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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die zehnte und elfte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz.

(Vom 18. Dezember 1928.)

A. Einleitung.

J

In seinen Botschaften ) über die Internationale Arbeitsorganisation hat der Bundesrat der Bundesversammlung die Beschlüsse der sieben ersten Tagungen der Internationalen Arbeitskonferenz vorgelegt. Die Beschlüsse der achten und neunten Konferenz über Schiffahrtsfragen sind der Bundesversammlung durch den Geschäftsbericht für das Jahr 1926 (S. 570) zur Kenntnis gebracht -worden.

Der vorliegende Bericht unterbreitet der Bundesversammlung die Beschlüsse der zehnten und elften, d. h. der beiden letzten Tagungen der Internationalen Arbeitskonferenz.

B. Zehnte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz.

I.

Tagesordnung.

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hatte für die zehnte Internationale Arbeitskonferenz, die vom 25. Mai bis 16. Juni 1927 in Genf stattfand, folgende Tagesordnung aufgestellt: a. Krankenversicherung, 1). Eecht der beruflichen Vereinigung, c. Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen in Erwerbszweigen mit ungenügender Organisation der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer und mit aussergewöhnlich niedern Löhnen, unter besonderer Berücksichtigung der Heimarbeit.

') Bundesblatt 1920, Bd. V, S. 433; 1921, Bd. III, S. 611; S. 62; 1926, Bd. I, S. 795.

1923, Bd. II,

1147 Ausserdem hatte sich die Konferenz mit verschiedenen Fragen ihrer eigenen Geschäftsführung wie auch der allgemeinen Tätigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation zu befassen. So hatte sie wie jedes Jahr den Bericht des Direktors zu behandeln; ferner fiel ihr, auf Grund eines im Vorjahre gefassten Beschlusses, die besondere Aufgabe zu, die zusammenfassenden Auszüge der Berichte zu prüfen, welche die Begierungen gemäss Art. 408 des Vertrages von Versailles über die Durchführung der von ihnen ratifizierten Übereinkommen zu erstatten haben. Endlich hatte sie gewisse Bestimmungen ihrer Geschäftsordnung zu ändern.

Nach den damals geltenden Abschriften des Geschäftsreglementes mussten die Beschlüsse der Tagungen von 1925 und 1926 einer doppelten Lesung unterzogen werden, d. h. die Schlussabstimmung über die Übereinkommensentwürfe und Vorschläge des Jahres 1925 erfolgte erst 1926. Damit war den Regierungen die Möglichkeit gegeben, in der Zwischenzeit1 die ihnen wünschbar erscheinenden formalen Abänderungsanträge einzureichen. Doch war dieses Vorgehen, wie die Konferenz feststellte, nicht ohne Nachteile. Namentlich war es unmöglich, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen bloss formalen Abänderungsvorschlägen und solchen materieller Natur, die von der Konferenz gleichermassen zur Behandlung entgegengenommen werden mussten und die zum Teil die in erster Lesung aufgestellten Grundsätze selbst wiederum zerstörten. Infolgedessen kam die Konferenz dazu, das bisherige Verfahren der doppelten Lesung durch ein anderes zu ersetzen, das sich als Verfahren der doppelten Beratung bezeichnen und folgendermassen beschreiben lässt: 1. Der Verwaltungsrat setzt einen Gegenstand auf die Tagesordnung der Konferenz.

2. Das Internationale Arbeitsamt unterbreitet der Konferenz einen Bericht über die auf dem betreffenden Gebiete zurzeit bestehende Gesetzgebung und Praxis sowie den Entwurf eines Fragebogens.

3. Die Konferenz unterzieht den Verhandlungsgegenstand nach seiner grundsätzlichen Seite einer allgemeinen Aussprache und entscheidet darüber, ob dieser sich überhaupt für den-Inhalt .eines Übereinkommens oder eines Vorschlages eignet. Bejahendenfalls stellt sie den für die Eegierungen bestimmten Fragebogen auf.

4. Sie beschliesst mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen (Art. 402 des Vertrages von Versailles),
ob der Gegenstand auf die Tagesordnung der nächsten Konferenz zu setzen sei.

5. Das Internationale Arbeitsamt übermittelt den Fragebogen den Eegierungen und verfasst auf Grund der ihm zugestellten Antworten einen endgültigen Bericht samt Vorentwurf eines Übereinkommens oder Entwurf eines Vorschlages.

6. Im Besitze dieses Berichtes fasst die Konferenz auf der nächsten Tagung ihre Beschlüsse in der üblichen Weise.

1148 Gemäss diesem Verfahren der doppelten Beratung waren die auf der Tagesordnung der zehnten Konferenz stehenden Gegenstände, mit Ausnahme der Frage der Krankenversicherung, zunächst einer allgemeinen Aussprache zu unterziehen. Über die Krankenversicherung dagegen hatte schon an der siebenten Tagung eine allgemeine Aussprache stattgefunden, die als erste Erörterung im Verfahren der doppelten Beratung betrachtet wurde. Die Frage der Krankenversicherung war deshalb an dieser Tagung der Konferenz endgültig zu behandeln.

II.

Zusammensetzung der Konferenz.

An der Konferenz des Jahres 1927 waren 43 Staaten vertreten. Anwesend waren 169 Delegierte und stellvertretende Delegierte, denen 172 technische Katgeber und stellvertretende technische Ratgeber beigegeben waren. Die Konferenz zählte somit im ganzen 341 bevollmächtigte Teilnehmer.

Die schweizerische Delegation setzte sich wie folgt zusammen: Begierungsvertreter: Herr Fürsprech H. Pfister, Direktor des eidgenössischen Arbeitsamtes; Herr Dr. H. Giorgio, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung; Arbeitgebervertreter: Herr Gh. Tzaut, Ingenieur, Genf; Arbeitnehmer V e r t r e t e r : Herr Ch. Schürch, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Überdies waren den drei Vertretungen je drei technische ïlatgeber beigegeben.

Den Vorsitz der Konferenz führte Sir Atul Chatterjee, Delegierter der indischen Eegierung, Oberkommissar für Indien in London. Zu stellvertretenden Vorsitzenden wurden gewählt: die Herren de Michelis, Delegierter der italienischen Eegierung, Oersted, dänischer Arbeitgebervertreter, und Largo Caballero, spanischer Arbeitnehmervertreter.

III.

Beschlüsse der Konferenz.

Über die einzelnen Gegenstände der Tagesordnung der Konferenz ist folgendes auszuführen: 1. Krankenversicherung.

Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, war die Krankenversicherung der einzige Gegenstand, der für die endgültige Beschlussfassung der Konferenz von 1927 in Betracht kam. Tatsächlich nahm die Konferenz die folgenden Beschlüsse an, die als Beilage I dieses Berichtes im Wortlaute wiedergegeben sind:

1149 1. Entwurf eines Übereinkommens über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehilfen.

2. Entwurf eines Übereinkommens über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft.

3. Vorschlag über die allgemeinen Grundsätze der Krankenversicherung.

2. Becht der b e r u f l i c h e n Vereinigung.

Unter den Grundsätzen von besonderer und dringender Bedeutung nennt Art. 427 des Vertrages von Versailles auch das Becht der Vereinigung für Arbeitnehmer wie für Arbeitgeber zu allen nicht gesetzwidrigen Zwecken.

In Anbetracht dieser Bestimmung des Friedensvertrages sowie verschiedener Begehren seitens der Arbeitnehmergruppe beschloss der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes, die Frage des Bechtes der beruflichen Vereinigung auf die Tagesordnung der zehnten Konferenz zu setzen.

Wie bereits ausgeführt worden ist, kam für die Konferenz des Jahres 1927 bloss eine allgemeine Aussprache über diesen Gegenstand in Betracht mit nachfolgender Ausarbeitung des Entwurfes eines Fragebogens. Der Geschäftsordnung gemäss legte das Internationale Arbeitsamt der Konferenz einen vorläufigen Bericht vor, über die in den verschiedenen Ländern bestehende Gesetzgebung und Praxis sowie den Vorentwurf eines Fragebogens. Darin wurde eine Beihe von Fragen aufgeworfen über die Zweckmässigkeit, den Entwurf eines Übereinkommens anzunehmen, worin das Bechi der beruflichen Vereinigung gewährleistet würde, ferner über die Bestimmung der Begriffe «Becht der beruflichen Vereinigung» und «Freiheit der Betätigung der Berufsverbände». Sowohl im Schosse des Sonderausschusses, der mit der Prüfung der Frage beauftragt war, wie auch in der Vollversammlung forderten die verschiedenen Gruppen, insbesondere die Arbeitgebergruppe, eine Anzahl von Zusätzen in der Absicht, damit der Beratung des folgenden Jahres eine bestimmtere Bichtung zu geben.

So verlangten die Arbeitgeber, dass bei der Begriffsbestimmung des Bechtes der beruflichen Vereinigung eine Formel Aufnahme finde, worin die Freiheit des Einzelnen der Freiheit des beruflichen Zusammenschlusses gegenübergestellt und insbesondere auch ausdrucklich der Schutz der Freiheit, einer Vereinigung nicht beizutreten, ausgedrückt werde. Ein weiterer Zusatz, der von der Arbeitnehmergruppe lebhaft bekämpft wurde, sah vor, dass das Becht
der beruflichen Vereinigung nur insofern gewährleistet werden solle, als die gesetzlichen Formvorschriften dadurch nicht verletzt würden.

Diese Zusätze forderten die Gegnerschaft der gesamten Arbeitnehmergruppe heraus, welche erklärte, dass ihrer Auffassung nach der Fragebogen in dieser Fassung «an die unverletzlichen Bechte der Arbeiterklasse rühre».

Die Folge war, dass die Arbeitnehmergruppe den Fragebogen und die Aufstellung der Frage des Vereinigungsrechtes als Traktandum der Konferenz von 1928 ablehnte. Anderseits erklärte die Arbeitgebergruppe, dass die Frage auf Betreiben der Arbeitnehmergruppe vor die Konferenz gebracht worden sei

1150 und dass in Anbetracht der nunmehr ablehnenden Haltung dieser Gruppe die Arbeitgeber nicht durch ihre Stimmabgabe Anlass dazu geben wollten, dass der Gegenstand gegen den Willen der Arbeitnehmer nochmals auf die Tagesordnung gesetzt werde. So entschied denn die Konferenz mit 66 gegen 28 Stimmen, die Frage des Eechtes der beruflichen Vereinigung nicht als Verhandlungsgegenstand der Konferenz von 1928 vorzusehen.

3. Mindestlöhne.

Nachdem die Konferenz den Entwurf eines Fragebogens angenommen hatte, beschloss sie, die Frage der Mindestlöhne auf die Tagesordnung der Konferenz von 1928 zu setzen, um an dieser Tagung über den Gegenstand endgültige Beschlüsse zu fassen. Hierüber findet sich somit das Nähere bei Behandlung der elften Konferenz (s. unten S. 1161 ff.).

4. Änderungen der G e s c h ä f t s o r d n u n g .

Die beiden wichtigsten Änderungen an der Geschäftsordnung betrafen die Sprachenfrage. Die zwei offiziellen Sprachen sind, wie bekannt, von Anfang an das Französische und das Englische gewesen. Die amtlichen Texte werden in diesen beiden Sprachen verfasst, und die vor der Konferenz in einer der beiden Amtssprachen gehaltenen Reden werden unmittelbar anschliessend in die andere Amtssprache übersetzt. Da aber möglicherweise ein Vertreter an der Konferenz sich in keiner der beiden amtlichen Sprachen auszudrücken vermag, gestattete die bis 1927 geltende Geschäftsordnung solchen Delegierten, ihre Reden in der Muttersprache zu halten, vorausgesetzt dass ihre Delegation durch einen ihr angehörigen Dolmetscher für eine zusammenfassende Übersetzung der Reden in eine der Amtssprachen sorgte. In Wirklichkeit war es aber nach und nach Brauch geworden, dass derartige Reden wenn immer möglich durch einen der Konferenz zur Verfügung gestellten amtlichen Dolmetscher übersetzt wurden. Auf Antrag der deutschen Regierung gab die Konferenz dieser Gepflogenheit die formale Billigung in Gestalt einer Abänderung ihrer Geschäftsordnung. Danach bat künftig die Übersetzung von Reden, die in einer nicht amtlichen Sprache gehalten werden, durch einen eigenen Übersetzer der betreffenden Delegation nur dann zu erfolgen, wenn das Sekretariat der Konferenz nicht in der Lage ist, ihrerseits einen Übersetzer zu stellen.

Ausserdem wünschte die deutsche Regierung die Herstellung amtlicher deutscher Texte der
Konferenzbeschlüsse. Zur Begründung ihres Antrages wies die deutsche Regierung auf allerlei Unzukömmlichkeiten hin, die sich aus dem Fehlen authentischer Texte in deutscher Sprache ergäben: die Schwierigkeit, bei der parlamentarischen Behandlung der Konferenzbeschlüsse sich auf Übersetzungen ohne amtlichen Charakter stützen zu müssen, ferner die Schwierigkeit für die Gerichte, die Durchführung fremdsprachlich abgefasster Bestimmungen sicherzustellen. Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes, dem dieser Antrag unterbreitet -wurde, änderte ihn zunächst,.

