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Schweizerische Bundesversammlung.

Am 10. März 1884 sind die eidgenössischen Räthe zur II. Abtheilung der Wintersession zusammengetreten.

Der Präsident des Nationalraths, Herr Dr. S. K a i s e r aus Solothurn, eröffnete die Verhandlungen mit folgender Rede : ,,Meine Herren Nationalräthe !

,,Wenn ich nach der Beurtheilung durch die öffentliche Meinung auch wohl weiß, daß die Eröffnungs- und Schlußreden der Präsidien der eidgenössischen Räthe in den letzten Jahren an Bedeutung eingebüßt haben und deßhalb auch seltener geworden sind, so kann ich doch nicht umhin, Sie mit einigen Worten zu begrüßen und mit der Begrüßung auf den Z w e c k und die A u f g a b e unseres Wiederzusammentrittes hinzuweisen. Und zwar kann ich es in gleicher Weise thun, wie beim Schluß der ersten Hälfte der Wiatersession am 22. Dezember 1883; wie damals, kann ich auch jetzt auf die vielen volkswirthschaftlichen Fragen, die bei unsern Verhandlungen zu erörtern und zu lösen sind, hinweisen und betonen, daß die bevorstehende Session recht eigentlich eine v o l k s w i r t h s c h a f tl i e h e genannt werden kann.

,,Nach meiner Auffassung darf deßhalb das Verzeichniß unserer Verhandlungsgegenstände e i n Z e i c h e n d e r Z e i t genannt werden, ein Zeichen der gegenwärtiger Zeit, in welcher der Kampf um das Dasein bei den Staaten und Individuen mit größerer Heftigkeit als früher geführt wird. Werden diese Fragen von Vielen auch mit Freude begrüßt, indem sie gerne die politischen und konfessionellen Diskussionen vermissen, so darf nicht außer Acht gelassen werden, daß auch die volkswirtschaftlichen Fragen eine Kenntniß ihrer Behandlung verlangen und daß nicht mit Unverstand und Gleichgültigkeit an dieselben herangetreten werden darf. Deßhalb besonders bedaure ich, daß wir unter unsern Kollegen einen vermissen müssen, der in den wirthschaftlichen Fragen sehr bewandert war und ein kerniges Wort bei denselben zu sprechen pflegte, der aber gerade durch die Folgen der wichtigsten politischökonomischen Frage, die wir in der verflossenen Sessionsabtheilung

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zu behandeln hatten, aus unserer Mitte gedrängt worden ist. Diese Frage ist die sogenannte N a t i o a a l b a h n g a r a n t i e gewesen ; der Kollege, den wir vermissen müssen, ist S a l o m o n B l e u l e r von Winterthur.

,,Sie werden es Ihrem Präsidium um so mehr gestatten, über Bleuler einige Worte zu sprechen, als derselbe einer seiner Altersgenossen und beinahe von den Schulbänken her ein Freund und politischer Gesinnungsgenosse gewesen ist. Mit Bleuler, der im Herbste 1869 zum ersten Male mit großer Mehrheit in unsere Behörde gewählt und seither wiederholt bestätigt worden ist, verloren wir einen energischen Vertreter der demokratischen Richtung. Als Parlamentarier war er ein scharfer Dialektiker, der bei allen Fragen, in denen er sich zum Worte meldete, gerne gehört wurde. Es hat eine starke Ueberzeugungstreue aus dem Manne gesprochen. Dabei war er gerade in den wirtschaftlichen Fragen gut bewandert und hielt deren Lösung nur für gut, wenn sie zum Wohle der zahlreichern Volksklasse geschehen konnte. Wie er in der Politik Demokrat war, so war er es auch auf sozialem Gebiete. Ich würde sein Nichterscheinen noch mehr bedauern, wenn er nicht einer guten Sache gewissermassen selber sich geopfert hätte. Diese gute Sache war die Art und Weise der abschliesseuden Behandlung der Nationalbahngarantie, durch welche sich die Eidgenossen ein ehrendes Denkmal gesetzt haben. Wir werden über dieselbe noch einen Bericht von Seite des Bundesrathes zu erwarten haben ; ich meinerseits halte dafür, daß nun ein stark schmerzender Splitter aus dem Fleische des schweizerischen Gemeindelebens gezogen worden ist.

Auch der öffentliche Kredit, ein sehr wichtiger Faktor bei den Wirthschaftsfragen, hat seine Befriedigung gefunden ,,Merkwürdigerweise wird aber gerade die a b s c h l i e ß e n d e B e h a n d l u n g d e r N a t i o n a l b a h n g a r a n t i e durch d i e Räthe von Vielen zum Vorwande genommen, um sich mit Veheinenz gegen andere Beschlüsse der Räthe zu wenden. Wir haben nun den Volksentscheid über diese Beschlüsse zu gewärtigen ; so gut die nur von ihrem Rechte Gebrauch machen, welche den Volksentscheid anrufen, so gut sind die Bundesversammlung, d. i. die eidgenössischen Räthe im Rechte gewesen, den abschliessenden Entscheid ohne Mitwirkung des Volkes zu fassen. Ich glaube, s. Z. aus den
·Revisionsverhandlungen zur gegenwärtigen Bundesverfassung mit Evidenz den Sinn und Geist der betreffenden Verfassungsbestimmung nachgewiesen zu haben. Ich glaube nicht, daß die Räthe in die Verfassung einen Einbruch gethan haben, und halte dafür, daß, wer sich mit Verfassungstreue besonders brüsten will, eben die g a n z e V e r f a s s u n g ehren müsse. Und gerade durch die Verfassung

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haben die'Räthe ihre eigenen Rechte und Pflichten, für deren Beachtung und Erfüllung sie die Verantwortlichkeit, wenn sie oft auch schwer lasten mag, zu tragen haben.

