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Botschaft des

Bundesrates an die Bundesversammlung über die Genehmigung eines zwischen der Schweiz und Osterreich abgeschlossenen Abkommens über Sozialversicherung (Vom 3. November 1950)

Herr Präsident!

Hochgeehrte Herren!

Wir beehren uns, Ihnen das am 15. Juli 1950 zwischen der Schweiz und Österreich abgeschlossene Abkommen über Sozialversicherung zur Genehmigung zu unterbreiten.

I. Allgemeines 1. Schon wenige Wochen nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 20. Dezember 1946 (im folgenden «Bundesgesetz» genannt) trat Österreich mit dem Wunsch nach Abschluss eines Gegenseitigkeitsabkommens auf dem Gebiete der Sozialversicherung an die Schweiz heran. Mitte März 1948 fand in Bern zwischen Vertretern des Bundesamtes für Sozialversicherung und des österreichischen Bundesministeriums für soziale Verwaltung eine erste Fühlungnahme rein informatorischen Charakters statt. Diese bot Gelegenheit zu einer gegenseitigen Orientierung über die beiderseitigen Sozialversicherungsgesetzgebungen sowie zur Prüfung der Grundlagen und der Möglichkeit des Abschlusses eines Sozialversicherungsabkommens zwischen den beiden Ländern.

2, Die ersten offiziellen Verhandlungen wurden am 13. Oktober 1949 in Wien eröffnet und dauerten bis zum 20. Oktober.

Sie führten zur Ausarbeitung eines Abkommensentwurfes, dem insofern noch kein definitiver Charakter zukam, als von beiden Delegationen die Stellungnahme der beteiligten Eegierungs- und sonstigen Stellen vorbehalten wurde.

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Die Fortsetzung bzw. der Abschlags der Verhandlungen fand in Bern vom 13.--15. Juli 1950 statt. Österreich liess sich infolge Verhinderung seines Delegationschefs durch die Delegationsmitglieder Herren Ministerialräte Dr. Arthur Eudolph und Dr. Karl Melzer vertreten. Zur Unterzeichnung des Abkommens wurden vom österreichischen Bundespräsidenten die Herren Karl Wildmann, ausserordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister Österreichs in der Schweiz, und Ministerialrat Dr. Arthur Budolph ermächtigt.

3. Hatte Österreich im März 1948 noch die Annahme des heute in zwischenstaatlichen Abkommen allgemein anerkannten Systems der Totalisation der Versicherungszeiten und der Berechnung der Renten «pro rata temporis» befürwortet, so zeigte es sich bei den offiziellen Verhandlungen im Oktober 1949, dass der von der Schweiz in den Verhandlungen mit Italien und Frankreich erfolgreich verteidigte Standpunkt, wonach dieses System zum mindesten vorläufig von der Schweiz nicht akzeptiert werden kann, von Österreich verstanden wurde. Die österreichische Delegation sah denn auch davon ab, die Frage der Totalisation der Versicherungszeiten erneut in die Diskussion zu werfen.

Zu eingehender Diskussion gab damit einzig die Frage der Gleichwertigkeit der schweizerischen und österreichischen Versicherungen Anlass, die -- wie wir in den Botschaften zu den Staatsverträgen mit Italien und Frankreich dargelegt haben -- für die Schweiz das Kernproblem der zwischenstaatlichen Verhandlungen bildet, indem die volle oder teilweise Aufhebung der gegenüber den Ausländern geltenden einschränkenden Bestimmungen weitgehend von ihrer Beantwortung abhängt. Auf Grund des Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland vom 13. März 1938 wurde in Österreich die deutsche Sozialversicherungsordnung eingeführt. Nach Wiedererlangung seiner Selbständigkeit hat Österreich im Jahre 1947 ein Bundesgesetz über die Überleitung zum österreichischen Sozialversicherungsrecht erlassen, wonach bis zur Neugestaltung des österreichischen Sozialversicherungsrechtes die deutsche Sozialversicherungsordnung weiterhin in Kraft bleibt. Gemäss dieser Ordnung und dem vorgenannten Überleitungsgesetz sind grundsätzlich alle auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses (in Industrie, Gewerbe, Handel, Landwirtschaft und Bergbau)
in Österreich Beschäftigten, ohne Bucksicht auf die Höhe des Entgeltes, obligatorisch gegen die Folgen von Alter, Tod, Invalidität, Krankheit und, je nach ihrer Beschäftigung, gegen Betriebs- und Nichtbetriebsunfälle versichert. Zudem hat jeder, gleichgültig ob In- oder Ausländer, der einmal während 6 Monaten pflichtversichert war, wenn er aus dem Obligatorium ausscheidet, die Möglichkeit, sich freiwillig weiterzuversichern. Die österreichische Sozialversicherung umfasst die Krankenversicherung, die Eentenversicherungen der Angestellten, Arbeiter und Bergleute und die Unfallversicherung. Die genannten Rentenversicherungen haben den Vorzug, dass sie neben den Risiken des Alters und des Todes auch das Risiko der Invalidität bzw. der Berufsunfähigkeit decken.

