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Bundesblatt 95. Jahrgang.

Bern, den 19. August 1948.

Band I.

Erscheint in der Regel alle 14, Tage. Preis 20 Franken im Jahr, 10 Franken im Halbjahr, zuzüglich Nachnahme- andPostbestellungsgebühr., Einrückungsgebühr 50 Rappen die Petitzeile oder deren Kaum. -- Inserate franko an Stämpfli & Cie. in Bern.

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Bericht des

Bundesrates an die Bundesversammlung über das Postulat des Nationalrates betreffend die Einführung eines Verfassungsrates.

(Vom 6. August 1943.)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Der Nationalrat hat ara 23. September 1942 ein Postulat angenommen, das am 12. Juni 1942 von Nationalrat Oeri und sieben Mitunterzeichnern eingereicht worden war und das folgenden Wortlaut hat : Nach dem Kriege wird sich ohne Zweifel das Begehren nach beförderlicher Vornahme einer Totalrevision der Bundesverfassung in weiten Volkskreisen einstellen.

Die geltenden Verfassungsbestimmungen, sehen in den Artikeln 118 ff. als Revisionsbehörde nur die eidgenössischen Räte vor und gewähren keine Möglichkeit, einen Verfassungsrat einzusetzen, wie es viele Kantonsverfassungen tun. Das kann sich als schwerer Nachteil für die Revisionsarbeit erweisen. Nach dem Wegfall des Vollmachtenregimes wird das Parlament wieder durch eine Fülle von Geschäften beansprucht sein und für Verfassungsberatungen nur wenig Zeit erübrigen können, so dass für diese eine jahrelange Dauer zu gewärtigen wäre. Ein besonderer Verfassungsrat könnte nicht nur rascher, sondern auch rationeller arbeiten. Er müsste nicht so viele Mitglieder zählen wie die Bundesversammlung, wäre aber selbstverständlich wie diese unter Berücksichtigung des föderalistischen Prinzips zu konstituieren. Ihm könnten die Mitglieder der eidgenössischen Räte angehören, müssten es aber nicht. Die Kandidatenwahl könnte auf Grund von Eignung und Interesse für staatsrechtliche Fragen getroffen werden. Hauptsächlich aber entginge die Bundesversammlung selber dein Vorwurf, ein wichtiges Volksanliegen zu verschleppen.

Ohne zur Frage der Notwendigkeit einer Totalrevision selbst Stellung zu nehmen, stellen daher die Unterzeichneten das Postulat: Der Bundesrat wird eingeladen, die Frage zu prüfen und Bericht und Antrag darüber zu stellen, ob nicht noch während der laufenden Amtsperiode dem Volk eine Partialrevision der Bundesverfassung vorzulegen sei, die es ermöglichen würde, die Revision der Bundesverfassung gegebenenfalls einem besonders zu wählenden Verfassungsrat zu übertragen.

Hiermit beehren wir uns, Ihnen den gewünschten Bericht zu unterbreiten.

Bundesblatt. 95. Jahrg. Bd. I.

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I. Allgemeines.

Zur Prüfung stellt die Frage, ob nicht die Möglichkeit geschaffen werden soll, «die Eevision der Bundesverfassung gegebenenfalls einem besonders zu wählenden Verfassungsrat zu übertragen». Diese A u f g a b e ist im folgenden zunächst etwas genauer zu umschreiben. Das Postulat spricht ganz allgemein von einer Eevision der Bundesverfassung. Aus dem Hinweis auf die früher oder später sich aufdrängende Totalrevision sowie aus der Begründung des Postulats muss aber geschlossen werden, dass die Postulanten den Verfassungsrat (abgekürzt «VB») nur für die Totalrevision, nicht auch für blosse Partialrevisionen in Aussicht genommen haben. Wie in der Begründung betont wurde, soll er allerdings nicht nur für die nächste, sondern auch für künftige Totalrevisionen zur Verfügung stehen. Im Text des Postulats ist sodann die Eede davon, dem VB, die Bevision der BV «zu übertragen». Damit will aber die Mitwirkung des Volkes nicht ausgeschaltet werden; der VE soll nur diejenigen Funktionen und Kompetenzen erhalten, die nach geltendem Eecht hinsichtlich der Totalrevision den eidgenössischen Eäten zustehen. Das obligatorische E e f e r e n d u m will also nicht ausgeschaltet werden; die Zustimmung der Mehrheit des Volkes und der Stände bleibt vielmehr vorbehalten. Das Postulat sagt ferner nur, der VE sei «besonders» zu wählen, und zwar unter Berücksichtigung des föderalistischen Prinzips. Dagegen gibt es keine Auskunft darüber, wer ihn zu wählen hätte. "Wie wir aus einem Aufsatz von Nationalrat Oeri in den Schweizer Monatsheften (1942 S. 230) entnehmen, ist dabei an eine vom Volk gewählte Körperschaft zu denken. Dies sei -- heisst es dort -- im Text des Postulats nur deshalb nicht gesagt worden, «weil sich in der Schweiz das Demokratische von selbst versteht». Das gleiche gilt wohl auch für den Vorbehalt des obligatorischen Verfassungsreferendums. Weiter ist zu bemerken, dass das Postulat nur die Möglichkeit schaffen "will, die Bevisionsaufgaben, die nach geltendem Eecht den beiden Eäten zukommen, dem VE zu übertragen, falls er die Arbeit besser besorgen kann; es wird also nur ein F a k u l t a t i v u m in Aussicht genommen. Dabei wird aber nicht gesagt, wer darüber zu entscheiden hätte, ob ein Verfassungsrat zu wählen sei. oder, nicht. Endlich verlangt der Text des Postulats nur die Prüfung der Frage,
ob dem Volk eine Partialrevision der B V in. diesem Sinne vorzulegen sei oder nicht.

Für die nachfolgenden Erörterungen ist es sodann wichtig, festzustellen, in welchem Sinne wir den Begriff «Verfassungsrat» verwenden. Im weitesten Sinne versteht man unter einem VE jene Behörde, die sich mit.der Schaffung oder Abänderung von Verfassungsrecht im formellen Sinne zu befassen hat, und unter letzterem werden jene Vorschriften verstanden, für deren Abänderung im Vergleich zu den gewöhnlichen Gesetzen besondere Erschwerungen vorgeschrieben sind. Diese Erschwerungen, die in der mittelbaren oder unmittelbaren Mitwirkung des Volkes bestehen, sollen dem Volk Gewähr dafür bieten, dass ihm gewisse Mindestrechte nicht entzogen werden. Seine theoretische Begründung hat dieses Eecht des Volkes vor allem in der Lehre Eousseaus vom Gesellschaftsvertrag (Contrat social) gefunden, die sich auf die naturrecht-

599 liehe Vorstellung stützt, der Staat beruhe auf einem Vertrag, dem das Volk stillschweigend, aber freiwillig zugestimmt habe, so dass dieser Vertrag auch nur mit Zustimmung des Volkes wieder geändert werden könne (vgl. Gmelin, Politisches Jahrbuch, s. v, Verfassung). Eine Verfassung in diesem formellen Sinne hat nur der konstitutionelle Staat, wogegen jeder Staat eine Verfassung im materiellen Sinne, d. h. eine grundlegende Zuständigkeitsordnung der Gesellschaft, haben muss (vgl. Burckhardt, Methode und System des Eechts S. 132 f.). Die Verfassung im formellen Sinne ist -- historisch gesehen -- das Ergebnis des Kampfes des Volkes um das souveräne Eecht, in grundlegenden Fragen des Staatslebens selbst zu entscheiden. Da das Volk aber die Verfassung nicht selbst ausarbeiten kann, delegiert es diese Aufgabe. Es überträgt sie -- nach dieser Ansicht -- entweder der gesetzgebenden Behörde, welche auch die ordentliche Gesetzgebung zu besorgen hat oder einer neben ihr bestehenden, vom Volk gewählten besondern Behörde, die sich nur mit der Schaffung oder Abänderung der Verfassung abzugeben hat. Diese letztere nennt man Verfassungsrat im engern, demokratischen Sinne, mag er die Kompetenz haben, über Annahme oder Ablehnung einer Verfassung oder einer Verfassungsbestimmung endgültig zu entscheiden oder nur zuhanden der Volksabstimmung einen Entwurf auszuarbeiten, wie dies im Postulat vorgesehen ist.

In einem weitern Sinne werden in der Geschichte mit dem Namen Verfassungsrat (assemblée constituante, Verfassungskonvent u. dgl) auch jene Eäte bezeichnet, die nur im Namen des Volkes, aber nicht in seinem Auftrag Verfassungsrecht geschaffen oder abgeändert haben, indem sie nicht vom Volk gewählt waren, sondern sich selbst die Kompetenz anmassten. Letzteres war regelmässig der Fall in Verbindung mit revolutionären Vorgängen, insbesondere bei der Entstehung oder Verselbständigung eines Staates oder beim Übergang zu einer andern Staatsform. Für die Beurteilung der vorliegenden Frage kann aber nur der Verfassungsrat im engern Sinne in Frage kommen, d. h. ein vom Volk neben der gesetzgebenden Behörde gewählter Eat, der sich nur mit der Schaffung oder Abänderung formellen Verfassungsrechts zu befassen hat, u. Geschichtliches und Rechtsvergleichendes.

Ein Verfassungsrat in dem erwähnten nicht demokratischen Sinne
war z. B. der Offiziersrat, der zur Zeit Cromwells im Jahre 1658 in England das sogenannte Instrument of government vorlegte, das die erste geschriebene und wirklich angewendete Verfassung der neuen Zeit war (vgl. Eufer, Politische Eundschau 1942 S. 827). Die Voraussetzungen für einen demokratischen Verfassungsrat waren erst geschaffen, als die amerikanischen Kolonien sich von England loslösten und daran gingen, selbständige Staaten auf demokratischer Grundlage zu bilden. Von hier wurde dieses Institut während der französischen Kevolution, gefördert namentlich durch die Schriften von Condorcet und Sieyes, von Frankreich übernommen, von wo aus es in die Verfassungen anderer Staaten, u. a. auch in diejenigen der meisten Kantone, überging.