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im Einverständnis mit der deutschen Eegierung, etwas ab und überwies ihn dann der Konferenz, die allein für den endgültigen Entscheid zuständig war.

Die Konferenz schloss sich dem Vorschlag des Verwaltungsrates an, es sei an der bisherigen Bestimmung, die authentischen Texte in den beiden Amtssprachen abzufassen, nichts zu ändern, dagegen könnten amtliche Übersetzungen dieser Texte vorgesehen werden. Demzufolge erhielt Art. 6 der Geschäftsordnung folgenden neuen Absatz: «Nach der Abstimmung über die authentischen englischen und französischen Texte der Übereinkommensentwürfe und Vorschläge können von diesen auf Wunsch der betreffenden Regierungen offizielle Übersetzungen angefertigt werden, die vom Direktor des Internationalen Arbeitsamtes aufzustellen und dem Generalsekretär des Völkerbundes zu übermitteln sind. Es steht den beteiligten Eegierungen frei, diesen Übersetzungen die Geltung von authentischen Texten für die Durchführung der Übereinkommensentwürfe und Vorschläge in ihren Ländern zu verleihen.» Um dem Internationalen Arbeitsamt die Herstellung dieser deutschen Texte zu erleichtern und um gleichzeitig eine Vereinheitlichung der deutschen Eechtssprache auf dem Gebiete des internationalen Arbeitsrechtes herbeizuführen, wurde zwischen dem Internationalen Arbeitsamt und den Eegierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz vereinbart, dass inskünftig für die deutsche Übersetzung der Beschlüsse der Internationalen Arbeitskonferenz in gemeinsamen Eedaktionskonferenzen Entwürfe ausgearbeitet und dem Internationalen Arbeitsamt unterbreitet werden sollen als Grundlage für die vom Amt herauszugebenden amtlichen deutschen Texte.

Was die deutsche Fassung der bisherigen Übereinkommen und Vorschläge der Internationalen Arbeitskonferenz betrifft, so wurden diese insgesamt einschliesslich des Teiles XIII des Friedensvertrages über die « Arbeit» an einer Konferenz, die zwischen Vertretern des Internationalen Arbeitsamts und der drei oben genannten Eegierungen im November 1928 in Berlin stattfand, einer eingehenden Besprechung unterzogen. Auf Grund der an dieser Konferenz vereinbarten Textredaktion wird das Internationale Arbeitsamt nächstes Jahr eine offizielle deutsche Übersetzung sämtlicher bisheriger Beschlüsse der Internationalen Arbeitskonferenz herausgeben.

'5. P r ü f u n g der von den
Eegierungen gemäss Art. 408 des Vertrages von Versailles e r s t a t t e t e n Berichte.

Von grösster Bedeutung für die Wirksamkeit der Internationalen Arbeitsorganisation ist die Frage der Durchführung der Übereinkommen in den Staaten, die sie ratifiziert haben. Art. 408 des Vertrages von Versailles schreibt den Mitgliedstaaten vor, dem Internationalen Arbeitsamte jährlich einen Bericht über die von ihnen zu diesem Zwecke getroffenen Massnahmen zu erstatten.

Diese Berichte sind in der vom Verwaltungsrate vorgeschriebenen Form abzufassen und haben die von ihm geforderten Einzelheiten zu enthalten. Der

1152 Direktor des Internationalen Arbeitsamtes gibt der nächsten Tagung jeweils in einem zusammenfassenden Auszuge Kenntnis von diesen Berichten.

Überdies gibt Art. 409 den Berufsverbänden das Eecht, an das Internationale Arbeitsamt eine Beschwerde zu richten gegen einen Staat, der angeblich die Durchführung eines von ihm ratifizierten Übereinkommens nicht in befriedigender Weise sichergestellt hat. Dieser Staat kann hierauf vom Verwaltungsrat aufgefordert werden, sich zu der Beschwerde zu äussern.

Endlich sehen die Art. 411 ff. ein Untersuchungsverfahren vor, das eröffnet wird auf die Klage eines Staates gegen einen andern Staat, der die Durchführung eines von beiden Staaten ratifizierten Übereinkommens nicht in befriedigender Weise sichergestellt haben soll. Bisher ist dieses Untersuchungsverfahren noch nie zur Anwendung gekommen.

Gleichwohl hat sich das Bedürfnis geltend gemacht, den jährlich gemäss Art. 408 des Vertrages von Versailles von den Kegierungen erstatteten Berichten grössere Aufmerksamkeit zu schenken, um sich genau darüber Kechenschaft zu geben, in welchem Masse die Staaten die von ihnen ratifizierten Übereinkommen tatsächlich auch durchführen. Demgemäss nahm die Konferenz von 1926 eine Resolution an, wonach die künftigen Konferenzen eingeladen wurden, aus ihrer Mitte einen Sonderausschuss zu ernennen mit der Aufgabe, die zusammenfassenden Auszüge der nach Art. 408 der Konferenz vorgelegten Berichte zu prüfen. Ausserdem wurde der Verwaltungsrat beauftragt, einen sechs- bis achtgliedrigen Sachverständigenausschuss zu ernennen zu dem Zwecke, die Originalberichte der Eegierungen zu studieren, ihm etwa erforderlich erscheinende ergänzende Auskünfte einzufordern und dem Verwaltungsrat einen Bericht zu erstatten, der dem Auszuge aus den jährlichen Eegierungsberichten beizufügen wäre. In Ausführung dessen wurde ein Sachverständigenausschuss bestellt und sein Bericht der Konferenz des Jahres 1927 unterbreitet. Diese ernannte ihrerseits einen Sonderausschuss, von dessen Bericht die Vollversammlung der Konferenz Kenntnis nahm.

IV.

Stellungnahme zu den Beschlüssen der zehnten Tagung.

Nach Art. 405, Abs. 5 des Vertrages von Versailles sind die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation verpflichtet, innerhalb eines Jahres oder ausnahmsweise nicht später als achtzehn Monate nach Schluss der Konferenz die Übereinkommensentwürfe und Vorschlage der Stelle oder den Stellen, die für die Beschlussfassung darüber zuständig sind, zu unterbreiten zum Zwecke der Verwirklichung durch die Gesetzgebung oder zwecks sonstiger Massnahmen.

Bezüglich der zehnten Tagung der Konferenz gilt diese Bestimmung für die beiden Entwürfe von Übereinkommen und den Vorschlag betreffend die Krankenversicherung. Dies sind somit die einzigen Beschlüsse, zu denen die Bundesversammlung Stellung zu nehmen hat.

1153 1. Entwurf

eines Übereinkommens über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Handel und Gewerbe und der Hausgehilfen.

Artikel l des Entwurfes verpflichtet die ratifizierenden Staaten, eine den Bestimmungen des Übereinkommens mindestens gleichwertige Zwangsversicherung für den Krankheitsfall einzurichten. Das Übereinkommen wirkt somit nicht unmittelbar, sondern es stellt bloss eine Eeihe von Grundsätzen auf, nach denen die Staaten ihre Krankenversicherung zu gestalten haben. Verschiedene dieser Grundsätze sind bindend, während inbezug auf andere der staatlichen Gesetzgebung eine gewisse Freiheit gelassen ist.

Der Entwurf steht auf dem Boden des Obligatoriums. Versicherungspflichtig sind alle Arbeiter, Angestellten und Lehrlinge der gewerblichen Betriebe und der Handelsunternehmungen, sowie die Heimarbeiter und Hausgehilfen. Dabei ist es den ratifizierenden Staaten gestattet, einige Ausnahmen vorzusehen. So können von der Versicherungspflicht ausgenommen werden: a. vorübergehende, unständige sowie nur gelegentliche oder im Nebenberuf ausgeübte Beschäftigungen: b. Arbeitnehmer, deren Lohn oder Einkommen eine gesetzlich bestimmte Grenze überschreitet; c. Arbeitnehmer, die keinen Barlohn erhalten; d. Heimarbeiter unter bestimmten Bedingungen; e. Arbeitnehmer, deren Alter unter oder über einer gesetzlich bestimmten Grenze liegt; '/. Familienangehörige des Arbeitgebers. Abgesehen von diesen der Landesgesetzgebung zur Begelung ini Eahmen des Übereinkommens überlassenen Ausnahmen hat die Versicherungspilicht nach dem Willen des Übereinkommensentwurfes die Gesamtheit der im Gewerbe, Handel und im Hausdienste beschäftigten Arbeitnehmer zu umfassen.

Inbezug auf den Inhalt der Versicherung schreibt der Entwurf vor die Gewährung eines Krankengeldes sowie von ärztlicher Behandlung und Versorgung mit Arznei und Heilmitteln in zureichender Beschaffenheit und Menge während mindestens der ersten 26 Wochen der Arbeitsunfähigkeit, gerechnet vom ersten Unterstützungstag an. Versichert ist jede Arbeitsunfähigkeit infolge eines nicht normalen Körper- oder Geisteszustandes. Für die Gewährung des Krankengeldes kann die staatliche Gesetzgebung eine Karenzzeit sowie eine Wartefrist, diese im Ausmasse von höchstens 3 Tagen, vorsehen. Im übrigen enthält der Entwurf Bestimmungen über eine Beihe von Voraussetzungen, unter denen der Krankengeldanspruch ruhen kann. Ebenso ist es den Staaten gestattet, bei absichtlich herbeigeführter Krankheit
die Herabsetzung oder Verweigerung ·des Krankengeldes vorzusehen. Im übrigen ist es zulässig, die Gewährung von .ärztlicher Behandlung, von Arzneien und weitern Heilmitteln zu verweigern, wenn der Kranke den ärztlichen Anweisungen oder der Krankenordnung des Versicherungsträgers nicht Folge leistet.

Von Bedeutung für die Krankenpflegeversicherung ist es, dass das übereinkommen gestattet, die Versicherten auf Grand der staatlichen Gesetze an den Kosten der Krankenpflege zu beteiligen. Dies muss aber in der Gesetzgebung selber niedergelegt sein, sei es im Wege einer bindenden Vorschrift für die einzelBundesblatt.

80. Jahrg.

Bd. II.

85

1154 nen Versicherungsträger, sei es ini Wege einer Ermächtigung an diese; eine blosse Heranziehung des Versicherten zu den Kosten auf Grund statutarischer Vorschrift der Krankenkasse, ohne dass diese Beteiligung gesetzlich vorgesehen ·wäre, ist unzulässig. Was die Deckung der Kosten der Versicherung betrifft, so schreibt der ÜbereinkormTtenseBtwurf die Belastung der Versicherten und der Arbeitgeber vor, während es der Gesetzgebung überlassen bleibt, über die Heranziehung öffentlicher Mittel zu bestimmen.

Die Durchführung der Versicherung ist nach dem Übereinkommensentwurf mit Selbstverwaltungsrecht ausgestatteten, nicht auf Gewinn abzielenden Versicherungsträgern zu übertragen. Diese haben die Versicherung nach dem Grundsatze der Gegenseitigkeit zu betreiben und stehen in bezug auf die Geschäftsführung und die Verwaltung ihrer Mittel unter der Aufsicht des Staates.

Die Durchführung der Versicherung durch den Staat selber ist nur bei Unmöglichkeit oderUntunlichkeit der Selbstverwaltung aus bestimmten Gründen gestattet.

Die schweizerische Krankenversicherung beruht zurzeit auf dem Bundesgesetze vom 13. Juni 1911. Sie ist von Bundes wegen freiwillig; dagegen können Kantone und Gemeinden je für ihr Gebiet kraft bundesgesetzlicher Delegation die obligatorische Krankenversicherung einführen. Der Versicherungsbetrieb liegt in den Händen der sogenannten anerkannten Krankenkassen, d. h. von Genossenschaften oder Vereinen, welche sich gewissen im Bundesgesetze aufgestellten Bedingungen unterziehen und dafür gewisse Privilegien gemessen, wie Anspruch auf Subventionen des Bundes und Steuerfreiheit.

Die wesentlichen Anerkennungsbedingungen sind: Gleichbehandlung der Geschlechter, Gewährung bestimmter Leistungen -- eines minimalen Krankengeldes oder von ärztlicher Behandlung und Arznei -- während einer bestimmten Mindestdauer, die Anerkennung der freien Ärztewahl, welche durch Verträge nur in beschränktem Masse eingeengt werden kann, sowie die Gewährung der Kassenleistungen auch bei Wochenbett.

Aus dem Gesagten erhellt, dass die schweizerische Gesetzgebung über Krankenversicherung zurzeit in ganz wesentlichen, ja entscheidenden Punkten vom oben dargestellten Entwurf des internationalen Übereinkommens abweicht.

Der hauptsächlichste Unterschied besteht in der Freiwilligkeit der Versicherung nach dem
schweizerischen Gesetze gegenüber dem im Übereinkommen verlangten Obligatorium. Ein anderer erheblicher Unterschied ist der, dass das schweizerische Gesetz den Krankenkassen nur die eine oder die andere Leistungsform -- Krankengeld oder Gewährung von ärztlicher Behandlung und Arznei -- vorschreibt, während der Übereinkommensentwurf die gleichzeitige Gewährung beiderlei Leistungen fordert. Endlich verbietet das Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 auch in der obligatorischen Krankenversicherung der Kantone und Gemeinden die Heranziehung des Arbeitgebers zur Mittragung der Versicherungslasten und gewährt dafür staatliche Subventionen, im Gegensatz zum Übereinkommen, das eine gemeinsame Finanzierung der Versicherung durch die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer verlangt, wobei die staatliche Unterstützung nur als fakultative vorgesehen ist.

