6 3

#ST#

Schweizerische Bundesversammlung.

Die ordentliche Sommersession der gesezgebenden Räthe der Eidge.nossenschast ist ain 21. Juli 1860 geschlossen worden, nachdem alle zu....

Behandlung vorgelegenen Gegenstände ihre Erledigung gefunden hatten, mit Ausnahme des Rekurses des Redaktors und Herausgebers des Progrès..

Hrn. Eugène Jaccard, von Lausanne.

Die vom Präsidenten des Nationalrathes, Herrn Dr. W e d e r von.

St. Gallen, gehaltene Schlußrede lautet wie folgt: Die Bundesversammlung steht am Schlusse ihrer dermaligen ordentlichen Simung. Die gewöhnlichen Geschäfte konnten in verhältnißmäßig kurzer Zeit erlediget werden; ein Beweis, daß sich unsere Bundeseinrichtnng fortwährend fester gestaltet. Die Kommission für Prüfung der gesamInten Staatsverwaltung erstattete einen beruhigenden Berieht; fie fand bei den gegebenen Verhältnissen keinen An.laß zu wiehtigern Rügen und.

daherigen Anträgen. Es gelangten auch nur wenige Rekurfe und Bitt schriften an die Bundesversammlung ; man darf daraus die Folgerung.

ziehen, daß im Volke Mäßigkeit waltet, und daß die Verwaltung des.

Bundes als eine gerechte und billige anerkannt wird. Troz^der theiiiveiseI...

Stokung des Handels und der Gewerbe haben sich unsere finanziellen Zustände auch am Ende des lezten Jahres als befriedigend herausgestellt.

Die größte Ausmerksamkeit der Bundesbehörden verdient stetssort di^..

Savoyer Angelegenheit, und zwar nicht allein wegen unserer daherige.r.

Stellung zuin Auslande, fondern eben so sehr auch wegen ihren Wirkungen im Jnnern der Eidgenossenschaft.

Als die Abtretung von Savoven an Frankreich zur Sprache . kain,.

erhoben sich sogleich .zwei sehr verschiedene Ansi...hten über die Art und Weise. wie die Schweiz ihre darauf bezüglichen Rechte und Jnteressen zu wahren habe. Die Einen stellten die Behauptung auf, daß die Schweiz dies.. ihre Rechte und Jnteressen, so wie auch ihre Ehre nur durch.

W a f f e n g e w a l t zu e r h a l t e n im S t a n d e s e i ; die Andern hingegen fanden, daß es auch möglich sein dürfte, die Rechte und Jnteressen der Schweiz a u f dem W e g e d.er U n t e r h a n d l u n g zu w a h r e n , und daß die Bundesbehörden zu einer Maßregel, welche einen gefährlichen .Krieg zur Folge haben könnte, nur dann sehreiten sollten, w e n n d a s V a t e r l a n d w i r k l i e h in G e f a h r stehe.

Viele erprobte Patrioten behaupteten mit Hinweisung auf die schieds richterliche Ue.bere.inkunft von 1564. de..... Herzog von Savoyen habe sich

632 dadurch verpflichtet, Nordsavoven an keinen andern Herrn oder Fürsten zu veräußern; jene Uebereinknnft bestehe noch in Kraft, und der Nachfolger ......es Herzogs sei daher nicht befugt, dasselbe an den Kaiser von Frankreich .abzutreten; durch einen solchen V e r t r a g s b r u c h w e r d e die EidG e n o s s e n s c h a f t g e f ä h r d e t u n d b e l e i d i g e t ; sie könne sich nur durch m i l i t ä r i s c h e B e s e z u n g von Ehablais und Faueigny Genug.thuung verschaffen.

Viele andere, eben so erprobte Eidgenossen haben erwidert : es erscheine die Rechtskräftigkeit jener Uebereinknnft wenigstens als zweifelhast, nachdem man in den Jahren 1601 und 1792 beidseitig ohne Vorbehalt davon abgegangen; es sei auch zweifelhaft, ob die bezüglichen Bestim..mungen jener Uebereinkunst nach r e p u b l i k a n i s c h e n G r u n d s ä z e u überhaupt als rechtsgültig angesehen werden könnten; und endlich : die Schweiz so l. te am allerwenigsten dann zu einem Kriege Veranlassung geben, w e n n sie nicht in unbedingt g u t e m R e c h t e stehe.