Damit stellt die österreichische Sozialversicherungsordnung hinsichtlich der

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u. Die Grundzüge des Abkommens 1. Alters- und Hinterlassenenversicherung a. Ordentliche Eenten Die österreichischen Staatsangehörigen haben Anspruch auf die oidentlichen Eenten der schweizerischen Versicherung, wenn sie bei Eintritt des Versicherungsfalles -- insgesamt während mindestens 5 vollen Jahren Beiträge an die schweizerische Versicherung bezahlt haben oder -- sich während insgesamt 10 Jahren -- davon mindestens 5 Jahre unmittelbar und ununterbrochen vor dem Versicherungsfall -- in der Schweiz aufgehalten und insgesamt während mindestens eines vollen Jahres Beiträge an die schweizerische Versicherung bezahlt haben (Art. 6, Abs. l und 2, des Abkommens).

In Anbetracht der Gleichwertigkeit der österreichischen Sozialversicherung wird die Kürzung der Eenten um ein Drittel gemäss Artikel 40 des Bundesgesetzes fallen gelassen.

Die Herabsetzung der in Artikel 15, Absatz 3, des Bundesgesetzes vorgesehenen 10jährigen Karenzfrist auf 5 Jahre rechtfertigt sich einmal insofern, als die österreichische Sozialversicherung Hinterlassenenrenten und Invalidenrenten schon nach einer Wartezeit von 5 Jahren, in Fallen, wo der Tod oder die Invalidität zufolge eines Arbeitsunfalles eintritt, sogar unabhängig von der Versicherungsdauer gewährt. Dann aber auch deshalb, weil Österreich -- wie wir noch näher schildern werden -- im Sinne einer einseitigen Totalisation der Versicherungszeiten die schweizerischen Beitragszeiten berücksichtigt, ja in bestimmten Fällen sogar fiktive schweizerische Beitragszeiten annimmt.

Die Eegelung, wonach die österreichischen Staatsangehörigen, die während mindestens 10 Jahren -- wovon die letzten 5 Jahre unmittelbar und ununterbrochen vor dem Eentenfalle -- in der Schweiz gewohnt haben, schon nach einem Beitragsjahr einen Eentenanspruch erlangen, ist praktisch nur für die ersten 5 Jahre von Bedeutung und betrifft hinsichtlich der Altersrenten nur die am 1. Januar
1948 über GOjährig gewesenen, d. h. die vor dem 1. Juli 1887 geborenen Personen. Nachher wird sie gegenstandslos, weil dann alle österreichischen Staatsangehörigen, die während mindestens 5 Jahren in der Schweiz waren, auch während der gleichen Zeit Beiträge bezahlt haben und damit gemäss Abkommen ohnehin rentenberechtigt sein werden.

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Als Gegenleistung sichert Österreich den Schweizerbürgern und ihren Hinterlassenen unter den gleichen Voraussetzungen wie den österreichischen Staatsangehörigen den Anspruch auf die Leistungen der österreichischen Versicherung zu. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass Österreich im Sinne einer einseitigen Totalisation der Versicherungszeiten für die Erfüllung der österreichischen Wartezeit die schweizerischen Versicherungszeiten den österreichischen gleichstellt, sofern während mindestens je eines Jahres Beiträge an die österreichische und schweizerische Versicherung bezahlt wurden.