1155 Schliesslich sei noch auf den ganz verschiedenartigen sozialen Charakter der Krankenversicherung nach dem Übereinkommensentwurf und nach dem Bundesgesetze hingewiesen, der auch eine ganze Eeihe der rechtlichen Verschiedenheiten erklärt. Während das Übereinkommen sich, den Aufgaben der Internationalen Arbeitsorganisation gemäss, auf die Versicherung der Arbeitnehmer beschränkt, erstreckt sich das schweizerische Gesetz gleichermassen auf unselbständig und selbständig Erwerbende, ohne Berücksichtigung ihrer beruflichen Stellung oder ihres Einkommens. Die kantonalen Gesetze und die Gemeindeerlasse über das Obligatoriuro setzen allerdings Höchstgrenzen des Einkommens und des Vermögens für die Versicherungspflicht fest, ohne jedoch im Eahmen dieser Grenzen die Versicherungspflicht auf unselbständig Erwerbende zu beschränken. Von Bundes wegen ist die Versicherung jedermann zugänglich und somit in ausgesprochenem Masse Volksversicherung.

Eine Eatifikation des Übereinkommens durch die Schweiz wurde nach dem Angeführten eine vollständige Umgestaltung der schweizerischen Gesetzgebung über die Krankenversicherung verlangen, insbesondere im Sinne der Einfuhrung eines bundesrechtlichen Obligatoriums der Versicherung, das zum mindesten diejenigen Personen zu erfassen hätte, welche nach dem Übereinkommensentwurf in den einzelnen Ländern als versicherungspflichtig zu erklären sind.

Daneben hätten weitgreifende Änderungen des Inhaltes der Versicherung sowie der Finanzierungsgrundlagen zu erfolgen.

Die schweizerische Krankenversicherung hat unter der Herrschaft des jetzigen Bundesgesetzes vom 13. Juni 1911 einen starken Aufschwung erfahren.

Die Zahl der in anerkannten Krankenkassen versicherten Personen ist von etwa 450,000 bei Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 1914 auf ungefähr l l/t Million im Jahre 1927 angestiegen. Besonders entwickelt hat sich die Versicherung der Frauen und der Kinder, wohl eine Folge der Vorschrift des Gesetzes, dass die Krankenkassen Männer und Frauen gleich zu behandeln haben. Der Hauptteil der Krankenkassenmitglieder ist zugleich auf Krankenpflege und Krankengeld versichert, wie denn auch die Mehrzahl der anerkannten Krankenkassen die Möglichkeit dazu gewährt. Die finanzielle Situation der anerkannten Krankenkassen ist im allgemeinen eine gefestigte. Ihr Vermögen entspricht im
Durchschnitt demjenigen, was die Aufsichtsbehörde des Bundes als Bücklage fordert. Als besonders wertvoll haben sich die Subventionen des Bundes in Gebirgsgegenden erwiesen, wo vielfach erst mit ihrer Hilfe eine genügende Krankenpflege eingerichtet werden konnte. Die Kantone und Gemeinden haben in den letzten Jahren in wachsendem Masse von der bundesrechtlichen Ermächtigung zur Einführung des Obligatoriums der Versicherung Gebrauch gemacht.

In verschiedenen Kantonen befinden sich Erlasse in Vorbereitung. Wenn auch die Zunahme der Krankenkassenmitglieder in den letzten Jahren sich etwas verlangsamt hat, so lassen doch die Verhältnisse, insbesondere die Ausdehnung der obligatorischen Versicherung in Kantonen und Gemeinden, ein weiteres nicht unerhebliches Anwachsen im Laufe der nächsten Jahre erhoffen.

1156 Als Mangel der schweizerischen Krankenversicherung muss dagegen eine starke Zersplitterung in eine Vielheit kleinerer und mittlerer Kassen bezeichnet werden, der zu steuern das jetzige Bundesgesetz nur geringe Handhaben bietet.

Es wird Aufgabe der Aufsichtsbehörde und insbesondere einer Eevision des ·Gesetzes sein, hier durch Konzentration die Grundlage für einen rationelleren Versicherungsbetrieb zu schaffen.

Im Hinblick auf die im allgemeinen befriedigende Entwicklung der Krankenversicherung in der Schweiz und den grossen Bestand an versicherten Personen hat die schweizerische Delegation an der Internationalen Arbeitskonferenz versucht, im Übereinkommensentwurf unter gewissen Bedingungen die Gleichstellung einer freiwilligen Krankenversicherung mit einer obligatorischen zu erreichen. Sie hat in der Kommission beantragt, dann eine freiwillige Versicherung der obligatorischen gleichzuhalten, wenn sie nach ihrer Anlage Garantie bietet, dass mindestens drei Viertel der Arbeitnehmer davon erfasst werden.

Für die Schweiz hätte bei der jetzigen Kombination von bundesrechtlicher Freiwilligkeit der Versicherung mit kantonalem und gemeindeweisem Obligatorium diese Garantie jetzt schon oder in nächster Zukunft übernommen werden können. Die Kommission glaubte, auf diesen Antrag nicht eintreten und im Übereinkommensentwurfe einzig die Zwangsversicherung als zulässige Versicherangsiorrn vorsehen zu sollen. Die schweizerischen Delegierten nahmen ihren Antrag im Plenum der Konferenz wegen seiner Aussichtslosigkeit nicht mehr auf, sahen sich aber angesichts der Beschränkung des Übereinkommens auf die obligatorische Versicherung veranlagst, sich bei der Abstimmung der Stimme zu enthalten. Die gleiche Haltung nahm die Eegierungsdelegation von Dänemark ein, wo, ebenfalls auf dem Boden der Freiwilligkeit, die Krankenversicherung noch stärker entwickelt ist als bei uns und die Zahl der versicherten Personen diejenige aller Staaten, sogar derjenigen mit umfassender obligatorischer Versicherung, überschreitet. Es ist im abrigen zu bemerken, dass, wenn auch der schweizerische Antrag nicht angenommen wurde, doch in der Kommission und in der Konferenz die besondern Verhältnisse der Schweiz und Dänemarks gewürdigt und die Ergebnisse ihres Versicherungssystems durchaus anerkannt wurden.

Es darf zugegeben werden,
da ss das Obligatorium der Krankenversicherung vom sozialen Standpunkte aus eine Pieihe von Vorzügen auf weist, die das System der Freiwilligkeit nicht besitzt und nicht besitzen kann. Insbesondere bietet das Obligatorium die Möglichkeit, auch die wirtschaftlich schwächsten Volksschichten zu erfassen, welche auf die soziale Krankenversicherung ganz besonders angewiesen sind. Die besonders günstigen Verhältnisse, welche in Dänemark und in der Schweiz zu einer starken Entwicklung der freiwilligen Krankenversicherung gefuhrt haben, liegen nur ausnahmsweise vor, und auch für die Schweiz kann festgestellt werden, dass in einzelnen Gegenden, wo Kanton und Gemeinden kein Obligatorium geschaffen haben, die Entwicklung der Versicherung nicht recht befriedigt. Deshalb erscheint die Beschränkung des Übereinkommens auf das Obligatorium in einem gewissen Grade verstand-

1157 lieh, besonders wenn man bedenkt, dass bei Zulassung der freiwilligen Versicherung eine ganze Eeihe von Staaten das Übereinkommen ratifiziert hätte, ohne dass sich auf dem Boden der Freiwilligkeit die Krankenversicherung bei ihnen befriedigend hätte entwickeln können.

Dagegen kommt bei dieser Sachlage eine Ratifikation des Übereinkommens über die Krankenversicherung durch die Schweiz bis auf weiteres nicht in Frage. Ob sie später möglich sein wird, hängt in erster Linie davon ab, ob und wann das jetzige System der freiwilligen Versicherung mit kantonalem und gemeindeweisem Obligatorium durch eine bundesrechtliche Pflichtversicherung ersetzt werden kann und soll.

Der Bundesrat hat im Jahre 1922 das eidgenössische Volkswirtschaf fcsdepartement beauftragt, durch sein Bundesamt für Sozialversicherung die gesetzgeberischen Vorarbeiten für die Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung des Bundes durchzuführen. Bei diesen Arbeiten zeigte sich aber bald, dass nicht nur über das Prinzip, sondern insbesondere auch über den Umfang dieses Obligatoriums in den Kreisen der zunächst Interessierten, namentlich bei den grossen Krankenkassenverbänden, nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten bestanden. Die Schaffung einer obligatorischen Krankenversicherung durch den Bund sollte zugleich die Grundlage für die damals bereits in Vorbereitung befindliche Alters-, Invaliden- und Hinterlassenenversicherung bilden. Der Verfassungsartikel über diese drei Versicherungszweige wie er am 6. Dezember 1925 vom Volk und den Ständen angenommen worden ist, verweist nun aber die Invalidenversicherung in ein zweites Stadium, während fürs erste nur die Alters- und die Hinterlassenenversicherung verwirklicht werden sollen. Damit tritt auch einer der Gründe, welche für die beschleunigte Reform der Krankenversicherung sprachen, vorläufig zurück. Im übrigen ist festzustellen, dass sich das Interesse der öffentlichen Meinung vorwiegend der baldigen Realisierung der Alters- und Hinterlassenenversicherung zugewendet hat, die in breitesten Kreisen als dringlich empfunden wird, während doch das geltende System der Krankenversicherung bereits einen grossen Teil des Volkes umfasst und jedermann Versicherungsgelegenheit bietet. So nehmen denn auch heute die gesetzgeberischen Arbeiten über die Alters- und Hinterlassenenversicherung
die erste Stelle ein. Es sei in diesem Zusammenhang auf den Entwurf des eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes über ein Bundesgesetz für die Alters- und Hinterlassenenversicherung verwiesen, der anfangs September veröffentlicht worden ist und der nach Überprüfung durch eine grössere Expertenkommission demnächst an den Bundesrat und dann an die eidgenössischen Räte geleitet werden soll. Die Schaffung dieses grossen Werkes einer das ganze Volk umfassenden obligatorischen Alters- und Hinterlassenenversicherung, welche auf dem Boden des Obligatoriums steht, wird während der nächsten Jahre die volle Aufmerksamkeit nicht nur des Gesetzgebers, sondern auch der breitesten Öffentlichkeit erfordern und die Anstrengung aller Kreise verlangen, wenn das Werk zu gutem Ende geführt werden soll.

1158 So ist es begreiflich, dass die Krankenversicherung etwas in den Hintergrund zu treten hat. Immerhin werden die Vorarbeiten für die Eevision der Krankenversicherung vom Bundesamte für Sozialversicherung weitergeführt.

Die verschiedenen Interessentengruppen, wie die Krankenkassenverbände und die Ärzteschaft, haben bestimmte Vorschläge eingereicht, mit deren Prüfung das Amt gegenwärtig beschäftigt ist. Besonders eingehend wird zu prüfen sein, ob man sich schon jetzt für die Schaffung eines eidgenössischen Obligatoriums der Versicherung entschliessen oder sich auf eine Teilrevision des bestehenden Gesetzes beschränken will mit dem Ziele, die freiwillige Krankenversicherung zu verbessern, sie den modernen Anschauungen besser anzupassen und ihr eine weitere gedeihliche Entwicklung zu garantieren. Die beim Volkswirtschaftsdepartement bestehende eidgenössische Krankenversicherungskommission hat sich im Jahre 1926 mit der Frage beschäftigt und bei aller Betonung, dass das bundesrechtliche Obligatorium der Versicherung das in Zukunft anzustrebende Ziel sei, sich in Würdigung der Schwierigkeiten, die der baldigen Erreichung dieses Zieles entgegenstehen, für eine Eeform des Versicherungsgesetzes auf dem Boden des bestehenden Brinzips der Freiwilligkeit ausgesprochen. Wenn auch heute in breiten Kreisen der Interessenten der Krankenversicherung wieder eher der Wunsch nach einer baldigen bundesrechtlichen Pflichtversicherung sich geltend macht, so bestehen doch noch weitgehende Differenzen hinsichtlich des Umfanges, der einem Obligatorium zu geben ist. Jedenfalls muss aber am Gedanken der Volksversicherung festgehalten werden in dem Sinne, dass auch ein Obligatorium, möge es nun ein mehr oder weniger ausgedehntes sein, sich nicht auf die unselbständig erwerbenden Personen beschränken darf, sondern innerhalb gewisser Einkommens- und Vermögensgrenzen, ähnlich wie die jetzigen kantonalen Gesetze und die Gemeindeerlasse über die Pflichtversicherung, alle Bevölkerungskreise zu umfassen hat. Doch würde an sich die Einführung des gesetzlichen Obligatoriums durch den Bund die Batifikation des Übereinkommens noch nicht ermöglichen. Es müsste im Gesetz auch noch eine Beihe anderer Fragen, wie die des Inhaltes der Versicherungsleistungen und der Arbeitgeberbeiträge, geregelt werden.

