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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Beschwerde der Familie Schuler in Zürich betreffend Verletzung des Verbotes körperlicher Strafen (Art. 65, Abs. 2r BY) durch die Verwaltung der schwyzerischen Korrektionsanstalt Kaltbach.

(Vom 2. Dezember 1921.)

I.

1. Im Oktober des Jahres 1918 reichten die Sozialdemokratische Partei des Kantons Schwyz und der Kantonal verband schwyzerischer Grütlivereine dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement eine Beschwerde ein, in welcher unter Hinweis auf Art. 65, Abs. 2, BV, darauf aufmerksam gemacht wurde, dass in der schwyzerischen Korrektionsanstalt Kaltbach seit deren Bestehen (1902) die Anwendung körperlicher Strafen als Disziplinarmittel üblich sei. Die Beschwerdeführer -stellten den Antrag, es möchte die Regierung des Kantons Schwyz mit aller Bestimmtheit und unter Androhung der Schliessung der Anstalt mit Kostenfolge aufgefordert werden, die Prügel- und Kettenstrafe, überhaupt körperliche Strafen in jeder Weise in den kantonalen Anstalten zu untersagen, eventuell durch geeignete Massnahmen zu verhindern. Mit Bezug auf die materielle Erledigung der Beschwerde beehren wir uns, auf die in unserem Geschäftsberichte für das Jahr 1919 gemachtenAusführungen zu verweisen (Bundesbl. 1920, II, S. 38 f.). Hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage nahm der Bundesrat damals den Standpunkt ein, dass die Beschwerde nicht als staatsrechtliche Beschwerde im Sinne von Art. 113, Ziff. 3, BV (Art. 189 OG} betrachtet werden könne, dass aber nichtsdestoweniger die Kompetenz des Bundesrates zur materiellen Behandlung der Sache bejaht werden müsse, und zwar gestützt auf Art. 102, Ziff. 2, BV, wonach der Bundesrat für die Beobachtung der Verfassung, der Gesetze und Beschlüsse des Bundes zu wachen und zur Handhabung derselben von sich aus oder auf eingegangene Beschwerde

174 ·die erforderlichen Verfügungen zu trefien hat, soweit die Beurteilung solcher Rekurse nicht nach Art. 113 BV dem Bundes^erichte übertragen ist. Diese Auffassung deckt sich mit derjenigen des Bundesgerichts. In dem zwischen Bundesrat und Bundesgericht in dieser Angelegenheit gepflogenen Meinungsaustausch über ·die Kompetenzfrage führte dieses, nachdem es zunächst die Zulässigkeit des staatsrechtlichen Rekurses an das Bundesgericht, gemäss Art. 175, Ziff. 3, 06-, bejaht hatte, folgendes aus: ,,Nach Art. 102, Ziff. 2, BV, ist der Bundesrat der Hüter und Wahrer ·der Bundesverfassung und des Bundesrechts. Er erfüllt diese Aufgabe in doppelter Weise, entweder [von sich aus], im Offizialverfahren, oder [auf eingegangene Beschwerde, soweit die Beurteilung solcher Rekurse nicht nach Art. 113 dem Bundesgericht übertragen ist]. Danach ist das Einschreiten des Bundesrates von Amtes wegen jedenfalls dann nicht zulässig, wenn in der Sache ein staatsrechtlicher Rekurs beim Bundesgericht erhoben ist. Ob dies auch gilt bei einer konkreten kantonalen Verfügung, die durch staatsrechtlichen Rekurs hätte angefochten werden ·können, aber nicht angefochten wurde (Bundesbl. 1910, V, 8. 217 ; 1911, I, S. 443), ist zweifelhaft. Man kann (mit Burckhardt, Kommentar der BV, 2. Aufl., S. 746) finden, dass hier das bundesrätliche Offizialverfahren nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern eine in das Ermessen des Bundesrates gestellte (in der Regel freilich wohl zu verneinende) Frage der Zweckmässigkeit ist. Die Frage bedarf heute keiner weiteren Erörterung, da nicht sowohl ein Einzelfall der Verletzung von Art. 65, Abs,, 2, in Frage steht, sondern eine fortdauernde, angeblich verfassungswidrige Praxis überhaupt in Betracht kommt. Bei generellen kantonalen Erlassen aber und bei einer bestehenden Praxis, einem fortdauernden Zu-stand, kann die Möglichkeit des staatsrechtlichen Rekurses ans Bundesgericht dem Offizialverfahren durch den Bundesrat unseres Erachtens nicht im Wege stehen. Das Bundesgericht kann als staatsrechtliche Rekursinstanz die Verfassung nur schützen im Interesse des einzelnen Beschwerdeführers, soweit dieses Interesse geltend gemacht ist und reicht. Nur indirekt und mittelbar und in häufig unvollkommener Weise dient dieser Schutz auch ·dem öffentlichen Interesse. Das Bundesgericht kann die Verfassungsmässigkeit
des Erlasses und der Praxis nur nachprüfen, soweit die Anfechtung geht. Wird der Erlass selber nicht innert der Rekursfrist angefochten, so kann zwar gegen die einzelne Anwendung durch staatsrechtlichen Rekurs Schutz gesucht, der Erlass an sich aber nicht mehr aufgehoben werden. Das öffentliche Interesse kann eine weitergehende Wahrung der Bundes-