600 Die ersten Verfassungsräte in diesem Sinne waren -wohl die in N o r d amerika während des Unabhängigkeitskrieges gewählten besondem Versammlungen und Konvente zur Schaffung der Verfassungen der Einzelstaaten, Veranlasst durch ein Dekret des Kongresses vom Mai 1776, beriefen die einzelnen Provinzen besondere Vertretungen zwecks Schaffung von Verfassungen, die während des Unabhängigkeitskrieges die nötige Ordnung gewährleisten sollten.

Die Berufung von Vcrfassungsräten war hier durch den revolutionären Charakter des Vorganges gegeben. Wenn diese in der Folge neben den gesetzgebenden Behörden beibehalten wurden, so sprach dabei wohl die Überlegung mit, dass eine Teilung zwischen der Kompetenz zur Verfassungsgebung und derjenigen zur Gesetzgebung sich empfehle, um nicht den gesetzgebenden Bäten zu viel Macht anvertrauen zu müssen (vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, Tübingen 1909 S. 408).

Die'amerikanische Bundesverfassung. vom. Jahre 1787 ist ebenfalls von einem Eat geschaffen worden, der zu diesem Zwecke konstituiert worden war, indem die einzelnen Staaten besondere Delegierte bezeichneten. Dem bisherigen Kongress, der eine Abänderung der bestehenden Articles of Confédération nur mit Einstimmigkeit hätte beschliessen können, wollte man diese A\ifgabe schon deswegen nicht übertragen, weil er zufolge der zerrütteten Verhältnisse des nötigen Ansehens entbehrte und weil man sich vor seinen Übergriffen fürchtete (vgl. James Beck, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Berlin 1926, S. 47 ff. und 59; Zweig, S. 408). Auch hier erklärt sich die Wahl eines besondern Eates aus den ausserordentlichen Verhältnissen.

In der neuen, von diesem Bat ausgearbeiteten Bundesverfassung ist dann das Institut des Verfassungskonvents als Fakultativum aufgenommen worden, indem Art. V bestimmte: «Der Kongress soll, wenn immer zwei Drittel beider Häuser es für notwendig halten, Arnendments zu dieser Verfassung vorschlagen, oder er soll auf Ansuchen der Parlamente von zwei Dritteln der Staaten einen Konvent berufen, der Vorschläge zu Änderungen machen soll. Diese sollen in beiden Fällen allen Absichten und Zwecken gegenüber als Teile dieser Verfassung rechtskräftig sein, falls sie von den Parlamenten von drei Vierteln der Einzelstaaten, je nachdem die eine oder die andere Eatifizierungsart vom
Kongress festgesetzt ist, ratifiziert werden.» Die Beratung der Verfassungsänderungen durch einen besondern Konvent ist hier also nur für den Fall vorgesehen, dass die Initiative von den Einzelstaaten ausgeht, und auch in diesem Falle wird dieser Eat vom Kongress berufen. Es handelt sich somit nicht um einen eigentlichen Verfassungsrat. Ausserdem ist die Möglichkeit der Berufung eines solchen toter Buchstabe geblieben. Denn die Änderungen der Unionsverfassung sind in Wirklichkeit ohne die Mitwirkung des Verfassungsrates durchgeführt worden (vgl. Gmelin, Politisches Handwörterbuch, s. v. Verfassunggebung).

Dio Idee des Verfassungsrates wurde dann von Frankreich übernommen und stand wahrend der Eevolution im Mittelpunkt der Ereignisse. Nachdem am 5. Mai 1789 die Generalstände in Versailles zur Beratung zusammengetreten

601 waren und sich nicht einigen konnten, erklärte sich der dritte Stand auf Antrag von Siôyès zur Assemblée constituante (Konstituante) und arbeitete eine Verfassung aus, die Frankreich zur konstitutionellen Monarchie machte. Ein Verfassungsrat im engern Sinne war die Konstituante jedoch nicht, da sie sich die verfassunggebende Kompetenz selbst beigelegt hatte. Das gleiche gilt auch von der Convention nationale (Nationalkonvent), welche dio republikanische Verfassung vom 10. August 1793 und die Direktorialverfassung vom 23. September 1795 ausarbeitete und dem Volk zur Abstimmung vorlegte (vgl. Borgeaud, Etablissement et révision des constitutions, Paris 1893 S. 242 ff.; Jagmetti, Der Einfluss der Lehre von der Volkssouvoränität und vom Pouvoir constituant, Diss. Zürich 1920 S. 28).

Dagegen war in den von diesen Räten geschaffenen Verfassungen jeweils ein Verfassungsrat im demokratischen Sinne vorgesehen. Es war eine vom Volk zu wählende assemblée de révision, deren Kompetenzen aber aus Angst vor dem Missbrauch der Gewalt stark beschnitten waren. Insbesondere konnte sie nur die Abänderung einzelner Verfassungsartikel beschliessen und auch dies nur auf Antrag der gesetzgebenden Behörden oder eines Teils des Volkes (vgl. Borgeaud S. 244). Bei grundlegenden Änderungen der Verfassung hatte aber der Verfassungsrat nicht Gelegenheit, in Funktion zu treten, weil jeweils eine andere Instanz sich das Eecht der Verfassunggebung anmasste. Die Verfassung vom Jahre 1830 wurde von der Deputiertenkammer aufgestellt und vom König angenommen (vgl. Borgeaud S. 271).

Ähnlich verhielt es sich bei der Verfassungsänderung im Anschluss an die Eevolution vom Jahre 1848. Die Ausarbeitung der neuen Verfassung wurde hier der Nationalversammlung übertragen, die zu. diesem Zwecke gewählt worden war. Die von ihr ausgearbeitete Verfassung (Art. 111) sah wiederum eine assemblée de révision vor, die auf Initiative der Nationalversammlung hätte in Funktion treten sollen. Für künftige Bevisiorien waren hier, wie schon bei früheren Verfassungen, eine Beihe von Beschränkungen und Hemmungen aufgestellt. Die nächste grundlegende Änderung erfolgte durch den Staatsstreich Louis Napoleons vom Dezember 1852 (vgl. Borgeaud S. 285 ff.), womit der Verfassungsrat aus der französischen Verfassung verschwand. Die Verfassung vom Jahre 1875,
die bis in die neueste Zeit Geltung hatte, wurde von der assemblée nationale geschaffen. Sie bestimmte in Art. 8, dass die beiden Kammern sich für die Bevision der Verfassung zur Nationalversammlung vereinigen sollen, sobald eine Kammer mit einfacher Mehrheit die Notwendigkeit einer Bevision feststelle.

In andern Staaten hat ein Verfassungsrat namentlich bei der Umgestaltung des Staates auf Grund einer revolutionären Bewegung mitgewirkt. So gilt dies in bezug auf Deutschland für die Frankfurter Nationalversammlung, die während der 1848er Bevolution vom Volk gewählt wurde und die neue Verfassung ausarbeitete, sowie für die Weimarer Nationalversammlung, die im Anschluss an die Eevolution vom Jahre 1919 die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 dem Volk zur Abstimmung vorlegte. Auch in Österreich

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wurde im Jahre 1919 eine konstituierende Nationalversammlung gewählt, die eine Verfassung ausarbeitete. Diese nationalen Versammlungen in Deutschland und Österreich können aber schon wegen der ausserordentlichen Verhältnisse dem hier in Frage stehenden Verfassungsrat kaum gleichgestellt werden.

Einen eigentlichen demokratischen Verfassungsrat kennt dagegen das Verfassungsrecht der meisten schweizerischen Kantone. Die Einführung des Verfassungsrates ist hier offenbar unter dem Einfluss der Pariser Eevolution vom Juli 1830 erfolgt. Die Bewegung ging aber in den Kantonen insofern weiter, als die in den französischen Verfassungen enthaltenen Beschränkungen fallen gelassen und dem Verfassungsrat auch die Totalrevision vorbehalten wurde.

Sie wirkte sich in der Schweiz namentlich in der Richtung des Ausbaues des Grundsatzes der Rechtsgleichheit aus. In diesem Sinne wurde in Volksversammlungen und Flugschriften die Revision der Verfassungen und die Bestellung von Verfassungsräten verlangt. So wurden in den Jahren 1830/31 in elf Kantonen (nämlich in Zürich, Bern, Luzern, Freiburg, Solothurn, Baselstadt, Schaffhausen, St, Gallen, Aargau, Thurgau und Waadt) unter dem Druck revolutionärer Vorgänge neue Räte zwecks Ausarbeitung neuer Verfassungen gewählt, meistens durch das Volk. Die von ihnen vorgeschlagenen Verfassungen wurden in Volksabstimmungen angenommen (vgl. His, Schweizerisches Staatsrecht, Band 2, S. 72 ff.; Heusler, Schweizerische Verfassungsgeschichte S. 858; Jagmetti S. 109 ff. Vgl. zum folgenden auch Giacometti, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich S. 455 f.).

In der Folge haben die meisten kantonalen Verfassungen den Verfassungsrat in irgendeiner Form übernommen. Von den heute geltenden Kantonsverfassungen kennen nur fünf (nämlich Zürich, das ihn wieder abgeschafft hat, Glarus, Zug, Appenzell-Innerrhoden und Graubünden) überhaupt keinen Vcrfassungsrat. In Glarus, Zug imd -Graubünden kann aber -- gewissermassen als Ersatz dafür -- die Neuwahl des Grossen Rates für diesen Zweck verlangt werden. In Zarich hat diese sogar ohne weiteres zu erfolgen, wenn die Totalrévision durch ein Volksbegehren angeregt worden ist.