Ob dies aber in einer dem
Übereinkommen entsprechenden Weise geschehen kann, lässt sich heute nicht sagen.

Wir beantragen, von einer Batifikation cles L"bereinkornmensentwurfes betreffend die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehalten bis auf weiteres abzusehen, in der Meinung, dass die Frage nach durchgeführter B,evision des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung neu geprüft werden soll.

2. Entwurf eines Übereinkommens über die Krarilcenversiclierung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft.

Neben dem Übereinkommensentwurf über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel sowie der Hausgehilfen hat die Konferenz

1159 noch den besondern Entwurf eines solchen über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft angenommen. Der wesentliche Grund für ·die Aufstellung zweier Übereinkommensentwürfe war der, möglichst vielen Staaten die Ratifikation des einen oder des andern Übereinkommens zu ermöglichen, da vielerorts das Bedürfnis nach einer alle Arbeitnehmergruppen zusammenfassenden Versicherung nicht besteht oder eine solche umfassende "Versicherung infolge der verschiedenartigen Verhältnisse in Industrie und Handel einerseits, in der Landwirtschaft anderseits, nicht geschaffen werden kann.

Die beiden Übereinkommensentwiirfe stimmen, abgesehen von den Vorschriften über den Geltungsbereich der Versicherung, inhaltlich überein. Der tìbereinkonmiensentwurf über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft bietet für die Schweiz kein besonderes Interesse. Die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer ist nicht bedeutend, da nur wenige landwirtschaftliche Grossbetriebe bestehen, während die Mehrzahl der Betriebe in den Händen selbständiger Bauern liegt, welche sie mit ihren Familienangehörigen mit nur wenigen fremden Hilfskräften führen. Dazu kommt, dass, wie auseinandergesetzt, die schweizerische Krankenversicherung ausgesprochene Volksversicherung ist und auch, wenn sie von Bundes wegen obligatorisch erklärt werden sollte, diesen Charakter durch Zusammenfassung der selbständig und unselbständig Erwerbenden in eine Versicherungsgemeinschaft beibehalten wird.

Wir beantragen deshalb, von einer Eatifikatioii des Übereinkommensentwurfes betreffend die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft ebenfalls abzusehen.

3. Vorschlag ïibor die allgemeinen Grundsätze der Krarikenversicliernng.

Neben den beiden Übereinkommensentwürfen hat die Internationale Arbeitskonferenz noch einen Vorschlag angenommen, der den Mitgliedstaaten die Beobachtung gewisser Grundsätze bei der Schaffung und der Durchführung ihrer obligatorischen Krankenversicherungseinrichtungen empfiehlt. Die Grundsätze beziehen sich sowohl auf den Anwendungsbereich der Versicherung wie auf die Leistungen, die Organisation, die Aufbringung der Mittel und die Erledigung von Streitigkeiten um Versicherungsleistungen. Die Grundsätze sind in der schweizerischen Krankenversicherung zu einem guten Teile bereits
verwirklicht, indem das geltende Bundesgesetz den Krankenkassen hinsichtlich der Gestaltung der Versicherungsbedingungen sowie ihrer Organisation die grösste Freiheit einräumt. Mit Hilfe des Art. 15 des neuen Bundesgesetzes betreffend Massnahmen gegen die Tuberkulose dürfte es möglich sein, die Kassen zur Gewährung besonderer, weitergehender Versicherungsleistungen für diese weitverbreitete und langwierige Krankheit zu veranlassen und sie auch zu Interessengemeinschaften zwecks besserer Bekämpfung derselben zusamrnenzuschliessen. Von besonderer Bedeutung ist die Empfehlung zur Ausgestaltung der Krankenversicherung im Sinne einer Familienversicherung. Auch hierfür

1160 enthält die schweizerische Gesetzgebung bereits die Grundlagen, indem es jedem Familiengliede möglich ist, sich selbständig einer Krankenkasse anzuschliessen, sofern es ihre Aufnahmebedingungen erfüllt und auch dem nichts im Wege steht, dass eine Krankenkasse, "wenn sie die notwendigen Mittel aufzubringen vermag, nicht nur dem versicherten Manne, sondern auch seinen Angehörigen, die nicht selber Mitglieder der Kasse sind, die statutarischen Versicherungsleistungen gewähren kann. Andere Bestimmungen des Vorschlages, wie z. B.

diejenige über die Aufbringung der Mittel, hängen dagegen eng mit der von der Konferenz angenommenen Pflichtversicherung zusammen, so dass ihre Verwirklichung nur auf diesem Boden möglich ist. Unter diesen Umständen können wir auch dem Vorschlage zurzeit keine Folge geben, wobei die an sich durchaus wertvollen Grundsätze über die Ausgestaltung des Inhaltes der Versicherung, soweit sie in der schweizerischen Gesetzgebung und bei den schweizerischen Krankenkassen noch nicht verwirklicht sind, bei der Revision des Gesetzes und auch schon bei der weitern Entwicklung der Versicherung auf dem Boden des geltendenEechts diegebührendePferücksichtigungfindenkönnen.

C. Elfte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz.

I.

Tagesordnung.

Auf der Tagesordnung der elften Internationalen Arbeitskonferenz, die vom 80. Mai bis 16. Juni 1928 in Genf stattfand, standen folgende Fragen: a. Methoden zur Festsetzung der Mindestlöhne.

b. Verhütung von Betriebsunfällen, einschlies?lich der Kupplungsunfälle auf" Eisenbahnen.

Abgesehen von diesen beiden Fragen hatte sich die Konferenz noch mit nachstehenden Geschäften zu befassen: Wahl des Verwaltungsrates des Internationalen Arbeitsamtes auf eine neue dreijährige Amtsdauer, Kenntnisnahme des alljährlichen Berichtes des Direktors und des Auszuges aus den Jahresberichten der Eegierungen über die Durchführung der von ihnen ratifizierten Übereinkommen, Prüfung verschiedener Änderungen der Geschäftsordnung.

Zur Mindestlohnfrage musate die Konferenz endgültig Stellung nehmen, nachdem, wie früher erwähnt, schon im Jahr 1927 darüber verhandelt worden und damit der erste Teil des Verfahrens der doppelten Beratung abgeschlossen war. Die andere der zwei auf der Tagesordnung stehenden Fragen, diejenige der Verhütung von Betriebsunfällen, war dagegen vorläufig bloss einer allgemeinen Aussprache zu unterziehen.

II.

Zusammensetzung der Konferenz.

An der elften Tagung waren 46 Staaten vertreten. Die Teilnehmer, insgesamt 342 bevollmächtigte Personen, setzten sich zusammen aus 150 Delegierten und 192 technischen Batgebern.

1161 Die Konferenz wählte zu ihrem Vorsitzenden den argentinischen Begierungsdelegierten Carlos Saavedra Lamas, früher Justiz- und Unterrichtsminister, Professor für Arbeitsgesetzgebung an der Universität Buenos-Aires.

Zu stellvertretenden Vorsitzenden wurden ernannt: die Herren Mac White, Begierungsvertreter des irischen Freistaates, Hans Vogel, deutscher Arbeitgebervertreter, und Tom Moore, kanadischer Arbeitnehmervertreter.

Die Schweiz hatte folgende Delegation abgeordnet: Begierungsvertreter: Herr Fürsprech H. P f i s t e r , Direktor des eidgenössischen Arbeitsamtes, Herr Dr. H. Giorgio, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung; Arbeit geh er Vertreter: Herr Ch. Tzaut, Ingenieur, Genf; Arbeitnehmer ver treter: Herr Ch. Schürch, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftbundes un des.

Diese Delegierten waren von technischen Batgebern begleitet, die auf dem Gebiet der Lohnfragen und der Unfallverhütung besondere Sachkenntnisse besassen.

III.

Beschlüsse der Konferenz.

Die Beschlüsse der Konferenz über die verschiedenen Fragen und Berichte, die sie zu behandeln hatte, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Mindestlöhne Über diese Frage war durch Aufstellung eines Übereinkommens oder eines Vorschlages endgültig zu beschliessen. Es gelangten zur Annahme: a. der Entwurf eines Übereinkommens über die Einrichtung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen.

b. ein Vorschlag über die Anwendung der Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen.

Der Wortlaut dieser beiden Beschlüsse ist in Beilage II dieses Berichtes, wiedergegeben.

l 2. V e r h ü t u n g von B e t r i e b s u n f ä l l e n , einschliesslich der Kupplungsunfälle auf Eisenbahnen.

So gestellt, hatte die der Konferenz vorgelegte Frage zwei Seiten : eine allgemeine, die das Problem der Sicherheit in seiner Gesamtheit berührte, und eine besondere, welche die Kupplung bei den Eisenbahnen betraf. Im Vorentwurf des Fragebogens, den das Internationale Arbeitsamt gemäss den geltenden Vorschriften über das Verfahren der doppelten Beratung der Konferenz vorlegte, waren allerdings noch andere Spezialfragen der Unfallverhütung erwähnt:

1162 a. Schutz der mit dem Beladen und E n t l a d e n von Schiffen b e s c h ä f t i g t e n Arbeiter gegen Unfälle, b. Gewichtsbezeichnung an schweren P r a c h t s t ü c k e n , die mit S c h i f f e n b e f ö r d e r t werden, o. internationale Eegelung des Höchstgewichtes von Säcken, die von den verschiedenen B e r u f s g r u p p e n der Arbeiter getragen werden, d. Verbot des Handels mit Maschinen, die den geltenden Unf a l l v e r h ü t u n g s v o r s c h r i f t e n nicht entsprechen.

Inbezug auf die Frage der U n f a l l v e r h ü t u n g im allgemeinen stellte ·die Konferenz den Entwurf eines Fragebogens auf mit Fragen über die Ge-wichtsbezeichnung an schweren Frachtstücken, die mit S c h i f f e n b e f ö r d e r t werden, und über den Handel mit u n g e s c h ü t z t e n Maschinen. Gleichzeitig beschloss sie, das Problem der Unfallverhütung auf die Tagesordnung der Konferenz von 1929 zu setzen.

Ausserdem nahm die Konferenz eine Eesolution an, welche die öffentliche Meinung auf dieses Problem aufmerksam macht und auf die in verschiedenen Ländern bereits stark entwickelten, unter dem Namen « Safety First» bekannten Bestrebungen zur Erziehung des Publikums hinweist.

In der Frage betreffend den Schutz der mit dem Beladen und E n t l a d e n von S c h i f f e n b e s c h ä f t i g t e n A r b e i t e r gegen Unfälle kam die Konferenz ebenfalls zur Aufstellung eines Fragebogens und zur Aufnahme dieses Gegenstandes unter die Traktanden der Tagung von 1929.

Der Bundesrat wird Gelegenheit haben, auf diese beiden Gegenstände, -die schon jetzt auf der Tagesordnung der Konferenz von 1929 stehen, zurückzukommen, sobald diese darüber endgültig ihre Beschlüsse gefasst hat.

Die Frage des Schutzes der Arbeiter gegen die G e f a h r e n der Kupplung bei den Eisenbahnen wurde im Jahre 1928 durch eine vom schweizerischen Arbeitnehmervertreter, Herrn Charles Schüren, vorgeschlagene [Resolution vor die Internationale Arbeitskonferenz gebracht. Diese Eesolution lautete folgendermassen : «In Anbetracht der Bedeutung, welche der WagenTnipplung ini Hinblick auf die Sicherheit der Eisenbahnarbeiter zukommt, ersucht die fünfte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz den Verwaltungsrat, bei den Regierungen und den internationalen technischen und beruflichen Organisationen über die automatische Kupplung
Erkundigungen einzuziehen, um zu bestimmen, ob im Interesse der Arbeiter eine internationale Eegelung dieser Angelegenheit wünschenswert ist.» In der Folge unternahm das Internationale Arbeitsamt hierüber verschiedene Studien, und der Verwaltungsrat beschloss, die Frage zurückzustellen, um sie in Verbindung mit dein Gesamtproblem der Unfallverhütung zu prüfen.

Das Internationale Arbeitsamt stellte im Vorentwurf des Fragebogens anlässlich seines Berichtes an die elfte Tagung die Frage, ob es nicht zweckmässig sei, binnen kurzer Zeit (z. B. innerhalb einem oder zwei Jahren) eine Konferenz

1163 von Sachverständigen einzuberufen, die unter seiner Leitung die technische Seite des Problems der automatischen Kupplung von Eisenbahnwagen zu untersuchen hätte.

Das ganze Problem ist in hervorragendem Mass ein solches von internationaler Bedeutung. Beim Verkehr der Eisenbahnwagen von Land zu Land wäre es für die kontinentalen Staaten in der Tat sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, die automatische Kupplung auf ihren normalspurigen Eisenbahnen anders als auf dem Weg einer internationalen Abmachung einzuführen. Der Internationale Eisenbahnverband hat daher auch, wie sein Vertreter in der zum Studium dieser Erage durch die Konferenz bestellten Kommission ausführte, einen besondern Ausschuss eingesetzt, bestehend aus Delegierten der Eisenbahnverwaltungen Deutschlands, Österreichs, Belgiens, Frankreichs, Italiens, Polens und Eusslands, um Statistiken über die Unfälle aufzustellen und eine technische Lösung der Frage der automatischen Kupplung zu suchen. Dieser Ausschuss hat mit seinen Erhebungen bereits begonnen und setzt seine Untersuchungen fort. Das Problem ist aber auch von seiner finanziellen Seite zu betrachten. Die Einführung der aiitomatischen Kupplung würde sehr teuer zu -stehen kommen; es ist im gegenwärtigen Zeitpunkt schwierig, die Kosten zu schätzen, doch handelt es sich zweifellos um grosse Summen.