Damit werden unsere Landsleute immer dann einen Anspruch auf die Leistungen der österreichischen Versicherung haben, wenn bei Zusammenrechnung der schweizerischen und österreichischen. Versicherungszeiten die Wartezeit für die in Betracht fallende Leistung erfüllt ist. So wird z. B. ein Schweizerburger, der während 12 Jahren Beiträge an die schweizerische Versicherung bezahlt hat, in Österreich gegebenenfalls bereits nach 3 Jahren altersrentenberechtigt werden, und ein Schweizerburger, der in der Schweiz während 4 Jahren Beiträge bezahlt hat, in Österreich bereits nach einem Jahr Anspruch auf eine Invalidenrente bzw. seine Hinterlassenen auf eine Hinterlassenenrente haben.

In Würdigung des Umstandes, dass die schweizerische AHV erst seit kurzer Zeit besteht, hat Österreich bezüglich der Altersrenten einer Sonderregelung zugunsten jener Schweizerbürger zugestimmt, die bei Inkrafttreten der schweizerischen AHV 55jährig (Frauen SOjährig) und älter waren, d. h. vor dem 1. Januar 1893 (Frauen vor dem 1. Januar 1898) geboren sind und in der Zeit vom 1. Januar 1938 bis 31. Dezember 1947 ihren Wohnsitz in der Schweiz hatten. Darnach rechnet Österreich -- im Sinne einer Fiktion -- für diese Kategorie von Schweizerbürgern, je nach Jahrgang, die zehn der Einführung der AHV vorangehenden Jahre ganz oder teilweise als erfüllte Wartezeit an.

So wird z. B. ein Schweizerbürger, der bei Inkrafttreten der schweizerischen AHV 65jährig war, in Österreich bereits nach 5 Beitragsjahren (statt 15 Jahren) altersrentenberechtigt, sofern er die Bedingung bezüglich des Wohnsitzes in der Schweiz erfüllt (Art. 8 des Abkommens).

ö. Die R ü c k e r s t a t t u n g der Beiträge Die österreichischen Staatsangehörigen, die der schweizerischen
AHV unterstellt waren und deren Hinterlassene, denen bei Eintritt des Versicherungsfalles kein Anspruch auf die Leistungen der schweizerischen Versicherung zusteht, können verlangen, dass die Beiträge an den zuständigen österreichischen.

Versicherungsträger überwiesen werden; dieser gewährt hiefür einen zusätzlichen Steigerungsbetrag zu den österreichischen Eenten. Hat der österreichische Staatsangehörige, dessen Beiträge nach Österreich überwiesen wurden, keinen Anspruch auf eine österreichische Eente, so werden ihm die Beiträge durch den österreichischen Versicherungsträger zurückerstattet (Art. 6, Abs. 3 und 4, des Abkommens).

Die Frage, ob sich die Eückerstattung bei den Unselbständigerwerbenden auf die persönlichen Beiträge beschränken, oder ob sie auch die Arbeitgeber-

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beitrage umfassen sollte, gab zu einer einlässlichen Auseinandersetzung Anlass.

Die schweizerische Delegation musste schliesslich die Argumente der österreichischen Vertreter anerkennen, wonach die blosse Eückerstattung der 2 %igen persönlichen Beiträge, im Verhältnis zum österreichischen Beitragssatz von 10 %, zu unbedeutend gewesen wäre, um von den österreichischen Versicherungsträgern für die Gewährung eines zusätzlichen Steigerungsbetrages verwendet werden zu können. Im Gegensatz zum Abkommen mit Italien findet indessen eine Verzinsung der zurückerstatteten Beiträge nicht statt, österreichischerseits sieht das Abkommen keine Eückerstattung der Beiträge an Schweizerbürger vor. Dies erklart sich aus der im vorstehenden Abschnitt a geschilderten einseitigen Totalisation der Versicherungszeiten auf Seiten Österreichs, derzufolge praktisch für die Schweizerbürger nur in Ausnahmefällen Beiträge verloren gehen können. Die Notwendigkeit, die Beiträge zurückzuerstatten, ist für die Schweiz ja gerade eine Folge der Ablehnung des für sie nicht annehmbaren Systems der Totalisation der Versicherungszeiten, durch dessen Anwendung die Beitragsrückerstattung praktisch gegenstandslos wird.