Als Obligatorium ist für jede Art der Totalrevision ein Verfassungsrat nur in Freiburg, Aargau und Genf vorgesehen. Hieher kann wohl auch der Kanton Uri gezählt werden,
wo der Verfassungsrat allerdings nur aus den Mitgliedern des Regierungsrates und des Landrates besteht.

In allen andern Kantonen teilen sich der Grosse Rat und der Verfassungsrat in die Aufgabe der Totalrevision der Verfassung, In weitaus den meisten Fällen geschieht dies -- entsprechend der Regelung in einzelnen Gliedstaaten der Vereinigten Staaten -- so, dass das Volk, wenn es die grundsätzliche Frage, ob eine Totalrevision durchgeführt werden soll, bejaht, gleichzeitig darüber zu entscheiden hat, ob diese Aufgabe dem Grossen Eat bzw. Landrat oder einem hiefür zu wählenden Verfassungsrat zu übertragen sei (so in Bern, Obwalden, Nidwaiden, Baselstadt, Basellandschaft, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden, St. Gallen, Thurgau, Tessin, Waadt, Wallis und Neuenburg). In einzelnen Kantonen fällt die Totalrevision nur dann obligatorisch dem Verfassungs-

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rat zu, wenn sie durch eine Volksinitiative veranlasst und vom Volk grundsätzlich beschlossen worden ist, während es dem Grossen Bat freisteht, von sich aus die Initiative zu ergreifen und dem Volk einen revidierten Entwurf vorzulegen (so in Luzern, Schwyz und Solothurn). Diese letztere Möglichkeit steht dem Grossen Bat auch in den Kantonen Zug, Thurgau und "Wallis zu.

Nicht nur mit der Totalrevision, sondern auch mit Teilrevisionen kann der Verfassungsrat betraut werden, z, B. in Luzern, Mdwaldcn, Solothurn, Baselstadt, Basellandschaft, Thurgau und Wallis, Der Verfaseungsrat wird, abgesehen vom Kanton Uri, jeweils nur für den einzelnen Fall gewählt, und zwar in der Begel mit der gleichen "Mitgliederzahl und -- abgesehen von Detailfragen. -- im gleichen Wahlverfahren wie der Grosse Bat. In einzelnen Kantonen hat die Annahme der Totalrevision durch das Volk die Neuwahl des Kantonsrates und die Erneuerung der Staatsbehörden zur Folge (so in Solothurn, Schaffhausen und Thurgau).

Einzelne Verfassungen enthalten auch Bestimmungen darüber, ob im Falle einer Ablehnung des vom Verfassungsrat ausgearbeiteten Entwurfes durch das Volk ein neuer Entwurf von diesem oder einem neu zu wählenden Verfassungsrat auszuarbeiten oder die Bevisionsarbeit aufzugeben sei (so z. B. in Bern, Solothurn, Aargau).

Wie bereits festgestellt wurde, ist das Institut des Verfassungsrates in den meisten Kantonen lediglich als Fakultativum eingeführt. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten haben aber die Kantone von dieser Möglichkeit früher oft Gebrauch gemacht. So sind von den heute geltenden Verfassungen mindestens zwölf von einem Verfassungsrat ausgearbeitet worden, wobei das Volk allerdings oft erst den zweiten, dritten oder vierten Entwurf annahm (vgl. darüber die Ausführungen bei His, Band 3, S. 42 ff. und 122 ff., sowie dort angegebene Spezialliteratur). In neuerer Zeit hat auch in den Kantonen ein Verfassungsrat nur selten Gelegenheit gehabt, eine Vorlage für eine Totalrevision auszuarbeiten.

Bei allen Verfassungsräten des heutigen kantonalen Bechts handelt es sich zweifellos um Verfassungsräte im engern Sinne, da sie neben der gesetzgebenden Behörde bestehen, vom Volke gewählt sind und sich nur mit der Verfassungsrevision zu befassen haben. Die Motive, die dazu geführt haben, die Aufgabe der Verfassungsrevision nicht
den bereits bestehenden gesetzgebenden Behörden zu überlassen, sondern hiefür einen besondern Bat im einzelnen Falle zu wählen, werden von Jagmetti (a. a. 0. S. 102) folgendermassen umschrieben: «Den alten und völlig einseitig orientierten und zum grossen Teil gar nicht von ihm gewählten Grossen Baten konnte und wollte das Volk das Werk des nationalen Wiederaufbaus im Sinne einer Anerkennung der. Volkssouveranität nicht übertragen. Aus dieser Situation heraus entstand der Gedanke, eine besondere vom Volke gewählte Behörde zu schaffen, der die Aufgabe zu übertragen wäre, den Staat auf einer neuen Grundlage zu konstituieren, deren Kompetenz darin bestehen und sich erschöpfen sollte, den Inhalt einer neuen Verfassung festzulegen, die, um rechtskräftig zu werden, der Sanktion des Volkes bedürfte.»

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Diese in Zeiten politischer und sozialer Umwälzungen gewiss verständliche Befürchtung, die unter andern Voraussetzungen und vielleicht von einer andern Mehrheit gewählten Vertreter des Volkes würden den Ideen der neuen Zeit und den voränderten tatsächlichen Verhältnissen nicht genügend .Rechnung tra.gen,wird wohl die Haupttriebfeder dafür gewesen sein, dass die Verfassungsrevision einem ad hoc gewählten Bat übertragen wurde. Dies kommt denn auch darin zum Ausdruck, dass die Kantone, die keinen Verfassungsrat kennen, in der Eegel wenigstens die Möglichkeit der Erneuerung des Grossen Eates geschaffen haben. Ebenso in der Tatsache, dass andere Kantone den Verfassungsrat nur dann in Funktion treten lassen, wenn die Totalrevision durch eine Volksinitiative ins Bollen gebracht wird, was wohl so zu deuten ist, dass schon die Tatsache einer solchen Volksinitiative als Misstrauensvotum gegen den bisherigen Grossen Bat anzusehen sei. Endlich ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Verfassungsrat regelmässig nur das Abbild eines Grossen Bates ist, der unter andern Verhältnissen gewählt wurde. Neben diesem Hauptmotiv mögen -- je nach den besondern Umständen -- noch andere Gründe mitgespielt haben, die es erklären, warum man sich nicht mit einer blossen Neuwahl des Grossen Bates begnügt hat. Neben politisch-taktischen Gründen mögen dabei auch jene Erwägungen mitgespielt haben, die heute für die Einführung des Verfassungsrates im .Bundesrecht angeführt werden. Dies näher zu prüf en, würde hier aber zu weit führen.

Im Gegensatz zum kantonalen Becht hat das eidgenössische Becht bisher für den Verfassungsrat wenig übrig gehabt. Auch die helvetische Verfassung vom Jahre 1798 sah keinen solchen vor. Nach der Auffassung ihres Schöpfers, Peter Ochs, hätte allerdings der neue gesetzgebende Körper, die Urversammlungen anfragen sollen, ob sie die Einberufung eines Verfassungsrates wünschen; gegebenenfalls hätte er ihnen eine Vorlage über die Organisation und die Wahl desselben unterbreiten sollen. Diese Bestimmung wurde aber in Paris wieder gestrichen (vgl. Bufer S. 330 f.; Jagmotti S. 88 ff.). Man kann sich fragen, ob die ausserordentliche helvetische Tagsatzung, welche im Herbst 1801 den Entwurf von Malmaison beriet, als ein eigentlicher Verfassungsrat anzusprechen sei (wie Jagmetti S. 103 annimmt);
jedenfalls entbehrte er der nötigen Selbständigkeit. Auch die Notabeinversammlung, die sich im Jahre, darauf mit der zweiten helvetischen Verfassung befasste, war kein Verfassungsrat (vgl. Borgeaud S. 314; His, Band 2, S. 45 ff.'; Jagmetti S. 62 ff. und 68 ff.), noch weniger die Consulta, die 1808 von Napoleon die Mediationsakte-entgegennahm.

Erst in der Begenerationszeit wurde die Frage, ob das Institut des Verfassungsrates, das sich inzwischen im kantonalen Becht eingebürgert hatte, auch im Bundesrecht aufgenommen werden'solle, einlässlich diskutiert. Sie wurde damals in weiten Kreisen der Bevölkerung bejaht, weniger aus.theoretischen Gründen als aus der praktischen Überlegung, dass die Abgeordneten durch Instruktionen gebunden seien, wodurch ein gehöriger Austausch der Ideen verhindert und eine gegenseitige Annäherung unmöglich gemacht werde, wäh-

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rend im Verfassungsrat die Männer des öffentlichen Vertrauens sich gegenseitig belehren und diejenigen Beschlüsse fassen könnten, die im Interesse der Gesamtheit gelegen wären. In vielen Petitionen aus Bürgerkreisen wurde daher nach einer konstituierenden Versammlung gerufen. Als aber auf der Tagsatzung vom Jahre 1882 der thurgauische Vertreter den Antrag stellte, es sollen alle Stände eingeladen werden, zwei bis drei Männer zu bezeichnen, die sich als eidgenössischer Verfassungsrat zu konstituieren hätten, blieb er mit seinem Antrag allein (Jagmetti S. 119 ff.). Im Jahre 1848, als nach vielen erfolglosen Versuchen die Verfassungsrevision vor ihrem Abschluss stand, beantragte dann Genf, die Revision sei einem Verfassungsrat zu übertragen, da ein Bat, der besonders und ausschliesslich für diese Aufgabe bestellt -würde, mehr Durchschlagskraft und Autorität besässe. Dem stimmte der Abgeordnete von Bern bei mit der Begründung, dass der eigentliche Volkswille nur durch Männer vertreten werde, die durch unmittelbare Volkswahl bestellt worden seien (vgl. Jagmetti S. 136 ff.).