Auf Grund dieser verschiedenen Feststellungen kam die Konferenz zum Schluss, dass es verfrüht wäre, jetzt schon die Eegierungen über die Nützlichkeit der vom Internationalen Arbeitsamt vorgeschlagenen Expertenkommission zu befragen, dass es vielmehr notwendig sei. die Frage in ihrer Gesamtheit weiter zu prüfen und vorerst das Ergebnis der vom Internationalen Eisenbahnverb and vorgenommenen Erhebungen über die technische Seite des Problems abzuwarten. Demgeruäss nahm die Konferenz folgende von ihrer Kommission vorgeschlagene Eesolution an: « Die Kt/.-ümission hat mit grossem Interesse die Auskunft des Vertreters des Internationalen Eisenbahnverbandes zur Kenntnis genommen, wonach dieser die Anlage einer Statistik in die Wege geleitet hat, um die Frage der Verhütung von Kupplungsunfällen mit besonderer Berücksichtigung der Einfuhrung der automatischen Kupplung gründlich zu untersuchen.

Sie schlägt vor, dass der Internationale Eisenbahnverband ersucht wird, seine Untersuchungen mit
grösstmöglicher Energie fortzusetzen, und deren Ergebnisse dem Internationalen Arbeitsamt so schnell wie möglich (jedenfalls innerhalb der nächsten zwei Jahre) bekanntzugeben.

Sie ersucht das Internationale Arbeitsamt, zu gegebener Zeit einen aus Vertretern der Eegierungen, der Unternehmer und der Arbeiter zusammengesetzten einundzwanziggliedrigen Ausschuss zu bilden, der damit zu beauftragen ist, die Gesamtfrage zu untersuchen; der Ausschuss hat sich über die vom Internationalen Eisenbahnverband erzielten Ergebnisse auf dem laufenden zu halten und baldmöglichst einer spätem Arbeitskon Eerenz Bericht zu erstatten.»

1164 Durch Annahme dieser Besohltion hat die Konferenz stillschweigend entschieden, dass die Frage des Schutzes gegen die Gefahren bei der Kupplung von Eisenbahnwagen im gegenwärtigen Zeitpunkt den Begierungen nicht unterbreitet und dass sie auch nicht auf die Traktandenliste der Konferenz von 1929 gesetzt werden soll.

Bezüglich der Frage endlich einer internationalen Eegelung des Höchstgewichtes von Säcken, die von den verschiedenen Beruf sgruppen der Arbeiter getragen w e r d e n , war die Konferenz mit, ihrer Kommission der Auffassung, dass die vorhandenen Unterlagen nicht genügten, um zu einem bestimmten Schiusa zu kommen. Sie beschloss daher, die Fragean den Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes zu erneuter Prüfung zurückzuweisen und sie im Fragebogen nicht zu erwähnen.

3. E r n e u e r u n g des V e r w a l t u n g s r a t e s .

Wie schon in frühern Berichten erwähnt, erfuhr Art. 393 des Vertrages von Versailles, der die Zusammensetzung des Verwaltungsrates regelt, durch einen Beschluss der Internationalen Arbeitskonferenz vom Jahre 1923 eine Abänderung in dem Sinne, dass die Zahl der Mitglieder auf 32 hinauf gesetzt wurde, wovon 16 die Eegierungen und je 8 die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer vertreten. Als die elfte Internationale Arbeitskonferenz die alle drei Jahre erfolgende Neuwahl des Verwaltungsrates vorzunehmen hatte, war der abgeänderte Art. 393 noch nicht in Kraft, da die Eatifikationen noch nicht in genügender Zahl vorlagen. Die Wahlen von 1928 fanden somit auf Grund des ursprünglichen Art. 393 statt. Es ?ei daran erinnert, dass, von den zwölf Eegierungssitzen acht von Eechts wegen denjenigen Mitgliedstaaten gehören, denen die grösste wirtschaftliche Bedeutung zukommt. In der Begierungsgruppe waren somit nur noch vier Sitze durch Wahl zu besetzen; sie wurden Argentinien, Spanien.

Polen und Schweden zuerkannt.

Als Suppleanten wurden gewählt von der Gruppe der Arbeitgeber Herr Tzaut, schweizerischer Arbeitgebervertreter, und von der Arbeitnehmergruppe Herr Schüren, schweizerischer Arbeitnehmervertreter.

IV.

Stellungnahme zu den Beschlüssen der elften Internationalen Arbeitskonîerenz.

In Ausführung von Art. 405, Abs. 5 des Friedensvertrages von Versailles haben die Eäte nur zu den Beschlüssen der elften Internationalen Arbeitskonferenz betreffend die Mindestlohnfrage Stellung zu beziehen. Wie schon erwähnt, wurden in dieser Materie 1. der Entwurf eines Übereinkommens und 2. ein Vorschlag angenommen (siehe Beilage II).

I . E n t w u r f eines Übereinkommens über die Einrichtung von V e r f a h r e n zur Festsetzung von Mindestlöhnen. Das Übereinkommen auferlegt jedem ratifizierenden Staate die Verpflichtung, Verfahren zu schaffen,

1165 welche die Festsetzung von Mindestlöhnen für die Arbeitnehmer derjenigen Zweige von Gewerbe und Handel (insbesondere der Heimarbeit) gestatten, in denen die Löhne aussergewöhnlich niedrig sind und für die nicht bereits wirksame Einrichtungen zur Festsetzung von Löhnen bestehen. Den ratifizierenden Staaten wird aber freigestellt, diejenigen Erwerbszweige zu bezeichnen, in denen die Verfahren zur Anwendung kommen sollen. Ebenso ist die Wahl des Verfahrens den Staaten anheimgestellt, doch ist zu beachten, dass a. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und allfällige andere zuständige Personen vor der Anwendung der Verfahren angehört werden, i>. Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf paritätischer Basis bei der Durchführung der Verfahren mitwirken und c.

die festgesetzten Mindestlöhne für die Beteiligten verbindlich und unabdingbar sind. Die ratifizierenden Staaten haben darüber zu wachen, dass die festgesetzten Löhne entrichtet werden. Das Becht auf Nachbezug vorenthaltener Lohnteile ist jedem Arbeitnehmer einzuräumen.

Überdies sind die ratifizierenden Mitgliedstaaten zur Berichterstattung über die Anwendung der Verfahren an das internationale Arbeitsamt verpflichtet.

2. Vorschlag b e t r e f f e n d die A n w e n d u n g der V e r f a h r e n zur F e s t s e t z u n g von Mindestlöhnen. Im Vorschlag wird unter Abschnitt A den das Übereinkommen ratifizierenden Staaten eine Anzahl von Bichtlinien für die Durchführung des Übereinkommens gegeben.

Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines Erwerbszweiges die Festsetzung von Mindestlöhnen wünschen, ist die Untersuchung der Verhältnisse des betreffenden Erwerbszweiges anhand zu nehmen. Es wird als besonders zweckmässig erachtet, diejenigen Gewerbe ins Auge zu fassen, in denen regelmässig auch weibliche Personen beschäftigt sind. Arbeitnehmern und Arbeitgebern soll das Kecht eingeräumt werden, ihre Vertretung bei der Festsetzung von Mindestlöhnen selbst zu bezeichnen. Durch die festgesetzten Mindestlöhne soll den Arbeitnehmern eine angemessene Lebenshaltung gesichert werden. Die Auszahlung der festgesetzten Löhne i
Abschnitt B des Vorschlages lenkt die Aufmerksamkeit der Regierungen auf den Grundsatz, dass
den Arbeitenden ohne Bücksicht auf das Geschlecht bei gleicher Arbeit gleicher Lohn zu zahlen ist.

Für eine Beihe von Staaten kommt die Einführung von Mindestlöhnen ausschliesslich für die Heimarbeit in Betracht. Auch der Bundesrat hatte sich dahin ausgesprochen, dass in der Schweiz nur eine sich auf die Heimarbeit beschränkende Mindestlohngesetzgebung durchzuführen sei. An der Konferenz wurden vom Vorsitzenden und vom Berichterstatter der Kommission Erklärungen abgegeben, laut welchen auch eine nur auf Heimarbeit bezügliche Gesetzgebung dem Übereinkommen gerecht würde. In der Diskussion wurde von verschiedenen Votanten, darunter auch von der schweizerischen Kegierungs-

1166 délégation, ausgeführt, dass diese Erklärungen für die Stellungnahme zum Übereinkommen von entscheidender Bedeutung seien. Diese Ausführungen blieben unwidersprochen, so dass eine eigentliche Interpretation des Übereinkommens durch die Konferenz vorliegt, die den einschränkenden Standpunkt gutheisst.

Wir sind der Auffassung, dass die Schweiz bei dieser Auslegung dem Übereinkommen beitreten könne. Voraussetzung für die Eatifikation ist jedoch die Schaffung einer bundesgesetzlichen Grundlage für die Festsetzung von Mindestlöhnen in der Heimarbeit. Ein Heimarbeitsgesetz, das diesbezügliche Bestimmungen enthält, ist in Vorbereitung. Wir hoffen, Ihnen dasselbe in absehbarer Zeit unterbreiten zu können.

Die Stellungnahme zum Übereinkommen und zum Vorschlag kann somit nützlich erst diskutiert werden, wenn die Gesetzgebungsarbeiten zum Abschluss gelangt sind. Wir begnügen uns daher, Ihnen von den beiden Beschlüssen Kenntnis zu geben in der Annahme, dass ihre Diskussion auf diesen spätem Zeitpunkt verschoben wird.

Bern, den 13. Dezember 1928.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates :.

Der B u n d e s p r ä s i d e n t :

Schulthess.

Der Bundeskanzler: Kaeslin.

Beilage I.

Internationale Arbeitskonferenz.

Zehnte Tagung Genf, 25. Mai bis 16. Juni 1927.

Entwürfe von Übereinkommen und Vorschlag der Konferenz.

1168

1.

Entwurf eines

Übereinkommens über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehilfen.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes, die vom Verwaltungsrate des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 25. Mai 1927 zu ihrer zehnten Tagung zusammengetreten ist, hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehilfen, eine Erage, die zum ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört, und dabei bestimmt, dass diese Anträge die Form eines Entwurfes eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 15. Juni 1927, den folgenden Entwurf eines Übereinkommens an zwecks Batifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, gemäss den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen EriedensT ertrage : Artikel 1.

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, eine den Bestimmungen dieses Übereinkommens mindestens gleichwertige Pflichtversicherung für den Krankheitsfall einzurichten.

Artikel 2.

Versicherungspfliqhtig sind die Arbeiter, Angestellten und Lehrlinge der gewerblichen und Handelsunternehnaungen, die Heimarbeiter und Hausgehilfen.

Es bleibt jedoch jedem Mitglied unbenommen, in seiner Gesetzgebung die etwa erforderlich erscheinenden Ausnahmen vorzusehen für a. vorübergehende Beschäftigungen, die sich nicht über eine gesetzlich etwa bestimmte Dauer hinaus erstrecken, für unständige, dem Beruf oder dem Betriebe des Arbeitgebers fremde Beschäftigungen, ferner für nur gelegentlich oder im Nebenberuf ausgeübte Beschäftigungen; b. Arbeitnehmer, deren Lohn oder Einkommen eine gesetzlich etwa bestimmte Grenze überschreitet; c. Arbeitnehmer, die keinen Barlohn erhalten;

1169 d. Heimarbeiter, die nach Art ihrer Arbeitsbedingungen den Lohnempfängern nicht gleichgestellt werden können; e. Arbeitnehmer, deren Alter unter oder über einer gesetzlich etwa bestimmten Grenze liegt; /. Familienangehörige des Arbeitgebers.

Für versicherungsfrei können Personen erklärt werden, denen im Krankheitsfall auf Grund von Gesetz. Verordnung oder Sondersatzung Ansprüche zustehen, die den in diesem Übereinkommen vorgesehenen im ganzen mindestens gleichwertig sind.

Dieses Übereinkommen bezieht sich nicht auf Schiffleute und Angehörige der Seefischerei, deren Versicherung für den Krankheitsfall der Entscheidung einer spätem Konferenz vorbehalten bleibt.

Artikel 3.

Der infolge eines nicht normalen Körper- oder Geisteszustandes arbeitsunfähige Versicherte hat Anspruch auf Krankengeld während mindestens der ersten sechsundzwanzig Wochen der Arbeitsunfähigkeit, gerechnet vom ersten Unterstutzungstag an.

Die Gewährung des Krankengeldes kann durch eine Mindestdauer der Mitgliedschaft sowie durch eine Wartefrist von höchstens drei Tagen bedingt werden.