Viele unverdächtige Vaterlandsfreunde sind einfach von der Ansicht ausgegangen: die Kongreßwächte haben im Jahr 1815 Nordsavo...en .ausdrüklich in die i m m e r w ä h r e n d e N e u t r a l i t ä t der Schweiz e i n g e s c h l o s s e n , und dieser das Recht eingeräumt, das n e u t r a l i s i r t e Savoryen in K r i e g s f ä l l e n zu b e s e z e n . Der König von Sardinien habe diese Neutralität, so wie das Recht der Schweiz in den .Jahren 1815 und 1816 a u s d r ü k l i c h und v e r t r a g s m ä ß i g aner.kannt. Durch den Uebergang von Savoryen an Frankreich verliere die Neutralität desselben, und damit auch das daraus bezügliche Recht der Schweiz alle Bedeutung. Nur durch militärische Beseznng des neutral sirten Gebietes von Savoven könne die Schweiz den Status quo aufrecht erhalten, und ihr Recht und ihre Ehre schüzen.

Viele andere, eben so unverdächtige Schweizer sahen auch diese Verhältnisse anders an : Vor .Alleni müsse zwischen der schweizerischen und der savoyischen Neutralität wohl unterschieden werden.

Die Neutralität der Schweiz beruhe einerseits auf dein anerkannten Grundsaze derselben , in die Händel der andern Staaten sich nicht einzumischen , und anderseits auf der ebenfalls anerkannten Pflicht derselben, diese Neutralität
resp. ihr Gebiet mit allen Krä.ten selbst zu schüzen, und endlich ans der Anerkennung und Gewährleistung der Kongreßinächte.

Die Neutralität von Nordsavoyen hingegen beruhe nicht auf dem anerkannten Grundsaze des Königs von Sardinien, sich in die AngelegenReiten anderer Staaten nicht einzumischen. und eben so wenig auf der Pflicht desselben. diese Neutralität selbst zu schüzen. Auch die Schweiz habe den Schuz der savoryischen Neutralität nicht übernommen, sondern .Iur das Recht erworben , das neutralifirte G.biet von Savoyen zur Zeit eines Krieges nach dem Abzuge der königlichen Truppen zu besezen.

633 Ueber den Umfang dieses Rechtes der Schweiz seien die eidgenössische ....Behörde und der König von Sardinien schon im Jahr 18l 5 nicht einig gewesen; die Tagfazung habe die e n t s c h i e d e n e A n s i c h t a u s g e -

sprochen, daß der Schweiz k e i n e Pflicht o b l i e g e , iln Falle e i n e s K r i e g e s d a s n e u t r a l i f i r t e S a v o v e n z u b e s e z e n und zu s c h ü z e n , fondern daß sie nur das Recht befize, dieselben dann zu besezen, w e n n es i h r e e i g e n e n J n t e r e s s e n wünschbar m a c h e n ; der König von Sardinien hingegen habe beRauptet : sobald er feine Truppen aus dem neutralisirten Gebiete zurük^ziehe. m ü s s e d i e S c h w e i z e s b e f e z e n , u n d d i e N e u t r a l i t ä t ^ d e s s e l b e n in gleicher Weise fchüzen und v e r t h eidigen, ..wie i h r e e i g e n e .

Die eidgenössischen Behörden haben früher diesem Rechte der Schweiz, ^ v i e l l e i c h t i m Hinblike a u f d i e f r a n z ö s i s c h e n F e s t u n g e n ..d'incluse s u n d d e s R o u s s e s u n d a n s da .s f r a n z ö s i s c h e ^ L a n d G e x , nicht die hohe Bedeutung beigelegt, welche man demselben ^heute beilege, indem ste bis zur neuesten Zeit unterlassen haben. stch mit dem Könige von Sardinien ü b e r den U r n f a n g und die Art und .Weise der A u s ü b u n g d e s s e l b e n zu verständigen.

Es stüze sich daher die savovische Neutralität einzig auf die Erklärung ..und Gewährleistung der Kongreßinächte, daß zur Zeit eines Krieges keine ^Truppen eines andern Staates. diejenigen der Schweiz allein ausgenoIn.n.en, durch Nordsavoyen durchziehen oder sich daselbst aufhalten dürfen.

Wenn die Kongreßmächte diese ihre Neutralitätserklärung nicht mehr ^gewährleisten. so falle die Neutralität von Nordsavoyen von selbst dahin, .weil kein anderer Staat die Beschulung oder Aufrechthaltung derselben .unbedingt überkommen habe. Bestehe die Neutralität von Nordsavor,.en nicht mehr, so fei der Beherrscher desselben im Falle eines Krieges auch nicht mehr gezwungen , feine Truppen aus dem eigenen Lande znrükzuZiehen, und der Schweiz die Besezung desselben aus friedlichem Wege möglich zu machen. Mit dem Aufgeben der Gewährleistung der Neutralität von Seite der Kongreßmächte f a l l e d a h e r f a k t i s c h auch das .Recht d e r S c h w e i z d a h i n . Jn diesem Falle hätte die Schweiz ^dann vielleicht nur zu bedauern, daß sie bei den Verhandlungen von 1815 .niit dem Rechte, Nordsavoyen in dem bestimmten Falle zu besezen. n i c h t . z u g l e i c h auch d i e P f l i c h t ü b e r n o m m e n h a b e , d i e N e u t r a -

lität d e s s e l b e n u n b e d i n g t z u s c h ü z e n .