Auch Baselstadt schloss sich dem Antrag an. Dieser wurde dann aber mit grosser Mehrheit abgelehnt.

Schon vorher war in der B e Visionskommission der Tagsatssung beantragt worden, die Verfassungsrevision wenigstens dann einem Verfassungsrat zu übertragen, wenn der eine Bat die Totakevision beschliesse, der andere sie aber ablehne, oder wenn die Bevision durch eine Volksinitiative verlangt werde.

Denn in beiden Fällen ermangelten die Eäte desjenigen Vertrauens, das zur Behandlung eines so wichtigen Gegenstandes unerlässlich sei. Dem würde aber entgegengehalten, der Volkswille könne in solchen Fällen am besten durch Neuwahl zur Geltung gebracht werden. Schliesslich lehnte die Bevisionskommission den Antrag mit 11 gegen 9 Stimmen ab (Protokoll der Bevisionskommission 1848 S. 148). Dafür wurde für die genannten zwei Fälle die Neuwahl der Bäte vorgesehen, wie der heutige Art, 120 BV es bestimmt. In der Tagsatzung selbst wurde ein Antrag, den Verfassungsrat wenigstens fakultativ zuzulassen, bekämpft, weil er dem Grundsatz des Ausgleiches von Nation und Kantonen zuwider sei. Im. Bund passe ein Verfassungsrat deswegen nicht, weil das kantonale Element dadurch beseitigt und die einzelnen Stände um ihre Bedeutung gebracht würden. Das war
die Meinung der überwiegenden Mehrheit, so dass die Verfassung von 1848 den Verfassungsrat in keiner Formaufgenommen hatte.

Bei der Vorbereitung der gescheiterten Bevision von 1872 und der BV von 1874 scheint der Gedanke des eidgenössischen Verfassungsrates nicht mehr aufgegriffen worden zu sein. Er tauchte aber im Frühjahr 1934 im Zusammenhang mit der Initiative auf Totalrevision der BV, die im September 1935 mit grosser Mehrheit abgelehnt wurde, in der Öffentlichkeit wieder auf. Die Befürworter beriefen sich nunmehr hauptsächlich darauf, dass der Nationalrat und der Ständerat nicht Zeit hätten, sich dieser Aufgabe zu widmen, so dass eine Verschleppung der Bevision um viele Jahre die Folge wäre. Auch müsse das Werk von der neuen Bolitikergeneration durchgeführt werden (vgl. Oeri, in der Schweizerischen Bundschau, Sonderheft 1934/35 S. 36 und in der Neuen Schweizer

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Kundschau 1934 S. 179; Giacometti, in der Neuen Schweizer Bundschau 1934 S. 143 und Eiert, in den Schweizer Monatsheften 1934/35 S. 131 f.). Dagegen scheint die Jungliberale Bewegung in ihren Bichtlinien vom Mai 1934 nicht einen eigentlichen Yerfassungarat, sondern nur eine Expertenkommission ins Auge gefasst zu hahen, die einen Entwurf für die parlamentarische Beratung auszuarbeiten gehabt hätte (vgl, N. Z. Z. vom 17. Mai 1934, Nr. 888). In Wirklichkeit handelt es sich um eine Art Expertenkommission. Infolge der Ablehnung der Initiative auf Totalrevision wurde die Frage des Verfassungsrates damals nicht weiter verfolgt.

Durch das Postulat Oeri ist die Diskussion wieder angeregt worden. Ausser dem Genannten (vgl. den Aufsatz : Warum ein Verfa.ssungsrat ? in den Schweizer Monatsheften 1942 S. 228 ff.) hat sich namentlich Prof. K. Weber für die Einführung eines Verfassungsrates eingesetzt (in der Politischen Bundschau 1942 S. 333 ff.). Als neuer Grund wird u, a. geltend gemacht, dass im VB auch unpolitische Elemente, die wertvolle Beiträge leisten würden, herangezogen werden könnten. Auf diese und andere Gründe wird an anderer Stelle noch zurückzukommen sein.

in. Die Vor- und Nachteile.

Das Postulat geht von der Voraussetzung aus, dass sich nach dem Kriege das Begehren nach beförderlicher Vornahme einer Totalrevision der BV in weiten Volkskreisen einstellen werde. Zur Frage, ob in nicht allzu ferner Zukunft eine Totalre vision kommen müsse, wird damit zwar nicht ausdrücklich Stellung genommen. Es ist aber nicht zu verkennen, dass damit die Frage der Totalrevision selber in die politische Diskussion hereingezogen wird und dass dem Postulat eine erhöhte aktuelle Bedeutung zukommt, wenn man diese Frage bejaht. Trotzdem kann man wohl nicht behaupten, dass die Hauptfrage durch den Entscheid über die Einführung des VB präjudiziert würde oder dass die Diskussion über den VB erst nach Erledigung der Hauptfrage fruchtbar sein könne. Man wird vielmehr zugeben müssen, dass es einen vernünftigen Sinn hat, die Einführung des VB zu diskutieren, bevor die Notwendigkeit einer Totalrevision abgeklärt ist. Da diese letztere Frage hier nicht zur Diskussion steht und ihre Erörterung vom Hauptgegenstand dieses Berichtes allzu weit wegführen würde, darf hier wohl darauf verzichtet werden, auf sie einzutreten.

Wir können
uns daher gleich der Hauptfrage zuwenden, ob durch eine Partialrévision der Art. 119 und 120 BV wenigstens die Möglichkeit geschaffen werden soll, die Totalrevision einem Verfassungsrat zu übertragen, sobald die Notwendigkeit einer solchen Bevision feststeht.

Das Institut des VB stammt, wie sich aus seiner Entstehungsgeschichte ergibt, aus der Zeit des Übergangs zum konstitutionellen Staat. Das Volk erhielt damals in diesen Ländern Gelegenheit, bei der Ausarbeitung der Verfassung seinen Willen durch die von ihm gewählten Vertreter zum Ausdruck zu bringen. Während aber heute diese Aufgabe in den meisten demokratischen Staaten der vom Volk gewählten gesetzgebenden Behörde übertragen ist, zeigte

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ßich damals die Neigung, hiefür eine besondere Behörde neben den gesetzgebenden Behörden zu wählen, eben den VB. Man berief sich hiefür namentlich auf den von Montesquieu aufgestellten Grundsatz der Gewaltentrennung, der verlange, dass die konstituierende Gewalt von den konstituierten Gewalten getrennt sein müsse. Da zu diesen letztern auch die gesetzgebenden Behörden zählen, müsse die Verfassung von einem besondern Bat ausgehen, der mit der ordentlichen Gesetzgebung nichts zu tun habe (vgl. Borgeaud S. 297). In Wirklichkeit war aber für die Einführung des VB weniger diese theoretische und heute kaum noch haltbare Überlegung massgebend als ein praktischer. Grund: Man scheute sich, so viel Macht in einem einzigen Organ zu vereinigen, die leicht zu einem Staatsstreich missbraucht werden könnte. In Frankreich hielt man es, durch die Erfahrungen gewitzigt, sogar für nötig, selbst den VE in seiner Aktionsfähigkeit zu beschränken, indem ihm die Initiative zur Verfassungsrevision vorenthalten wurde. Er konnte nur in Funktion treten, wenn und soweit die Initiative von anderer Seite ·-- sei es von den gesetzgebenden Bäten oder vom Volk ·-- ergriffen worden war. Ausserdem wurde die Bevisionsmöglichkeit durch zeitliche Beschränkungen (sogenannte Bigiditätsbestimmungen) eingeschränkt. Mit dem Schwinden dieses Misstrauens um die Mitte des 19. Jahrhunderts schwanden auch diese Hemmungen und verlor die Idee des VE ihre Werbekraft.

Heute kommen die Gründe, die damals zur Einführung des VB geführt haben, kaum noch in Frage. Im Vordergrund der Diskussion steht heute eine Gruppe von Argumenten, die mit Stichwort «Bationalisierung» gekennzeichnet ·wird. Vor allem wird geltend gemacht, die gesetzgebenden Bäte, National- und Ständerat, seien wegen Überlastung mit Arbeit und wegen der Kompliziertheit des heutigen Verfassunggebungsverfahrens nicht in der Lage, das grosse Werk der Totalrevision der BV in absehbarer Zeit zu einem guten Ende zu führen.

Die Folge sei, dass entweder die Dauer der Sessionen derart verlängert werden raüsste, dass viele Politiker ihr Mandat wegen Zeitmangels aufgeben und den Berufspolitikern und Interessentensekretären überlassen müssten; oder dann sei eine Verschleppung der Eevision unvermeidlich, was zu einer Diskreditierung der gesetzgebenden Behörden, möglicherweise des Zweikammersystems
oder gar des Parlamentarismus überhaupt, führen müsste. Ein VB könnte aber nicht nur raschere, sondern auch bessere Arbeit leisten, weil er die Möglichkeit zu einer Auslese biete, die auf die besondern Aufgaben der Verfassungsrevision eingestellt sei. Namentlich könnten auch die Kreise ausserhalb der politischen Parteien, z, B. Männer der Wissenschaft und der Wirtschaft, sowie Frauen zur Mitarbeit herangezogen werden. Endlich wäre damit die Möglichkeit einer angemessenen Verjüngung gegeben, so dass die Träger neuer Ideen am Umbau des Staatsgrundgesetzes ebenfalls mitwirken könnten. Das sind wohl die wichtigsten Gründe, die heute für den VB ins Feld geführt werden. Sie sollen im folgenden auf ihre Berechtigung untersucht werden.