,,Doch ich will mich nicht zur Polemik verleiten lassen, sondern ·will auf das Thema meiner Rede zurückkommen, welche die volkswirthschaftliehe Seite unserer Verhandlungsgegenstände zu zeigen sich vorgenommen hat. Im Ständerathe begegnen wir der so wichtigen Z o 111 a r i f fr a g e , die gerade in den gegenwärtigen Zeiten mit besonderer Vorsicht zu behandeln ist. Einerseits ist nicht zu vergessen, daß ein schweizerischer Zolltarif seinen konstitutionellen Anregungspunkt und Zweck in der Beschaffung der nothwendigen Einnahmen der Eidgenossenschaft hat, die fast ausschließlich auf diese Quelle angewiesen ist. Anderseits muß gesucht werden, auch bei dieser indirekten Einnahmsquelle die Grundsätze einer richtigen Besteuerung und der internationalen Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Es ist zu hoffen, daß der Ständerath sein Thema beendigen könne und die zu begleichenden Differenzen nicht unüberwindliche sein werden. Der Nationalrath seinerseits steht vor der Aenderung des P o s t t a x e n g e s e t z e s , die uns mehrere Reformen bringen soll. Doch ist die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß bei den schönen Tendenzen, die geschwinde und sichere Beförderung, welche durch den Weltpostverein verwirklicht werden soll, das zu erstrebende große und schöne Ziel nur durch eine ausnahmsweise Belastung des Kleinverkehres erreicht werden kann, wie ja auch der sog.

Reformtarif der Eisenbahnen aus dem gleichen Grunde von vielen Seiten angefochten wird. Dabei ist des Fernern nicht zu vergessen, daß ein staatliches Monopol nicht einseitig, um fiskalische Interessen '/M befriedigen, verwaltet werden darf. Das fiskalische Interesse soll auch bei jenen Vorschlägen nicht den Entscheid geben, welche aus der l a n d w i r t h s e h a f t l i c h e n und g e w e r b l i c h e n Enq u ê t e hervorgegangen sind. Wenn auch das Bestreben anerkannt werden muß, daß der Staat den Individuen den Kampf um das Dasein erleichtern will, so fehlt es doch nicht an gewichtigen Stimmen, welche diese Thätigkeit des modernen S t a a t s s o z i a l i s m u s nicht gerne sehen und der individuellen Anstrengung das Wort reden und die Inkonvenienzen, welche eine solche Staatshülfo,
u. A. auch durch die Art dei1 Verwaltung, mit sich bringt, strenge beurtheilen. Meines Erachtens ist aber gerade bei ökonomischen Fragen der Spruch ,, v i r i bus u n i t i s " nicht zu vergessen. Dieser Spruch ist auch die Grundlage geworden für die vielen F l u ß k o r r e k t i o n e n , welche seit Jahren in der Schweiz ausgeführt werden und an welchen sich der Bund wesentlich betheiligt. Nach den großen Werken der Rhone-, der Rhein- und der Juragewässerkorrektion gelangen jetzt die kleinern Arbeiten

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an die Reihe ; ich möchte sie die Binnenkorrektion nennen, die in ihren Folgen so augenfällig ist, als die großen Werke. Bei unsern schweizerischen Verhältnissen finde ich es besonders lobenswerth, daß alle diese Korrektionen und Arbeiten ohne Bevorzugung einzelner Kantone und ohne politische Rücksichten, sondern nach dem Maßstabe des Bedürfnisses ausgeführt worden sind. Ich eile zürn Schlüsse und kann nicht umhin, es als eigentümlich zu bezeichnen, daß bei aller Einigkeit der Schweizer in wirthschaftlichen Fragen andere wichtige Gesetzesvorschläge, wie die über die p o l i t i s c h e n Rechte und die Wahlen und Abstimmungen, aus dem Grunde in den Hintergrund treten müssen, weil eine wünschbare Einigung bei den sehr aus einander gehenden Ansichten und Parteitendenzen nicht gefunden werden kann. Sie werden es Ihrem Präsidium nicht verdenken, wenn es den Wunsch aussprieht, daß das Ganze ob den Theilen, das Vaterland ob den Parteien nicht vergessen werden dürfe, sondern daß die Postulate der Gerechtigkeit erfüllt werden müssen und daß alle Parteien sich im Rufe vereinigen : v, E s l e b e das V a t e r l a n d ! "

Im N a t i o n a 1 r a t h ist als · neues Mitglied erschienen : Herr Stadtpräsident Rudolf G e i l i n g e r, von und in Winterthur, gewählt vom III. eidgenössischen Wahlkreise am 24. Februar 1884, an der Stelle des zurückgetretenen Herrn Salomon B l e u l e r.

Im S t ä n d e r a t h erschien als neu gewähltes Mitglied: Herr Dr. Charles Albert G o b a t , von Cremine (bern. Jura), für den demissionirenden Herrn Regierungsrath S c h e u r e r.

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