Der Schweiz stehe aber noch nicht zu, anzunehmen, daß die Kongressmächte wozu Frankreich auch gehöre, ihr im .Jahr 1815 so f e i erlich g e g e b e n e s W o r t brechen. uns bei den veränderten. Verhältnissen all f ä l l i g nicht a n d e r e G a r a n t i e n f ü r d i e A u s r e c h t h a l t u n g des der Schweiz d a m a l s z u g e s i c h e r t e n R e c h t e s a u f s t e l l e n w e r d e n . Die Zeit zu einer solchen Annahme sei um so weniger schou gekommen als der Kaiser von Frankreich gemäß dem Abtretungsvertrage

634 vom ^4. März d. J. das neutraliste Savoyen u n t e r d e n gleichem.

Bedingungen ü b e r n o m m e n , wie der K ö n i g von Sardinien es b e s e s s e n , und als derselbe sich zugleich v e r p f l i c h t e t h a b e , mit ...er Eidgenossenschaft und den K o n g x e ß m ä c h t e n sich diess falls zu v e r s t ä n d i g e n .

Vor Allem müsse der Bund die bezüglichen Verhandlungen mit Frank^ reich und allfällig auch mit den Kongreßrnächten pflegen, und er könne erst dann, wenn diese resultatlos bleiben würden, weitere Entschlüsse fassen.

Es ist einlenchtend, daß die Vertheidiger der einen Ansicht von dem Grundsaze ansgiengen : jeder Vertragsbruch eines Fürsten gegenüber der^ Schweiz sei eine Beleidigung der leztern, welche der Bund sich nicht ge fallen lassen dürfe. fondern vielmehr pslichtig sei, das bedrohte oder ver..

Iezte Recht niit Waffengewalt zu schüzen, gleichviel. ob das bedrohte

Recht von kleinerer oder größerer Bedeutung, bestritten oder unbestritten sei, und gleichviel, ob dabei die Existenz der Schweiz in Frage komme oder nicht; im schlimmsten Falle fei ein ehrenvoller Untergang besser. als..

eine schmachvolle Existenz. Es ist das die S p r a c h e der E i d g e u o s s e n f r ü h e r e r Jahrhunderte.

Dagegen haben die Verteidiger der andern Ansicht angenommen..

der Bund stehe nicht mehr in den gleichen Verhältnissen zu den Kantonen.

und zu dem Auslande, wie vor Jahrhunderten, wo sogar Plapartkriege möglich gewesen. Es liege in der Pflicht der eidgenössischen Behörden, jedesmal genau zu untersuchen, welche Beschaffenheit und Bedeutung ein..

in Frage gestelltes Recht der Schweiz habe, und welche Wege offen stehen, ein solches zu schüzen. Die Veranlassung eines Krieges für die Behauptung eines zweifelhaften oder eines auf fatale Eventualitäten im Ausland gegründeten Rechtes könnten die eidgenössischen Behörden in gegenwärtiger Zeit nicht rechtfertigen, namentlich so lange nicht, als alle andern Mittel ...um Sehuze desselben noch nicht erschöpft seien.

Die Verteidigung der einen. wie der andern .Ansicht k a n n aus..

einem hohen p a t r i o t i s c h e n G e f ü h l e , a u s w a r m e r V a t e r l a n d s liebe h e r v o r g e g a n g e n s e i n , und es kann niemand die Besugnis haben, weder den Trägern der einen, noch denjenigen der andern Anschauungsweise unedle Beweggründe oder nnschweizerifche Absichten zu unterschieben. Davon sollten aber .....lle überzeugt sein, daß die Schweiz einen Krieg füe e i n z w e i f e l h a f t e s o d e r b e s t r i t t e n e s R e c h t im A n s l a n d e unmöglich mit Glük f ü h r e n k ö n n t e , w e n n w e d e r i n d e n o b e r s t e n B u n d e s b e h ö r d e n , noch i m V o l k e E i n i g k e i t darüber bestünde.

Es tauchten aber in der Schweiz über die Savover Frage und die .Lösung derselben auch andere A n s i c h t e n a u f , d e r e n A u s f ü h r u n g für u n s e r V a t e r l a n d noch w e i t g e f ä h r l i c h e r w ä r e , a l s d i e .Ausführung der einen von den berührten.