Das Hauptgewicht wird dabei auf die A r b e i t s ü b e r l a s t u n g und die daraus sich ergebenden Folgen zu legen sein. Das ist in der Tat ein schwer-

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wiegendes Argument. Dass die Bundesversammlung unmittelbar nach dem Kriege durch eine Fülle von wichtigen und schwierigen Geschäften belastet sein wird, die keinen Aufschub dulden, wird man nicht bezweifeln können. Und zwar gilt dies in vermehrtem Masse dann, wenn die ausserordentlichen Vollmachten abgebaut und wieder der Weg der ordentlichen Gesetzgebung eingeschlagen werden soll, wie dies der allgemeinen Auffassung entspricht. Wenn daneben noch die grosse Arbeit bewältigt werden muss, die eine Totalrevision mit sich bringt, so werden die gesetzgebenden Räte trotz erheblicher Verlängerung der Sessionen erst nach mehrjährigen Beratungen in der Lage sein, dem Volk einen neuen Verfassungsentwurf rar Abstimmung vorzulegen. Die Ausdehnung der Sessionsdauer kann aber bei uns ein gewisses Hochstmass nicht übersteigen, ohne dass bestimmte Nachteile zu befürchten wären. Es müsste in der Tat damit gerechnet werden, dass ein Teil der National- und Ständeräte wegen Mangels an Zeit gezwungen wären, auf ihr Mandat zu verzichten und es andern zu überlassen, die hiefür mehr Zeit verfügbar haben. Die Bäte würden daher mehr und mehr mit Berufspolitikern und Interessentensekretären besetzt, was sicher nicht als ein Vorteil anzusehen wäre. Der andere mögliche Ausweg aus dieser Schwierigkeit, die Hinausschiebung der Erledigung der Totalrevision, kann sich unter Umständen noch nachteiliger auswirken. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, dass eine raschere Durchführung der Totalrevision ohne eine übermässige Verlängerung der Sessionsdauer der beiden Bäte höchst erwünscht wäre. Ebenso darf man als feststehend annehmen, dass die Entlastung durch die Einführung des Verfassungsrates bis zu einem gewissen Grade erreicht werden könnte: Die beiden Bäte könnten sich dann ungestört durch die Totalrevision den ordentlichen Aufgaben widmen und dürften also ohne. Verlängerung der Sessionsdauer auskommen, während der VR die ausserordentliche Aufgabe der Totalrevision .rascher erledigen könnte, weil er sich ausschliesslich mit ihr zu befassen hätte. Insofern wäre ein VB erwünscht, wenn man ihn nicht -- wie dies in der Presse von anderer Seite vorgeschlagen worden ist -- als ein weiteres Organ neben dem gesetzgebenden Bäte in den Verfassunggebungsprozess einschalten und seine Beschlüsse der Überprüfung durch den Nationalrat und
den Ständerat unterstellen will.

Dem wird etwa entgegengehalten, dies würde voraussetzen, dass das Mandat eines Verfassungsrates mit demjenigen eines National- oder Ständerates u n v e r e i n b a r erklärt würde. Andernfalls hätten die Mitglieder, die sowohl in der verfassunggebenden wie in der gesetzgebenden Behörde sitzen, doch die ganze Last zu tragen. Die Sitzungen beider Bäte würden sie dann voll beanspruchen, was wieder zur Berufsvertretung führe. Die Unvereinbarkeit aber sei namentlich deswegen unerwünscht, weil sie zur Folge hätte, dass der einen oder andern Behörde wichtige Kräfte verloren gingen, die sich für beide Aufgaben gleichzeitig zur Verfügung stellen würden; die Auslese würde dadurch sehr erschwert. AVenn auch diese letztere Überlegung richtig ist, kann unseres Erachtens doch nicht gesagt werden, dass alle die. erwähnten Vorteile wieder verloren gingen, wenn nicht die Unvereinbarkeit eingeführt würde. Denn sobald

609 die verfassunggebende Funktion von der gesetzgebenden getrennt wird, ist kein Volksvertreter gezwungen, entweder beide auf sich zu nehmen oder auf beide zu verzichten. Wer in beide gewählt wird, kann, wenn er nicht für beide Aufgaben Zeit hat, nur das eine Mandat annehmen und braucht dann nicht einem Berufsvertreter Platz zu machen. Selbst wenn der VE vorwiegend aus National- und Ständeräten bestehen würde, vermöchte dies die Vorteile einer Trennung der Funktionen nicht ganz zu beseitigen. Das Argument, dass die Teilung zwischen der verfassunggebenden und der gesetzgebenden Funktion an sich schon eine gewisse Entlastung bringe, dürfte also richtig sein und spricht daher für die Einführung eines VE.

Ferner wird vom VE ein rascheres und rationelleres Arbeiten auch deswegen erwartet, weil er mit einer kleineren Mitgliederzahl auskomme und nach dem Einkammersystem organisiert werden könnte, wie in der Begründung des Postulates angedeutet worden ist. Das bedarf einer nähern Prüfung.

Vorerst die Frage der Mitgliederzahl. Es ist klar, und die Erfahrung bestätigt es, dass die Diskussionen in einem Eat mit grosser Mitgliederzahl länger dauern und eine Einigung schwerer zu erzielen ist als in einem kleinem Eate. Auch wird man die Beschleunigung bis zu einem gewissen Grad als einen Vorteil ansprechen können, obschon es bei einem verfassunggebenden Eat nicht so sehr auf rasche Beschlüsse ankommt wie z.B. bei einem Eegierungskollegium.

Die materielle Eichtigkeit spielt bei diesen auf lange Frist berechneten Beschlüssen die grössere Eolle. Jedenfalls darf hier die Beschränkung der Mitghederzahl nicht den Zweck verfolgen, einer einlässlichen und gründlichen Diskussion der Probleme, mag diese gelegentlich auch lästig werden, aus dem Wege zu gehen. Denn ein Ausgleich der Interessen, der eine tragfähige Grundlage des Staates auf lange Frist bilden soll, kann in einer Demokratie nur durch einlässliche Diskussionen erreicht werden. Und zwar müssen die verschiedensten Interessen des Volkes dabei in angemessener Weise vertreten sein, wenn das Werk Aussicht haben soll, in der Volksabstimmung schliesslich angenommen zu werden. Bei der Struktur unseres Landes, wo sich das Leben ausserordontlich differenziert hat, bei der Mannigfaltigkeit unserer politischen, sprachlichen, konfessionellen, kulturellen, wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse ist mit einer kleinen Mitgliederzahl des verfassunggebenden Organs nicht auszukommen, sollen nicht wichtige Minderheiten in ihrem Vertretungsrecht gekürzt werden.

Dass eine Beschränkung des Vertretungsrechts des Volkes auf lebhaften Widerstand stossen müsste, zeigt schon die Tatsache, dass im Jahre 1980 der Vorschlag, die Vertretungszahl für die Nationalratswahlen auf 23 000 zu erhöhen, abgelehnt und nur eine Erhöhung auf 22 000 angenommen worden ist, wofür sich beim Volk überdies nur eine kleine Mehrheit gefunden hat. Die Initiative für die sogenannte Reform des Nationalrates, welche diese Zahl auf 30 000 festsetzen wollte, wurde in der Volksabstimmung vom 3. Mai 1942 sogar mit starkem Mehr verworfen (mit 21% Ständestimmen gegen y2)- In der vorgeschlagenen Erhöhung der Wahlzahl auf 30 000, die eine Verkleinerung des Bates um einen Viertel seines Bestandes zur Folge gehabt hätte, wurde ein übermässiger Ein-

610 griff erblickt (vgl dazu StenBull 1941, St.E 217--221, NE 281--257). Die Annahme aber, dass das Volk dieses weitgehende. Eecht der Wahl von Vertretern nur für die weniger wichtigen Geschäfte der Teure Visionen und der gewöhnlichen Gesetzgebung für sich in Anspruch nehmen werde, nicht auch für die Totalrevision des Staatsgrundgesetzes, dürfte kaum zutreffen. Dann ist auch die Hoffnung nicht berechtigt, dass die Mitglieder;:ahi des Verfassungsrates erheblich tiefer gehalten werden könne als bei den gesetzgebenden Eäten. Zum Teil hängt die Mitgliederzahl auch davon ab, ob das Ein- oder Zweikammersystem gewählt wird, was im folgenden zu prüfen Ist.

In den Kantonen und im Ausland ist der VE überall als einheitliches Organ, nach dem E i n k a m m e r s y s t e m , gewählt und organisiert. Das bedeutet für seine Aktionsfähigkeit zweifellos einen gewaltigen Vorteil. Darauf stützt sich denn auch zur Hauptsache die Erwartung, dass der VE rascher und rationeller arbeiten würde. Die unserm Gesetzgebungs- und Verfassunggebungsverfahren anhaftende Schwerfälligkeit, die sich daraus ergibt, dass die gleichen" Fragen von zwei Eäten behandelt werden müssen und dass unter ihnen Übereinstimmung hergestellt werden muss, würde damit ohne weiteres wegfallen.

Die Postulanten scheinen denn auch, wie aus der Begründung des Postulates zu entnehmen ist, dem Einkammersystem den Vorzug zu geben (vgl. auch Oeri, Schweizer Monatshefte 1942 S. 229).

Diese Lösung stösst aber bei der bundesstaatlichen Struktur unseres Staates auf Schwierigkeiten, die sich weder im Êecht der Kantone noch anderer Staaten finden, die einen Verfassungsrat tatsächlich, nicht nur auf dem Papier, haben.