Der Anspruch auf Krankengeld kann ruhen: a. solange und insoweit der Versicherte wegen der gleichen Krankheit aus anderer Quelle von Gesetzes wegen eine gleichwertige Leistung erhält; b. solange der Versicherte infolge der Arbeitsunfähigkeit seinen gewöhnlichen Arbeitsverdienst nicht einbüsst oder auf Kosten der Versicherung oder aus öffentlichen Mitteln verpflegt wird; das Krankengeld ruht jedoch nur teilweise, wenn der so Verpflegte für den Unterhalt von Familienangehörigen zu sorgen hat; c. solange der Versicherte sich ohne triftigen Grund weigert, den ärztlichen Anweisungen oder der Krankenordnung Folge zu leisten, oder sich absichtlich und ohne Zustimmung des Versicherungsträgers dessen Aufsicht entzieht.

Das Krankengeld kann im Fall einer vom Versicherten absichtlich herbeigeführten Krankheit ganz oder teilweise versagt werden.

Artikel 4.

Der Versicherte hat von Beginn der Krankheit an und mindestens bis zum Ablaufe der Frist, die für den Bezug von Krankengeld festgesetzt ist, Anspruch auf Behandlung durch einen approbierten Arzt sowie auf Versorgung mit Arznei und Heilmitteln in zureichender Beschaffenheit und Menge.

Bundesblatt. 80. Jahrg. Bd. II.

86

1170 Doch kann dem Versicherten eine Beteiligung an den Kosten der Krankenpflege zu den durch die Gesetzgebung festgesetzten Bedingungen auferlegt werden.

Der Anspruch auf Krankenpflege kann ruhen, solange der Versicherte sich ohne triftigen Grund weigert, den ärztlichen Anweisungen oder der Krankenordnung Folge zu leisten, oder versäumt, die vom Versichernngsträger bereitgestellte Krankenpflege zu gebrauchen.

Artikel 5.

Die Gesetzgebung kann die Gewährung von Krankenpflege an Familienangehörige des Versicherten zulassen oder vorschreiben, die in seinem Haushalte leben und von ihm unterhalten werden; sie bestimmt das Nähere.

Artikel 6.

Die Krankenversicherung wird durch Versicherungsträger durchgeführt, die Selbstverwaltungsrecht haben, in ihrer Geschäftsführung und der Verwaltung ihrer Mittel unter Staatsaufsicht stehen und nicht auf Gewinn abzielen.

Freie Versicherungseinrichtungen bedürfen ausdrücklicher staatlicher Anerkennung.

Die Versicherten wirken zu den gesetzlich etwa festgesetzten Bedingungen an der Verwaltung des Versicherungsträgers mit.

Die Versicherung kann jedoch vom Staate selbst durchgeführt werden, wenn und solange die Selbstverwaltung infolge besonderer Verhältnisse, namentlich wegen noch unzulänglicher Entwicklung der Berufsverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, erschwert, unmöglich oder untunlich ist.

Artikel 7.

Die Versicherten und ihre Arbeitgeber tragen zu den Kosten der Krankenversicherung bei.

Der Gesetzgebung bleibt es überlassen, über einen Zuschuss aus öffentlichen Mitteln zu befinden.

Artikel 8.

Dieses Übereinkommen berührt in keiner Weise die Verpflichtungen aus.

dem Übereinkommen betreffend die Beschäftigung der Frauen vor und nach der Niederkunft, das von der Internationalen Arbeitskonferenz auf ihrer ersten Tagung angenommen worden ist.

Artikel 9.

Bei Streitigkeiten über Leistungsansprüche steht den Versicherten ein Eechtsmittel zu.

1171 Artikel 10.

Staaten mit ausgedehnten, sehr dünn bevölkerten Gebieten können von der Durchführung des Übereinkommens in jenen Gebietsteilen absehen, wo wegen der geringen Dichte der verstreut angesiedelten Bevölkerung und wegen unzulänglicher Verkehrsmöglichkeiten eine dem Übereinkommen entsprechende Durchführung der Krankenversicherung unmöglich ist.

Staaten, die von dieser Ausnahmebestimmung Gebrauch machen wollen, haben das bei der Einreichung der Eatifikation dem Generalsekretär des Völkerbundes mitzuteilen. Sie geben dem Internationalen Arbeitsamt unter Anfuhrung der Gründe die Teile ihres Gebietes bekannt, für welche die Ausnahme gelten soll.

In Europa kann diese Ausnahme nur von Finnland in Anspruch genommen werden.

Artikel 11.

Die förmlichen Eatifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge dem Generalsekretär des Völkerbundes zur Eintragung mitzuteilen.

Artikel 12.

Dieses Übereinkommen tritt in Kraft neunzig Tage, nachdem die Eatifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation durch den Generalsekretär eingetragen worden sind.

Es bindet nur diejenigen Mitglieder, deren Eatifikation beim Sekretariat eingetragen ist.

In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied neunzig Tage nach der Eintragung seiner Eatifikation beim Sekretariat in Kraft.

Artikel 13.

Sobald die Eatifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Sekretariat eingetragen sind, teilt der Generalsekretär des Völkerbundes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Eatifikationen, die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.

Artikel 14.

Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 12 verpflichtet sich jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, die Bestimmungen der Artikel l, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10 spätestens am 1. Januar 1929 in Geltung zu setzen und die zu ihrer Durchführung nötigen Massnahmen zu treffen.

1172 Artikel 15.

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, es in seinen Kolonien, Besitzungen und Protektoraten gemäss den Bestimmungen des Artikels 421 des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Artikel der anderen Friedensverträge anzuwenden.

Artikel 16.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum erstenmal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generalsekretär des Völkerbundes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach ihrer Eintragung beim Sekretariat ein.

Artikel 17.

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und darüber zu entscheiden, ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.

Artikel 18.

Der französische und englische Wortlaut des Übereinkommens sind in gleicher Weise massgebend.

1173

2.

Entwurf eines

Übereinkommens über die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes, die vom Verwaltungsrate des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 25. Mai 1927 zu ihrer zehnten Tagung zusammengetreten ist, hat beschlossen, verschiedene Antrage anzunehmen betreffend die Krankenversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft, eine Frage, die zum ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört, und dabei bestimmt, dass diese Antrage die Form eines Entwurfes eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 15. Juni 1927, den folgenden Entwurf eines Übereinkommens an zwecks Eatifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, gemäss den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge : Artikel 1.

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, eine den Bestimmungen dieses Übereinkommens mindestens gleichwertige Pflichtversicherung der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft für den Krankheitsfall einzurichten.

Artikel 2.

Versicherungspflichtig sind die Arbeiter, Angestellten und Lehrlinge der landwirtschaftlichen Betriebe.

Es bleibt jedoch jedem Mitglied unbenommen, in seiner Gesetzgebung die etwa erforderlich erscheinenden Ausnahmen vorzusehen für a. \ orubergehende Beschäftigungen, die sich nicht über eine gesetzlich etwa bestimmte Dauer hinaus erstrecken, für unständige, dem Beruf oder dem Betriebe des Arbeitgebers fremde Beschäftigungen, ferner für nur gelegentlich oder im Nebenberuf ausgeübte Beschäftigungen; b. Arbeitnehmer, deren Lohn oder Einkommen eine gesetzlich etwa bestimmte Grenze überschreitet; c. Arbeitnehmer, die keinen Barlohn erhalten;

1174 d. Heimarbeiter, die nach Art ihrer Arbeitsbedingungen den Lohnempfängern nicht' gleichgestellt werden können; o. Arbeitnehmer, deren Alter unter oder über einer gesetzlich etwa bestimmten Grenze liegt: /. Familienangehörige des Arbeitgebers.

Für versicherungsfrei können Personen erklärt werden, denen im Krankheitsfall auf Grund von Gesetz, Verordnung oder Sondersatzung Ansprüche zustehen, die den in diesem Übereinkommen vorgesehenen im ganzen mindestens gleichwertig sind.

Artikel 3.

Der infolge eines nicht normalen Körper- oder Geisteszustandes arbeitsunfähige Versicherte hat Anspruch auf Krankengeld während mindestens der ersten sechsundzwanzig Wochen der Arbeitsunfähigkeit, gerechnet vom ersten Unterstützungstag an.

Die Gewährung des Krankengeldes kann durch eine Mindestdauer der Mitgliedschaft sowie durch eine Wartefrist von höchstens drei Tagen bedingt werden.

Der Anspruch auf Krankengeld kann ruhen: a. solange und insoweit der Versicherte wegen der gleichen Krankheit aus anderer Quelle von Gesetzes wegen eine gleichwertige Leistung erhält; 6. solange der Versicherte infolge der Arbeitsunfähigkeit seinen gewöhnlichen Arbeitsverdienst nicht einbüsst oder auf Kosten der Versicherung oder aus öffentlichen Mitteln verpflegt wird; das Krankengeld ruht jedoch nur teilweise, wenn der so Verpflegte für den Unterhalt von Familienangehörigen zu sorgen hat: c. solange der Versicherte sich ohne triftigen Grund weigert, den arztlichen Anweisungen oder der Krankenordnung Folge zu leisten, oder sich absichtlich und ohne Zustimmung des Versicherungsträgers dessen Aufsicht entzieht.

Das Krankengeld kann im Fall einer vom Versicherten absichtlich herbeigeführten Krankheit ganz oder teilweise versagt werden.

Artikel 4.

Der Versicherte hat vom Beginn der Krankheit an und mindestens bis zum Ablauf der Frist, die für den Bezug von Krankengeld festgesetzt ist, Anspruch auf Behandlung durch einen approbierten Arzt sowie auf Versorgung mit Arznei und Heilmitteln in zureichender Beschaffenheit und Menge.

Doch kann dem Versicherten eine Beteiligung an den Kosten der Krankenpflege zu den durch die Gesetzgebung festgesetzten Bedingungen auferlegt werden.

Der Anspruch auf Krankenpflege kann ruhen, solange der Versicherte sich ohne triftigen Grund weigert, den ärztlichen Anweisungen oder der Krankenordnung Folge zu leisten, oder versäumt, die vom Versicherungsträger bereitgestellte Krankenpflege zu gebrauchen.

1175 Artikel 5.

Die Gesetzgebung kann die Gewährung von Krankenpflege an Familienangehörige des Versicherten zulassen oder vorschreiben, die in seinem Haushalte leben und von ihm unterhalten werden; sie bestimmt das Nähere.

Artikel 6.

Die Krankenversicherung wird durch Versicherungsträger durchgeführt, die Selbstverwaltungsrecht haben, in ihrer Geschäftsführung und der Verwaltung ihrer Mittel unter Staatsaufsicht stehen und nicht auf Gewinn abzielen.

Freie Versicherungseinrichtungen bedürfen ausdrücklicher staatlicher Anerkennung.

Die Versicherten wirken zu den gesetzlich etwa festgesetzten Bedingungen an der Verwaltung des Versicherungstràgers mit.

Die Versicherung kann jedoch vom Staate selbst durchgeführt werden, ·wenn und solange die Selbstverwaltung infolge besonderer Verhältnisse, namentlich wegen noch unzulänglicher Entwicklung der Berufsverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, erschwert, unmöglich oder untunlich ist.

Artikel 7.

Die Versicherten und ihre Arbeitgeber tragen zu den Kosten der Krankenversicherung bei.

Der Gesetzgebung bleibt es überlassen, über einen Zuschuss aus öffentlichen Mitteln zu befinden.

Artikel 8.

Bei Streitigkeiten über Leistungsansprüche steht dem Versicherten ein Bechtsmittel zu.

Artikel 9.

Staaten mit ausgedehnten, sehr dünn bevölkerten Gebieten können von der Durchführung des Übereinkommens in jenen Gebietsteilen absehen, wo wegen der geringen Dichte der verstreut angesiedelten Bevölkerung und wegen unzulänglicher Verkehrsmöglichkeiten eine dem Übereinkommen entsprechende Durchführung der Krankenversicherung unmöglich ist.

Staaten, die von dieser Ausnahmebestimmung Gebrauch machen wollen, haben das bei der Einreichung der Eatifikation dem Generalsekretär des Völkerbundes mitzuteilen. Sie geben dem Internationalen Arbeitsamt unter Anführung der Gründe die Teile ihres Gebietes bekannt, für welche die Ausnahme gelten soll.

In Europa kann diese Ausnahme nur von Finnland in Anspruch genommen werden.

Artikel 10.

Die förmlichen Eatifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge dem Generalsekretär des Völkerbundes zur Eintragung mitzuteilen.

1176 Artikel 11.

Dieses Übereinkommen tritt in Kraft neunzig Tage, nachdem die Eatif'ikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation durch den Generalsekretär eingetragen worden sind.

Es bindet nur diejenigen Mitglieder, deren Eatifikation beim Sekretariat eingetragen ist.

In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied neunzig Tage nach der Eintragung seiner Eatifikation beim Sekretariat in Kraft.

Artikel 12.

Sobald die Eatifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Sekretariat eingetragen sind, teilt der Generalsekretär des Völkerbundes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Eatifikationen.

die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.

Artikel 13.

"Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 11 verpflichtet sich jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, die Bestimmungen der Artikel l, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und 9 spätestens am 1. Januar 1929 in Geltung zu setzen und die zu ihrer Durchführung nötigen Massnahmen zu treffen.

Artikel 14.