c. Die Zahlung der E e n t e n nach dem Ausland Gleich den meisten ausländischen Gesetzgebungen und dem Bundesgesetz sieht auch das österreichische Überleitungsgesetz vor, dass der rentenberechtigte Ausländer seinen Anspruch verliert, sobald er sich ins Ausland begibt.

Neben der Gleichstellung war daher eines der Hauptziele der Verhandlungen, die Gewährung der Auszahlung der Eenten nach dem Ausland. Es konnte schweizerischerseits erreicht werden, dass die österreichischen Eenten ungeschmälert und vorbehaltlos, d. h. inklusive aller Zuschläge und Zulagen und ohne vorgängige Zustimmung des österreichischen Versicherungsträgers nach der Schweiz ausbezahlt werden. Dieses Zugeständnis ist von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die Zuschläge und Zulagen grundsätzlich nur im Inland gewährt werden und dass allein die Zuschläge 189 % der Grundrente betragen.

Dagegen konnte sich Österreich nicht bereitfinden, auch bei der Auszahlung der österreichischen Eenten nach Drittländern die Zulagen und Zuschläge zu gewähren und auf die Voraussetzung der Zustimmung des zuständigen österreichischen Versicherungsträgers zu verzichten, weil
damit die Schweizerbürger gegenüber den österreichischen Staatsangehörigen bessergestellt worden wären. Im Schlussprotokoll, das einen integrierenden Bestandteil des Abkommens bildet, verpflichtet sich indessen die österreichische Delegation, bei " den österreichischen Begierungsstellen dafür einzutreten, dass auf die österreichischen Versicherungsträger dahin eingewirkt wird, dass diese den Schweizerbürgern die Eenten auch dann auszahlen, wenn sie sich in einem Drittstaate aufhalten. Damit besteht die Hoffnung, dass in jenen sicherlich seltenen Fällen, wo eine Auszahlung nach einem Drittland notwendig werden sollte, der österreichischer Versicherungsträger seine Zustimmung erteilt.

382 Als Gegenleistung sichert die Schweiz in Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung den österreichischen Staatsangehörigen die Auszahlung der ordentlichen schweizerischen Eenten nach jedem beliebigen Drittland zu.

Der Transfer der Versicherungsleistungen erfolgt nach der im Zeitpunkt der Überweisung zwischen den beiden Vertragsstaaten geltenden Eegelung des Zahlungsverkehrs. Für den Fall, dass keine solche bestehen sollte, wird im Abkommen vorgesehen, dass die Leistungen den Berechtigten im Inland zur Verfügung gestellt werden. Dasselbe gilt auch dann, wenn Zahlungen nach einem Drittland auszuführen sind, mit dem kein Zahlungsverkehr besteht.

d. Österreichische E e n t e n r ü c k s t ä n d e Von erheblicher Bedeutung war die Eegelung der Frage der österreichischen Eentenrückstände, nachdem Österreich im Mai 1945 die Eentenzahlungen nach dem Ausland eingestellt hat. Es gelang der schweizerischen Delegation hinsichtlich der Eenten der österreichischen Eentenversicherungen die Nachzahlung sämtlicher Eückstände zu erwirken. So sieht Artikel 20, Absatz 2, des Abkommens vor, dass Österreich sämtliche Leistungen aus den Eentenversicherungen, die wegen Aufenthalts der Berechtigten im Ausland nicht zuerkannt werden konnten oder ruhten, rückwirkend ab 1. Mai 1945 nachbezahlt.

e. Die freiwillige Versicherung Die Erleichterung der Durchführung der schweizerischen freiwilligen Versicherung in Österreich stiess auf keine Schwierigkeit, da Österreich ein gleichgelagertes Interesse hinsichtlich seiner freiwilligen Selbst- und Weiterversicherung besitzt. In Artikel 17 des Abkommens wird vorgesehen, dass die obersten Verwaltungsbehörden der beiden Staaten soweit notwendig Durchführungsbestimmungen vereinbaren können, um die Durchführung der freiwilligen Versicherung der beiderseitigen Staatsangehörigen, die sich im Gebiete des andern Staates aufhalten, zu erleichtern.