55um Vergleich könnte höchstens das Bundesrecht der Vereinigten Staatenherangezogen werden. Bezeichnenderweise ist der Verfassungsrat aber dort seit der Gründung des Staates, wo es an einer brauchbaren gesetzgebenden Behörde fehlte, nicht mehr in Funktion getreten, obschon seither «ahlreiche Teilrevisionen, für die er in Aussicht genommen war, durchgeführt worden sind. Es stellt sich hier die Frage, wie dieses System mit dem föderalistischen Prinzip in Einklang gebracht werden kann. Die Schwierigkeit ist deswegen besonders gross, weil das Zweikammersystem zu den Grundlagen unseres Staatswesens gehört und aus demselben nicht wegzudenken ist. Für die
Bildung des englischen Oberhauses war ein sozialer Gedanke massgebend, nämlich die Vertretung der altern ständischen Ordnung; in Frankreich dient der Senat hauptsächlich der bessern Erdauerung der Vorlagen, während in den Vereinigten Staaten durch den Senat ein politisches Prinzip verkörpert wird, nämlich die Vertretung der gliedstaatlichen Interessen (vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant S. 456 f.).

Die gleiche Funktion wie dem amerikanischen Senat kommt bei uns dem Ständerat zu: Neben der Einheit, die im Nationalrat ihren Ausdruck findet, soll der Ständerat den Gedanken der Verschiedenheit und Vielgestaltigkeit berücksichtigen. Die seit 1848 gemachten Erfahrungen beweisen wohl, dass es eine glückliche Lösung war, nicht nur den Kantonen im Ständerat eine besondere Vertretung zu geben, sondern diese als gleichberechtigt neben den Nationalrat zu stellen und das anfänglich in Aussicht genommene Übergewicht des National-

611 rates aufzugeben (vgl. Meiner, Bundesstaatsrecht S. 140 f.). Ist es aber für das Gedeihen unseres Bundesstaates lebensnotwendig, dass den Kantonen das Mitspracherecht in kleinen Dingen gelassen wird, so kann dies nicht minder da der Fall sein, wo es sich um die Grundlagen dieses Staates handelt. Das war denn auch der Hauptgrund, der im Jahre 1848 zur Ablehnung des VE geführt hat, und es ist kein Zufall, dass damals der Antrag auf Einführung eines VE von überzeugten Gegnern des Zweikammersystems ausgegangen ist. Jagmetti gibt diesem Gedanken mit folgenden "Worten Ausdruck: «Nicht ein mangelndes Eindringen der französischen Bevolutionsideen in die Schweiz hat die Einführung der Institution eines eidgenössischen Verfassungsrates verunmöglicht, sondern die historisch tief verankerte föderalistische Grundlage des schweizerischen Staatsgebäudes. Der eidgenössische Verfassungsrat des Schweizervolkes wäre der erste und entscheidende Schritt zum Einheitsstaat gewesen, und vor diesem graute den souveränen Kantonen... Die Institution des eidgenössischen Verfassungsrates hätte zweifellos in ihrer logisch-konsequenten Weiterbildung zu einer Verfassungssanktion durch das Volk unter Ausschaltung der Kantone geführt -- und damit wäre der letzte Wall der föderalistischen Festung erobert gewesen. Einen solchen Schritt konnte und durfte die Schweiz nicht tun. An einem Grundpfeiler der Schweiz, am Föderalismus, ist in den Jahren 1847/48 der auf Eroberung des schweizerischen Staatsrechts gerichtete Ansturm der Lehre vom pouvoir constituant des Volkes zerschellt» (S. 188).

Es scheint uns, dass dem Zweikammersystem unserer gesetzgebenden Behörden von dieser Seite mehr Gefahr droht als aus der Möglichkeit, dass die beiden Kaminern die Totalrevision nicht mit der erwünschten Prornptheit erledigen könnton. Mit dem Charakter des Bundesstaates wäre es aber auch nicht vereinbar, nur eine ausschliesslich aus Vertretern der Kantone bestehende Kammer mit dieser Aufgabe zu betrauen, wie dies in der Presse vorgeschlagen worden ist.

Eine -- ebenfalls in der Presse vorgeschlagene ·-- Zwischenlösung, wonach die kantonalen Parlamente die Abgeordneten in den VB bezeichnen sollten, und zwar im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, vermag dem Charakter des Bundesstaates ebensowenig gerecht zu werden. Überdies würde sie im demokratischen
Sinn einen Eückschritt bedeuten (über die Bedeutung des Zweikammersystems im Bundesstaat vgl. Condrau, Das parlamentarische Zweikammersystem, Diss. Freiburg S. 36 ff.).

Das Zweikammersystem darf auch nach der Auffassung von Befürwortern des VE nicht über Bord geworfen werden (vgl. Prof. Weber S. 887, Biert, Schweizer Monatshefte 1984/35, S. 181 f.). Einzelne derselben sind aber der Meinung, der berechtigte Anspruch des Föderalismus könne durch den Wahlmodus genügend berücksichtigt werden. Es sei wohl ein Wahlverfahren zu finden, das gleichzeitig den demokratischen und den föderalistischen Ansprüchen Eechnung trage (vgl. Prof. Weber S. 338). Unseres Erachtens vermag jedoch kein Wahlverfahren für sich allein das 211 ersetzen, was durch den Verzicht auf eine zweite Kammer verloren geht. Man könnte vielleicht daran denken, einen Teil des VE nach den Grundsätzen der Nationalratswahlen, den andern

612 Teil nach denjenigen der Ständeratswahlen bestellen zu lassen. Dabei musate, da beide Prinzipien gleichberechtigt sein sollen, die Zahl der Vertreter der Kantone gleich gross sein wie diejenige der nach der Kopfzahl der Bevölkerung ge-vvählten Vertreter. Andernfalls könnte der grössere -- nach der Kopfzahl gewählte -- Teil den andern überstimmen. Aber auch bei gleicher Anzahl der Mitglieder könnte nicht einfach nach Köpfen abgestimmt werden, weil sonst leicht der Fall eintreten könnte, dass Neuerungen eingeführt würden, denen eine erhebliche Mehrheit der Kantonsvertreter abgeneigt ist- So wäre ein Antrag angenommen z. B. wenn bei. einem VE von 200 Mitgliedern 90 Volksvertreter sowie 20 Stäudevertreter Ja und 10 Volksvertreter sowie 80 Ständevertreter Nein stimmen würden. Daher ist auch das Gesetzgebungsverfahreii in den beiden Bäten etwas wesentlich anderes als blosse Mehrheitsbeschlüsse der Vereinigten Bundesversammlung. Andernfalls wäre nicht einzusehen, warum diese Vereinfachung nicht auch für die Ausarbeitung von Bundesgesetzen und Teilrevisionen der B V eingeführt würde. Zu dem erwähnten Wahlmodus müsste deshalb noch ein besonderer Abstimmungsmodus hinzutreten, in welchem die dem Nationalrat und die dem Ständerat entsprechenden Vertreter gesondert abstimmen würden, wobei ein Antrag nur dann als angenommen gelten würde, wenn von beiden Gruppen ein Mehrheitsbeschluss vorliegen würde. Auch bei diesem Vorgehen bestünde -- abgesehen von psychologischen Momenten -- noch ein wesentlicher Unterschied. Vor allem würde es an einer zweiten Beratung des Stoffes fehlen, die vorgenommen wird, nachdem durch die Erörterungen im ersten Eat und dio daraus sich ergebende Reaktion in der Öffentlichkeit eine gewisse Abklärung eingetreten ist. Aus diesem Grund haben denn auch die Staaten des Einkammersystems, insbesondere die Kantone, diesen Mangel vielfach dadurch zu korrigieren versucht, dass sie nach einem gewissen zeitlichen Abstand eine zweite Lesung vorgeschrieben haben.

Wollte man aber durch diese beiden Korrekturen das föderative Element im Einkammersystem berücksichtigen, so wäre für die Aktionsfähigkeit des VE nicht viel gewonnen, andererseits aber die bewährte Methode unserer Verfassunggebung durch eine andere, dem Wesen unseres Staates weniger konforme ersetzt.

Unter diesen Umständen wäre es wohl
richtiger, den Verfassungsrat gemäss dem Vorbild der beiden Bäte nach dem Zweikammersystem auszugestalten.

Damit würde jedoch einer der wichtigsten Vorteile preisgegeben, der die Einführung eines VE rechtfertigen konnte, nämlich das vereinfachte Verfahren.

Das schwerfällige Verfallren der Beratung in zwei Bäten mit der Notwendigkeit der Differenzbereinigung müsste auch hier Platz greifen. Ausserdem hätte man zwei Bundesversammlungen, eine verfassunggebende und eine gesetzgebende, und damit Vertreter höheren und niedrigeren Banges. Zu besondern Schwierigkeiten müsste aber die Tatsache Anläse geben, dass beide Behörden zur, Schaffung von Verfassungsrecht befugt sind. So wenig der VE an die von den gesetzgebenden Eäten eben beschlossenen und von Volk und Ständen genehmigten Teilrevisionen gebunden wäre, ebensowenig bestünde ein Hin-

613 demis, dass die gesetzgebenden Behörden auf dem Wege von Teilrevisionen das Werk des VE wieder abbauen würden, wenn die Mehrheit von Volk und Ständen erhältlich wäre. Dass dies für die Stetigkeit der Entwicklung unseres Verfassungsrechts nicht zuträglich wäre, ist naheliegend. In der Geschichte des französischen Verfassungsrechts finden sich hiefür genügend Belege (vgl.

Zweig S. 447). Diese Doppelspurigkeit könnte allerdings dadurch eine Milderung erfahren, dass im VE und in den gesetzgebenden Bäten wesentlich die gleichen Leute sitzen würden. Damit würden aber die Vorteile des VE ohne weiteres dahinfallen. Der andere Ausweg, dem VE auch die Teilrevisionen zu übertragen, erscheint aus Gründen, die an anderer Stelle darzutun sein werden, nicht gangbar.

