial-Révision ausgeschieden und ferne gehalten worden war, wurde dann aber doch demselben nachträglich die Ehre einer Revision in ,einem zweiten, gesonderten Verfassungs-Geseze zu Theil.

Was das erwähnte bundesräthliche Telegramm vom 18. Nov.

v. J. nicht bewirkt hatte, bewirkte dem Anscheine nach eine demselben nachgefolgte Zuschrift des Bundesrathes vom 20. November.

Jezt erließ der Große Rath (27. Nov.) ein separates Verfassungs-Gesez , welches ausschließlich das Repräsentations - Verhältniß des Großen Rathes zum Gegenstande hat und folgendermaßen lautet: ,,Art. 1. Der Große Rath wird nach dem Verhältniß der Bevölkerung gewählt.

Das Gesez wird die Anwendung dieses Grundsazes regliren, entweder durch Berichtigung der gegenwärtigen Kreise oder auf andere Weise. Jedenfalls aber hat sich das Gesez innert den Grenzen von mindestens 1000 und höchstens 1500 Seelen der rechtmäßigen tessinischen Bevölkerung (popolazione ticinese di diritto) für jeden zu wählenden Deputirten zu bewegen. Bruchzahlen, die nicht unter der Hälfte, stehen, werden voll berechnet. Das betreffende Gesez kann nur von zehn zu zehn Jahren abgeändert werden.

Uebergangsbestimmungen.

Art. 2. Der Grundsaz der Wahl der Repräsentation nach Verhältniß der Bevölkerung, sofern er von der Mehrheit der an den Versammlungen theilnehmenden Bürger angenommen wird, tritt in Kraft bei der periodischen Gesammterneuerung des gegenwärtigen Großen Rathes im Jahr 1879.

§ 1. Im Falle vorher ein Verfassungsrath gewählt werden muß, tritt jener Grundsaz in Kraft, sobald er durch das Gesez in Ausführung gebracht ist.

§ 2. Die vereinzelten Wahlen im Laute der Amtsperiode der gegenwärtigen Legislatur finden statt nach Vorschrift der jezigen Verfassung.'1 Dieses Verfassungsgesez hätte, da der Staatsrath mit der Art und Weise der Revision nicht einig zu gehen erklärte, einer II. Berathung des Großen Rathes zu unterliegen.

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Bei diesem Stande der Dinge beschränkte sich der Bundesrath darauf, die Beschwerde der Herren Mordasini und Genossen lediglich der Bundesversammlung zum Entscheide vorzulegen.

Schon am 10. November 1870 war nämlich seitens der Stadt Lugano eine ähnliche Beschwerde bei der Bundesversammlung eingereicht worden. Durch Beschluß der leztern vom 24 Dezember 1870 wurde damals der Entscheid darüber sistirt, iu der Meinung, daß es dem Kanton Tessin gelingen werde, aus sich selbst seine öffentlichen Zustände mit dem eidgenössischen Rechte in Einklang zu sezen. Infolge Verwerfung des damaligen Verfassungsprojektes durch das Volk blieb aber die Frage auf ihrem alten Standpunkte stehen. Es betrachtet daher der Bundesrath die gegenwärtige Rekursbeschwerde lediglich als die Wiederaufnahme der im Jahre 1870 sistirten Frage, deren Lösung er der Bundesversammlung anheimstellt.

Indem Ihre Commission nun im Wesentlichen dem Beschlüsse des Nationalrathes beipflichtet, beehrt sich dieselbe, Ihnen, Tit., ihre Anschauung in Kürze in Folgendem darzulegen : Der Art. 4 der Bundesverfassung von 1874 garantirt die Rechtsgleichheit aller Bürger: er prohibirt alle Vorrechte des Orts, der Personen u. s. w.

Im Weiteren gewährleistet der Bund gemäß Art. 6 der Bundesverfassung die kantonalen Verfassungen nur insofern, als sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Grundsäzen sichern.

Zu diesen Fundamentalsäzen unseres öffentlichen Rechtes steht nun allerdings der Art. 32 der tessinischen Kantonsverfassung in einem grellen Widerspruche.