2. Die, Unfallversicherung Gemäss Artikel 90 des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung vom 13. Juni 1911 werden den in der Schweiz wohnenden Angehörigen fremder Staaten und ihren Hinterlassenen die nämlichen Versicherungsleistungen gewährt wie den Schweizerbürgern, sofern die Gesetzgebung über Fürsorge und Unfall jener fremden Staaten den Schweizerbürgern und ihren Hinterlassenen Vorteile bietet, die denjenigen des
schweizerischen Gesetzes gleichwertig sind. Es obliegt dem Bundesrat, diejenigen Staaten, bei denen diese Voraussetzung zutrifft, zu bezeichnen. Soweit eine solche Gleichwertigkeit durch den Bundesrat nicht ausgesprochen ist, wird den versicherten Personen ausländischer Staaten die Invalidenrente um ein Viertel gekürzt.

Hinsichtlich der Betriebsunfälle wurde die Gleichwertigkeit der Gesetzgebung aller Staaten, die das internationale Übereinkommen Nr. 19 vom Jahre 1925 über die Gleichbehandlung einheimischer und ausländischer Arbeitnehmer bei Entschädigung aus Anlass von Betriebsunfällen ratifiziert haben,

383 was auch für Österreich zutrifft, mit dem Moment anerkannt, in dem auch die Schweiz diesem Übereinkommen beigetreten ist. Das Übereinkommen stellt die Gleichbehandlung unabhängig vom Wohnsitz fest.

Nachdem festgestellt werden konnte, dass in der österreichischen Gesetzgebung auch die Nichtbetriebsunfälle entschädigt werden, wobei die etwas niedrigeren Versicherungsleistungen durch den bedeutend grösseren Geltungsbereich der österreichischen Nichtbetriebsunfallversicherung als aufgewogen betrachtet werden können, wurde in Artikel 11 des Abkommens auch die Gleichberechtigung der beiden Gesetzgebungen hinsichtlich der Nichtbetriebsunfälle ausgesprochen, womit die erwähnte bisherige Viertelskürzung für österreichische Invalidenrenten dahinfällt. Die ungekürzten Versicherungsleistungen werden gemäss Artikel 3 den Anspruchsberechtigten ohne Bücksicht, ob sie sich im einen oder andern Vertragsstaat aufhalten, ausbezahlt.

In Artikel 8 sieht das Abkommen vor, dass den Angehörigen der beiden vertragsschliessenden Staaten die Geldleistungen aus der Sozialversicherung einschliesslich aller Zulagen und Zuschläge in das Gebiet des andern Staates zu gewähren sind. Dies hat zur Folge, dass in der Unfallversicherung, mit Inkrafttreten des Abkommens auch die Teuerungszulagen, die bisher nur an solche Beniner ausbezahlt wurden, die sich in der Schweiz aufhielten, nach Österreich auszubezahlen sind. Als Gegenleistung gewährt Österreich den Schweizerbürgern, die sich in einem der Vertragsstaaten aufhalten und die Anspruch auf Leistungen der österreichischen Versicherung haben, die namhaften Aufwertungs- und Teuerungszuschläge, die teilweise mehr als die Versicherungsleistungen selbst ausmachen.

Die Gewährung der ungekürzten Leistungen für Nichtbetriebsunfälle sowie die Auszahlung von Teuerungszulagen erfolgen mit dem Inkraftreten des Abkommens.