So ergibt sich, dass der an sich durchaus berechtigte Wunsch nach Entlastung der gesetzgebenden Eäte und nach einem einfacheren und rascheren Verfahren durch Einführung eines VE in seiner Durchführung auf ernstliche Schwierigkeiten stösst.

Den übrigen Gründen, die für die Einführung eines VB geltend gemacht werden, kommt nur eine geringere Bedeutung zu. Der wichtigste derselben ist wohl derjenige der bessern Auslesemöglichkeit. Es wird gesagt, für die verfassungberatende Behörde sei die beste Qualität gerade gut genug.

Die Auswahl der Abgeordneten zum eidgenössischen Parlament geschehe unter andern Gesichtspunkten als diejenige in den Verfassungsrat. Das Holz, aus dem die gesetzgebenden Behörden geschnitzt werden, sei nicht dasselbe, das sich für die Baumeister einer Bundesverfassung eigne. «Es gibt Kräfte», führt Prof. Weber (a. a. 0. S. 336) aus, «die weder für die parlamentarische Laufbahn geschaffen sind noch daran Gefallen finden, die aber in einem Verfassungsrat die wertvollsten Stützen bilden würden. Ebenso gibt es ausgezeichnete National- und Ständeräte, denen das Amt. eines Verfassungsrates einfach , nicht liegen' würde, weil ihre speziellen Erfahrungen und Fähigkeiten für die normalen parlamentarischen Angelegenheiten prädestiniert sind.» In ähnlichem Sinne hat sich Nationalrat Oeri (in den Schweizer Monatsheften 1942 S. 229) ausgesprochen.

Diese Überlegungen können nicht etwa mit der -- an sich richtigen -- Feststellung abgetan werden, dass auch für die gesetzgebende Behörde die besten Kräfte gerade gut genug sind. Denn es dürfte
zutreffen, dass wertvolle Kräfte, die für den gewöhnlichen parlamentarischen Betrieb nicht erreichbar wären, sich bereitfinden würden, an der Totalrevision der Bundesverfassung mitzuarbeiten. Dies wird aber bis zu einem gewissen Grade auch dann der Fall sein, wenn diese Aufgabe nicht von einem VE, sondern von den gesetzgebenden Eäten durchgeführt wird. Es ist sogar zu erwarten, dass eine im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Totalrevision gewählte Bundesversammlung ein anderes Gesicht haben wird, als wenn im Zeitpunkt der Wahlen von einer Eevision noch nicht die Eede ist. Verfehlt wäre aber unseres Erachtens die Ansicht, dass die Arbeit des Gesetzgebers und diejenige des Verfassunggebers grundsätzlich verschiedener Art seien. Wie die Bestimmungen Bundesblatt. 95. Jahrg. Bd. I.

46

614 der Verfassung im formellen Sinne nichts anderes sind als Gesetzesbestimmungen, denen wegen ihrer grundlegenden Bedeutung eine verstärkte Wirkung gegeben wird, so ist auch die Tätigkeit des Verfassunggebers von derjenigen des Gesetzgebers nur graduell verschieden, nur insoweit, als den zu schaffenden Normen erhöhte Bedeutung zukommen soll. Es ist nicht etwa so, dass die Aufgabe des VE eine vorwiegend theoretische, wissenschaftliche, diejenige der gesetzgebenden Behörde aber eine vorwiegend praktische, politische wäre.

Sie ist vielmehr in beiden Fällen ihrem Wesen nach die gleiche, nämlich die Aufstellung einer gerechten, richtigen Ordnung der Gesellschaft. Es soll im einen wie im andern Falle verbindlich festgestellt werden, was für eine bestimmte Gesellschaft, in einem gegebenen Zeitpunkt und unter bestimmten Umständen das gerechte ist (Burckhardt, Organisation der Bechtsgemeinschaft 242). Bei der Schaffung von Verfassungsrecht erfordert dies allerdings mehr grundlegende Arbeit, bei der Schaffung von Gesetzesrocht mehr Detailarbeit. Indessen ist nicht zu übersehen, dass die Teilrevision der Verfassung, die wohl künftig den gesetzgebenden Bäten verbleiben soll, ebenfalls zu der ersteren Kategorie gehört. Es wird also auch in Zukunft darauf Bedacht genommen werden müssen, dass die gesetzgebenden Bäte dieser Aufgabe. zu genügen vermögen. Nach Einführung des VB müssten sowohl für die gesetz. gebenden Bäte wie für den Verfassungsrat Männer gefunden werden, die den Aufgaben des Verfassunggebers gewachsen sind. Es wären somit mehr qualifizierte Kräfte nötig als bisher, was eine wesentliche Erschwerung der Auslese bedeuten würde. Diese könnte allerdings zum Teil dadurch wieder beseitigt werden, dass die Mitgliedschaft im Verfassungsrat mit derjenigen im Nationaloder Ständerat als vereinbar erklärt würde. Eine gänzliche Beseitigung dieses Übelstandcs käme aber nicht in Frage.

In diesem Zusammenhang wird geltend gemacht, in den Verfassungsrat könnten Vertreter wichtiger Kultur- und Wirtschaftsfaktoren, die politisch nicht organisiert sind, gewählt werden. Insbesondere hätten .Männer der Wissenschaft, z. B. Staatsrechtslehrer und Historiker, und der Wirtschaft mitzuwirken, deren Fachkenntnisse und Erfahrungen in einer Konstituante unentbehrlich wären. Ebenso könnte den Frauen eine Vertretung gegeben
werden (vgl. Oeri, Schweizer Monatshefte S. 280, und Weber S. 887).

Die Wünschbarkeit, ja Notwendigkeit, diese Kreise zur Mitarbeit bei der Totalrevision heranzuziehen, steht ausser Diskussion. Dass dies aber bei einem VB leichter möglich sei, ist zu bezweifeln. Es kann wohl nicht gesagt werden, dass die Totalrevision und die Wahl in den VB weniger politische Angelegenheiten seien als Teilrevisionen und die Wahl in die gesetzgebenden Bäte. Es ist sogar in erster Linie eine politische, und zwar eine hochpolitische Frage. Daher kann man nicht erwarten, dass die Parteipolitik sich der Teilrevision und der Wahl in den VE weniger bemächtigen werde. Schon heute besteht übrigens die Möglichkeit, Vertreter der Wissenschaft und der Wirtschaft in die gesetzgebenden Bäte zu wählen. Kommen aber solche parteilosen Männer aus parteipolitischen Gründen für den Nationalrat oder den

615

Ständerat nicht in Frage --^ weil keine Partei sie auf den Schild erhebt, oder weil sie keiner politischen Behörde angehören wollen --, so gilt das wohl in unvermindertem Masse für den VE. Dagegen besteht die Möglichkeit, solche Männer in formloser Weise in eine Expertenkommission zu berufen. Sie haben dort -- frei von politischen Bindungen -- vielleicht noch besser die Möglichkeit, ihre Kenntnisse und Erfahrungen zur Geltung zu bringen, in einer Atmosphäre, die mehr auf das Grundsätzliche gerichtet und weniger mit der Notwendigkeit parteipolitischer Kompromisse belastet ist. In gleicher Weise könnten zur Mitarbeit in der Expertenkommission auch jene Kräfte herangezogen worden, die sich nur für diese einmalige Aufgabe, nicht aber für den ordentlichen Parlamentsbetrieb zur Verfügung stellen würden. In vermehrtem Masse gilt dies für die Einbeziehung von Frauen. Denn in der Expertenkommission ist die Berufung von Frauen ohne weiteres möglich und erscheint als das Gegebene, während die Wahl von Frauen in einen VE, der eine politische Behörde darstellt, auf erheblich grössere Schwierigkeiten -- tatsächlicher und rechtlicher Art -- stossen würde. Dass aber die Expertenkommission dadurch ein zu starkes Gewicht erhalten würde, so dass die gesetzgebenden Bäte nur noch Ja zu sagen hätten, glauben wir nicht befürchten zu müssen. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dagegen. Übrigens bestellt heute schon die Möglichkeit, Spezialisten selbst in den parlamentarischen Kommissionen, wo die Hauptarbeit geleistet wird, als Experten heranzuziehen.

Das Argument der bessern Auslese beim VE ist daher kaum begründet.

Zutreffend ist wohl die weitere Behauptung, dass es ausgezeichnete National- und Ständeräte gebe, die nur auf besonderen Gebieten spezielle Erfahrungen und Fähigkeiten zur Verfügung stellen können. Das würde jedoch bei einem VB wiederum nicht anders sein. Dies ist vielmehr das allgemeine Kennzeichen unserer Zeit, die notwendige Folge der hochdifferenzierten Verhältnisse auf allen Gebieten. Auch bei der ordentlichen Gesetzgebung dürfte es kaum einen Vertreter geben, der alle Beratungsgegenstände beherrscht, wie es andererseits wenige Traktanden geben dürfte, für deren Behandlung alle Vertreter in gleicher Weise geeignet wären. Wie bei keiner andern Aufgabe wird sich bei der Totalrevision für jeden eine
Gelegenheit finden, seme besondern Fähigkeiten und Erfahrungen zum Nutzen der Gesamtheit zur Geltung zu bringen. Insbesondere werden in parlamentarischen Kommissionen, die wohl in mehrere Subkommissionen aufgeteilt werden müssten, solche Spezialisten erwünscht sein. Für das schliessliche Zustandekommen eines Werkes wie die Totalrevision ist aber die Mitwirkung aller dieser Kräfte nötig. Dabei darf -- was hier erneut betont werden soll -- nicht übersehen werden, dass die Totalrevision gerade im abschliessenden Stadium keine juristisch-technische Arbeit ist. Letzteres trifft höchstens für das vorbereitende Stadium bis zu einem gewissen Grade zu. Letzten Endes ist aber die Aufgabe eine politische: Es sollen auf Jahrzehnte hinaus die nach den besonderen Verhältnissen unseres Landes und unserer Zeit sachlich richtigen Grundlagen des staatlichen Lebens gesetzt werden, die einen gerechten Ausgleich berechtigter

616

Interessen gewährleisten. Da in der Demokratie darüber der Wille der Mehrheit entscheidet, genügt es nicht, das verfassunggebende Organ ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der persönlichen Befähigung der einzelnen Mitglieder zu bestellen, wie dies zum Teil für eine Expertenkommission zutrifft. Vielmehr müssen die verschiedenen Interessen und Eichtungen des Volkes vertreten sein, die in der Demokratie zur Hauptsache in politischen Parteien zusammengefasst sind.