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Verfassung verlangen gegenüber einem Erlasse, einer Praxis, einem Zustande, die der Verfassung widersprechen, und diese Wahrung ·der Verfassung aus öffentlichem Interesse ist eben die Aufgabe ·des bundesrätlichen Offizialverfahrens im Sinne von Art. 102, Ziff. 2.

Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass bei einer bestehenden kantonalen Praxis die blosse Möglichkeit des staatsrechtlichen Rekurses gegen den einzelnen Anwendungsfall das Offizialvorgehen des Bundesrates nicht überflüssig macht. Stellt die fragliche Praxis, wie behauptet wird, sich als Verletzung von Art. 65, Abs. 2, BV, dar, so dürfte das öffentliche Interesse erheischen, dass sie aufhöre. Es ist aber sehr unsicher, dass dieser Erfolg, wenn man auf den staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht abstellt, «rreioht wird. Die Insassen der Korrektionsanstalt Kaltbach sind kaum in der Lage, sich durch staatsrechtlichen Rekurs zur Wehre zu setzen, und ein Rekurs könnte sich direkt auch immer nur gegen die einzelne Strafe und nicht gegen die Praxis als solche richten. Wir sind daher, in Übereinstimmung mit Burckhardt, a. a. 0., und auch Schollenberger, Kommentar S. 545 ff., der Auffassung, dass jedenfalls in einem Falle, wie dem vorliegenden, trotz der Möglichkeit des staatsrechtlichen Rekurses ans Bundesgericht, das bundesrätliche Offizialverfahren offensteht. Was die Kognition des Bundesrates im Offizialverfahren auf einem Gebiete, wo der staatsrechtliche Rekurs ans Bundesgericht zulässig ist, anbetrifft, so ist sie nach unserer Meinung formell frei, wie denn natürlich auch das Bundesgericht, wenn es sich infolge Beschwerde mit einer vom Bundesrat im Offizialverfahren gelösten Rechtsfrage zu befassen hat, an den Entscheid des Bundesrates nicht gebunden ist."2. Die Angelegenheit kam indessen nicht zur Ruhe. Im August 1921 wurde nämlich dem Bundesrate'seitens einer Familie Schuler in Zürich, deren Sohn und Bruder, Franz Schaler, in Kaltbach detiniert ist, eine Beschwerde unterbreitet, in der von neuem über die in der Anstalt herrschenden Zustände, namentlich wegen Verletzung von Art. 65, Abs. 2, BV, Klage geführt wird. Wir nahmen die Sache wiederum an die Hand und luden len Regierungsrat des Kantons Schwyz ein, eine Untersuchung darüber zu veranstalten, ob die in der Beschwerde der Familie Schuler vorgebrachten Behauptungen der Wahrheit
entsprechen, und -- falls sich dabei ergeben sollte, dass der Verwalter die ihm erteilten Weisungen missachte -- uns davon in Kenntnis zu setzen, welche Massnahmen er zu treffen gedenke. Der Regierungsrat des Kantons Schwyz beauftragte darauf hin Herrn Verhörrichter Dr. Amg werd mit der Durchführung dieser Untersuchung und stellte uns in der