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, es in seinen Kolonien, seinen Besitzungen und seinen Protektoraten gemäss den Bestimmungen des Artikels 421 des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Artikel der anderen Friedensverträge anzuwenden.

Artikel 15.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum erstenmal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generalsekretär des Völkerbundes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen, ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach ihrer Eintragung beim Sekretariat ein.

Artikel 16.

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und darüber zu entscheiden, ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.

Artikel 17.

Der französische und englische Wortlaut des Übereinkommens sind in gleicher Weise massgebend.

im 3.

Yorschlag betreffend

die allgemeinen Grundsätze der Krankenversicherung.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation desVölkerbundes, die vom Verwaltungsrate des Internationalen Arbeitsamtesnach Genf einberufen wurde und am 25. Mai 1927 zu ihrer zehnten Tagung zusammengetreten ist, hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die Grundsätze der Krankenversicherung, eine Frage, die den ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und dabei bestimmt, dass diese Anträge die Torrn eines Vorschlages erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 15. Juni 1927, den folgenden Vorschlag an, der den Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation vorzulegen ist zur Prüfung, ob er sich durch die Gesetzgebung oder in anderer Weise verwirklichen lässt, gernäss den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der andern Friedensverträger Im Hinblick darauf, dass die Erhaltung von Gesundheit und Kraft der Arbeitnehmer nicht nur für sie, sondern ebensosehr für die Gemeinschaften, die ihr Leistungsvermögen zu entfalten wünschen, von grosser Bedeutung ist, dass eine Entwicklung dieser Art nur durch dauernde und planmässige Fürsorge zur Verhütung und Beseitigung von Verlusten an Arbeitskraft erreicht werden kann und dass der beste Weg einer solchen Fürsorge die Einrichtung der Sozialversicherung ist, die den Versicherten bestimmte Ansprüche einräumt, hat die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation Entwürfe von Übereinkommen angenommen, welche die Krankenversicherung" der Arbeitnehmer in Gewerbe und Handel und der Hausgehilfen auf der einen und der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft auf der anderen Seite betreff en und die das Mindestmass festsetzen, dem von Anfang an jedes System der Krankenversicherung gerecht werden muss.

Um den Mitgliedern für die Einrichtung und den Ausbau der Krankenversicherung die Auswertung von Erfahrungen zu ermöglichen, ist es angezeigt, allgemeine Grundsätze aufzustellen, die sich nach der Praxis für eine gerechte, wirksame und zweckmässige Gestaltung der Krankenversicherung als die geeignetsten erwiesen haben.

In dieser Überzeugung empfiehlt die Konferenz allen Mitgliedern, die folgenden Grundsätze und Eegeln in Erwägung zu ziehen:

1178

L Anwendungsbereich.

1. Die Krankenversicherung soll alle berufsmässig auf Grund eines Dienstöder Lehrvertrages beschäftigten Personen ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes umfassen.

2. Wenn jedoch die Festsetzung von Altersgrenzen mit Kücksicht auf einen bereits bestehenden gesetzlichen oder sonstigen Schutz der Arbeitnehmer ausserlialb dieser Grenzen als angezeigt erachtet wird, sollen diese Grenzen weder jugendliche Personen, deren Unterhalt für gewöhnlich als nicht mehr durch ihre Familie bestritten gelten kann, noch solche Arbeitnehmer ausschliessen, die das Anfallsalter für die Altersrente noch nicht erreicht haben.

Soweit Ausnahmen in hezug auf Arbeitnehmer, deren Verdienst oder Einkommen eine bestimmte Grenze überschreitet, vorgesehen sind, sollen diese Ausnahmen sich auf Personen beschränken, deren Arbeitsentgelt oder Einkommen so viel beträgt, dass ihnen billigerweise zugemutet werden kann, für ·den Krankheitsfall selbst Vorsorge zu treffen.

II. Leistungen.

A. Geldleistungen.

3. Um die Wiederherstellung des infolge Krankheit arbeitsunfähigen Versicherten zu beschleunigen, soll zum Ausgleiche des Lohnausfalles ein ausreichendes Krankengeld gewährt werden.

Zu diesem Zwecke soll das gesetzliche Krankengeld in der Eegel nach Massgabe des gewöhnlichen für die Versicherung anrechenbaren Lohnes bemessen werden und unter Berücksichtigung des Unterhaltes für Familienangehörige «inen wesentlichen Bruchteil dieses Lohnes betragen. In Staaten jedoch, wo die Arbeitnehmer die Möglichkeit und Gepflogenheit haben, sich ein zusätzliches Krankengeld zu sichern, kann die Festsetzung des Krankengeldes ohne IRücksicht auf die Lohnhöhe zweckmässig sein.

4. Das gesetzliche Krankengeld soll während mindestens der ersten sechsundzwanzig Wochen der Arbeitsunfähigkeit, vorn ersten Unterstützungstag an gerechnet, gewährt werden; jedoch soll bei schweren und langwierigen Krankheiten sowie für Versicherte, die nach Erschöpfung des Krankengeldanspruches keine Leistungen ans der Invalidenversicherung beziehen, die Bezugsdauer des Krankengeldes bis zu einem Jahr erstreckt werden.

5. Versicherungsträger, die eine gesunde Finanzlage nachweisen können, sollen ermächtigt sein.

a. das Krankengeld in bestimmten Grenzen entweder für alle Versicherten oder für bestimmte Gruppen unter ihnen, namentlich für Versicherte, die für ihre Familie zu sorgen haben, zu erhöhen, b. die gesetzliche Dauer des Krankengeldanspruches zu verlängern.

6. In Staaten, wo die Beerdigungskosten nicht nach Gepflogenheit oder Gesetz durch eine sonstige Versicherung gedeckt sind, sollen die Träger der

1179 Krankenversicherung beim Tode des Versicherten ein angemessenes Sterbegeld gewähren; sie sollen ferner ein solches Sterbegeld beim Tode von Familienangehörigen des Versicherten gewähren können.

B. Sachleistungen.

7. Behandlung durch einen approbierten Arzt sowie Arznei und Heilmittel in zureichender Beschaffenheit und Menge sind vom Beginne der Krankheit an so lange zu gewähren, als es der Zustand des Kranken erfordert; den Versicherten sollen diese Leistungen mindestens bis zum Ablaufe der Frist, die für den Bezug von Krankengeld festgesetzt ist, kostenfrei gewährt werden.

8. Neben dem Anspruch auf Behandlung durch einen approbierten Arzt und auf Versorgung mit Arznei und Heilmitteln in ausreichender Beschaffenheit und Menge soll der Versicherte, pofern es die örtlichen Verhältnisse und die wirtschaftliche Lage gestatten, Anspruch haben auf fachärztliche Behandlung und Zahnbehandlung sowie auf Krankenhauspflege, wenn es die Familienverhältnisse notwendig machen oder die Krankheit eine nur im Krankenhaus durchführbare Behandlung erfordert.

9. Im Falle von Krankenhauspflege soll der Versicherungsträger den vom Versicherten unterhaltenen Familienangehörigen das Krankengeld, das dem Versicherten anderenfalls zustehen würde, ganz oder teilweise zuwenden.

10. Um dem Versicherten und seiner Familie gute gesundheitliche Bedingungen zu gewährleisten, soll den im Haushalte des Versicherten und auf seine Kosten lebenden Familienangehörigen Krankenpflege gewährt werden, wo immer dies nach Lage der Umstände möglich ist.

11. Die Versicherungsträger sollen unter angemessenen Bedingungen über die notwendigen Dienstleistungen der Ärzte verfügen können.

In Stadtbezirken und innerhalb räumlich bestimmter Grenzen soll der Versicherte unter den zur Verfügung des Versicherungsträgers stehenden Ärzten die Wahl haben, es sei denn, dass sich hieraus für den Versicherungsträger ein wesentlicher Mehraufwand ergibt.

C. Krankheitsverhütung.

12. Die meisten Krankheiten können verhütet werden; eine wachsame Verhütung gestattet, Verluste an Arbeitskraft zu verhindern, finanzielle Mittel, die für vermeidbare Krankheitsfälle verwendet werden, zu ersparen und das wirtschaftliche, geistige und sittliche Wohlergehen der Gesamtheit zu heben.

Die Krankenversicherung soll dazu beitragen, die Arbeitnehmer an eine hygienische
Lebensweise zu gewöhnen. Sie soll krankheitverhutende Mass' nahmen vorsehen und sie beim Eintritt der ersten Krankheitsanzeichen der grösstmöglichen Zahl von Personen zugute kommen lassen. Sie soll ferner in der Lage sein, nach einem alle gleichartigen Bestrebungen zusammenfassenden Plane bei der Bekämpfung der sozialen Krankheiten und bei der Hebung der Volksgesundheit mitzuwirken.

1180

III. Organisation der Versicherung.

13. Die Versicherungsträger sollen unter Staatsaufsicht nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung und ausschliesslich zum Wohle der Versicherungsgemeinschaft verwaltet werden. Da die Versicherten selbst von der Versicherung am unmittelbarsten berührt werden, sollen sie durch gewählte Vertreter an der Verwaltung massgebend beteiligt sein.

14. Von besonderen Verhältnissen abgesehen, bietet die Zusammenfassung aller Bestrebungen auf räumlicher Grundlage am ehesten Sicherheit für eine gute Organisation der Krankenpflege und insbesondere für eine zweckmässige Beschaffung und Ausnützung der ihr dienenden, dem Stande der ärztlichen Wissenschaft und Technik entsprechenden Einrichtungen.

IV. Aufbringung der Mittel.

15. Die Mittel der Versicherung sollen durch Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber aufgebracht werden. Zu diesem gemeinsamen Fürsorgeaufwande können zweckmässigerweise Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln hinzutreten, namentlich zwecks Hebung der Volksgesundheit.

Um die Stetigkeit der Versicherung zu gewährleisten, sollen angemessene, den Bedürfnissen der verschiedenen Versicherungssysteme entsprechende Eücklagen gebildet werden.

T. Erledigung von Leistungsstreitigkeiten.

16. Zwecks rascher und wenig kostspieliger Erledigung sollen Streitigkeiten über Leistungsansprüche zwischen Versicherten und Versicherungsträgern von besonderen Spruchstellen entschieden werden, denen mit dem Zwecke der Versicherung und den Bedürfnissen der Versicherten besonders vertraute Eichter oder Beisitzer angehören.

VI. Ausnahmebestimmung für dünnbevölkerte Gebietsteile.

17. Staaten, die wegen ihrer geringen Bevölkerungsdichte oder der Unzulänglichkeit ihres Verkehrswesens in einzelnen Gebietsteilen eine Krankenversicherung nicht einführen können, sollen a. in den betreffenden Gebieten einen den örtlichen Verhältnissen angepassten ärztlichen Dienst einrichten; Ì). von Zeit zu Zeit prüfen, ob die Voraussetzungen für die Einführung der Pflichtversicherung für den Krankheitsfall in jenen Gebieten eingetreten sind.

VII. Schiffsleute und Angehörige der Seefischerei.

18. Dieser Vorschlag bezieht sich nicht auf Schiffsleute und Angehörige der Seefischerei.

Beilage II.

internationale Arbeitskonferenz.

Elfte Tagung Genf, 30. Mai bis 16. Juni 1928.

Entwurf eines Übereinkommens und Vorschlag der Konferenz.

1182 1.

Entwurf eines

Übereinkommens über die Einrichtung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes, die vom Verwaltungsrate des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 30. Mai 1928 zu ihrer elften Tagung zusammengetreten ist, hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, eine Frage, die den ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und dabei bestimmt, dass diese Anträge die Form eines Entwurfes eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 16. Juni 1928, den folgenden Entwurf eines Übereinkommens an zwecks Ratifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, gemäss den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge : Artikel 1.

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, Verfahren einzurichten oder beizubehalten, die es gestatten, Mindestlohne für die Arbeitnehmer in gewissen Gewerben oder Teilen von Gewerben (insbesondere in der Heimarbeit) festzusetzen, in denen keine wirksamen Einrichtungen zur Festsetzung der Löhne, sei es durch Gesamtarbeitsvertrag oder auf anderem V7ege, bestehen und in denen die Löhne aussergewöhnlicli niedrig sind.

Im Sinne dieses Übereinkommens bedeutet das Wort« Gewerbe» die weiterverarbeitenden Gewerbe und den Handel.

Artikel 2.

Jedem Mitgliede, das dieses Übereinkommen ratifiziert, steht es frei, nach Anhörung der Berufsverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, falls solche Verbände für das betreffende Gewerbe oder den Teil des Gewerbes bestehen, selbst zu entscheiden, auf welche Gewerbe oder Teile von Gewerben und insbesondere auf welche Zweige der Heimarbeit oder auf welche Teile derselben die in Artikel l vorgesehenen Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen angewendet werden sollen.

im Artikel 3.

Jedem Mitgliede, das dieses Übereinkommen ratifiziert, steht es frei, die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen und deren Anwendungsweise selbst zu bestimmen.

Hierbei ist folgendes zu beachten: 1. Bevor die Verfahren auf ein Gewerbe oder einen Teil eines Gewerbes angewendet werden, sind die Vertreter der beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer -- darunter sind auch die Vertreter der etwa bestehenden Berufsverbände zu verstehen -- anzuhören sowie nach Ermessen der zuständigen Behörde andere durch ihren Beruf oder ihren Wirkungskreis dazu besonders geeignete Personen.