Nach der Volkszählung vom Jahr 1870 beträgt die Einwohnerzahl des Kantons Tessin die Ziffer von 111,019, was auf 38 Kreise vertheilt eine Durchschnittszahl von 3,148 ergibt.

Nun zählt aber beispielsweise der Kreis Lugano 6034, Giubiasco 5063, Bellinzona 4848, Riviera 4405. Balerna 4350 Einwohner, während der Kreis Olivone z. B. nur 2009, Airolo 2021, Quinto 1871 und JLavizzara 1169 Einwohner zählt.

Nichtsdestoweniger wählt aber jeder dieser Kreise 3 Mitglieder in den Großen Rath.

Es ergibt sich daraus, daß z. B. ein Einwohner von Lavizzara rüksichtlich der Gesammtsumme der öffentlichen Interessen 6 Mal so viel zählt als ein Einwohner von Lugano.

Eine Verfassungsbestimmung, welche ein derartiges Mißverhältniß sanktionirt, ist offenbar mit dem Prinzipe der Rechtsgleichheit unverträglich.

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Es ist nun allerdings richtig, daß schon die Bundesverfassung vom Jahre 1848 dieselben Art. 4 und 6 enthielt, wie diese in die Bundesverfassung vom Jahre 1874 übergingen; auch erklärte der Art. 4 der Uebergangsbestimmungen der 1848ger Bundesverfassung alle Bestimmungen der Kantonsverfassungen, welche im Widerspruche mit denjenigen derBundesverfassung stehen, als aufgehoben.

Der Unterschied von damals und heute und die Lösung der Frage, wie ein derartiges Mißverhältniß, wie es Art. 32 der TessinerVerfassung sanktionirt, so lange unbeanstandet sich forterhalten konnte, liegt ohne Zweifel in dem Umstände, daß die Kantone durch Art. 6 der 1848ger Verfassung auiädrüklich davon dispensirt wurden, für ihre damals in Kraft gestandenen Verfassungen die Gewährleistung des Bundes nachzusuchen, und daß hieraus irriger Weise die Folgerung gezogen wurde, es könne die Bundesverfassung auf jene keine rükwirkende Kraft üben. Dem gegenüber erklärt hinwider Art. 2 der Uebergangsbestirnmungen der 1874ger Bundesverfassung unbedingt alle mit ihr in Widerspruch stehenden kantonalen Verfassungsbestimmungen als ipso jure außer Kraft getreten und fand jener Vorbehalt zu Gunsten älterer Kantonsverfassungen keine Aufnahme mehr. Demzufolge kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dieser Grundsaz auch auf Art. 32 der tessinischen Kantonsverfassung seine Anwendung finden muß.

Es hat dies auch der Große Rath von Tessin thatsächlich anerkannt, indem er, wenn auch mit Widerstreben, in erster Berathung bereits ein Verfassungsgesez dekretirte, welches den Grundsaz der proportionalen Vertretung nach der Einwohnerzahl aufstellt, und es könnte sich demgegenüber nur noch fragen, ob die Bundesversammlung nicht lediglich das weitere Vorgehen der Behörden und des Volkes von Tessin abwarten solle, um zu ermessen, ob eine Beschlußfassung ihrerseits überhaupt noch erforderlich werde.

Ihre Commission glaubt diese Frage verneinend beantworten zu sollen, aus folgenden Gründen : Einmal enthält schon der erwähnte Revisionsentwurf Bestimmungen, welche weitern Schwierigkeiten vorzubeugen kaum geeignet sein dürften. So soll u. A. der beanstandete Art. 32 der Verfassung noch in Kraft bleiben bis zur Gesamrnterneuerung des Großen Rathes im Jahre 1879; bis dahin sollen Nachwahlen auch nach Vorschrift der jezigen Verfassung vor sich gehen. Wenn ein
Verfassungsrath gewählt werden müsse, trete der Grundsaz der Proportionalwahlen nur insofern in Kraft, als bis dahin ein Gesez ihn in Ausführung gebracht haben werde; ein solches Gesez solle dann aber vor Ablauf von 10 Jahren nicht mehr geändert werden dürfen.

689 Endlich sagt Art. 2 der Übergangsbestimmungen : ,,Der Grundsaz der Wahl der Repräsentation nach Verhältniß ,,der Bevölkerung solle in Kraft treten, sobald er von der Mehr,,heit der stimmenden Bürger angenommen wird.a Wenn die Mehrheit denselben nicht annimmt, soll also der Art. 32. fortbestehen.