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Folge die Untersuchungsakten zu. Daraus ergab sich, dass der oben erwähnte Franz Schuler seit dem Jahre 1917 nie mehr geschlagen worden war und dass der Verwalter seit dem Jahre 1917/ nur einmal eine körperliche Strafe angewendet hatte. Nachdem,-der Bundesrat von dem Ergebnis der Untersuchung Kenntnis genommen hatte, richtete er am 25. Oktober 1921 an den Regierungsrat des Kantons Schwyz ein Schreiben, in dem dieser-.

dringend ersucht wurde, dafür Vorsorge zu treffen, dass von nun-an in der Anstalt Kaltbach von der Anwendung körperlicherStrafen abgesehen werde, wobei davon Vormerk genommen wurde, dass dem Anstaltsverwalter durch Beschluss des Regierungsrates, vom 30. September ein Verweis erteilt worden war. ,,Indem wir mit aller Bestimmtheit die Erwartung aussprechen -- schloss dieses Schreiben --, dass nunmehr das verfassungsmässige Verbot körperlicher Strafen strikte gehandhabt werde, glauben wir, einstweilen von weiteren Massnahmen absehen zu können." Gleichen Tages wurde sodann auch der Familie Schuler von dem Ergebnisder Untersuchung und von dem Inhalte der seitens des Bundesrates an die Regierung des Kantons Schwyz gerichteten Zuschrift Kenntnis gegeben, mit dem Beifügen, dass auf die materielleBehandlung der Beschwerde nur so weit habe eingetreten werden, können, als eine Verletzung des in der Bundesverfassung ausgesprochenen 'Verbotes körperlicher Strafen behauptet werde-, während bezüglich aller übrigen Beschwerdepunkte (schlechte Behandlung, ungenügende Beköstigung) den Bundesbehörden die Kompetenz zum Einschreiten fehle.

3. Mit Eingabe vom 8. November erhebt nunmehr die Familie Schuler Rekurs an die Bundesversammlung. In diesem wird unterHinweis auf das in der Beschwerde vom 23. August Gesagte das Begehren gestellt, ,,es sei eine Kommission zu ernennen, welche nicht aus Schwyzern besteht und ohne vorherige Anmeldung desBesuches in Kaltbach abgehalten wird, und es seien die Detinierten ohne Beisein des Verwalters zu befragen, und zwar nicht einzeln,, sondern in corpore".

II.

In rechtlicher Beziehung ergibt sich ohne weiteres, dass dieBundesversammlung auf den Rekurs wegen Inkompetenz nicht, eintreten kann. Hierbei ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer eine Verletzung der Bundesverfassung geltend machen und demnach die Bundesversammlung zuständig wäre, wenn es sich bei der vorliegenden Beschwerde um eine staatsrechtliche Beschwerde gemäss Art. 113, Abs. 2, 85, Ziff. 12, BV, Art. 189 Ofö

177 landein würde. Dies trifft aber nicht zu ; denn nach Art. 189 OG .kann beim Bundesrate und bei der Bundesversammlung wegen Verletzung der Bundesverfassung nur in den in diesem Artikel abschliessend aufgezählten Fällen staatsrechtliche Beschwerde geführt werden, während in allen übrigen Fällen die Zuständigkeit des Bundesgerichtes als Staatsgerichtshof gemäss Art. 175, Ziff. 3, OG, gegeben ist. Art. 65 BV wird indessen in Art. 189 OG nicht erwähnt, und so hat denn auch der Bundesrat die an ihn gerichteten Beschwerden nicht als staatsrechtliche Beschwerdeinstanz -an die Hand genommen, sondern im Offizialverfahren gemäss Art. 102, Ziff. 2, BV, als zur Wahrung der Bundesverfassung und des Bundesrechtes berufene Behörde. Vom Bundesrate in diesem Verfahren erlassene Verfügungen können aber nicht an die Bundesversammlung weitergezogen werden. Wir gestatten uns, .auf die oben wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Bundesgerichts zu verweisen, denen wir uns in allen Teilen anschliessen.

Gestützt auf diese Erwägungen beehren wir uns, Ihnen zu .beantragen, es sei auf den Rekurs wegen Unzuständigkeit nicht -einzutreten.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

B e r n , den 2. Dezember 1921.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schulthess.

Der Bundeskanzler: Steiger.

-~5S-

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