2. Die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben an der Durchführung der Verfahren teilzunehmen, und zwar in der Form und in dem Masse, wie die Gesetzgebung dies vorsieht, jedenfalls aber in gleicher Zahl und auf dem Fusse der Gleichberechtigung.

3. Die festgesetzten Mindestlöhne haben verbindliche Kraft für die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie dürfen von ihnen nicht durch Binzelabmachungen und, ohne allgemeine oder besondere Ermächtigung durch die zuständige Behörde, auch nicht durch Gesamtarbeitsverträge herabgesetzt werden.

Artikel 4.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um im Wege der1 Aufsicht und mit Hilfe von Zwangsmassnahmen sicherzustellen, dass die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer Kenntnis von den geltenden Mindestlöhnen erhalten und dass die wirklich gezahlten Löhne nicht niedriger sind als die Mindestlöhne, wo solche gelten.

Jedem Arbeitnehmer, für den die Mindestlohnsätze gelten, der aber einen* geringeren Lohn erhalten'hat, ist das Recht zu wahren, auf gerichtlichem oder einem anderen gesetzlichen Wege die Zahlung des ihm gebührenden Lohnrestes innerhalb einer von der Gesetzgebung zu bestimmenden Frist zu erwirken.

Artikel 5.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, dem Internationalen Arbeitsamt alljährlich eine allgemeine Darstellung zu übermitteln, die ein Verzeichnis der Gewerbe oder Teile von Gewerben enthält,, in denen die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen Anwendung gefunden haben, und die über die Formen der Anwendung sowie über die Ergebnisse der Verfahren Auskunft gibt. Diese Darstellung soll zusammenfassendeAngaben über die ungefähren Zahlen der von
der Regelung erfassten Arbeitnehmer, über die festgesetzten Mrudestlohnsätze und gegebenenfalls über die sonstigen für die Mindestlohnregelung besonders wichtigen Massnahmen enthalten.

1184 Artikel 6.

Die förmlichen Batifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge dem Generalsekretär des Völkerbundes zur Eintragung mitzuteilen.

Artikel 7.

Das Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder, deren Batifikationen beim Sekretariat eingetragen worden sind. Es tritt zwölf Monate nach dem Zeitpunkt in Kraft, an dem die Batifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Generalsekretär eingetragen worden sind.

In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes Mitglied zwölf Monate nach dem Zeitpunkt in Kraft, an dem seineBatifikationeingetragen worden ist.

Artikel 8.

Sobald die Batifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Sekretariat eingetragen sind, teilt der Generalsekretär des Völkerbundes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Batifikationen, die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.

Artikel 9.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum erstenmal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generalsekretär des Völkerbundes kundigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung beim Sekretariat ein.

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorhergehenden Absätze bezeichneten Zeitraumes von zehn Jahren von seinem Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für weitere fünf Jahre gebunden und kann hernach das Übereinkommen jeweils nach Ablauf von fünf Jahren unter den in diesem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen kündigen.

Artikel 10.

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat mindestens alle zehn Jahre einmal der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und darüber zu entscheiden, ob seine Durchsicht oder Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.

Artikel 11.

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise massgebend.

1185

2.

Vorschlag betreffend

die Anwendung der Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes, die vom Verwaltungsrate des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 30. Mai 1928 zu ihrer elften Tagung zusammengetreten ist, hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, eine Frage, die den ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und dabei bestimmt, dass diese Anträge die Form eines Vorschlages erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 16. Juni 1928, den folgenden Vorschlag an, der den Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation vorzulegen ist zur Prüfung, ob er sich durch die Gesetzgebung oder in anderer Weise verwirklichen lässt, gemäss den Bestimmungen des Teiles XIII des Vertrages von Versailles und der entsprechenden Teile der anderen Friedensverträge:

Die allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation hat den Entwurf eines Übereinkommens betreffend die Einrichtung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen angenommen.

Sie wünscht den Entwurf dieses Übereinkommens dadurch zu ergänzen, dass sie für die Mitglieder als Eichtschnur gewisse allgemeine Grundsätze aufstellt, die sich nach den bisherigen Erfahrungen praktisch am besten bewährt haben.

Sie empfiehlt daher allen Mitgliedern, die folgenden Grundsätze und Regeln in Erwägung zu ziehen.

I.

1. Damit jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, über die erforderlichen Unterlagen verfuge, die ihm gestatten, eine Entscheidung über die Anwendung der Verfahren zur Pestsetzung von Mindestlohnen zu treffen, wären die tatsächlich gezahlten Löhne und die zur Begelung der Löhne etwa bestehenden Einrichtungen zum Gegenstand einer Untersuchung in allen Gewerben oder Teilen von Gewerben zu machen, für welche die Arbeitgeber oder Bundesblatt. 80. Jahrg. Bd. II.

87

1186 die Arbeitnehmer die Anwendung der Verfahren fordern und Nachweisungen vorlegen, die fürs erste vermuten lassen, dass keine wirksamen Einrichtungen zur Pestsetzung der Löhne b etehen. und dass die Löhne aussergewöhnlich niedrig sind.

2. Ohne die Freiheit in Frage zu stellen, die der Entwurf des Übereinkommens den Mitgliedern einräumt, selbst zu bestimmen, für welche Gewerbe oder Teile von Gewerben sie in ihrem eigenen Lande die Anwendung der Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen für angezeigt halten, dürfte es zweckmässig sein, im besonderen diejenigen Gewerbe oder Teile von Gewerben ins Auge zu fassen, in denen regelmässig auch Frauen beschäftigt werden.

II.

1. Zur Durchführung der Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, gleichviel welcher Art sie sind (z.B. Fachausschüsse für jedes einzelne Gewerbe.

Gesamtausschüsse für Gruppen von Gewerben, Schlichtungsstellen mit Zwangsverfahren), wäre eine Untersuchung der Verhältnisse des betreffenden Gewerbes oder Teiles des Gewerbes vorzunehmen; die wesentlich und hauptsächlich beteiligten Parteien, d. h. die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer des betreffenden Gewerbes oder Teiles des Gewerbes, sind anzuhören; ihre Meinung sollte unter allen Umständen über sämtliche mit der Festsetzung von Mindestlöhnen zusammenhängenden Fragen eingeholt und weitgehend und gleichmâssig berücksichtigt werden.

2. a. Um den etwaigen Lohnfestsetzungen grösseres Gewicht zu sichern, wäre es erwünscht, den beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine unmittelbare und gleichberechtigte Teilnahme an den Beratungen und Entscheidungen der mit der Festsetzung der Löhne betrauten Körperschaften durch Vertreter in gleicher Zahl oder doch mit gleichem Stimrnrechte zu gewähren. Jedenfalls müsste stets, wenn die eine Partei eine derartige Vertretung erhält, auch die andere Partei gleichberechtigt vertreten sein. In die Körperschaften zur Festsetzung der Löhne wären überdies ein oder mehrere unparteiische Personen aufzunehmen, deren Stimmen gestatten würden, dass wirksame Entscheidungen auch dann gefällt werden können, wenn sich die Stimmen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in gleicher Zahl gegenüberstehen; diese unparteiischen Personen sollten möglichst im Einvernehmen mit den Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in den mit der Festsetzung der Mindestlöhne
betrauten Körperschaften oder nach Anhörung dieser Vertreter bestellt werden.

o. Um sicherzustellen, dass die Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer das Vertrauen derjenigen besitzen, deren Interessen sie vertreten, wäre den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern, soweit die Umstände dies gestatten, das Eecht einzuräumen, bei der Bestimmung ihrer Vertreter mitzuwirken.

Jedenfalls wären durch die Berufsverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, falls solche bestehen, diejenigen Personen namhaft zu machen, die zu Mitgliedern der mit der Lohnfestsetzung betrauten Körperschaft vorgeschlagen werden.

1187 -c. Der Unparteiische oder die Unparteiischen, die in Absatz a vorgesehen sind, wären aus einem Kreise von Männern und Frauen auszuwählen, die anerkanntermassen die erforderliche Befähigung zur Erfüllung der Aufgabe besitzen und an dem betreffenden Gewerbe oder Teile des Gewerbes nicht derart beteiligt sind, dass dadurch ein Zweifel an ihrer Unparteilichkeit entstehen könnte.

d. Wenn Frauen in grosser Zahl in einem Gewerbe oder in Teilen eines Gewerbes beschäftigt werden, wären soweit wie möglich weibliche Personen als Vertreter der Arbeitnehmer und eine oder mehrere Frauen als Unparteiische (siehe 2 a) heranzuziehen.

III.

Bei der Festsetzung der Mindestlohnsätze hätte die mit dieser Aufgabe betraute Körperschaft unter allen Umständen der Notwendigkeit Eechnung zu tragen, dass den beteiligten Arbeitnehmern eine angemessene Lebenshaltung gesichert wird. Zu diesem Zwecke wären zunächst die Lohnsätze zu beachten, die für ähnliche Arbeiten in Gewerben gezahlt werden, in denen die Arbeitnehmer ausreichend organisiert sind und wirksame Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen haben; soweit solche Yergleichsmöglichkeiten fehlen, wäre die allgemeine Lohnhöhe in dem betreffenden Land oder an dem betreffenden Ort in Betracht zu ziehen.

Es wären geeignete Vorkehrungen zu treffen, um die Mindestlohnsätze, die von den Körperschaften zur Festsetzung der Löhne bestimmt wurden, einer Nachprüfung zu unterziehen, wenn dies von den Arbeitnehmern oder Arbeitgebern verlangt wird, die Mitglieder dieser Körperschaften sind.

IV.

Um die Löhne der beteiligten Arbeitnehmer wirksam zu schützen und die beteiligten Arbeitgeber vor der Gefahr unlauteren Wettbewerbes zu bewahren, wären unter den Massnahmen, die eine Gewähr dafür bieten, dass keine geringeren als die festgesetzten Mindestlöhne gezahlt werden, insbesondere die folgenden zu treffen: a. Vorkehrungen, um die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer über die geltenden Lohnsätze auf dem laufenden zu halten; b. amtliche Überwachung der wirklich gezahlten Löhne; o. Zwangsmassnahmen bei Verstösseu gegen die geltenden Lohnsätze wie auch Massnahmen zur Verhütung solcher Verstösse.

1. Um die Arbeitnehmer, die wohl in geringerem Masse als die Arbeitgeber in der Lage sind, sich aus eigenen Mitteln über die Entscheidungen der Körperschaften zur Festsetzung der Mindestlöhne Kenntnis
zu verschaffen, über die îàr sie geltenden Lohnsätze auf dem laufenden zu halten, könnten die Arbeitgeber verpflichtet werden, die geltenden Lohnsätze in ihrem vollen Umfang an leicht zugänglicher Stelle anzuschlagen, und zwar in den Arbeitsstätten oder,

1188 soweit es sich um Heimarbeiter handelt, in den Eäumlichkeiten, in denen die Arbeit ausgegeben oder nach Vollendung abgeliefert wird, oder in denen die Lohnzahlung erfolgt.

2. Es erscheint angezeigt, Aufsichtspersonen in genügender Zahl zu verwenden, die ähnliche Befugnisse erhalten sollten, wie sie für Arbeitsaufsichtsbeamte in dem von der Allgemeinen Konferenz des Jahres 1923 angenommenen Vorschlage betreffend die allgemeinen Grundsätze für die Einrichtung des Aufsichtsdienstes vorgesehen sind. Diese Aufsichtspersonen hätten durch Erhebungen bei den beteiligten Arbeitgebern und Arbeitnehmern sich davon zu überzeugen, ob die tatsächlich gezahlten Löhne den geltenden Mindestlohnsätzen entsprechen und gegebenenfalls die bei Verletzung der Lohnsätze gesetzlich vorgesehenen Massnahmen zu treffen.

Damit die Aufsichtspersonen ihre Aufgabe bestmöglich zu erfüllen vermögen, könnten die Arbeitgeber verpflichtet werden, vollständige und genaue Verzeichnisse über die von ihnen gezahlten Löhne oder, soweit es sich um Heiniarbeiter handelt, ein Verzeichnis derselben mit Wohnungsangabe zu führen; diesen Arbeitern wären Lohnbücher oder andere ähnliche Ausweise auszuhändigen, auf Grund deren sich feststellen Hesse, ob die tatsächlich gezahlten den geltenden Mindestlohnsätzen entsprechen.

3. Für den Fall, dass die Arbeitnehmer nicht allgemein in der Lage sind, selbst auf gerichtlichem oder anderem gesetzlichem Weg ihr Eecht auf Nachzahlung des ihnen gebührenden Lohnrestes geltend zu machen, wären andere wirksame Massnahmen vorzusehen, um die Verletzung der Vorschriften über Mindestlohnsätze zu verhüten.

B.

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation erachtet es als ihre Pflicht, die Aufmerksamkeit der Begierungen auf den durch Artikel 427 des Friedensvertrages ausdrücklich bestätigten Grundsatz zu lenken, dass Männern und Frauen für eine Arbeit von gleichem Werte gleicher Lohn zu gewähren ist.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die zehnte und elfte Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz. (Vom 18. Dezember 1928.)

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1928

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19.12.1928

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