Der Bund kann aber nicht zugeben, daß überhaupt über eine durch die Bundesverfassung entschiedene Frage noch abgestimmt werde und daß dieselbe noch eines besondern Entscheides fähig sei.

Indem Ihre Commission daher die Ansicht theilt, daß die Frage sofort von Bundeswegen gelöst und Art. 32 als aufgehoben erklärt werden müsse, hält sie es zugleich für angezeigt, durch die zu fassende Schlußnahme darauf besonders hinzuweisen, daß an die Stelle des thatsächlich bestehenden bundesverfassungswidrigen Zustandes ohne Aufschub ein neuer bundesverfassungsgemäßer zu treten habe.

Ohne in die Begehren der Petenten über die Art und Weise der Ausführung zur Zeit einzutreten, erscheint es uns doch angemessen, mindestens soviel auszusprechen, daß an eine Verlängerung der thatsächlichen Verhältnisse bis zum Ablaufe der Amtsperiode des derzeitigen de facto bestehenden Großen Rathes -- also bis zum Jahre 1879 -- nicht gedacht werden könne. Vielmehr wird es durch die Natur der Dinge und im Interesse einer friedlichen Entwiklung derselben geboten sein, dafür zu sorgen, daß wenn im Kanton Tessin in Folge der Revisionsarbeiten eine Erneuerung der öffentlichen Gewalten überhaupt stattfinden soll, diese Erneuerung für alle öffentlichen Gewalten eine gleichzeitige, demselben unmittelbaren Volkswillen entspringende und entsprechende werde.

Indem wir dieser Anschauung durch eine etwrts veränderte Fassung der Ziffer 2 des nationalräthlichen Beschlussesvorschlages Ausdruk zu geben vorschlagen, beantragen wir Ihnen, unter unveränderter Annahme der Erwägungen und des Dispositivs l des nationalräthlichen Beschlussesvorschlages, das Dispositiv 2 desselben durch das nachfolgende zu ersezen, beziehungsweise den Gesammtbeschluß wie unten folgt zu fassen.

B e r n , den 10. März 1876.

Im Namen der ständeräthliehen Kommission, Der B e r i c h t e r s t a t t e r: Hoffmann.

690 (Entwurf)

Bundesbeschluss über

den Rekurs Mordasini, betreffend Volksvertretung im Tessiner Grossen Käthe.

Die B u n d e s v e r s a m m l u n g der schweizerischen Eidgenossenschaft, in Erwägung: 1) daß die Bundesverfassung in Art. 4 und 6 alle Schweizer vor dem Gesez gleich erklärt, keine Vorrechte des O r t s anerkennt, die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen Formen zusichert und für jede Verfassung vorschreibt, daß sie vom Volke angenommen worden sei und revidirt werden könne, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt ; 2) daß in Art. 2 der Uebergangsbestimmungen diejenigen Bestimmungen der kantonalen Verfassungen, welche mit der neuen Bundesverfassung im Widerspruch stehen, mit der Annahme derselben außer Kraft erklärt sind ; 3) daß der Art. 32 der Verfassung des Kantons Tessili, besagend : ,,Jeder Kreis -- abgesehen von seiner Bevölkerungszahl -- e r n e n n t drei A b g e o r d n e t e zum G r o ß e n Rathea im Widerspruch mit der Bundesverfassung (Art. 4 und 6) und daher mit dem Inkrafttreten der Bundesveifassung außer Kraft getreten ist; beschließt: 1. Der Art. 32 der Verfassung des Kantons Tessin ist außer Kraft erklärt.

2. Der Bundesrath wird eingeladen, beförderlich die nothwendigen Anordnungen dafür zu treffen, daß die angeführte Bestimmung der tessinischen Kantonsverfassung durch eine den Grund säzen der Bundesverfassung entsprechende ersezt werde.

Note. Vom Stäuderath in dieser Fassung angenommen am 13. März 1876.

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Bericht der ständeräthlichen Commission über den Recurs Mordasini und Genossen. (Vom 10. März 1876.)

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25.03.1876

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