III. Die finanziellen Auswirkungen 1. Wir haben bereits in unserer Botschaft vom 10. Januar dieses Jahres betreffend das analoge Abkommen mit Frankreich darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, das finanzielle Ausmass der gegenseitigen Zugeständnisse genau abzuschätzen. Als Ausgangspunkt solcher Schätzungen wird naturgemäss immer die bei Abschluss des Vertrages vorhandene Lage gewählt. So beträgt gegenwärtig die Gesamtzahl der in der Schweiz dorm'zilierten oder als
Saisonarbeiter tätigen Österreicher beiderlei Geschlechts beinahe 20 000, wogegen nur etwa 3500 Schweizer in Österreich niedergelassen sind. Eein zahlenmässig gesehen, lassen sich daher die beidseitigen Interessen am Staatsvertrag durch das Verhältnis 6 : l darstellen. Diese Zahlen können sich jedoch im Laufe der Zeit merklich verschieben, weshalb es bei solchen Verhandlungen nicht üblich ist, das finanzielle Ausmass der Zugeständnisse gegeneinander abzuwägen. Übrigens gleichen sich die aus den Verträgen entstehenden Aktiven und Passiven in bezug auf die verschiedenen Staaten etwa aus; die Gesamtbilanz kann sogar eher zugunsten unserer Schweizerbürger im Aus-

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lande ausfallen, da deren Zahl gegenwärtig auf rund 360 000 geschätzt werden kann, denen etwa rund 300 000 Ausländer in der Schweiz gegenüberstehen dürften. Diese Zahlen geben lediglich Grössenordnungen an, da es gegenwärtig sehr schwierig ist, genauere Angaben zu erhalten.

2. Die Erleichterungen, welche schweizerischerseits den österreichischen Staatsangehörigen auf dem Sektor der AHV zugebilligt worden sind, wirken sich finanziell in zweifacher Hinsicht aus. Für etwa die Hälfte der in der Schweiz lebenden Österreicher, d. h. für etwa 10 000 Personen, dürften die Lockerungen betreffend die Auszahlung der ordentlichen Eenten in Betracht kommen. Bei der anderen Hälfte handelt es sich um vorübergehend eingestellte Arbeitskräfte, bei welchen infolge der Nichterreichung der fünfjährigen Karenzfrist nur die Beitragsrückerstattung in Frage kommt. Die letzterwähnte Massnahme belastet die Versicherung in keiner Weise, da die entsprechenden Beiträge vorher als Einnahmen der Versicherung verbucht wurden. Diese Gelder werden im Ausgleichsfonds zinstragend angelegt; die Zinsen werden jedoch mit den Beiträgen nicht zurückerstattet, so dass die entstehenden Verwaltungskosten als abgegolten betrachtet werden können. Von den rund 10 000 nicht nur vorübergehend anwesenden, sondern niedergelassenen Österreichern dürften etwas mehr als 1000 vor dem 1. Juli 1892 geboren sein und daher nicht in die Lage kommen, die gesetzlich vorgesehenen 10 vollen Jahresbeiträge zu entrichten.

Unter der Annahme, dass alle die in Artikel 6, Absatz l, des Vertrages vorgesehenen lockernden Bedingungen erfüllen, werden sie nun einen unbedingten Anspruch auf ordentliche Altersrenten erwerben. Die nach dem 30. Juni 1892 geborenen Österreicher können ohnehin die im Gesetz vorgesehene 10jährige Beitragsfrist erfüllen. Für sie wirkt sich lediglich noch das Fallenlassen der Drittelskürzung aus. In ewiger Eente ausgedrückt, werden diese Zugeständnisse für alle Jahrgänge die ' Versicherung mit etwa l Million Franken pro Jahr belasten, was etwa 1% Promille der gegenwärtigen Gesamtverpflichtungen ausmacht. Die gemachten Zugeständnisse können demnach das finanzielle Gleichgewicht der Versicherung in keiner Weise beeinträchtigen, um so weniger, als die Hälfte des genannten Betrages bereits in der technischen Eintrittsbilanz berücksichtigt wurde.
3. Die finanzielle Belastung, welche der Vertrag für die schweizerische Unfallversicherungsanstalt mit sich bringt, dürfte äusserst geringfügig sein.

Weder das Aufheben der Viertelskürzung (Art. 90, KUVG) der durch Nichtbetriebsunfälle entstandenen Invaliden- und Hinterlassenenrenten, noch die Ausrichtung von Teuerungszulagen betreffend Unfälle, die sich vor dem 1. Januar 1943 ereignet haben, können erhebliche finanzielle Folgen haben.