6 3 5

Was viele der bidersten Eidgenossen nicht begreifen, sondern nur Bedauern konnten, ist, daß nicht nur unter dem Schweizervolke, sondern von Schweizern selbst im Auslande die Ansicht verbreitet wurde. daß v o n e i n e r g ü n s t i g e n L ö s u n g d e r S a v o v e r F r a g e d i e Un a b h ä n g i g k e i t und die E x i s t e n z der Schweiz a b h ä n g e .

Jst man auch allgemein darüber einverstanden, daß die Schweiz, wenn Nordsavoven mit feiner Neutralität beim Königreich Sardinien geblieben , oder wenn bei den veränderten Verhältnissen die Provinzen Chablais und Faneigny niit unfein Gebiete. vereiniget würden, eine weit

.günstigere Militärgränze gegen Frankreich hätte, so kann sie doch nicht

^ z u g e b e n , daß der Besiz i h r e s Rechtes aus Nordsavoyen.

.oder d e r B e s i z d i e s e s G e b i e t e s s e l b s t ihre U n a b h ä n g i g f e i t und ihre E x i s t e n z bedinge.

Nein! die Unabhängigkeit und die Existenz dex Schweiz bernheu auf andern sestern Fundamenten. Diese Fundamente bestehen: 1) in dem u n a u f h ö r l i c h e n B e s t r e b e n des B u n d e s , d u r c h .feste H a n d h a b u n g d e r S i c h e r h e i t u n d G e r e c h t i g k e i t g e g e n Alle, u n d d u r c h s o r g f ä l t i g e B e f ö r d e r u n g w a h r e r B i l d u n g u n d w a h r e r W o h l f a h r t d e s V o l k e s d i e s e s in a l l e n K a n t o n e n i m m e r m e h r n n d In ehr zu In B e w u ß t se in und zur . U e b e r z e u g u n g zii b r i n g e n , d a ß e s i m G e n u s s e s e i n e r F r e i h e i t w a h r h a s t g l ü k l i c h s e i n k ö n n e , und daß es unter keiner andern R e g i e r u n g s f o r n i e i n s o l c h e s Glük z n e r r e i c h e n im Stande wäre; 2) i n d e r g e w i s s e n h a f t e n A u s ü b u n g d e r e i g e n e n , s c h w e i z e r i s c h e n N e u t r a l i t ä t gegen. alle a n d e r n S t a a t e n , und in der Erhaltung und w e i t e r n E r w e k u n g der Sympat h i e n a i l e r V ö l k e r , w e l c h e e i n G e f ü h l f ü r H u m a n i t ä t und F r e i h e i t h a b e n , und endlich 3) in d e r A u s b i l d u n g e i n e r m ö g l i c h s t guten und niöglichst g r o ß e n A r m e e , d e r e n B e s t a n d t h e i l e o h n e A u s n a h m e zu j e d e r Zeit mit der B e g e i s t e r u n g und T a p f e r k e i t unserer Väter bereit find, jeden. Flek von Schweizererde nIit G u t und Blut z u s c h ü z e n u n d z u v e r t h e i d i g e n .

W e n n d i e B u n d e s b e h ö r d e n Hand in H a n d m i t d e m S c h w e i z e r v o l k e . d i e s e F u n d a m e n t e u n s e r e r F r e i h e i t und U n a b h ä n g i g k e i t mit r e p u b l i k a n i s c h e r T r e u e u n d E i n igk e i t s o r g f ä l t i g e r h a l t e n , i m m e r m e h r b e f e s t i g e n und ver..

b e s s e r n , d a n n w i r d u n s e r t h e u r e s V a t e r l a n d f r e i u n d un-.

a b h ä n g i g f o r t b e s t e h e n , g l e i c h v i e l , o b d i e Savoyer Frage so oder anders gelöst werde.

Jch erkläre die ordentliche Sizung des Nationalrathes vom Juli 1860 a.s geschlossen.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Schweizerische Bundesversammlung.

In

Bundesblatt

Dans

Feuille fédérale

In

Foglio federale

Jahr

1860

Année Anno Band

2

Volume Volume Heft

40

Cahier Numero Geschäftsnummer

---

Numéro d'affaire Numero dell'oggetto Datum

24.07.1860

Date Data Seite

631-635

Page Pagina Ref. No

10 003 141

Das Dokument wurde durch das Schweizerische Bundesarchiv digitalisiert.

Le document a été digitalisé par les. Archives Fédérales Suisses.

Il documento è stato digitalizzato dell'Archivio federale svizzero.