Als weiterer Grund für die Einführung eines VB wird die Möglichkeit einer Verjüngung der verfassunggebenden Behörde angeführt, durch welche namentlich die Träger der Gesamterneuerung der BV Gelegenheit erbalten sollen, an diesem Werk mitzuarbeiten (vgl. Giacometti, Neue Schweizer Kundschau 1934 S. 148). Diesem Begehren, dessen Berechtigung hier nicht diskutiert werden soll, könnte aber wohl durch Neuwahl der beiden Eäte in genügender Weise Ecchnung getragen werden, wie dies in einzelnen Kantonen und für gewisse Fälle auch in der Bundesverfassung (Art. 120) vorgesehen ist. Möglicherweise könnten hiefür die ordentlichen Neuwahlen des Nationalrates ausreichen, die im Herbst dieses Jahres in Aussicht stehen.

Für unbegründet halten wir schliesslich auch die gelegentlich geäusserte Hoffnung, die Einsetzung eines VR wäre geeignet, die öffentliche Meinung zu beruhigen. Es scheint uns im Gegenteil, dass die Ausschaltung der beiden Eäte den Angriffen gegen diese und gegen den Parlamentarismus neue Nahrung geben würde. Denn es wäre ein leichtes, in der Öffentlichkeit die Auffassung zu verbreiten, die beiden Eäte hätten sich als unfähig erwiesen, dieses grosse Werk auszuführen. Diese Erwägung spricht daher gegen die Einführung eines VE.

IV. Ersatz durch eine vorbereitende Kommission.

Die vorstehenden Erwägungen führen von selbst zur Überlegung, ob nicht die dem VE zugedachte Aufgabe wenigstens zum Teil in nützlicher und zweck-, massiger Weise durch eine vorbereitende Expertenkommission des Bundesrates erfüllt werden könnte. Folgt man diesem Gedanken, so stellen sich die weitern Fragen, wer eine solche Kommission zu ernennen hätte, wie sie zusammengesetzt werden müsste, wieviel Mitglieder sie zählen, wie sie organisiert werden und in welcher Weise sie ihre Arbeit erledigen sollte. Darüber mögen noch einige Ausführungen am Platze sein.

Gesetzt,
man verzichte auf einen eigentlichen VE und ersetze ihn durch eine Expertenkommission, so hat diese nur eine Vorlage auszuarbeiten, die den politischen Instanzen als geeignete Diskussionsbasis dienen soll. Man hat es also mit einer Fachkommission zu tun. Daraus folgt, dass vor allem Fachleute in diese Kommission gewählt werden müssen. Dazu gehören hervorragende Kenner unseres Staats- und Wirtschaftslebens, die frei von parteipolitischen Bindungen ihr Wissen und ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen, Theoretiker und Praktiker (Staatsmänner, Staatsrechtslehrer, Eichter, Wirtschaftsführer verschiedener Prägung, Historiker). Auch besondere Kenner

617 von Teilgebieten wären heranzuziehen (z. B. spezielle Kenner des Finanzund Steuerwesens, des Verkehrswesens, der Technik, der Landwirtschaft, der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik, des Schulwesens), Soll aber das Ergebnis nicht nur eine theoretische Konstruktion bleiben, die für unsere besondern Verhältnisse nicht passt oder keine Aussicht hat, von den politischen Instanzen und vom Volk angenommen zu werden, so müssen auch die verschiedensten Interessen und Sichtungen in der Expertenkommission vertreten sein (insbesondere die verschiedenen sozialen Schichten der Bevölkerung, die verschiedenen Berufe, Sprachen, Konfessionen und politischen Richtungen, sowie die Frauen).

Als Grundlage für die Beratungen der Expertenkommission hätte ein Vorentwurf zu dienen, der wenigstens die Probleme aufzeigt, um die es bei der Totalrevision geht. Wird der Kommission nicht schon ein formulierter Vorentwurf unterbreitet, so läuft sie Gefahr, dass ihre Diskussionen, ins Uferlose gehen, ohne zu einem positiven Ergebnis zu gelangen. Auf Grund dieser Vorlage, die bei einer ersten allgemeinen Diskussion ergänzt und erweitert werden könnte, müsste die Kommission sich wohl in Subkommissionen aufteilen, wie dies bei andern wichtigen Vorlagen (z. B. bei den Wirtschaftsartikeln) geschehen ist. Diese hätten sich parallel nebeneinander mit Sonderfragen (z. B. Staat und Wirtschaft, Sozialpolitisches, Finanzen, Verkehrswesen, Staat und Kirche, Staat und Schule, Volksrechte, Freiheitsrechte) zu befassen. Am Schlüsse der Beratungen wird eine gründliche Durchsicht und Bereinigung des Textes nötig sein, damit die Geschlossenheit trotz der angebrachten Änderungen gewahrt bleibt.

Die nötigen Vorarbeiten würden m den Aufgabenkreis des Justiz- und Polizeidepartementes fallen. Die Ausarbeitung des Vorentwurfes selbst müsste, damit das Werk innere Geschlossenheit und Widerspruchslosigkeit aufweise, entweder einer einzigen Persönlichkeit oder einem kleinen Kreis von wenigen Personen übertragen werden, die unter einer gemeinsamen Oberleitung diese erste Aufgabe zu übernehmen hätten.

Auf diese Weise könnte die Expertenkommission zu einem wesentlichen Teil das bieten, was man von einem VE erwartet. Ob nicht dieser Weg einzuschlagen sei, ist um so ernsthafter zu erwägen, als andererseits auch bei Bestellung eines eigentlichen
Verfassungsrates doch wohl dem Bundesrat aufgetragen wird, zu seinen Händen einen Verfassungsentwurf vorzulegen, der Bundesrat aber diese Aufgabe schwerlich ohne intensive Mitarbeit der sachverständigen Kreise wird erfüllen können. Selbst die Einsetzung eines wirklichen VB wird also voraussichtlich die Konsultierung einer Expertenkommission nicht entbehrlich machen, V. Schlussfolgerung und Antrag.

Überblickt man die Gründe für und gegen die vorgeschlagene Partialrévision der BV, so ergibt sich, dass der Wunsch nach einer Entlastung des

618 Nationalrates und des Ständerates, sowie nach Einführung eines rationelleren Verfahrens, das rascher zum Ziele führt, durchaus begründet ist, dass aber dieses Ziel durch Einführung eines Verfassungsrates nur teilweise und nicht ohne erhebliche und gefährliche Konzessionen an das Prinzip des Einheitsstaates erreicht werden könnte. Im übrigen aber können die Vorteile eines VE zum Teil ebensogut, teils sogar besser durch eine entsprechende Zusammenstellung und Organisation einer Expertenkommission erreicht werden.

Im ganzen halten wir dafür, dass die Nachteile und Gefahren des Verfassungsrates überwiegen. Selbst die Einführung eines Falraltativums würden wir für ein zu gewagtes Experiment halten. Gerade in der gegenwärtigen Zeit sollte man sich hüten, am Grundpfeiler der föderalistischen Struktur unseres Landes zu rütteln.

Aus diesen Erwägungen empfehlen wir Ihnen, am bisherigen System, das sich seit beinahe einem Jahrhundert in der Hauptsache bewährt hat, im Prinzip festzuhalten. Verbesserungen im einzelnen sind unseres Erachtens nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Insbesondere wird eine entsprechende Zusammensetzung der Expertenkommission und die Organisation ihrer Tätigkeit, die Vorbereitung des als Diskussionsbasis dienenden Vorentwurfes sowie eine angemessene Arbeitsteilung in den parlamentarischen Kommissionen und in den Eäten manches zu der wünschenswerten Eationalisierung des Verfassunggebungsverfahrens beitragen, ohne dass -- wie dies beim VE der Fall wäre -- grundlegende Prinzipien unserer Staatsordnung berührt oder gefährdet werden. Selbst die Tagsatzung, die zwar noch nicht so komplizierte Verhältnisse, dafür aber mehr Schwierigkeiten grundsätzlicher Art hatte, war in der Lage, neben laufenden Aufgaben eine Verfassung zu schaffen, die sich in ihren Grundlagen bis auf den heutigen Tag ausgezeichnet bewährt hat.

Wir beantragen Ihnen daher, auf die Anregung der fakultativen Einführung eines Verfassungsratos für die Durchführung von Totalrevisionen der Bundesverfassung nicht einzutreten.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 6. August 1948.

Im Namen des Schweiz. Bundesrates, Der Vizepräsident : .

Stampili.

414Q

Der Vizekanzler:

Leimgrube r.

Schweizerisches Bundesarchiv, Digitale Amtsdruckschriften Archives fédérales suisses, Publications officielles numérisées Archivio federale svizzero, Pubblicazioni ufficiali digitali

Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Postulat des Nationalrates betreffend die Einführung eines Verfassungsrates. (Vom 6. August 1943.)

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1943

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