Die Unfallversicherungsanstalt richtet gegenwärtig insgesamt an 57 in Österreich lebende Personen Invaliden- bzw. Hinterlassenenrenten aus, deren Jahresbeitrag ,35 000 Franken nicht übersteigt. Davon sind 15 der Eenten auf Nichtbetriebsunfälle zurückzuführen mit einem gesamten Jahresbetreffnis von etwa 6000 Franken; das Fallenlassen der Viertelskurzung ergibt somit eine jährliche Mehrausgabe von ca. 2000 Franken. Für die Ausrichtung der

385 Teuerungszulagen kommen nur 12 der Renten in Betracht, was anfänglich eine Mehrbelastung von knapp 1000 Franken im Jahr mit sich bringen wird, welche aber im Laufe der Jahre ganz verschwinden wird.

IV. Schlussbetrachtungen 1. Das Abkommen mit Österreich entspricht weitgehend demjenigen mit Prankreich. Immerhin liegt ein wesentlicher Unterschied darin, dass den österreichischen Staatsangehörigen die schweizerischen Übergangsrenten nicht gewährt werden. Eine Gewährung der Übergangsrenten konnte nicht in Frage kommen, da Österreich unsern Landsleuten -- im Gegensatz zu Frankreich -- keinen entsprechenden Vorteil bieten kann.

Aus naheliegenden Gründen sind wir bestrebt, die zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen wenn immer möglich, d. h. sofern die gegebenen Verhältnisse es gestatten, möglichst gleichlautend zu gestalten, wobei in jenen Fällen, wo die Frage der Gleichwertigkeit der Sozialversicherung des Vertragspartnerstaates bejaht werden rnuss, das Abkommen mit Frankreich als Vorbild dienen soll.

2. Ist die Schweiz auch grundsätzlich bereit, bei den umfassenden internationalen Bestrebungen, die im Interesse und zum Schutze der Arbeitnehmer auf die Schaffung eines möglichst vollständigen Netzes von bilateralen und multilateralen Abkommen auf dem Gebiete der Sozialversicherung hinzielen, mitzumachen, so ist es indessen natürlich und gegeben, dass sie solche Abkommen in erster Linie mit ihren unmittelbaren Nachbarn abschliesst. Wir sind überzeugt, dass das vorliegende Abkommen, welches die Stellung unserer Landsleute gegenüber der österreichischen Sozialversicherung und der österreichischen Angehörigen gegenüber der schweizerischen Sozialversicherung in grosszügiger und fortschrittlicher Weise regelt, die freundschaftlichen Bande, die uns mit unserem östlichen Nachbar verbinden, festigen und vertiefen wird.

Gestützt auf vorstehende Ausführungen beehren wir uns, Ihnen zu beantragen : es sei das am 15. Juli 1950 zwischen der Schweiz und Österreich abgeschlossene Abkommen über Sozialversicherung durch die Annahme des beiliegenden Entwurfes eines Bundesbeschlusses gutzuheissen.

Genehmigen Sie, Herr Präsident, hochgeehrte Herren, die Versicherung unserer vollkommenen Hochachtung.

Bern, den 3. November 1950.

Im Namen des Schweizerischen Bundesrates, Der Bundespräsident: Max Petitpierre Der Bundeskanzler: Le im gruber Bundesblatt. 102. Jahrg. Bd. III.

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(Entwurf)

Bundesbeschluss betreffend

die Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und Österreich über Sozialversicherung

Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht in eine Botschaft des Bundesrates vom 3. November 1950, beschliesst : Einziger Artikel Das am 15. Juli 1950 unterzeichnete Abkommen zwischen der Schweiz und Österreich über Sozialversicherung wird genehmigt. Der Bundesrat wird ermächtigt, es zu ratifizieren.

Der Bundesrat wird ermächtigt, die für die Anwendung des Abkommens notwendigen Vorschriften zu erlassen.

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Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Genehmigung eines zwischen der Schweiz und Österreich abgeschlossenen Abkommens über Sozialversicherung (Vom 3. November 1950)

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